TITELSTORY - Plastverarbeiter.de...Singapur, Malaysia und China. Anderson Eu-rope ist verantwortlich...

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WIRTSCHAFTLICHE VIELFALT I n der Kunststoffbranche herrscht ein raues Klima. Wettbewerber aus Billig- lohnländern üben einen enormen Kostendruck auf die Kunststoffverarbei- ter im Produktionsstandort Deutschland aus. Besonders mittelständische Unter- nehmen wie die Gerdes Kunststofftech- nik GmbH & Co. KG brauchen eine gehö- rige Portion Kreativität und Durchhalte- vermögen, um sich diesem Druck ent- gegenzustemmen. Jährlich produziert der Spritzgießer in Extertal und Posnan/Polen zum Beispiel über 1,5 Mio. einbaufertige Bedien-Pa- nels für die Geschirrspüler der BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH. Der Ver- VARIANTENFERTIGUNG DURCH STANZEN UND HSC-FRÄSEN Die Variantenfertigung von Spritzgussteilen bietet durch den Trend zu immer kleineren Losgrößen bei gleichzeitig steigender Anzahl der Varianten ein hohes Ratio- nalisierungspotenzial. Spritzgießer Gerdes hat durch ein selbst entwickeltes Stanzverfahren und den Einsatz von HSC-Fräsmaschinen die Wirtschaftlichkeit seiner Variantenfertigung deutlich erhöht. arbeiter fertigt die Panels in mehreren hundert Varianten und in Losgrößen von 5 bis 5 000 Stück. „Die Anforderung des Kunden, auch kleinste Losgrößen zu fertigen, war für uns die Motivation, unsere Variantenfer- tigung betriebswirtschaftlich zu optimie- ren“, so Dipl.-Ing. Jürgen Linneweber, Geschäftsführer Technik bei dem Spritz- gießer. Das herkömmliche Verfahren, die verschiedenen Panels mit Werkzeugvari- anten in der Spritzgießmaschine herzu- stellen, kam dabei nicht in Frage. „Durch die aufwendigen Rüstzeiten von drei bis sieben Stunden pro Werkzeugwechsel und die hohen Herstellkosten für Werk- zeugvarianten macht das Verfahren be- triebswirtschaftlich keinen Sinn“, erklärt Linneweber. „Deshalb konnte nur der Monozyklus in der Spitzgießmaschine unser erklärtes Ziel sein“, so der Ge- schäftsführer weiter. „Also haben wir uns entschlossen, eine Grundversion des Pa- nels im Werkzeug zu spritzen und die Va- rianten in nachgeschalteten Produkti- onsprozessen zu fertigen.“ Da sich die Varianten hauptsächlich durch Öffnungen für Schalter, Displays und LED-Leuchten unterscheiden, galt es, geeignete Verfahren zu finden, um die entsprechenden Durchbrüche in das Pa- nel einzubringen. Fertigungshalle in Extertal: Spritzgie- ßer Gerdes fertigt das Geschirrspüler-Bedien- Panel in mehreren hundert Varianten. TITELSTORY 20 Plastverarbeiter Dezember 2005 VOR ORT

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WIRTSCHAFTLICHE VIELFALT

I n der Kunststoffbranche herrscht ein raues Klima. Wettbewerber aus Billig-lohnländern üben einen enormen

Kostendruck auf die Kunststoffverarbei-ter im Produktionsstandort Deutschland aus. Besonders mittelständische Unter-nehmen wie die Gerdes Kunststofftech-nik GmbH & Co. KG brauchen eine gehö-rige Portion Kreativität und Durchhalte-vermögen, um sich diesem Druck ent-gegenzustemmen.

Jährlich produziert der Spritzgießer in Extertal und Posnan/Polen zum Beispiel über 1,5 Mio. einbaufertige Bedien-Pa-nels für die Geschirrspüler der BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH. Der Ver-

VARIANTENFERTIGUNG DURCH STANZEN UND HSC-FRÄSEN Die Variantenfertigung von Spritzgussteilen bietet durch den Trend zu immer kleineren Losgrößen bei gleichzeitig steigender Anzahl der Varianten ein hohes Ratio-nalisierungspotenzial. Spritzgießer Gerdes hat durch ein selbst entwickeltes Stanzverfahren und den Einsatz von HSC-Fräsmaschinen die Wirtschaftlichkeit seiner Variantenfertigung deutlich erhöht.

arbeiter fertigt die Panels in mehreren hundert Varianten und in Losgrößen von 5 bis 5 000 Stück.

„Die Anforderung des Kunden, auch kleinste Losgrößen zu fertigen, war für uns die Motivation, unsere Variantenfer-tigung betriebswirtschaftlich zu optimie-ren“, so Dipl.-Ing. Jürgen Linneweber, Geschäftsführer Technik bei dem Spritz-gießer. Das herkömmliche Verfahren, die verschiedenen Panels mit Werkzeugvari-anten in der Spritzgießmaschine herzu-stellen, kam dabei nicht in Frage. „Durch die aufwendigen Rüstzeiten von drei bis sieben Stunden pro Werkzeugwechsel und die hohen Herstellkosten für Werk-

zeugvarianten macht das Verfahren be-triebswirtschaftlich keinen Sinn“, erklärt Linneweber. „Deshalb konnte nur der Monozyklus in der Spitzgießmaschine unser erklärtes Ziel sein“, so der Ge-schäftsführer weiter. „Also haben wir uns entschlossen, eine Grundversion des Pa-nels im Werkzeug zu spritzen und die Va-rianten in nachgeschalteten Produkti-onsprozessen zu fertigen.“

Da sich die Varianten hauptsächlich durch Öffnungen für Schalter, Displays und LED-Leuchten unterscheiden, galt es, geeignete Verfahren zu finden, um die entsprechenden Durchbrüche in das Pa-nel einzubringen.

Fertigungshalle in Extertal: Spritzgie-ßer Gerdes fertigt das Geschirrspüler-Bedien-Panel in mehreren hundert Varianten.

TITELSTORY

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VOR ORT

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Die speziell auf die Kunststoffbearbeitung ausgelegte Fräsmaschine ist vollständig gekapselt, die Haube öffnet und schließt automatisch.

Schnelle Vorschübe und hohe Schnitt-geschwindigkeiten der HSC-Fräse sorgen für kurze Zykluszeiten.

„Wir haben uns zunächst mit dem Stanzen als Verfahren beschäftigt, da wir hier schon Erfahrungen gesammelt ha-ben und um den Nachteil der Nachbear-beitung der Stanzlöcher wissen“, erin-nert sich Linneweber. Bei einem her-kömmlichen Stanzverfahren fährt der Stempel durch das Werkstück hindurch in die Matrize hinein und stanzt dabei die gewünschte Kontur aus. Dabei fängt je-doch der Kunststoff an zu fließen, und es bildet sich ein Fusselgrat ähnlich wie Zu-ckerwatte an der Innenseite der Kanten. Mitarbeiter müssen dann diesen Grat sehr aufwendig von Hand entfernen und das Bauteil säubern. „Das kam für uns natürlich nicht in Frage“, so Linneweber. „Das Stanzen sollte nachbearbeitungsfrei sein.“ Um diese Anforderung zu erfüllen, hat der Spritzgießer ein Stanzverfahren entwickelt, das in zwei Bearbeitungs-schritte unterteilt ist. Im ersten Schritt presst eine Stanze ein Messer mit der Kontur der Öffnung in das Werkstück ein. In einem zweiten Bearbeitungs-

schritt drückt eine andere Stanze die vor-gestanzte Kontur aus dem Werkstück he-raus.

Die bei dem Verfahren eingesetzten Schneidwerkzeuge weisen neben der Ar-beitstemperatur von 50 bis 100 °C noch eine weitere Besonderheit auf. „Die von uns entwickelte Messerart hat eine ande-re Schneidwinkelgeometrie als her-kömmliche Stanzwerkzeuge“, erklärt Linneweber. „Die Herausforderung liegt darin, gute Schneidleistung und hohe Standfestigkeit der Messer zu vereinen.“ Linneweber weiter: „Wir haben am An-fang einige Tiefschläge hinnehmen müs-sen, da uns regelmäßig nach 30 bis 70 Stanzungen die Messer zerbrochen sind.“ Die Zusammenarbeit mit Herstellern von Stanzen für die Leder- und Stoffverarbei-tung hat dabei geholfen, die richtige Form und Geometrie für die Messer zu finden. Spezielle Stähle und Bearbei-tungsverfahren tragen ihr Übriges dazu bei, dass mittlerweile bis zu 100 000 Stanzungen mit einem Messersatz mög-

lich sind. Das Stanzen kleiner Öffnungen beispielsweise für LED-Leuchten ist mit dem neuen Verfahren noch nicht pro-zesssicher möglich. Hierfür ist weiterhin eine herkömmliche Stanze mit Matrize im Einsatz.

Wirtschaftliches Fräsen „Als zweites Verfahren für die Varianten-herstellung haben wir uns für das Fräsen entschieden“, so Linneweber. „Wir ha-ben einige Zeit investiert, eine für unsere Bedürfnisse wirtschaftlich interessante Maschine zu finden.“ Fräsmaschinen sind in der Regel für die Metallbearbei-tung ausgelegt, dadurch für die Kunst-stoffbearbeitung überdimensioniert und kostspieliger als nötig. Auf einer Messe entstand der Kontakt zu der Anderson Europe GmbH, Dornstetten. Der Herstel-ler von HSC-Fräsmaschinen hat sich auf Maschinen unter anderem für die Kunst-stoffbearbeitung spezialisiert. „Die gute Eignung der Maschine für das Kunst-stofffräsen, das geringe Gewicht und

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ERHÖHTE MARKTCHANCEN

Die HSC-Fräsmaschine ProSys 1PE von An-derson ist eine Basismaschine für nachgela-gerte Bearbeitungsprozesse beim Spritzgie-ßen. Mit Drehzahlen bis 80 000 U/min und einer Beschleunigung von 10 000 U/s ist die mit Linearantrieben ausgestattete Maschi-ne besonders für die Kunststoffbearbeitung im Produktionsprozess geeignet. Eine Ab-saugeinrichtung und der gratfreie Schnitt sorgen dafür, dass keine Nachbearbeitun-gen anfallen.

HSC-Fräsen von Kunststoffteilen

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DAS UNTERNEHMEN Gerdes Die Gerdes Kunststoff-Technik GmbH & Co. KG, Extertal, besteht seit 1959. Als Zulieferer für die Automobilindustrie und Hersteller von Elektrowerkzeugen und Haushalts-geräten entwickelt, produziert und veredelt der Verarbeiter Ein-, Zwei- und Dreikom-ponenten-Bauteile. Das Unternehmen be-schäftigt insgesamt 370 Mitarbeiter, davon 250 in Extertal im Bereich Entwicklung und Produktion. 1997 ist der Anbieter seinem Kunden Philips nach Polen gefolgt. In dem Produktionsstandort in Posnan fertigen 120 Mitarbeiter dasselbe Produkt-Portfolio wie in Deutschland – wobei 80 bis 90% der Pro-dukte in Polen bleiben.

wir in einem Stanzvorgang in das Werk-stück einbringen können, um so größer ist der Zeitvorteil gegenüber dem Frä-sen.“ Die Entscheidung für eins der beiden Fertigungsverfahren beeinflusst auch die Bauteilkonstruktion in der Produktentwicklung. „Verrippungen, Verstärkungen, Absätze oder Wand- stärkensprünge auf der Nichtsichtseite des Bauteils können das Stanzen unmög-lich machen“, klärt Linneweber auf. „Haben wir uns für das Stanzen entschie-den, müssen unsere Konstrukteure das berücksichtigen.“ Für das Fräsen hin-gegen ist der Aufbau der Rückseite des

Stanzstempel-Oberteil für eine Endvariante: Für das nachbearbeitungs-freie Stanzen hat der Spritzgießer ein in zwei Bearbeitungsschritte unterteiltes Stanzverfahren entwickelt. (Bilder: Gerdes, Bothur)

nicht zuletzt der wirtschaftliche Aspekt haben uns von der Fräsmaschine über-zeugt“, erläutert Linneweber.

Beide Verfahren – Stanzen und Fräsen – sind in zwei verschiedenen Produkti-onslinien in Extertal zur Fertigung der Geschirrspüler-Panels integriert. Beim Betrachten der Prozesse von Fräse und Stanze fallen die unterschiedlichen Pro-zesszeiten auf. Annähernd im Sekunden-

Werkzeug für die Stanze einschließlich der Ausdrückeinheit etwa zwei- bis vier-mal so teuer wie die Bedien-Panel- Aufnahme für die Fräse. Linneweber er-klärt: „Vereinfacht kann man sagen, dass sich bei großen Loseinheiten das Stanzen anbietet und bei kleinen Losgrößen das Fräsen wirtschaftlicher ist. Auch spielt es eine Rolle, wie viele Öffnungen das Bau-teil haben soll. Je mehr Durchbrüche

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TITELSTORY DAS UNTERNEHMEN Anderson Die Anderson Europe GmbH mit Niederlas-sungen in Dornstetten und Detmold ist ei-ne Tochter der 1971 gegründeten Anderson Industrial Corporation, Taipei/Taiwan. Wei-tere Niederlassungen hat die seit 1997 an der Börse notierte Gesellschaft in den USA, Singapur, Malaysia und China. Anderson Eu-rope ist verantwortlich für Entwicklung, Konstruktion, Herstellung, Vertrieb und Ser-vice von 3- bis 5-achsigen CNC-Maschinen für die Holz-, Kunststoff-, Buntmetall- und Aluminiumbearbeitung. Die Ein- oder Mehrspindel-Maschinen verfügen über ver-schiedene Antriebe und Aufspanntechnolo-gien.

„Die Kostenreduzierung ist erheblich: Wir sparen deutlich Werkzeugkosten pro Variante ein.“ Dipl.-Ing. Jürgen Linneweber, Geschäftsführer Technik

takt legt der Mitarbeiter die Panels erst in die Stanze und anschließend in die Aus-drückmaschine ein. An der Fräse dage-gen hat der Maschinenbediener genü-gend Zeit, während des Fräsvorgangs ei-ne Folienklebemaschine mit einem Panel zu bestücken.

Betriebswirtschaftliche Entscheidung „Ob Stanzen oder Fräsen sinnvoller ist, lässt sich rein betriebswirtschaftlich fest-stellen“, so Linneweber. Auf der einen Seite braucht der Fräsprozess ungefähr das dreifache an Zeit im Vergleich zum Stanzen. Auf der anderen Seite ist das

Werkstücks von untergeordneter Bedeu-tung.

Auf die Frage nach Alternativen zum Fräsen wie Wasserstrahl- oder Laser-Schneiden antwortet Linneweber: „Das Wasserstrahlschneiden setzen wir zu Ver-suchszwecken und zur Musterfertigung ein. Für die Produktion hat das Verfahren jedoch den Nachteil, dass die hochglän-zenden Oberflächen der Panels durch das Wasser verschmutzen und per Hand nachzupolieren sind. Das Laser-Schnei-den hat keine Vorteile gegenüber dem Fräsen, da hier ebenfalls die Bearbei-tungszeiten durch Schnittwege und Schnittgeschwindigkeit bestimmt sind. Der Nachteil der Laser-Anlage ist ihr Preis. Sie ist zwei- bis dreimal so teuer wie eine Fräsmaschine.“

Mit der Entscheidung für das Stanzen und Fräsen und der damit verbundenen Entwicklungsarbeit ist Linneweber sicht-lich zufrieden: „Der Einsatz hat sich ge-lohnt. Ich sehe uns im Bereich der Vari-antenfertigung gut aufgestellt, um im Wettbewerb zu den Low-cost-Ländern weiterhin bestehen zu können.“ Christian Bothur