Tina Rieß - Land der Sonne

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Leseprobe: Tina Rieß - Land der Sonne, Taschenbuch, Taschenbuch, 192 Seiten, ISBN 978-3-86196-604-3. Ein Land. Und Lilly. Die Auserwählte. Als Lilly mit ihrer Familie während der Sommerferien in den Urlaub fährt, verschwindet sie plötzlich bei einer Wanderung und findet sich im sagenumwobenen Land der Sonne wieder. Der faszinierende Charme des naturbelassenen Landes nimmt sie sofort für sich ein, doch schon bald erfährt sie von den Dienern des Schattens, die es eingenommen haben und es zu zerstören drohen. Nur Lilly kann das Land der Sonne jetzt noch retten, indem sie sich auf eine lange Reise begibt, die ihr aber auch die vielen Wunder des Landes preisgibt.

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2016 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2016

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deTitelbild: Katharina Bouillon

Druck: bookpress / PolenGedruckt in Deutschland

ISBN: 978-3-86196-604-3 – Taschenbuch

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Tina Rieß

Land der Sonne

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Für meine Familie und meinen Freund, die mich immer unterstützen,

und für meine beste Freundin. Sie weiß, warum.

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Kapitel 1

Berge, deren Gipfel in den feinen Nebelschwaden einfach so im Himmel verschwanden, als würden sie sich vor neugierigen Blicken schützen wollen und somit einen Teil ihrer selbst ganz für sich be-anspruchen, und weitläufige Wiesen, auf welchen zu dieser Jahreszeit die Blüten mit ihrer vollen Pracht prahlten.

Erwartungsvoll sah Lilly aus dem kleinen Fenster des Autos. Eigent-lich war es ja ganz schön hier, doch ein Urlaub am Meer mit Sonne, Sand und Strand hätte sich viel interessanter angehört als ein Familien-urlaub in den bayerischen Bergen. Aber nein, sie hatten mal wieder nicht das Geld für Ferien am Meer und so saß Lilly jetzt mit ihren zwei jüngeren Geschwistern Caro und Janis sowie ihren Eltern in ihrem sti-ckigen Auto bei gefühlten 40 Grad. Ihre zwölfjährige Schwester mit den dunklen Haaren und der neunjährige Bruder blickten schon voll gespannter Erwartung aus den beiden Fenstern jeweils zu ihrer Linken und ihrer Rechten.

„Wann sind wir denn da, Paps?“, fragte Lilly ihren Vater, der gut gelaunt am Steuer des Wagens saß.

Seine kurzen braunen Haare zeigten schon einige Grautöne in dem gleißenden Sonnenlicht, welches durch die Fenster hereinfiel. Außer-dem zierte sein Gesicht ein kleiner Schnauzbart. Ihn konnte eigentlich nie etwas aus der Ruhe bringen, doch soweit Lilly sich erinnern konnte, gab es da einige Kleinigkeiten. Einmal zum Beispiel hatte Janis sei-nen Lieblingsradiosender im Auto verstellt, da wäre er fast explodiert. Ansonsten war ihr Vater aber der beste auf der ganzen Welt, er hatte immer ein Ohr für seine Kinder und mit ihm konnte man auch mal so richtig herzhaft lachen.

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Mit ihrer Mutter hatte Lilly ein ebenso gutes Verhältnis, nur wenn es Streit mit ihr gab, konnten schon mal die Türen krachen. Ihre Haare glänzten anders als bei ihrer Tochter in einem dunklen Kastanienbraun und fielen ihr bis auf die Schultern. Lilly selbst besaß hüftlange nuss-blonde Haare, auf die sie sehr stolz war, und ihre Augen leuchteten in einem dunklen, sehr anmutigen Blauton. Insgesamt liebte Lilly ihre Familie sehr, doch auf diesen Urlaub hatte sie nicht einmal ein klein wenig Vorfreude verspürt, so sehr war sie enttäuscht gewesen, dass der Urlaub am Meer schon wieder ins Wasser fiel.

„Also, lange kann es nicht mehr dauern, wäre diese Umleitung vor-hin nicht gewesen, wären wir bestimmt schon da, Lilly. Schau doch einfach noch ein wenig aus dem Fenster und genieße diese wundervolle Landschaft. Ist sie nicht herrlich?“, meinte ihr Vater gerade.

„Natürlich, Liebling, mit dieser Pension hast du echt einen Glücks-griff gemacht. Sie ist billig und die Landschaft ist echt traumhaft!“, fiel die Mutter ein und gab ihrem Mann einen Kuss. Dass der Vater dasselbe vor genau einer Stunde schon gesagt hatte, fiel anscheinend keinem außer Lilly auf.

Sie ließ den Blick kurz aus dem Fenster schweifen. Überall wo man hinsah, erblickte man sattgrüne Bäume, Büsche und Wiesen. Außer-dem blühten zu dieser Jahreszeit gerade unzählige bunte Blumen, so-weit das Auge reichte. Im Hintergrund zeichneten sich sanft die Berge in einem gräulichen Ton ab.

Lilly seufzte. Natürlich war es hier wunderschön, doch ihre Begeis-terung wollte sich noch hinter einer trotzigen Fassade verstecken. So kramte sie noch einmal ihr Buch aus der Tasche und vertiefte sich da-rin. Die 16-Jährige las leidenschaftlich gern und ging dazu am liebsten ins Freie. In der hintersten Ecke ihres Gartens zu Hause stand eine riesige Eiche und Lilly legte sich meistens in deren Schatten ins Gras, um dort in ihren geliebten Romanen zu versinken. Da konnten schon mal Stunden vergehen, bis man das Mädchen wiedersah.

Das Auto bog gerade um eine Kurve, als der Vater sagte: „Ich glaube, hier muss es sein. Ja, genau, Pension Bergblick, da ist sie! Sieht doch gemütlich aus oder nicht? Also mir gefällt es hier!“

Ja, hübsch sah diese Pension wirklich aus. Und für einen Moment vergaß Lilly sogar ihre trübe Stimmung und war neugierig auf das, was sie erwartete. Ihr Vater parkte auf einem Parkplatz gleich neben der

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Herberge. Lilly stieg aus und holte ihren Koffer aus dem Kofferraum, um anschließend mit ihrer Familie das ländliche Haus zu betreten. In-nen erwartete sie schon eine junge Frau, die etwa 20 Jahre alt war, sie freundlich empfing und ihnen die Zimmerschlüssel überreichte.

„Also, das hier ist euer Schlüssel“, erklärte der Vater, als er diesen Lilly und ihrer kleinen Schwester übergab. Janis sollte bei den Eltern mit im Zimmer schlafen.

Sie mussten zwei Treppen nach oben steigen, bis sie endlich ihre Zimmer fanden.

„Dann wollen wir mal“, meinte Lilly zu ihrer jüngeren Schwester und sperrte die Zimmertür auf.

Als sie den Raum betraten, sahen sie sich erst einmal neugierig um. Er war nicht sehr groß, doch gemütlich eingerichtet. Gleich neben der Tür befand sich ein Schrank, der aus massivem Holz bestand. In der Mitte des Raumes standen zwei Stühle und ein Tisch, auf dem sorgfäl-tig ein schneeweißes Tuch ausgebreitet worden war und eine Vase mit duftenden Blumen sie willkommen hieß. An der Wand direkt gegen-über der Tür war ein riesiges Fenster eingelassen, unter dem einladend ein Bett stand. Das zweite Bett befand sich an der anderen Seite neben dem Schrank. Außerdem führte eine weitere Tür in ein geräumiges Badezimmer.

„Hier ist es echt schön, oder?“, rief Caro begeistert. „Also mir gefällt es auf jeden Fall!“

Ja, ihre Schwester hatte sich tatsächlich auf diesen Urlaub gefreut, das hatte Lilly ganz vergessen. Schon einen Monat vorher hatte sie an-gefangen, die Tage bis zur Abfahrt auf ihrem Kalender abzuhaken. Bei Lilly war es anders gewesen. Aus Trotz hatte sie erst einen Tag vor der Abreise spätnachts ihren Koffer gepackt, damit alle dachten, sie fahre nicht mit. Schließlich hatte sie sich doch dazu durchgerungen, denn die bayerischen Berge waren immer noch besser, als die ganzen Ferien allein zu Hause zu verbringen.

„Ja, sieht recht nett aus“, meinte Lilly und setzte sich auf das Bett, welches direkt unter dem großen Fenster stand. Von hier aus hatte man einen prächtigen Ausblick auf die Berge. Einzig und allein die fantas-tische Landschaft konnte das Mädchen aufmuntern, da es sich schon immer gern draußen aufgehalten hatte und dort die schönsten Motive fotografierte. Lilly gefiel die Ruhe in der Natur.

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„Ich komm gleich!“, rief Lilly aus dem Badezimmer Caro zu, die in ihrem Zimmer wartete. Sie hatte gerade geduscht und tuschte sich noch schnell die Wimpern. Sie musste zugeben, dass sie heute Nacht geschlafen hatte wie ein Murmeltier, so wohl hatte sie sich sofort ge-fühlt. Die Betten waren gemütlich und mit Blick auf die Berge war sie friedlich eingeschlummert. Sie kämmte sich noch schnell die langen Haare, die sie heute offen trug, und ging dann gemeinsam mit Caro zum Speisesaal, wo die Eltern und Janis bereits warteten. Die beiden Schwestern setzten sich zu ihnen an den großen, runden Tisch, den eine antike Vase mit Orchideen zierte.

„Und habt ihr gut geschlafen?“, fragte die Mutter sogleich.„Hervorragend!“, sagte Caro begeistert und griff nach einem Toast.

Im Hintergrund lief irgendein Radiosender und der Sprecher verkün-dete gerade die Wetteraussichten.

„Ja, ganz gut“, antwortete Lilly achselzuckend und nahm sich ein Brötchen, das sie mit Himbeermarmelade beschmierte.

„Also kommen wir zu unserer heutigen Tagesplanung“, fing der Vater an. „Wir würden gerne eine kleine Tour durch die Berge unternehmen. Belegte Brötchen für heute Mittag sind schon bestellt und gleich nach dem Frühstück wollen wir los. Na, was haltet ihr davon?“

Lilly seufzte und biss in ihr Brötchen. Die Marmelade war für ihren Geschmack ein bisschen zu süß geraten. Caro war natürlich begeis-tert von der Idee ihrer Eltern, doch Lilly hatte eigentlich keine große Lust auf eine Wandertour. Vielmehr wollte sie sich ein schönes ruhiges Plätzchen suchen, an dem sie lesen konnte. Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, klang der Plan vielleicht doch nicht so schlecht.

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Einerseits würde sie bei der Bergtour die wunderschöne Landschaft besser kennenlernen und andererseits wollte sie ihrem Vater die gute Laune nicht schon am ersten Morgen verhageln.

„Okay, hört sich gar nicht mal so schlecht an“, stimmte Lilly also zu. „Wo wollt ihr denn genau hinwandern?“

Freudig antwortete ihr Vater: „Die Wirtin hier hat uns von einer Hütte oben in den Bergen erzählt, in der man auch essen kann. Ich denke, dass dies ein perfektes Ziel wäre, und wenn wir uns dort aus-geruht haben, kehren wir um, sodass wir abends wieder hier sind.“

„Mmh, das klingt gut“, nuschelte Lilly, als sie noch einmal in ihr Brötchen biss.

Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer und holte ihren Rucksack hervor, in den sie die nötigsten Sachen packte. Eine halbe Stunde später traf sich die Familie vor dem Haus, um gemeinsam zu der Wanderung aufzubrechen, die für Lilly niemals enden und ihr Leben komplett auf den Kopf stellen würde.

Sie liefen durch das noch schlafende Dorf – vorbei an der Kirche und Häusern mit kleinen, hübschen Gärten. So früh am Morgen war es noch ruhig hier und wenige Menschen waren zu sehen. Lilly zog ihre dünne Jacke enger um sich und atmete die kristallklare Luft des Morgentaus, welcher von den Bergen her in das Tal zog und sich im Dorf verbreitete, tief ein. Ihr gefiel die morgendliche Stille und sie ver-suchte, den Augenblick festzuhalten.

Nach einiger Zeit verließen sie das Dorf und begannen nun langsam den Anstieg auf einen Berg. Lilly ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Am Rand des schmalen Feldweges, auf dem sie gingen, stan-den einzelne Bäume und Büsche. Rings um sie bestand der größte Teil der Fläche nur aus Wiese, auf welcher der Morgenreif im aufgehenden Sonnenlicht glitzerte und funkelte, als bestände er aus vielen winzigen Diamanten und Kristallen.

Ihr Blick wanderte hinauf zum Himmel. Es war keine einzige Wolke in dem klaren Blau zu erkennen, das sich endlos bis zu den Berggipfeln zu erstrecken schien. Außerdem hörte Lilly ein paar Vögel, die ganz in der Nähe schon munter um die Wette zwitscherten.

So liefen die fünf gut drei Stunden weiter, bis sie ihre erste Rast ein-legten. Ihr Vater hatte ein schattiges Plätzchen inmitten einer kleinen Baumallee, welche nur ein kleines Stück entfernt vom eigentlichen

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Weg lag, gefunden. Lilly setzte sich auf einen kleinen Baumstumpf und packte ein belegtes Brötchen aus, um es zu essen.

„Ich habe gehört, hier oben soll es ein paar seltene Blumen geben, die ideal für schöne Motive sind“, berichtete ihr Vater.

Lilly horchte auf. Vielleicht würden die Ferien hier doch nicht so schlimm werden. Sofort sprang sie auf und griff wieder nach ihrem Rucksack. „Danke!“, meinte sie lächelnd zu ihrem Vater, der ihr zu-zwinkerte.

„Aber bleib nicht zu lange fort, wir wollen bald wieder aufbrechen.“„Keine Sorge, ihr könnt euch auf mich verlassen“, versprach das

Mädchen und ging los. Fotografieren und lesen – das waren ihre zwei größten Leidenschaften, die sie nur allzu gern bei jeder bestmöglichen Gelegenheit ausübte. Eilig lief sie weiter und gelangte bald auf die tau-frische Wiese. Tatsächlich entdeckte Lilly gleich ein paar hübsche Mo-tive und zückte sofort ihre Kamera.

Gerade als sie ein Foto von einer seltsam schönen Blume machte, hörte sie diese seltsamen Geräusche – ähnlich wie kleine, zierliche Stimmen. Sie erschrak und sah sich um, doch hier war weit und breit niemand zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet. Lilly entdeckte bald weitere tolle Fotomotive: Bäume mit gut duften-den, weißen Blüten, und Büsche, an denen zartrosa Blüten trieben. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen, sie musste alles unbedingt fotografieren. Immer weiter lief Lilly, bis sie plötzlich wieder diese ko-mischen Laute hörte, doch diesmal waren sie lauter – fast so, als würde irgendjemand neben ihr stehen und ihr ins Ohr flüstern. Ihr wurde et-was mulmig, sie spürte aber den Drang, weiterzugehen. Sie lief, bis sie inmitten von dicht mit weißen, herrlich duftenden Blüten übersäten Bäumen stand. Lilly hielt an und versuchte, diese Idylle zu genießen. Wieder drangen die Laute zu ihr, diesmal waren sie etwas deutlicher, Lilly konnte ein Wirrwarr verschiedener Stimmen hören. Doch sie ver-stand nur soviel wie „Hilf uns“ und „Sie ist die richtige“.

Lilly erschrak und fuhr zusammen.„Wer ist da?“, rief sie mit kratzender Stimme.Doch anstatt einer Antwort drehte sich auf einmal alles um sie he-

rum, die Bäume und Büsche verschwammen vor ihren Augen, bis sie nur noch die Augen schloss. Sie wollte schreien, doch Lilly bekam kei-nen Ton heraus. Was war hier nur los?

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Als Lilly zu sich kam, dachte sie im ersten Moment, das alles sei nur ein seltsamer Traum gewesen. Doch dann öffnete sie vorsichtig die Augen. Sie versuchte aufzustehen, obwohl ihre Beine zitterten, und sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, alles sah so anders aus, überall Natur pur, keine Spur von den lärmenden Straßen, die man eben noch in der Ferne erahnen konnte, oder der Kirchturmspitze, die sich inmitten des nahen Dorfes erhoben hatte. Stattdessen standen überall wunderschöne Bäume mit herrlich duftenden weißen Blüten, dichte Büsche oder leuchtende Blumen ...

Lilly lief ein Stück, ihre Beine zitterten nicht mehr ganz so heftig, und sah sich dabei staunend um. Sie konnte sogar ein Kornfeld ent-decken. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne schien fröhlich auf diese atemberaubende Umgebung herab.

Lilly bemerkte, dass sie noch immer ihre Kamera in der Hand hielt, und steckte diese in den Rucksack, den sie überraschenderweise eben-falls noch bei sich trug. Wo war sie hier nur gelandet und wo war ihre Familie? Es schien ihr, als befände sie sich in einer komplett fremden Welt, zumindest hatte sie diesen Ort noch nie gesehen. Hier schienen sogar die Steine zu glänzen, als wären sie gerade eben erst poliert wor-den. Die Landschaft war einfach nur wunderschön.

Lilly lief planlos umher auf der Suche nach ihren Eltern und Ge-schwistern, sie rief nach ihnen, nannte jeden beim Namen, doch es schien ihr, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Wo waren sie nur?

Den ganzen Tag über hetzte Lilly durch die Gegend, wandte sich su-chend in die eine Richtung und marschierte verzweifelt in die andere, bis es schließlich dämmerte und sie völlig erschöpft war. Sie beschloss,

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sich unter einen Baum zu legen und sich ein wenig auszuruhen. Gerade schloss sie die Augen, als sie die Stimmen hörte, scharf und deutlich. Sie dachte zuerst, sie würde sie sich nur einbilden, doch dann spürte sie einen Hauch an ihrem Gesicht. Erschrocken öffnete Lilly die Augen und schrie auf. Direkt über sie gebeugt, stand ein seltsames Wesen, es war etwa so klein wie ein fünfjähriges Kind. Sie sah sich irritiert um und bemerkte, dass sie von fremdartigen Geschöpfen umringt war. Ei-nige glichen Elfen und Feen, sie waren wunderschön und ihre schwir-renden Flügel glitzerten und glänzten. Andere sahen aus wie Kobolde oder Zwerge, so wie das Wesen, das sich über sie gebeugt hatte. Doch so etwas gab es nicht! Sie kannte diese Figuren zwar aus ihren Lieblings-geschichten, aber nun standen sie leibhaftig vor ihr und starrten sie an.

„Was ... wo ... wo bin ich hier und wer seid ihr?“, stammelte Lilly ängstlich.

Der Zwerg vor ihr räusperte sich und antwortete dann: „Herzlich willkommen im Land der Sonne, junger Mensch. Wir haben auf dich gewartet, wir wussten, dass jemand kommen und uns helfen würde. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben, wir werden dir, so gut es geht, beistehen und treue Gefährten sein.“

„Helfen ... wobei? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen?“ Was redete der komische Gnom vor ihr da nur? Nervosität machte sich in Lilly breit.

„Du bist durch deine unstillbare Sehnsucht hierhergelangt, Men-schenkind. Du verzehrst dich nach der vollkommenen Ruhe und der Schönheit der Natur. Dieses Verlangen hat dich in unsere Welt geführt.“

„Was ... was redest du da? So ein Unsinn! Wie soll ich in so kurzer Zeit in eine andere Welt gekommen sein?“ Lilly schüttelte verwirrt den Kopf, es war einfach unmöglich.

„Unterbrich mich nicht! Es ist geschehen, du bist die Auserwählte, unsere letzte Hoffnung! Nur du allein kannst dieses Land retten, doch wie gesagt: Wir werden dir helfen. Unsere Heimat hat ihren Namen nicht ohne Grund bekommen. Du siehst sicher die herrliche Natur, die uns umgibt, mehr brauchen wir zum Leben nicht. Außerdem scheint bei uns stets die Sonne, außer natürlich in der Nacht, und hält die Pflanzen am Leben. Dies ist bisher immer so gewesen ... bis die Schergen aus dem Land der Schatten kamen. Wir wissen nicht, wie sie

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hierher gefunden haben. Sie zerstören unsere Heimat, vernichten alles und sorgen mit ihren Ritualen dafür, dass es immer öfter regnet. Bei uns leben die Pflanzen nur durch die Sonne, Regen ist verheerend für sie. Sie sterben dadurch, verstehst du?“

Lilly schwirrte der Kopf, das war alles etwas viel auf einmal. Sie wuss-te im Moment nur, dass sie unglaublich müde war und überhaupt nicht verstand, was sie hier tat. Wahrscheinlich war sie nur irgend-wo eingeschlafen und würde jeden Moment wieder aufwachen. Ja, so musste es ein!

Sie atmete noch ein paarmal tief ein und ließ sich das eben Gehör-te dabei durch den Kopf gehen. „Wie soll ich euch denn helfen? Ich weiß doch gar nichts über euer Land. Das kann doch alles nicht sein!“, brachte Lilly schließlich verzweifelt hervor.

„Oh doch, es ist wahr, so wahr, wie ich hier vor dir stehe. Doch jetzt ruh dich erst einmal aus, du siehst erschöpft aus“, meinte der Zwerg. „Wir haben in der Nähe unser Lager aufgeschlagen, komm doch mit uns. Ich bin übrigens Kalu!“ Freundlich hielt er ihr die Hand hin.

Lilly musterte sie kurz und musste sich ein leichtes Grinsen verknei-fen. Sie hatte in etwa die Größe einer Kinderhand. Schließlich ergriff sie das Zwergenhändchen, schüttelte es kurz und versuchte, wenigstens ein bisschen zu lächeln, auch wenn alles in ihr sich dagegen sträubte. Vielleicht war sie ja entführt worden ...

„Mein Name ist Lilly“, murmelte sie.„Schön, Lilly, wir sind sehr erfreut, dass du zu uns gekommen bist!“,

strahlte der Zwerg sie an. Sie wollte schon antworten, dass sie eigent-lich nicht freiwillig hier sei, außerdem hatte sie noch so viele Fragen, doch dafür war sie einfach zu müde. Kalu stand auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er führte sie zu einem schlichten weißen Leinenzelt, welches auf einer weitläufigen Wiese stand. „Das hier ist deine Unter-kunft. Ich wünsche dir eine gute Nacht“, erklärte er und wandte sich ab. Doch nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Ich freue mich schon auf morgen, wenn wir dich näher kennen-lernen dürfen, Lilly“, offenbarte er und Lilly hatte das Gefühl, dass er es ernst meinte. Sie starrte ihm mit ausdrucksloser Miene hinterher, bis er zwischen ein paar Büschen verschwunden war.

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Langsam öffnete Lilly die Augen und starrte die weiße Wand des Zeltes an, durch die schon gleißendes Sonnenlicht drang. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sie sich erinnerte.

Sie war also immer noch hier. Kein Traum.Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Ihr Rücken schmerzte

ein wenig von der langen Nacht auf dem harten Boden, doch sie hatte jetzt andere Sorgen. Wenn das hier gerade wirklich alles passierte, dann musste sie also ein Land retten ... Das konnte nicht sein! Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und verließ deshalb schnell das Zelt.

Die meisten Wesen hatten im Freien geschlafen, der Anzahl der Zelte nach zu urteilen. Es roch nach verbranntem Holz und Morgentau, als Lilly über die Wiese schritt. Diese war noch nass und in dem kleinen Tal hatte sich der morgendliche Nebel ausgebreitet. Einige Vögel zwit-scherten schon munter vor sich hin, als sie ihre Schuhe auszog und barfuß durch das taufeuchte Gras schlenderte. Vor sich sah Lilly eine ausgebrannte Feuerstelle. Um sie herum saßen schon einige Geschöpfe, auch Kalu entdeckte sie unter ihnen.

„Guten Morgen, Lilly! Na, hast du gut geschlafen?“, fragte er munter. „Ja, ganz gut. Doch ich hab das alles hier noch nicht richtig reali-

siert“, meinte sie und setzte sich neben den Zwerg.„Das glaub ich dir. Aber es ist nun mal wahr, du bist hier. Wir haben

uns schon Frühstück besorgt, das ist für dich.“ Lächelnd hielt er ihr eine Schüssel aus Holz hin, in der dunkelblaue Beeren lagen. „Ver-mutlich ist es nicht das, was du sonst isst, aber es wird dir schmecken.“

Verlegen, weil sie gezögert hatte, nahm Lilly die Schüssel und ver-suchte, die Beeren irgendwie herunterzubekommen. Doch so schlecht

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schmeckten sie nicht einmal. Während sie aß, sprach Kalu weiter: „Wir haben dir gestern von den Dienern des Schattens erzählt. Sie zerstören unser Land und töten wahllos unsere Artgenossen. Damit du vielleicht besser verstehst, warum dich alle so bewundernd anstarren, erkläre ich dir noch mal genauer deine Bedeutung. Du bist die Hoffnung vieler, verstehst du? Schon lange hat die Wahrsagerin am Ende des langen Flusses vorausgesagt, dass bald ein Menschenkind mit einer unglaub-lichen Liebe zur Natur zu uns finden und uns helfen würde, die Be-wohner des Schattenlandes zu vernichten. Sie prophezeite, dass nur dieser auserwählte Mensch wissen würde, wie das ginge.“

Lilly starrte Kalu ungläubig an und vergaß für einen Moment die Beere, die sie gerade zu ihrem Mund führen wollte. Schnell schnappte sie sich eine Elfe und verschwand mit ihrer Beute. „Woher soll ich wissen, wie man diese bösen Diener vernichtet? Ich kannte sie vor ein paar Stunden noch nicht einmal!“

Völlig ruhig antwortete Kalu: „Die Wahrsagerin sprach von einem Lied, einem sehr wertvollen Lied. Nur sie weiß, wo das Blatt, auf dem es steht, verborgen ist, und sie sagte, nur ein Menschenkind würde den Text verstehen. Wir werden nun aufbrechen, um sie zu suchen, damit sie dir sagt, wo das Blatt ist.“

„Aber wie wird uns ein Lied weiterhelfen, unsere Feinde zu vernich-ten?“, fragte Lilly ratlos.

Plötzlich sprang der Zwerg auf und rief: „Du wirst uns also dabei helfen, uns und unser Land zu retten? Wir sind dir wirklich unendlich dankbar, Lilly! Wir werden dir, so gut es geht, zur Seite stehen.“

„Ja, natürlich werde ich euch helfen, ich muss sagen, mir gefällt dieses Land immer besser!“, gestand Lilly und betrachtete gedankenverloren die wundervolle Natur ringsherum. „Aber was ist mit meiner Frage?“, nahm sie schließlich den Faden wieder auf, nachdem sie sich von dem traumhaften Anblick losgerissen hatte.

„Deine Frage, stimmt“, bestätigte der Zwerg, vor Freude immer noch ganz rot im Gesicht. „Also, so genau weiß ich das auch nicht, die Wahr-sagerin wollte nur dir das Geheimnis anvertrauen. Sie war sich aber sicher, dass uns dieses Lied weiterhelfen würde. Mehr kann ich dazu nicht sagen, tut mir leid.“

Eine Frage brannte Lilly noch auf der Zunge: „Was ist mit meinen Eltern? Die fragen sich doch bestimmt schon, wo ich bin?“

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„Sicher, aber keine Sorge, wir haben sie vergessen lassen. Einfach nur vergessen lassen. Und wenn du zurückkehrst, wird alles wieder so sein, wie es war.“

Was sollte diese rätselhafte Antwort nun schon wieder bedeuten? Doch Lilly hatte keine Chance, noch mehr zu fragen, da Kalu im nächsten Moment schon auf die Zelte zuging. Sie hörte noch, wie er sagte, dass sie in einer Stunde aufbrechen würden, um die Wahrsagerin aufzusuchen.

Sie waren nun schon über zwei Stunden unterwegs, marschierten vorbei an Büschen und Bäumen, an Flüssen und Felsen. Die Sonne brannte inzwischen so stark vom Himmel herab, dass Lillys Stirn glüh-te. Sie wollte sich am liebsten unter irgendeinen schattigen Baum legen und ausruhen.

„Wo genau wohnt denn diese Wahrsagerin?“, fragte sie keuchend. „Und wie lange werden wir brauchen, um zum Ende dieses langen Flusses zu gelangen?“

„Nun, die Wahrsagerin wohnt hinter dem wunderschönen Wasser-fall. Und wenn wir nur wenige Pausen einlegen, abgesehen von denen zum Schlafen, werden wir gute zwei Tage brauchen, bis wir bei ihr sind.“

Zwei Tage? Lilly hatte vielleicht mit ein paar Stunden gerechnet, aber doch nicht mit einer Mehrtagesreise! Doch um Kalu nicht zu ver-ärgern, sagte sie nichts darauf, sondern lief schweigend weiter.

Gegen Mittag machten sie halt und setzten sich unter eine große Eiche, die ihnen Schatten spendete. Gerade als Lilly sich neben den Zwerg gesetzt hatte, kam eine kleine Frau auf sie zu, wahrscheinlich war sie auch ein Zwerg. Zuerst gab sie Lilly eine Holzschüssel, die diesmal mit roten Beeren gefüllt war, dann reichte sie auch Kalu eine. Dieser konnte es anscheinend kaum erwarten, endlich etwas zu essen zu bekommen, da er sich schnell die Schüssel griff, hastig die Beeren verschlang und dabei so laut schmatzte, wie Lilly es noch nie zuvor gehört hatte. Na ja, außer einmal, als ihre Tante zu Besuch gewesen war und Janis zuvor noch nichts gegessen hatte. Das war ihrem Vater so peinlich gewesen, dass er mit dem kleinen Bruder geschimpft hatte und dieser sich nur noch kleinlaut entschuldigen konnte.

„Herrgott, Kalu! Was treibst du denn da wieder? Manieren hast du, und das auch noch in Gegenwart eines so geschätzten Gastes! Schäm

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dich, dass du dich nicht beherrschen kannst! Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich einen so respektlosen Mann geheiratet habe!“ Wü-tend sah die Frau Kalu an und stapfte anschließend wieder davon.

Lilly musste kichern und musterte den Zwerg, welcher ebenso wie Janis damals ganz kleinlaut geworden war und sich nun leise entschul-digte. „Du hast eine Frau?“, fragte Lilly ihn, während sie vorsichtig eine von ihren Beeren aß.

„Ja, habe ich. Aber sie meint das nicht so. Hinterher kommt sie im-mer wieder zu mir zurück, egal was ich mache. Wir lieben uns eben.“

„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Lilly interessiert wissen.

Doch gerade als Kalu ihr freudig antworten wollte, hörten sie plötz-lich Gebrüll in der Nähe. Der Zwerg wurde zuerst ganz starr im Ge-sicht und sprang dann hastig auf. Seine Schüssel fiel zu Boden.

„Oh nein! Die Diener des Schattens ... sie sind hier! Wir müssen uns verstecken, schnell!“, presste er panisch hervor.

Ungläubig beobachtete Lilly die anderen, die hastig die wenigen Sa-chen, die sie dabeihatten, zusammenpackten und nun versuchten, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Doch irgendetwas in Lilly sträubte sich, einfach so davonzulaufen. „Warte, Kalu!“, rief sie ihm zu und blieb stehen.

„Was ist denn? Wir müssen hier weg!“„Ich will die Diener des Schattens sehen!“„Was?!“ Entgeistert starrte der Zwerg sie an. „Ich will sie sehen. Ich muss doch wissen, gegen wen ich kämpfe,

Kalu. Können wir zwei uns nicht vorsichtig an sie heranschleichen?“Man merkte dem Zwerg an, dass ihm die Sache nicht ganz geheuer

war, doch dann drehte er sich zu den anderen um und verkündete, dass sie sich in einer Höhle in der Nähe verstecken sollten und Lilly und er sie schon wiederfinden würden. Dann kehrte er mit dem Mäd-chen zurück zu ihrem Rastplatz und zusammen knieten sie sich hinter ein dicht mit Blüten bewachsenes Gebüsch. Lilly konnte zuerst nicht glauben, was sie da sah. Sie hatte sich schon so sehr an die Schönheit der Umgebung gewöhnt, dass sie gar nicht begreifen konnte, was diese finsteren Schergen da angerichtet hatten. Die Diener des Schattens selbst sahen so ähnlich aus wie Menschen, sie waren wie Krieger ge-kleidet und trugen Waffen bei sich. Ein ganzes Waldstück hatten sie

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verwüstet, die Bäume abgehackt, die Blumen zertreten und noch viele andere schlimme Dinge angerichtet.

„Oh, mein Gott!“, flüsterte Lilly entsetzt und nahm wahr, dass auch Kalu um Fassung rang.

Zu allem Überfluss fing es auf einmal an zu regnen, zwar nicht sehr stark, doch ausreichend, um den Boden des verwüsteten Landstücks in Matsch zu verwandeln.

„Das reicht! Komm, wir suchen die anderen, bevor die Krieger uns noch entdecken“, meinte Kalu, zog Lilly zitternd mit sich und rannte mit ihr weg.

Einfach nur weg hier, wieder ins Trockene, in die reine Natur. Ja, das wollten sie beide.

„Warte, ich glaube, ich hab Stimmen gehört! Hier müssen sie sein!“ Immer noch zitternd zog Kalu Lilly in eine Höhle hinein, wo tatsäch-lich die anderen auf sie warteten.

Der Unterschlupf war nicht sehr groß und Lilly musste sich etwas bücken, um vorwärtsgehen zu können. Außerdem roch es nach Kalk und an einigen Stellen der feuchten Wände wuchs etwas Gras hin-durch.

Die meisten tuschelten aufgeregt miteinander, andere saßen stumm am Boden und starrten Lilly an. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu ste-hen. Hatte es schon immer gehasst. Es lag ihr einfach nicht, sie wurde nervös, wenn sie angestarrt wurde. Sie wollte nicht diejenige sein, auf die andere sich bedingungslos verließen.

Lilly setzte sich auf den Boden neben Kalus Frau, die ihr sofort eine Decke überwarf.

„Danke“, murmelte das Mädchen schüchtern, woraufhin die Zwer-gin ihr antwortete: „Ist doch selbstverständlich, Menschenkind. Ich heiße übrigens Sanah.“ Freundlich lächelte die kleine Frau ihr zu.

„Lilly. Du kannst mich Lilly nennen. Menschenkind hört sich ir-gendwie seltsam an“, fügte sie hinzu.

„Alles klar!“, erwiderte Sanah und ging dann zu ihrem Mann. Ja, sie musste ihn wirklich lieben, das sah man ihr an, so rührend, wie sie ihn umsorgte ...

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Der Trupp hatte beschlossen, über Nacht in der Höhle zu bleiben. Am nächsten Morgen gingen sie früh los, um noch am selben Tag ihr Ziel zu erreichen. Während sie so dahinwanderte, spürte Lilly auf ein-mal einen leichten Druck auf ihrer Schulter, und als sie näher hinsah, bemerkte sie ein kleines Wesen mit Flügeln, das ihr freundlich zulä-chelte. Eine Elfe. Wow. Lilly lächelte zurück. „Hey, wer bist du denn?“

„Ich bin Selra. Du kannst mich aber auch Sel nennen“, antwortete ihr die Elfe schüchtern. „Darf ich noch eine Weile auf deiner Schulter sitzen bleiben? Meine Flügel schmerzen vom Fliegen!“

„Klar darfst du das, Sel!“ Dankbar blickte die Elfe sie mit ihren gro-ßen regenbogenfarbenen Augen an und lehnte sich an Lillys Hals.

Schweigend liefen sie immer weiter voran und Lilly konnte bloß ehr-fürchtig staunen über die Pracht der Natur, die sich ihr offenbarte. Einmal kamen sie an einem Apfelbaum vorbei, von dessen herrlichen Früchten sie eine pflückte. Noch nie hatte sie so einen wohlschmecken-den Apfel gegessen und sie ließ auch die hungrig dreinblickende Selra einmal davon abbeißen. Anschließend unterhielten sich die beiden ein wenig, um die unheimliche Stille zu durchbrechen. Vertieft in das Ge-spräch mit der Elfe, horchte Lilly plötzlich auf, als sie ein Rauschen vernahm. Doch in der Nähe konnte sie keinen Fluss entdecken.

„Woher kommt das?“, fragte sie.„Das ist das Rauschen des langen Flusses. Du kannst ihn zwar noch

nicht sehen, aber hören kannst du ihn schon aus einiger Entfernung“, antwortete ihr Sel. „Wenn du schließlich am langen Fluss angelangt bist, musst du ihm folgen, bis du zum Wasserfall kommst, hinter dem die Wahrsagerin wohnt.“

Kapitel 5

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„Warst du schon einmal dort?“, fragte Lilly neugierig, während sie gespannt nach vorne spähte, wo bald der Fluss auftauchen musste.

„Nein, hinter dem Wasserfall war ich noch nicht, aber davor war ich schon mal. Er ist atemberaubend, glaub mir, und er übertrifft alles an Schönheit, was du je gesehen hast!“

Aufgeregt japste Lilly: „Echt? Das hört sich ja total aufregend an, ich muss diesen Wasserfall unbedingt sehen!“

Plötzlich rief die Elfe mit ihrer zierlichen Stimme: „Da vorne, da ist der Fluss! Siehst du ihn, Lilly? Das ist der lange Fluss! Jetzt dauert es nicht mehr lange!“

Nun kam wieder Leben in die Reisegefährten, voller Hoffnung lief der Trupp immer schneller, bis alle am Fluss angekommen waren, dann rannten sie beinahe schon an dessen Ufer entlang.

Und auf einmal erstreckte er sich vor ihnen, der wunderschönste Wasserfall, den Lilly je gesehen hatte. Prächtig schillernd und funkelnd ergoss sich das klare Wasser von einem riesigen Felsen in den langen Fluss. Das fallende Nass wirkte wie ein feiner Schleier, der sich sanft vor einem Eingang im Gestein bauschte. Es roch etwa so wie bei einem angenehmen Regenschauer und die Luft strömte klar und kühl über Lillys Gesicht.

„Wow!“, stieß sie überwältigt hervor und ging langsam auf das Ufer des Flusses zu. Vorsichtig beugte sie sich über das glasklare Wasser, durch das man bis zu den strahlend weißen Kieselsteinen auf dem Grund blicken konnte. Auf der Oberfläche prangte ihr eigenes Spiegel-bild, das Sel auf der Schulter trug, die ihr fröhlich zuzwinkerte. Ja, das musste wohl das Paradies sein, so hatte Lilly es sich immer vorgestellt.

„Gehen wir hinein?“ Kalus Stimme riss sie abrupt aus ihrer Starre.„Ähm, ja, natürlich!“, antwortete sie und ging langsam auf den Was-

serfall zu.„Er ist wundervoll, nicht wahr?“, hörte sie den Zwerg neben sich

sagen.„Ja, das ist er“, flüsterte Lilly, während Sel sich von ihrer Schulter

erhob, wahrscheinlich um sich zu ihren Artgenossen zu begeben.„Am besten gehen wir am linken Rand des Wasserfalls vorbei. Zwar

werden wir dann trotzdem ein bisschen nass, doch dafür müssen wir nicht schwimmen, da sich dort ein schmaler Weg aus Stein befindet“, schlug Kalu vor.

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„Okay, hört sich gut an“, meinte Lilly, die nur mit halbem Ohr zu-gehört hatte, so gespannt war sie auf das, was sie hinter dem Wasserfall erwarten würde.

So traten sie also auf den entsprechenden Weg zu und liefen nach-einander hinüber. Weil der Pfad extrem schmal war, musste sich Lilly seitwärts vortasten. Außerdem musste sie höllisch aufpassen, da der Untergrund ziemlich rutschig war. Vor dem herunterfallenden Wasser-vorhang machte sie kurz halt, holte tief Luft und schritt anschließend durch das Nass. Sie spürte, wie es eiskalt an ihr hinabfloss, ihre Klei-dung tränkte und ihre Haare am Kopf kleben ließ.

Als sie die feuchte Barriere überwunden hatte, sah sie sich erst einmal um. Sie befanden sich in einer Art Höhle, es war etwas düster hier drin und roch nach feuchtem Stein.

„Ah, ich sehe, ich habe Besuch bekommen. Wer ist denn da?“, ertön-te eine Stimme aus dem Nichts.

Erschrocken schweiften Lillys Blicke umher, um auszumachen, wo die Stimme ihren Ursprung hatte. Sie stammte von einer Frau, so viel konnte sie mit Bestimmtheit sagen. Und auf einmal trat aus dem fins-teren hinteren Teil der Höhle jene Dame hervor, die gesprochen hatte. Sie trug ein rotes Gewand, das so lang war, dass es auf dem Boden schleifte, und hatte langes hellblondes Haar, das sie zu einem Zopf ge-flochten hatte. Außerdem sah sie sehr jung und zerbrechlich aus, was Lilly etwas wunderte. Die Wahrsagerinnen in ihren Büchern hatte sie sich immer alt und mit einer dicken Brille auf der Nase vorgestellt.

„Hallo, Wahrsagerin!“, stammelte Lilly verlegen und suchte verzwei-felt nach den passenden Worten. „Wir ... also ich ... ich bin die Aus-erwählte, die irgendein Lied suchen muss, damit das Land der Sonne von den Dienern des Schattens befreit werden kann ...“ Als Lilly die Worte aussprach, kamen sie ihr unverständlich, wirr und total un-glaubwürdig vor.

Doch die Wahrsagerin blickte auf und sah ihr ins Gesicht. „Du bist es wirklich! Wie ist dein Name, junger Mensch?“

„Ich ... ich heiße Lilly ... ähm ...“ Sie wusste nicht, ob sie einfach Wahrsagerin zu der Frau sagen sollte oder ob diese ebenfalls einen Na-men besaß.

„Mein Name ist Miranda“, sprach diese plötzlich, als ob sie Lillys Gedanken gelesen hätte. „Du bist die Auserwählte, deren Erscheinen

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ich prophezeit habe, du bist die Mutige, die unser Land retten wird. Dazu musst du das Lied finden. Es liegt im Inneren des Ahornbaumes am Rande der Waldlichtung, die an das größte Kornfeld weit und breit angrenzt. Kalu, du wirst wissen, wo das ist, oder?“ Mit ihren eisblauen Augen sah die weise Frau den Zwerg an, der ihr voller Bewunderung ein „Natürlich, Miranda“ entgegenhauchte.

Nun wurde es für einen Moment still. „Was soll ich machen, wenn ich das Lied gefunden habe, Miranda?“,

durchbrach Lilly das bedrückende Schweigen. „Du musst es singen, du musst den starken Gefühlen, die in seinem

Text und seiner Melodie stecken, Ausdruck verleihen. Nur wenn du das schaffst, werden die schrecklichen Krieger unser Land verlassen, denn nur durch dieses eine Lied werden sie so traurig, dass sie die Lust am Krieg verlieren.“

Eine derart seltsame Antwort hatte Lilly wahrhaftig nicht erwartet, doch nun machte sich ein beklemmendes Gefühl in ihr breit. Was soll-te sie tun, wenn sie es nicht schaffte, das Lied emotional genug zu singen? Was tat sie, wenn sie vor Aufregung keinen Ton herausbrachte? Dieses Gefühl, das sie empfand ... es musste Angst sein.

Die Atmosphäre in der Höhle war unbehaglich und Lilly wollte schleunigst hier raus. „Ich werde mein Bestes tun, Miranda, aber ich kann nichts versprechen.“

Die Frau sah sie an, als ob sie durch Lillys Körper hindurchsehen könnte. „Ich bin mir sicher, dass du das tun wirst, und du wirst es be-stimmt schaffen. Ich glaube fest daran! Und jetzt macht euch auf den Weg, bevor es zu spät ist!“

„Natürlich!“, gab Kalu unterwürfig von sich und forderte die ande-ren auf, die Höhle wieder zu verlassen.

Gerade wollte sich Lilly, die in der kühlen Höhle wegen ihrer durch-nässten Kleidung inzwischen zu zittern angefangen hatte, umwenden und gehen, als die Wahrsagerin sie festhielt, um ihr noch etwas zu sa-gen. „Warte, ich habe hier noch etwas für dich!“ Miranda drückte ihr ein silbernes Medaillon in die Hand. „Öffne es, wenn du in Not bist, Lilly, es wird dir vielleicht wieder Mut machen.“

„Danke“, stammelte das Mädchen etwas verwundert und betrachtete das Medaillon in seiner Hand. „Doch wie wird es mir helfen?“

„Das erfährst du, wenn es so weit ist. Jetzt wünsche ich dir viel Glück,