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Thorsten Bonacker · Michael Daxner Jan H. Free · Christoph Zürcher (Hrsg.) Interventionskultur

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Thorsten Bonacker · Michael Daxner Jan H. Free · Christoph Zürcher (Hrsg.)

Interventionskultur

Thorsten Bonacker · Michael Daxner Jan H. Free · Christoph Zürcher (Hrsg.)

Interventions-kultur Zur Soziologie vonInterventionsgesellschaften

.1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010

Lektorat: Frank Engelhardt

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-16302-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Michael Daxner, Jan Free, Thorsten Bonacker und Christoph ZürcherEinleitung ...............................................................................................................7

Christoph ZürcherDer verhandelte Frieden: Interventionskultur und Interaktion in Nachkriegsgesellschaften .....................................................................................19

Conrad SchetterVon der Entwicklungszusammenarbeit zur humanitären InterventionDie Kontinuität einer Kultur der Treuhandschaft ................................................31

Jan FreeWege zu einer Soziologie moderner Friedenseinsätze .........................................49

Michael DaxnerDas Konzept von Interventionskultur als Bestandteil einer gesellschaftsorientierten theoretischen Praxis .....................................................75

Susanne Buckley-ZistelGlobale Rechtsprechung, lokale Kon ikteDer Internationale Strafgerichtshof als friedensstiftende Maßnahme in Uganda? ......................................................................................101

Werner DistlerDie Bedingungen der Intervention: Interaktion in einer Ausnahmesituation ............................................................................................. 119

6

Gabriel MotzkinIsrael, Palästina und militärisch unterstützte humanitäre Interventionen ....................................................................................................141

Silvia NadjivanEin uss der NATO-Bombardements 1999 auf den Regimewechsel .................149

Thorsten GromesProbleme der Komplexität, Koordination, Konsistenz und Beendigung von Interventionen .........................................................................173

Thorsten BonackerDie Gesellschaft der AnderenKambodscha und die Interventionskultur der Weltgesellschaft .........................189

Jan KoehlerEmpirische Interventionsforschung – eine Problemannäherung für den Fall Afghanistan .....................................................................................219

Klaus Schlichte und Alex VeitDrei ArenenWarum Staatsbildung von außen so schwierig ist ..............................................261

Autorinnen und Autoren ....................................................................................269

Einleitung

Michael Daxner, Jan Free, Thorsten Bonacker und Christoph Zürcher

Durch das Ende der Blockkonfrontation hat die etwas diffuse internationale Ge-meinschaft eine größere Handlungsfreiheit erhalten. Einerseits wenden die Akteu-re der internationalen Politik häu ger militärische Gewalt an, um lokale Kon ikte zu entschärfen oder zu beenden. Andererseits endet heute der Handlungsauftrag der internationalen Gemeinschaft nicht mehr damit, dass in der Kon iktregion ein Waffenstillstand herbeigeführt und durchgesetzt wird. Vielmehr soll das Ein-mischen der internationalen Akteure die sozialen und politischen Strukturen am Ort des Einsatzes derart verändern, dass nicht erneut Gewalt ausbricht. Kurzum: Vor 1989 sollten Kon ikte solange eingefroren werden, bis sich die streitenden Parteien einigten, nach 1989 soll nicht nur der Kon ikt beendet, sondern auch gleich die Streitenden ausgetauscht werden. Statt um Peace-Keeping und Peace-Enforcement geht es heute um multidimensionales Peace-Building, um State- und Nation-Building: Neue Staaten mit neuen Formen der sozialen Organisation sollen an Stelle der alten treten, weil angenommen wird, dass diese alten Formen derart mangelhaft waren, dass sie aus sich heraus Kon ikte und Leid hervorbringen.1 Dass diese neuen Ordnungsmuster zumindest dem Anspruch nach dem westli-chen Vorbild folgen, entspricht den bisherigen Erfahrungen mit erzwungener oder freiwilliger Globalisierung (Meyer, 2005; s. auch Conrad Schetters Beitrag im vorliegenden Band) und sollte deswegen nicht überraschen.

Ob diese neue Dimension der internationalen Einmischung legitim ist oder nicht, wollen wir in diesem Sammelband nicht diskutieren – dieser Frage haben sich bereits andere Autoren gewidmet (bspw. Barnett & Weiss, 2008; Chester-man, 2001; Hinsch & Janssen, 2006). Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, dass Interventionen, wenn sie neue, bessere Gesellschaftsformen hinterlassen sollen,2 diese Operationen nicht nur aus politischer und militärischer Perspektive

1 Dieser Wandel wurde in zahlreichen Werken dargestellt, z. B. (Doyle & Sambanis, 2006; Hippler, 1996, 2004; Holzgrefe & Keohane, 2003; Rambotham, Woodhouse, & Miall, 2005; Weiss, 2007).2 Es sollte nicht übersehen werden, dass auch humanitäre Interventionen nach Hunger- oder Natur-katastrophen zumeist Elemente von Verwestlichung enthalten (überspitzt, aber anschaulich: Bello, 2006). So wenden Hilfsorganisationen in Notfällen zumeist ein Standardprogramm an, dass die jewei-ligen lokalen Gegebenheiten, Kapazitäten und Bedürfnisse oft nicht berücksichtigt (Telford & Cosgra-

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untersucht werden müssen, sondern auch aus einer soziologischen: Wenn Gesell-schaften „gebaut“ werden sollen, sollten Gesellschaftswissenschaftler sich dafür interessieren. Gewiss ist der Gedanke einer „Soziologie humanitärer Interventio-nen“ (Nederveen Pieterse, 1997) nicht neu. Von älteren Arbeiten setzen wir uns aber durch unsere These ab, dass der Erfolg einer Staatsaufbau-Intervention nicht allein davon abhängt, wie sich die internationalen Akteure verhalten und welche Strategie angewendet wird. Vielmehr erklärt sich die Performanz aus der sozialen Eigendynamik der Gesellschaftsformen, die durch und während der Interventionen in der Einsatzregion entstehen. Das heißt, dass der Standardmodus der Forschun-gen und der politischen Kommentierung zu vereinfachend ist: Das Agieren der internationalen Akteure wird gerne als unabhängige Variable genommen und der Erfolg der Intervention als abhängige Variable, und dann werden mehrere Inter-ventionsfälle miteinander verglichen. Diese Sicht reduziert einerseits die Interve-nierten und ihre sozialen Systeme zu einer Art Black Box und blendet andererseits aus, was während der Intervention geschieht. Wie aber besonders anschaulich der Beitrag von Christoph Zuercher zeigt, ist es entscheidend, unter welchen die Be-dingungen die Akteure innerhalb einer Interventionsgesellschaft stehen und wie diese Akteure miteinander agieren. Die Artikel des vorliegenden Sammelbands widmen sich deswegen diesen internen Prozessen – sowohl hinsichtlich theoreti-scher Aspekte als auch in Form von Fallstudien.

Häu g nehmen Beobachter von Interventionen an, dass zwei homogene Ak-teursblöcke aufeinander treffen, zeitlich begrenzt interagieren und anschließend wieder getrennte Wege gehen. Die Leitmetapher dieser Vorstellung ist die des Arztes, der einen Patienten behandelt (Free, 2009). Zu Beginn unserer Ausein-andersetzung mit der Soziologie von Interventionen stand die Einsicht, dass die Wirklichkeit nicht ganz so einfach ist, wie es diese Metapher anzeigt. Grundlage dieser Einsicht waren folgende Überlegungen und Erfahrungen aus eigenem Mit-wirken in Interventionen, die die meisten Herausgeber und Mitautoren teilen:

Überhang von Idealismus in der Planungsphase: Interventionen beginnen mit idealistischen Zwecksetzungen (Befreiung, Wiederaufbau, Vertreibung der Diktatoren, aber auch Abhilfe bei Naturkatastrophen) und enden mit rea-listischen Kompromissen. Diese bergen oft den Keim erneuter Kon ikte und vielleicht Interventionen, oder sie hinterlassen ein Land oder eine Bevölke-rungsgruppe in einem Zustand, der objektiv (und subjektiv schon gar und häu ger) schlechter ist als der Zustand vor der Intervention.

ve, 2007, S. 17). Recht bekannt ist auch die Praxis der USA, ausschließlich Nahrungsmittel aus den USA in den betroffenen Regionen zu verteilen (pointiert: Bolton, 2008, S. 204–209).

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Starker Ein uss von interventionsfernen Diskursen: Interventionen sind wechselhafter öffentlicher Aufmerksamkeit unterworfen. Ihre Aufmerksam-keitskonjunktur ist den Regeln des Medienmarktes ebenso wie der Halb-wertswertszeit von Aktualität unterworfen. In Ländern, die aktiv an der Entsendung von Truppen beteiligt sind, wie Deutschland im Kosovo oder in Afghanistan, ist die Aufmerksamkeit sicher anders als in solchen, die nur im zivilen Bereich durch Aufbauhilfe oder Teilnahme an internationaler Ge-richtsbarkeit (also beispielsweise durch Rati zierung der Genfer Konventio-nen oder von Kooperationsabkommen mit Sondertribunalen) partizipieren. In der Regel beherrschen aber Legitimationsprobleme den Diskurs über die Intervention stärker als eine Diskussion der Zwecke und der Kriterien für Erfolg und Misserfolg.

Das Missionsziel der Intervention entkoppelt sich von ihrem Anlass: Auf-grund der post-1989er Ausrichtung der Interventionen auf Staatsaufbau do-minieren im Verlauf der Interventionen andere Probleme die Agenda in der Kon iktregion als jener Kon ikt, wegen dem man interveniert hatte. Man interveniert, um beispielsweise eine massenhafte Vertreibung zu verhindern, und muss sich anschließend nicht nur um die Unterbringung der Flüchtlinge kümmern, sondern auch um den Wiederaufbau eines unabhängigen Justiz-systems und die Bekämpfung von Korruption – Auslöser der Intervention ist eine Katastrophe oder ein konkretes Ereignis, aber heutzutage, in Zeiten der Staatsaufbau-Interventionen, ist das, was die Intervenierenden bekämpfen, Bad Governance (schlechte Regierungstätigkeit). Oft ist deswegen schon die Frage nach einer Exit-Strategie falsch gestellt, weil das Ende einer Inter-vention nicht länger davon abhängt, wie schnell und effektiv die humanitäre Schie age begradigt werden kann, die die Intervention notwendig gemacht hatte. Auch die Legitimität einer Intervention bekommt eine zeitliche Di-mension: Nur weil der Anlass eine Intervention legitimiert hatte, ist nicht automatisch jedes Handeln der Intervenierenden legitim, weil Nation- und State-Building mit dem ursprünglichen Kon ikt viel loser verknüpft sind als Peace-Keeping und Peace-Enforcement.

Historische Erfahrungen mit Staatsgründungen: Am Beispiel der europä-ischen Geschichte wurde gut herausgearbeitet, wie langwierig, ressourcen-intensiv, kompliziert und kon iktbehaftet Prozesse von Nationsbildungen und Staatsgründungen sind.3 Es ist schwer einzusehen, warum diese Prozesse in anderen Regionen einfacher und schneller ablaufen sollten, selbst wenn sie von der internationalen Gemeinschaft angeleitet und überwacht werden,

3 Aus den zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier nur wenige recht willkürlich ausgewählt: (Bourdieu, 2004b; Schulze, 1994; Smith, 2000).

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und wieso ein Vorgang, der zumeist kurzfristig erhebliche Kon ikte schafft und soziale Umwälzungen auslöst, relativ unbedarft als Kon iktlösung pro-pagiert wird.

Überlegungen dieser Art waren der Anlass einer Konferenz, die wir mit deutsch-sprachigen WissenschaftlerInnen im April 2008 in der Universität Potsdam durch-führten.4 Sie war Auftakt einer intensiveren Beschäftigung mit jenem Aspekt von Interventionen, der oft in der Zielsetzung ausgeblendet wird und dann in der Pra-xis zum Träger all der Unwägbarkeiten und Kontingenzen wird, an denen Inter-ventionen scheitern. Es ist der Aspekt der gesellschaftlichen Dynamik, die durch die Intervention in Gang kommt, und die zur Bildung von Interventionsgesell-schaften führt. Diese Gesellschaften setzen sich aus intervenierenden und inter-venierten Elementen zusammensetzen, die zur Interventionsgesellschaft integriert werden und sich nicht nur additiv auf- oder nebeneinander schichten. In Inter-ventionsgesellschaften nden sich kulturelle Mischungen und Abgrenzungen, die mit den ursprünglichen Strukturen kaum vermittelt sind: Traditionen, informelle Kon iktregelungen und andere lebensweltliche Handlungsfelder werden verscho-ben, während neue, unbekannte Formen entstehen. Durch die Intervention ändern sich die sozialen Positionen in der „neuen“ Gesellschaft, weil im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Intervention viele soziale Ressourcen und Fähigkeiten anders bewertet werden. Folglich ändern sich die Mechanismen, nach denen sozialer Status5 ausgehandelt und abgelesen wird. Oft verlieren traditionelle Annerken-nungsmechanismen ihre Bedeutung in der neuen sozialen Konstellation nach der Intervention. Die neue soziale Situation der Intervention zwingt allen Beteiligten – auch den Intervenierenden – Variationen des eigenen Verhaltens auf. Es wird dadurch schwerer, das Verhalten anderer vorherzusagen, weswegen reziproke Er-wartungen der beteiligten Akteure häu g nicht erfüllt werden. Man versucht sich im Neuen zu arrangieren, variiert – bewusst und unbewusst – das eigene Verhalten abermals, zumeist ohne überhaupt zu wissen, nach welchen Regelmäßigkeiten sozialer Status zugeschrieben wird.

Diese recht blinde Variation kann zu weiteren Folgekon ikten führen, die sich nur aus der sozialen Dynamik der Interventionsgesellschaft erklären lassen, aber nicht aus dem ursprünglichen Kon ikt, der zur Intervention geführt hatte.

4 Wir danken der Deutschen Stiftung Friedensforschung für die Förderung und Unterstützung der Konferenz.5 Wir rekurrieren hier nicht auf eine bestimmte Theorie des sozialen Status, sondern verwenden diese Fachvokabel eher als Platzhalter für die jeweilige Schlüsselkategorie der jeweils bevorzugten Sozial-theorie. Wir machen kein Hehl daraus, dass wir in unseren Arbeiten zumeist nach Pierre Bourdieus Ansatz vorgehen, aber wir möchten die Einleitung nicht auf eine Theorie ausrichten, auch wenn es dadurch etwas ungenau wird.

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Wenn im Kosovo unmittelbar nach Übernahme der Staatsfunktionen durch UN-MIK ein Journalist kritisiert, dass serbische und albanische Kinder nicht gemein-sam unterrichtet werden – weil ja multi-ethnische Perspektiven die Intervention legitimierten – dann ist das ein gutes Beispiel dafür, wie Debatten in den Ent-sendeländern die Legitimität einer Interventionen empirisch beschädigen können. Wenn westliche Frauen, die erkennbar für die und mit den Intervenierenden arbei-ten, durch Kleidung „intervenierte Erscheinungen“ imitieren, z. B. indem sie sich mit Tschador verhüllen, kann das zu fatalen, nicht selten gewaltsamen Kon ik-ten führen, weil sich lokale Frauen dadurch attackiert fühlen, dass fremde Frauen zwar ein Emblem wie den Schleier tragen, sich sonst aber als schlechte Musli-mas benehmen. Wenn westliche Vorstellungen von Vertragstreue und Loyalität auf lokale Realitäten von Vertrauen und Gefolgschaft stoßen, sind Kon ikte sogar programmiert.

Ähnliche Kon iktdynamiken kann man an vielen Nachkriegsgesellschaften beobachten, und sie sind heute besonders wichtig, weil die von der Intervention betroffene Bevölkerung in ebenso großem Maß Subjekt und Objekt der Interven-tion ist wie die Intervenierenden selbst.

Das ist eine starke Hypothese, die die Sozialwissenschaften, vor allem An-thropologie und Soziologie provozieren muss. Der vorliegende Band versucht, ers te Einsichten in die Binnendynamik groß angelegter humanitärer Interventio-nen zu geben. Daraus leiten sich zurzeit noch weniger Antworten als viele Fragen ab, die zu stellen man zu Beginn einer Intervention meist unterlässt; sei es aus Zeitdruck oder aus der Überzeugung, man kenne den Fahrplan der Intervention zur Genüge. Am Scheitern jeder Hearts and Minds-Kampagne in Afghanistan kann man die Folgen dieses Irrtums sehen. Erst seit Kurzem ist einzelnen Ange-hörigen des US-amerikanischen Militärs aufgefallen, dass ältere Afghanen es als beleidigend auffassen, wenn Soldaten den Kindern Süßigkeiten und Spielsachen zuwerfen. Sie würden sich wie Hunde behandelt fühlen, sagten von US-Soldaten befragte Afghanen (Wood, 2009). Aus traditioneller Hö ichkeit vor Fremden wur-de dieser Ärger nur extrem selten artikuliert. Es ist bemerkenswert und unter-streicht die Notwendigkeit vermehrter sozialwissenschaftlicher Forschung, dass die üblichen, selbstverständlichen Goodwill-Maßnahmen des Militärs offenbar nie systematisch im afghanischen Kontext evaluiert wurden.

Die Soziologie von Interventionsgesellschaften setzt sich mit der Struktur und den Akteuren dieser Gesellschaften auseinander. Sie verfolgt die Transforma-tion der ursprünglichen Kon ikte in Folgekon ikte als Ergebnis der Intervention. Und sie fragt nach der sozialen Dynamik des Zusammenwirkens von Exponen-ten verschiedener gesellschaftlicher Felder: Intervenierende und Intervenierte, aber auch Soldaten und Zivilisten, Repräsentanten von Staatlichkeit oder priva-ten Unternehmern, Angehöriger verschiedener Wertegemeinschaften etc. Dieses

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Zusammenwirken ist mehr oder weniger friedlich, mehr oder weniger kommu-nikativ, aber komplex und kon iktintensiv ist es in jedem Fall. Auf der Grund-lage des aktuellen Stands der Forschung verbieten sich Prognosen darüber, wie dieses Zusammenwirken im Einzelfall ausgeht. In der Tat legt es die bisherige soziologische Forschung nahe, keine großen Hoffnungen auf eine zukünftige Pro-gnosefähigkeit zu legen, mit der kleinteilig Kon iktdynamiken vorhergesagt wer-den könnten. Aus der soziologischen Sicht ist es naheliegend, keine Masterpläne oder einheitliche Strategien für Interventionen zu fordern und umzusetzen, son-dern sektoral, mit kalkulierten Verlusten an Ef zienz und sicherlich nicht wider-spruchsfrei vorzugehen. Funktionale Differenzierung scheint hier eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, dass nicht willkürliche Szenarien die Möglichkeiten sinnvollen und effektiven Handelns verdecken, auch wenn sie kurzfristig Beifall nden sollten. „Ganzheitliche“ Ansätze sind deshalb oft zu idealistisch, weil sie

im Gedankenexperiment störungs- und kontingenzfreie Umgebungen für die tat-sächlich ablaufenden Handlungen projizieren. Dass diese Annahme nicht realis-tisch ist, weiß zwar fast jeder Akteur auf der Systemebene, es ergibt sich aber der Eindruck, dass sich nur solche Ansätze verkaufen und vermitteln lassen, weil Wi-derspruchsfreiheit einer Politik eine Bedingung für Glaubwürdigkeit geworden ist

– sowohl in Verhandlungsprozessen innerhalb der internationalen Organisationen, als auch während des Wahlkampfs und in der Kommunikation mit der eigenen Wählerschaft. Insofern halten die tonangebenden Akteure an der Vorstellung der allgemeinen Planbarkeit von sozialen Entwicklungen während Interventionen fest. Die Analyse von Interventionsgesellschaften wird sich stets in der Spannung mit diesen normativen Ordnungsvorstellungen, wie sie im State- und Nation-Building vorherrschen, und Kon ikttheorien be nden. Diese Analyse muss davon ausgehen. dass sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, Kon iktregelungen und Alltagsformationen der Beteiligten deutlich von den stets normativen Vorstellun-gen von Zweck und Mitteleinsatz der Intervention unterscheiden.

Umso wichtiger sind Dokumentation und Forschung auf jenem mikro-sozia-len Feld, bei dem es fast evident ist, dass individuelle Zukunftsvorstellungen und Lebensführung nicht mit den normativen Ordnungen übereinstimmen, die durch das internationale Eingreifen auf Systemebene, oder eben makro-soziologisch vorgeben wird. Man kann dies verständlich machen, wenn man darauf hinweist, dass die Intervention Kon ikte hervorbringt, die notwendig in alltägliche Lebens-gestaltung und folglich auch in tradierte Kon iktregulierungs-Mechanismen ein-greift. Es entstehen dadurch neue Symbol- und Normenkataloge, die Interaktionen regeln und möglich machen – also das, was man gemeinhin als „Kultur“ bezeich-net. Diese sich entwickelnden Sozialformen können gut an mikrosozialen Unter-suchungen dargestellt werden. Eine Perspektive, in der einzelne Menschen noch sichtbar bleiben, kann leichter als eine makrosoziale Sicht zeigen, dass diese neue

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Interventionskultur selbst ein neues Kon iktpotenzial hervorbringt, das nur bear-beitet werden kann, wenn man es kennt und nicht schon, wenn man vermutet, dass die Interventionspolitik diffuse „Spannungen“ oder „Verwerfungen“ produziert.

Wir stoßen in vielen Analysen und Befunden auf ein bemerkenswertes Phä-nomen: Ausreichendes Datenmaterial für aussagekräftige statistische Analyse n-den Forscher häu g nur, wenn sie eine derart distanzierte Perspektive einnehmen, dass die einzelnen Interventionsfälle fast nur noch ihre Funktion als regionale Kennzeichnung behalten, aber sonst kaum noch Inhalte haben. Dann kann man mehrere Interventionen vergleichen, doch man erfährt wenig über die Zustände während einer Interventionen. Bis auf wenige Ausnahmen, die uns besonders wichtig sind und auf die wir in diesem Band mehrfach eingehen, ist die Quel-lenlage viele Arbeiten zu einzelnen Interventionen auf dem Niveau von gutem Journalismus. Zurzeit gilt hier noch, was auch für Journalisten gilt: Forscher sind nur so gut wie Quellen – wir nden diesen Zustand nicht sehr befriedigend. Es gibt jede Menge subjektiver Erfahrungen, Gespräche, Bilder und Eindrücke, die dann mit Theorieverweisen angereichert werden, aber oft nicht empirisch veri -ziert sind – also bloß plausibel bleiben. Dieses De zit an intersubjektiver Empire macht die Ergebnisse und Schlussfolgerungen angreifbar, zumal wenn der Leser die „plausiblen“, selbstverständlichen Gemeinplätze nicht akzeptiert – etwa be-stimmte Vorstellungen von Dankbarkeit, Vertrauen, Kooperation und Zeitabläu-fen, die als Bedingungen des Erfolgs bestimmter Operationen angesehen werden. Die Home-Stories und Anekdoten, so unverzichtbar sie als Belege sein mögen, zeugen von der Unzuverlässigkeit der plausiblen, oft rezyklierten Tatbestände, die keine sind. Das ist nicht nur ein Plädoyer für mehr und genauere Feldforschung, sondern für mehr integrative anthropologische und ethnologische Anreicherungen soziologischer Methoden und für mehr Kooperation der Forscher untereinander.

Doch diese Datenlage haben nicht nur die Wissenschaftler zu verantworten: Viele Interventionen sind (wie) Kriege, und es verwundert nicht, dass Regierungs-stellen und Militärkommandos keine Primärdaten preisgeben. Dennoch wäre es hilfreich, würden sich deutsche und europäische Bürokratien stärker am US-amerikanischen Muster orientieren und mehr Daten veröffentlichen. Auch private oder halbstaatliche Organisationen, die mit Interventionen zu tun haben, sind nicht allzu auskunftsfreudig: Viele Organisationen der Entwicklungshilfe haben offen-bar wenig Sympathie für Transparenz und geben entweder keine Daten heraus oder verpacken sie in sehr unhandliche Formen (Aoi, De Coning, & Thakur, 2007; Easterly, 2006). Die Intervenierten bzw. die Gruppen der bereits bestehenden In-terventionsgesellschaft wiederum sind gegenüber Befragungen und punktueller Einstellungsforschung zu recht misstrauisch, wenn solche Methoden überhaupt angewandt werden können. Der modellhafte Glücksfall war Pierre Bourdieu im Algerienkrieg um 1960: Da sitzt ein Sozialwissenschaftler mitten in der Interven-

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tion, noch dazu in der Statistikabteilung, und niemand fragt, ob er für seinen Vor-gesetzten oder für seine Forschung Daten erhebt (Bourdieu, 2002, 2004a; Grenfell, 2006). Weil aber heute Kriege auch Informationskriege sind, sind die Schotten dicht, obwohl die Informationstechnik uns vieles erleichtern sollte.

Die meisten Beiträge dieses Sammelbands be nden sich an jener prekären Grenze zwischen so genannter Grundlagenforschung und angewandter Analyse, nahe der Politikberatung. Viele Beiträge sind an dieser Grenze entstanden, ent-weder im Kontext akademischer Quali kation oder im Ergebnis von Forschun-gen und Beratungstätigkeiten am Ort einer Intervention bzw. ihrer nachträglichen Analyse. Die Rückbindung an Theorie und Hypothesenbildung macht aber das verbindende Element aller Beiträge aus. Sowohl unsere Potsdamer Tagung als auch die meisten Aufsätze in diesem Band zeigen: Die Gesellschaften, die als Er-gebnis von Interventionen entstehen (und oft wieder vergehen), sind einem Wan-del unterworfen, der nicht an traditionelle Muster sich verändernder Staatlichkeit und sich verändernder Gesellschaft gebunden sind. Nichts funktioniert so, wie man es sich von einem entstehenden Staat erhofft, aber es funktioniert, anders und oft unerwartet. Jede Regierungstätigkeit kann große moralische und pragma-tische Probleme eröffnen, wenn sie nicht an die normativen Rahmensetzungen einer legitimen Staatlichkeit gebunden ist; denken wir an die Organisation von Dorfgemeinschaften, die von den Taliban oder lokalen Warlords abhängig sind (s. Jan Koehlers Beitrag im vorliegenden Band).

Oft erfahren die Intervenierten konkrete Nachteile, wenn die Intervenieren-den über ihre Lebenswelten, ihre Erfahrungen und Traditionen und auch über ihre Muster lokaler Kon iktregelung hinwegsurfen. Es ist nicht einfach nur ko-misch oder absurd und ein bizarrer Ausdruck einer sich ausbreitenden westlich dominierten Weltkultur, wenn in einer Debatte zur Hochschulreform in Kabul das amerikanische Credit-Transfer System diskutiert wird. Hier wird vom Endzustand der gewollten Interventionsergebnisse her diskutiert. Damit wird aber der Ent-wicklungsprozess abgeschnitten, den „eigentlich“ die Intervenierten durchmachen sollen (Ownership), um ihr erzieltes Ergebnis mit der internationalen Hochschul-Community zu verhandeln. Die vielen anekdotischen Beispiele für die Nachteile verdichten sich bei den beiden Akteursgruppen ganz unterschiedlich, weil sie ja kollusiv in der Interventionsgesellschaft zusammengebunden sind: Wo die Inter-venierten den dauernden und impertinenten Korruptionsvorwurf als Demütigung und Behinderung ihrer eigenen Selbstverständigung emp nden, brauchen ihn die Intervenierenden als Rechtfertigung dafür, dass sie sich in entscheidenden Fällen über die Rechte und Bedürfnisse der Intervenierenden hinwegsetzen, und dann die mangelnde Bereitschaft derselben, Eigenverantwortung zu übernehmen, be-klagen. Solche Beispiele zeigen vor allem, dass die Forschung von einer mikro-soziologischen Perspektive ausgehen muss, die weder den Ausgangskon ikt noch

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alle Folgekon ikte der Intervention kongruent abbildet; aber genau hier entstehen Vertrauen, Respekt, und ein kollektives Selbst, ein Wille zur Emanzipation. Wir haben dies in so vielen Interventionen festgestellt, dass man hier einen World Polity-Ansatz durchaus vertreten kann: Was die Bedeutung der sozialen Dyna-miken angeht, sind Interventionsgesellschaften strukturell einander ähnlicher als die Akteure in jedem einzelnen Kon iktfall. Oder anders: Es gibt eine Interven-tionskultur, die sich in jedem Interventionsfall nachweisen lässt. Diese These ist zu schwergewichtig, als dass wir sie in der Einleitung eines Sammelbandes be-weisen könnten. Hierin zeigt sich eines der wichtigsten Desiderate der Forschung zu Interventionen: Wir sollten heraus nden, was transkulturell und transnational die Strukturmerkmale von Interventionsgesellschaften sind, aus denen wir dann aussagekräftige Kriterien zur Bewertung von Interventionen entwickeln können.

Doch soweit wird dieser Sammelband seine Leser nicht führen; die For-schungsausrichtung, die wir hier vorstellen, ist noch zu jung. Die in diesem Band versammelten Forscher arbeiten folglich zumeist noch an den genauen Problem-diagnosen und den sich daraus ergebenen Operationalisierungen von Forschungs-projekten. Der Zweck des Buchs ist dementsprechend nicht, dicht an dicht Ergeb-nisse zu präsentieren, sondern den Lesern Einblicke in soziale Prozesse während einzelner Interventionen zu verschaffen, in denen die systematischen Einzelbe-obachtungen an das soziale Ganze zurückgebunden wird. Auch zielt das Buch darauf ab, dass dadurch, dass Forscher sich über ihre laufenden Forschungen aus-tauschen, sie ihre Vorhaben leichter und besser koordinieren können.

Die thematische Bandbreite der Artikel ist dementsprechend groß. Sie reicht von theoretischen Abhandlungen über historischen und sozialpsychologischen Re exionen bis hin zu feldforschungsgesättigten Detailanalysen. Einige Texte konzentrieren sich auf die soziale Binnendynamik einer Intervention, während andere Texte untersuchen, welchen Ein uss Diskurse in den Entsendeländern auf die Ereignisse am Ort der Intervention haben. Eine gemeinsame Methode haben die Beiträge nicht. Aber was sie verbindet, ist die Einsicht, dass man genau hin-schauen muss, wie soziale Strukturen sich bilden und wie sich verändern, wenn man Interventionen realistisch beschreiben will.

Der Wert solcher Beschreibungen sollte nicht unterschätzt werden. Interven-tionen treffen nicht auf Strukturen, sondern auf Menschen und Menschengruppen, deren Eigenschaften vielen Intervenierenden grundsätzlich fremd sind, bzw. fremd sein müssen. Wenn wir in einigen Interventionsgesellschaften – Afghanistan, So-malia – mehrere Generationen von jungen Menschen antreffen, die noch nie Frie-den erfahren haben, deren Vorstellungen also noch nicht durch den Wunsch nach Nicht-Krieg geprägt sind, weil dieser eben schwer vorstellbar ist, dann ist das Her-ausführen aus diesem Zustand nur innerhalb der Interventionsgesellschaft, aber nicht von außen möglich. Auf das Handeln in diesen Interventionsgesellschaften

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bereiten die Texte in diesem Band auch vor, mit dem Blick immer darauf gerichtet, was geschieht, wenn aus Intervenierten wieder eine selbstbestimmte Gesellschaft wird.

Der Dank der Herausgeber gilt den Mitgliedern der Arbeitsstelle Interventi-onskultur an der Universität Oldenburg und allen Mitarbeiterinnen im Sekretariat, der Deutschen Stiftung Friedensforschung, dem Sonderforschungsbereich 700 an der Freien Universität Berlin und dem Lektorat und der Betreuung beim VS-Verlag Wiesbaden.

Literatur

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Der verhandelte Frieden: Interventionskultur und Interaktion in Nachkriegsgesellschaften

Christoph Zürcher

Peacebuilding-Missionen seit dem Ende des Kalten Kriegs zielen nicht nur auf die Herstellung von Frieden ab, sondern ebenso auf die Schaffung demokratischer Strukturen. In der Regel sind robuste und gut ausgestattete Peacebuilding-Mis-sionen in der Lage, Kriege zu beenden, doch nur selten gelingt es darüber hinaus, auch demokratische Strukturen aufzubauen. Eine Analyse von 17 kürzlich erfolg-ter UN Peacebuilding-Missionen zeigt, dass es nur in jedem dritten Interventions-land zu einem signi kanten Anstieg von Demokratie (gemessen als ein Anstieg von drei oder mehr Punkten auf der Polity IV Skala) während der ersten fünf Jahre der Mission kommt. Nur jedes dritte Land erreicht ein demokratisches Niveau, das vergleichbar ist mit dem durchschnittlichen Demokratieniveau in der jeweili-gen Region (Zürcher 2006). Andere Autoren kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So ndet Page Fortna (2006) keinen nennenswerten Effekt von Peacebuilding auf Demokratisierung. Sie führt diesen Befund darauf zurück, dass sich die positiven und negativen Wirkungen von Peacebuilding gegenseitig aufheben. Zumindest kurzfristig würden sich die zwei Ziele von Peacebuilding – Stabilität und Frei-heit – grundsätzlich widersprechen. Eine ähnliche Argumentation verfolgen Paris und Sisk (2008), die ebenfalls auf die zahlreichen Dilemmata von Peacebuilding verweisen.

Die Forschung zu Peacebuilding hat eine Reihe von Faktoren identi -ziert, welche erklären, warum sich Gesellschaften in Nachkriegssituationen ty-pischerweise nicht zu Demokratien entwickeln. Zum einen gilt prinzipiell, dass die in Nachkriegssituationen in aller Regel vorhandenen Kooperationsproble-me zwischen verfeindeten Gruppen nur schwer überwunden werden können. Auch fehlt es in Nachkriegssituationen an den Ressourcen, die notwendig sind, um jene politischen Institutionen zu unterstützen, die Demokratie ermöglichen. Ein weiteres Problem sind Unter nanzierung und mangelnde Koordination der Peacebuilding-Missionen.

In vorliegenden Aufsatz wird die Auffassung vertreten, dass diese strukturel-len Faktoren alleine keine überzeugende Erklärung des oftmals (aus einer demo-kratisch-normativen Position) unbefriedigenden Ergebnisses von Peacebuilding bieten. Stattdessen wird argumentiert, dass nicht nur die strukturellen Faktoren

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das Ergebnis von Peacebuilding-Missonen bestimmen, sondern, im Zusammen-wirken mit strukturellen Faktoren, besonders auch die Interaktion zwischen exter-nen Intervenierenden und lokalen Eliten. Diese Interaktion ist ein essentieller Teil der Interventionskultur, sie ist ein wichtiger und konstituierender Teil der alltägli-chen Wirklichkeit der Peacebuilder, und sie bestimmt letztlich den Entwicklungs-pfad und damit das Ergebnis der Peacebuilidng Mission.

Peacebuilding ist ein Handeln, welches darauf abzielt, diejenigen sozialen Konstellationen und sozialen Strukturen zu verändern, welche organisierte Gewalt ermöglichen oder gar fördern. Externe Peacebuilder und lokale Eliten sind die Protagonisten dieses Handelns.

Peacebuilding ist demnach ein sozialer Prozess, der von der Interaktion zwi-schen Peacebuildern und lokalen Eliten geformt wird. Die sozialen Veränderun-gen, die Peacebuilding in eine Nachkriegsgesellschaft tragen soll, sind von dieser Interaktion bestimmt. Das analytische Verstehen dieser oftmals komplexen Inter-aktionen ist ein zentraler Aspekt einer Theorie der Interventionskultur.

Peacebuilder und lokale Eliten haben ein gemeinsames Ziel: Peacebuildling. Die Peacebuilder haben sich per Mandat dazu verp ichtet, einen Wandel zu Sta-bilität, Demokratie und Frieden herbeizuführen. Lokale Eliten, so mag es schei-nen, sind an denselben Zielen interessiert, denn andernfalls hätten sie nicht ihre Zustimmung zur Peacebuilding-Mission gegeben. Dies gilt auch für friedenser-zwingende Maßnahmen, die nach Kapitel VII der UN-Charta durchgeführt wer-den, denn in der Regel ermächtigen die Intervenierenden rasch einen lokalen und kooperationswilligen Partner. Ein Beispiel dafür ist die rasche Ermächtigung von Hamid Karzai zum Partner in Afghanistan.

Allerdings ist diese grundsätzliche Übereinstimmung in den Zielen so lok-ker de niert, dass Peacebuilder und lokale Eliten über die genaue Bedeutung und Inhalte des Friedens verhandeln: wie werden welche Ressourcen verteilt, wann werden welche Reformen wie durchgeführt, welches sind die Prioritäten, wer kon-trolliert welche Prozesse?

Der Alltag der Peacebuilder, vom Leiter der UN-Mission vor Ort bis hin zum Ingenieur, der in einem entlegenen Bergdorf einen Brunnen bauen soll, ist eine auf Dauer gestellte Verhandlungssituation mit lokalen Eliten. Dies wird von den Pea-cebuildern auch erwartet: Schließlich sollen sie dafür sorgen, dass die Intervenier-ten kooperieren und die aufzubauenden sozialen Strukturen als die ihrigen begrei-fen. Wie in jedem Aushandlungsprozess ist auch der Ausgang dieser Verhandlung davon bestimmt, was die Beteiligten genau wollen, wie bestimmt sie auftreten und wie viele Ressourcen sie mobilisieren können, um ihre Ziele zu erreichen.

Aber was wollen die Beteiligten wirklich? Der dominierende Ansatz in der For-schung zu Peacebuilding geht davon aus, dass sowohl die Peacebuilder als auch

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die lokalen Eliten Frieden und Demokratie anstreben, aber diese Ziele selten errei-chen, weil ihnen die Kapazitäten fehlen. Ist diese Annahme gerechtfertigt?

Es gibt mindestens drei gute Gründe anzunehmen, dass lokale Eliten mögli-cherweise gar nicht eine funktionierende Demokratie anstreben.

Die Einführung demokratischer Regeln gefährdet, erstens, die Machtstellung der militärisch stärksten Gruppe, weil sie an den Wahlurnen verlieren könnte, was im Krieg gewonnen wurde. Eine gewaltfähige Gruppe, welche ihre Stellung durch Wahlen gefährdet sieht, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit demokratische Ver-fahren ablehnen. Aus diesem Grund beurteilen viele politische Theoretiker, von Hobbes bis Huntington, die Chancen einer glückenden Transition von Krieg zu Demokratie als gering.

Zweitens bringt ein liberaler Frieden Normen und Vorgaben zu Good Go-vernance mit sich, die die Möglichkeiten einschränken, willkürlich zu regieren, Zwang auszuüben, und reich zu werden. Eliten, die während Bürgerkriegen reich und mächtig geworden sind, werden deswegen alle Reformen ablehnen, die ihre Art und Weise des ef zienten, wenn auch unlauteren Gelderwerbs beeinträchtigen: organisierte Kriminalität, Schmuggel, illegale private Besteuerung, Drogenanbau und Korruption. In jeder Postkriegsgesellschaft gibt es diesen Typus des „Gewalt-Unternehmers“. Man trifft sie in den Ministerien der Hauptstädte, aber auch in den Zentren der Provinz. Sie fahren luxuriöse SUVs, haben brandneue Satelliten-Telefone und sind gut gekleidet.

Und drittens gefährden demokratische Verfahren und Good Governance die Grundvoraussetzungen, auf denen die Autorität und das Überleben der meisten Regime in Nachkriegssituationen aufbaut: Patronagenetzwerke. Klientelismus ist ein endemischer Bestandteil schwacher Staaten; er ist die wohl grundsätzlichste Form von Regieren in Regionen, in denen Institutionen über wenige infrastruktu-rell gefestigte Macht verfügen. Klientelistische Netzwerke sind die Grundlage von Machtausübung und Machterhalt in vielen nicht-demokratischen Systemen. Eliten gehen impliziten Handel ein mit manchen gesellschaftlichen Gruppen und tau-schen Schutz und Ressourcen gegen Loyalität (Kitschelt & Wilkinson 2007, van de Walle 2007, Reno 2000, Bratton & van de Walle 1996). Die Fähigkeit, solche Netzwerke zu betreiben und, wenn nötig, gefährliche Konkurrenten zu kooptieren, ist für Eliten in fast allen Nachkriegsgesellschaften zentral. Ein Wandel hin zu Good Governance gefährdet diese Mechanismen, und so ist es nicht überraschend, dass Eliten in Staaten, die vornehmlich durch Patronage und Klientelismus regiert wurden, sich Reformen widersetzen, die Patronage schwieriger machen und die Eliten so um die Möglichkeit bringen würden, mögliche Herausforderer nachträg-lich in das eigene Netzwerk aufzunehmen. Aus Afghanistan, Bosnien-Herzegowi-na, Kosovo und Tadjikistan liegen dazu gut dokumentierte Beispiele vor.

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Aus all diesen Gründen legt der Wandel zu einem liberalen und demokrati-schen Staat den lokalen Eliten in Nachkriegsstaaten erhebliche Adaptionskosten auf. Dementsprechend ist Demokratisierung in den Augen der lokalen Eliten eher ein Problem als eine Lösung, und folglich ziehen viele Eliten in Nachkriegsgesell-schaften den Status Quo politischen Reformen vor. Gleichzeitig aber werden die Eliten versuchen, die materiellen und politischen Chancen, die die Peacebuilder anbieten, mit den Gefahren auszubalancieren, die die Implementierung von libe-ralem Peacebuilding bedeutet. Die Ressourcen, welche Peacebuilder in der Re-gel mitbringen – Geld und die Fähigkeit, politisches Kapital zu verleihen –, sind erheblich. Dementsprechend verstehen die lokalen Eliten die Anwesenheit der Peacebuilder nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Gelegenheit. Sie werden versuchen, die internationalen Peacebuilder in eine Richtung zu lenken, die ihren Interessen förderlich ist: so viele Ressourcen – materielle wie symbolische – wie möglich zu gewinnen und zugleich so wenig Reformen wie möglich zu implemen-tieren, die eventuell die eigene Machtstellung reduzieren könnten.

Wenden wir uns nun den Peacebuildern zu. Im Lichte der Absichtserklärungen, Mandate und Programme vergangener Peacebuilding-Missionen kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Peacebuilder Demokratie priorisieren und in dem Masse fördern, wie es ihre Ressourcen zulassen. Aber stimmt das? Zuletzt haben Barnett und Zürcher (2006, 2008) einige Zweifel an dieser Annahme geweckt. Sie erheben Einwände gegen die Annahme, dass die Unterstützung des Demokratie-aufbaues einzig durch fehlende Ressourcen und fehlendes Personal limitiert wird. Vielmehr argumentieren sie, dass die Peacebuilder, wenn konfrontiert mit den Ge-gebenheiten vor Ort, einen pragmatischen Kurs wählen: Angesichts der geringen Nachfrage nach Demokratie in den Interventionsländern (zumindest seitens der Eliten) und der hohen Risiken ziehen sie es oft vor, mit Status quo orientierten Eli-ten zu kooperieren. Die Vorsicht der Peacebuilder ist nicht grundlos: Wir wissen mittlerweile, das Demokratisierung ein sehr risikobehafteter Prozess ist. In offe-nen politischen Räumen wird sich Wettbewerb zwischen vorherrschenden Eliten und Herausforderern üblicherweise intensivieren, aber die neuen demokratischen Strukturen sind zumeist noch zu schwach, um die politischen Auseinandersetzun-gen zu regulieren. Diese Gemengelage aus verschärftem Wettbewerb zwischen Eliten, plötzlicher, breiter politischer Partizipation und unterentwickelten demo-kratischen Institutionen ist risikoreich (Gleditsch 2002, Goldstone et al. 2005, Hegre et al. 2001, Mans eld & Snyder 1995, 2002; Snyder 2000). Peacebuilder sind deswegen nur selten bereit, die staatstragenden Eliten zur Implementierung derjenigen Reformen zu drängen, welche die Stabilität bedrohen könnten. Peace-builder priorisieren Stabilität über Demokratie, was den Status Quo orientierten Eliten in die Hände spielt. Beispielsweise konnten Eliten in Bosnien, Kosovo,

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Rwanda and Tadjikistan den erheblichen Reformdruck, den Peacebuilder aufbau-ten, erfolgreich abwehren, indem sie behaupteten, die geforderten Reformen wür-den die heikle Nachkriegsstabilität gefährden.

Die Verhandlungsmacht der Peacebuilder ist aus einem weiteren Grund ein-geschränkt: Peacebuilder sind in hohem Maße von lokalen Akteuren abhängig. Schließlich ist deren Kooperation wesentliche Voraussetzung dafür, dass die ver-schiedenen Projekte der Peacebuilding-Mission zügig und reibungslos implemen-tiert werden können. Ohne die Zustimmung der lokalen Eliten können weder Pro-jekte umgesetzt noch die Sicherheit des internationalen Personals gewährleistet werden. Peacebuilder stehen aber unter starkem Druck, ihre Projekte abzuschlie-ßen – Karriere macht schließlich derjenige, der sein Budget ausgibt. Daraus ergibt sich ein starker Anreiz dazu, mit lokalen Eliten zu kooperieren, auch wenn diese nicht an demokratischen Reformen interessiert sind (Barnett et al. 2008).

Erschwerend kommt hinzu, dass Demokratien of unwillig sind, für Demo-kratisierung Ressourcen und eventuell sogar Menschenleben zu opfern, weil, wie Bueno de Mesquita und Downs (2006) glaubhaft argumentieren, die heimische Wählerschaft die Demokratisierung ferner Länder selten als politische Priorität ansieht. Entsprechend zögerlich unterstützen Politiker Demokratisierungsbemü-hungen in Nachkriegsgesellschaften, falls diese risikoreich oder kostspielig sind.

Und nicht zuletzt gilt auch, dass die Organisationsform der meisten Peace-building-Missionen kaum dazu geeignet ist, Anreize für politischen und sozialen Wandel zu schaffen. Die undurchsichtige Organisationsstruktur, die die verschie-denen Akteure verbindet, widerspricht faktisch oftmals den Prinzipien von ac-countability und Ef zienz, wie die ständigen Rufe nach einer besseren Koordina-tion unter den verschiedenen Peacebuildern zeigen.

Aus all diesen Gründen sind Peacebuilder zumeist nicht die vorbehaltlosen Demo-kratie-Förderer, als die sie sich gerne darstellen. Sie ziehen oftmals einen pragma-tischen Kurs vor, weil ihnen Stabilität wichtiger ist als Demokratie, weil sie auf die Kooperation mit den lokalen Eliten angewiesen sind, und weil Politiker in den Entsendeländern oft nicht willens sind, viel Geld für Demokratisierung auszuge-ben, wenn die heimischen Wähler damit nicht zu beeindrucken sind.

Gleichzeitig begrüßen lokale Eliten die liberalen Reformen, die ihnen die Peacebuilder auferlegen wollen, nicht immer mit offenen Armen. Dennoch lassen sich beide Seiten auf eine Interaktion ein, die zu großen Teilen von ständigen Verhandlungen geprägt ist, weil beide Seiten natürlich versuchen, ihre maximalen Ziele zu erreichen. Um die Performanz von Peacebuilding-Missionen zu verste-hen, müssen diese Aushandlungsprozesse, die wiederum zentraler Bestandteil ei-ner jeden Interventionskultur sind, verstanden werden.

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Zu Anschauungszwecken soll nun die Interaktion zwischen Peacebuildern und lo-kalen Eliten als ein einfaches Verhandlungsmodell dargestellt werden. Ich gehe von folgenden vereinfachenden Annahmen aus: Peacebuilder und lokale Eliten sind einheitliche Akteure, sie treten miteinander in Verhandlungen ein über die Reformen, welche den Frieden bringen sollen, und die Ressourcen, die für die Umsetzung dieser Reformen notwendig sind. Nehmen wir an, dass die Peace-builder den ersten Zug machen und den lokalen Eliten ein Paket anbieten, das aus Ressourcen und bestimmten Reformvorschlägen besteht. Wenn die lokalen Eliten diesen Vorschlag akzeptieren, ist der Aushandlungsprozess abgeschlossen, und die Peacebuilder und die lokalen Eliten beginnen gemeinsam mit der Umsetzung der Reformen, welche zu einem demokratischen Endzustand führen sollen.

Aber die lokalen Eliten können das Angebot auch ablehnen und stattdessen ein Reformpaket vorschlagen, aus dem ein weit weniger demokratischer Staat hervorgehen würde. Die Peacebuilder haben nun drei Optionen. Sie ziehen sich aus dem Friedensprozess zurück, sie versuchen, die lokalen Eliten zur Annahme des ersten Paketes zu zwingen, oder sie lassen sich auf Verhandlungen ein, die zu einer Aufweichung der demokratischen Reformagenda führen werden. Falls sie sich zurückziehen, besteht die Gefahr, dass wieder Krieg ausbricht, woraufhin die Peacebuilder an Ansehen verlieren würden. Wenn sie die Konfrontation mit den lokalen Eliten suchen, laufen sie Gefahr, als koloniale Verwalter zu erscheinen und nicht als neutrale Peacebuilder. Angesichts dessen erscheint die dritte Option möglicherweise als die beste.

Schwächen wir nun die vereinfachende Annahme ab, dass die lokalen Eliten ein einheitlicher Akteur sind. In vielen Nachkriegsgesellschaften gibt es mehr als nur eine relevante Elitengruppe. Neben den zentralen Eliten in der Hauptstadt mag es eine stake Opposition geben; Rebellengruppen mögen immer noch über Ein uss verfügen; lokal verwurzelte Provinz-Eliten könnten sich den Zentralisie-rungsbemühungen der zentralen Eliten widersetzen.

Nun nehmen wir an, dass das obige Spiel abermals gespielt wird, nur jetzt zwischen Peacebuildern, lokalen Eliten und einer zweiten lokalen Gruppe, die in der Provinz ihre Machtpositionen hat. Wie im ersten Spiel bieten die Peacebuilder als erstes ihr Reformpaket an. Bevor die lokalen Eliten dieses Paket annehmen oder ablehnen, müssen sie nun zunächst mit der zweiten lokalen Gruppe verhan-deln. Diese wird Reformen blockieren, welche auf eine Stärkung des Zentrums hinauslaufen werden – was aber gerade eines der Kernanliegen von internationa-len Missionen in fragilen Staaten ist.

Sollten beide Elitengruppen dem Reformpaket zustimmen, ist das Spiel vor-über. Wenn die zweite Gruppe aber den Vorschlag der Peacebuilder zurückweist, müssen sich die Mitglieder der zentralen Eliten entscheiden: Entweder verhan-deln sie mit den Peacebuildern über eine Schwächung des Reformpakets, oder

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sie versuchen, die Provinzeliten zur Zustimmung zum Reformpaket zu zwingen, was das Risiko eines abermaligen Bürgerkriegs in sich birgt. Dies aber wollen weder lokale Eliten noch die Peacebuilder. Ganz offensichtlich also erhöht sich die Komplexität des Spiels, wenn eine zweite Elitengruppe mitspielt. Aus Sicht der Peacebuilder ist das Spiel komplizierter geworden, weil ihr Reformpaket nun von zwei verschiedenen Gruppen akzeptiert werden muss. Zudem verstärkt die Existenz einer zweiten mächtigen lokalen Gruppe das, was ich das „Paradox der Schwäche“ nenne: Sobald zentrale Eliten-Akteure glaubwürdig versichern, dass bestimmte Reformen die Provinz-Eliten verprellen könnten, wodurch ein (Wie-der-)auf ammen des Krieges wahrscheinlicher würde, gewinnen zentrale Eliten an Verhandlungsmacht. Mit anderen Worten: Gerade wenn zentrale Eliten gegen-über den Provinzeliten (oder anderen oppositionellen Gruppen) relativ gesehen schwach sind, erhöht sich ihre Verhandlungsmacht gegenüber den Peacebuildern, wodurch tiefgreifende Reformen unwahrscheinlicher werden.

Dieses simple Modell verdeutlicht eines: Der Verlauf und das Endresultat des Peacebuilding-Prozesses wird entscheidend beein usst durch die Interaktion zwischen lokalen Eliten und Peacebuildern und durch die Verhandlungsmacht, die jede Gruppe zur Verfügung hat. Daraus folgt ein wichtiges Forschungsdesiderat: Wir müssen weit besser verstehen, wodurch Verhandlungsmacht und -strategien der lokalen Eliten beein usst werden: Welche Rolle spielt etwa das Vorhanden-sein natürlicher Ressourcen? Sind Eliten in ressourcenreichen Ländern weniger abhängig von den Ressourcen, welche Peacebuilder mitbringen, und deswegen auch weniger kooperativ? Welche Rolle spielt die militärische Stärke der Eliten? Welchen Ein uss hat die Legitimität und Akzeptanz, welche Eliten seitens der ei-genen Gesellschaft genießen? Welche Rolle kommt der Akzeptanz zu, welche die Peacebuilder genießen? Und wodurch wird diese Akzeptanz beein usst? Über all dies haben wir bislang so gut wie keine Einsichten. Dennoch scheint die Annahme, dass Interaktionen entscheidend das Ergebnis von Peacebuilding-Interventionen beein ussen, höchst plausibel, wie die folgenden Überlegungen zeigen.

Nach 1989 gab es zwanzig größere internationale Peacebuilding-Missionen.1 Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Freien Universität Berlin hat ein in-ternationales Team von Länderexperten zu neun dieser Missionen vergleichende Fallstudien erstellt.2 Bearbeitet wurden Rwanda, Mazedonien, Bosnien-Herzego-wina, Kosovo, Mozambique, Namibia, Afghanistan, Tadjikistan und Timor-Leste. In fünf dieser Fälle entwickelten sich hybride oder gänzlich autokratische Regime (Bosnien-Herzegowina, Afghanistan, Kosovo, Tadjikistan und Rwanda), wohin-

1 Gemäß den Daten von Doyle und Sambanis (2000) und Paris und Sisk (2008). 2 Erste Ergebnisse nden sich in der Juli Ausgabe (2009) des Taiwan Journal for Democracy, welches online zugänglich ist unter http://www.tfd.org.tw/english/tjd.php.

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gegen viermal demokratische Strukturen entstanden (Namibia, Mazedonien, Mo-zambique und Timor-Leste).

Interessanterweise scheint es so, dass in Bezug auf die Faktoren, welche üblicherweise für Erfolg oder Scheitern von Friedensmissionen verantwortlich gemacht werden, keine regelhafte Zuordnung erkennbar ist. Weder robuste und intrusive Missionen, noch Armut, noch Ausmaß der aufgewendeten Hilfsgelder korreliert regelhaft mit Erfolg bzw. Misserfolg.

Zwei der vier „Erfolgsfälle“ nden sich in sehr armen Ländern (Mozambique und Timor-Leste), zwei in im weltweiten Vergleich relativ wohlhabenden Ländern (Mazedonien und Namibia). Von den insgesamt fünf militärisch robusten und in-trusiven Missionen ist nur eine in einem „Erfolgsland“ angesiedelt (Timor). Die Ausgaben für Entwicklungshilfe pro Einwohner waren mittel bis hoch in Mozam-bique und Timor-Leste, aber niedrig in Namibia und Mazedonien. Es korrelieren also weder große Eingriffstiefe, noch hoher Ressourceneinsatz, noch das Niveau der Entwicklungshilfe, noch die Kapazität der jeweiligen Nachkriegsgesellschaft mit einer erfolgreichen Demokratisierung. Aus dieser Einsicht folgt, dass das Er-gebnis von Peacebuilding Prozessen kaum jemals von strukturellen Faktoren al-leine bestimmt ist.

Eine nähere Betrachtung der Fälle mit wenig erfolgreicher Nachkriegs-De-mokratisierung zeigt, dass – wie vermutet – Peacebuilder und lokale Eliten sich faktisch auf ein Reformpaket verständigt haben, welches den Nachkriegs-Status Quo weitgehend intakt lässt und demnach nicht-demokratische Modi der Regie-rungen fortbestehen lässt.3

Mit Ausnahme von Namibia und Mozambique haben es die lokalen Eliten in allen Fällen geschafft, das ursprünglich vorgeschlagene Reformpakt neu aus-zuhandeln und die Vision des liberalen Friedens zünftig herunterzukochen. Der stärkste Trumpf der Eliten war Sicherheit. Peacebuilder akzeptierten Revisionen ihrer Reformpakete in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Rwanda, Afghanistan und in einem gewissen Ausmaß in Timor-Leste angesichts einer Sicherheitslage, die sich zu verschlechtern drohte. Das oft wiederholte Argument der lokalen Eliten war, dass jedwede weitere Demokratisierung die prekäre Sicherheitslage und die Balance zwischen den ethnischen Gruppen destabilisieren könnte. In Bosnien-Her-zegowina und Kosovo erwies sich die Zielvorstellung der Peacebuilder von einer multiethnischen und demokratischen Gesellschaft als undurchführbar. Selbst ein gewaltiger Ressourceneinsatz konnte das Haupthindernis eines demokratischen Friedens nicht aus dem Weg räumen: ethnische Politik. Die ethnischen Parteien in Bosnien-Herzegowina behandelten ihrer Gebiete wie Fürstentümer und waren

3 Eine detaillierte Darstellung des Modells ndet sich bei Barnett, Fang und Zürcher (2008), Barnett und Zürcher (2008) und Paris und Sisk (2008).

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nicht willens, Autonomie an den Zentralstaat abzugeben. In Kosovo brachten die Ausschreitungen im März 2004 die internationale Gemeinschaft dazu, dem Koso-vo Unabhängigkeit zu gewähren und dabei den „Standards before Status“-Ansatz aufzugeben, der besagte, dass staatliche Unabhängigkeit nur durch Fortschritte in Good Governance zu erreichen sei. In beiden Fällen haben die Peacebuilder so die ethnische Separation unterstützt.

In Afghanistan, dem vielleicht deutlichsten Fall einer Revision der Reform-vorhaben, fühlt sich die herrschende Elite zunehmend nicht mehr dem Ziel der Demokratisierung verp ichtet, Korruption nimmt zu und Good Governance ist ein ferner Traum. Dennoch hält die internationale Gemeinschaft an ihrem Enga-gement fest, weil sie fürchtet, die Unterstützung der lokalen Eliten zu verlieren.

Die Revisionen in Timor-Leste elen im Vergleich zu Afghansitan relativ bescheiden aus. Nach einer Reihe von Ausschreitungen in 2006 hat die interna-tionale Gemeinschaft ihre Einstellung zu ökonomischer Liberalisierung überdacht und den lokalen Eliten ein größeres Mitspracherecht in der einheimichen Politik zugestanden.

In Tadjikistan und Rwanda haben die Peacebuilder akzeptiert, dass die loka-len Eliten ihrer Länder autokratisch regieren. In Tadjikistan hatten die Peacebuil-der nur wenig Ressourcen zur Verfügung, sodass sie kaum oder gar keinen Druck auf die Regierung ausüben konnten. Im Gegensatz dazu hätten die Geberländer das Regime in Rwanda durchaus unter Druck setzen können, da das Funktionie-ren des rwandesischen Staates weitgehend von Hilfsgeldern abhängt. Die Geber haben diesen Hebel nicht eingesetzt, weil die lokalen Eliten nachdrücklich darauf verwiesen, dass demokratische Reformen die labile Stabilität nach dem Genozid gefährden würden.

Zusammenfassend lässt sich folgendes feststellen: Die Wirkungsmacht von Peace-building-Missionen in Bezug auf die Schaffung von Demokratie ist begrenzt. Intrusive und militärisch ausreichend unterstützte Missionen können wohl den Frieden sichern, aber sie können nicht Demokratie installieren. Auch da, wo die internationale Gemeinschaft gewaltige Ressourcen einsetzt, stößt sie an ihre (De-mokratisierungs-)Grenze. Strukturelle Faktoren alleine können diese Grenze nicht befriedigend erklären. Vielmehr scheint es in der Tat so, als ob die Ergebnisse einer Nachkriegstransition zu einem erheblichen Teil von Interaktion zwischen Peacebuildern und den lokalen Eliten bestimmt werden. Wenn wir diese Inter-aktion empirisch und analytisch verstehen wollen, müssen wir die Präferenzen der Peacebuilder und der lokalen Eliten identi zieren, ihre sinnstiftenden Deu-tungsmuster, ihr strategisches und taktisches Verhandeln und die symbolischen und materiellen Ressourcen, die sie mobilisieren, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Kurz gesagt: Untersucht werden muss die dichte soziale Interaktion

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zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen – Peacebuildern und lokalen Eli-ten, die die „Interventionskultur“ bilden. Ich halte das für eine spannende und lohnenswerte Aufgabe.

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