Trauma- und stressorbezogene Störungen; Trauma and stressor-related disorders;

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Nervenarzt 2014 · 85:553–563 DOI 10.1007/s00115-013-3988-0 Online publiziert: 13. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 H.P. Kapfhammer Klinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz Trauma- und stressorbezogene  Störungen Diagnostische Konzeptualisierung im DSM-5 Die Conditio humana ist seit jeher durch eine wiederkehrende Konfron- tation mit schwerwiegenden Schick- salsschlägen, mit Gewalt, Krieg, Ter- ror, mit Naturkatastrophen, mit Ver- lust von Heimat, sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Existenz, mit Zerstörung persönlicher Identität und körperlicher Integrität charakte- risiert. Seit ca. 150 Jahren sind diese grundlegenden menschlichen und so- zialen Erfahrungen sowie ihre Konse- quenzen für die individuelle psycho- logische und psychosomatische Ge- sundheit Gegenstand auch wissen- schaftlicher Untersuchungen. In den sukzessiven Versionen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) ist dieses Thema unterschiedlich behandelt worden. Entwicklung der DSM Im DSM-I (1952; [1]) ermöglichte die Diagnose einer „starken Stressreaktion“ („gross stress reaction“) die Kodierung psychologischer Symptombildungen nach so schlimmen Erfahrungen wie Kriegs- traumata, Kriegsgefangenschaft, Aufent- halt im Konzentrationslager oder Verge- waltigung. Die hiermit erfassten psychi- schen Zustände wurden aber als lediglich vorübergehend konzeptualisiert. Bei Fort- bestehen der Symptomatik nach Beendi- gung der auslösenden traumatischen Si- tuation war diese Diagnose aufzugeben und in eine „neurotische Reaktion“ ab- zuändern. DSM-II (1968; [2]) beinhal- tete keine analoge Diagnose mehr. Aku- te und persistierende psychische Folge- zustände nach katastrophalen Erlebnis- sen konnten allenfalls in der diagnosti- schen Restkategorie „Situationsreaktion“ („situational reaction“) beschrieben wer- den. Daneben bestanden aber zahlreiche Syndrome, die nach dem jeweiligen Aus- lösekontext bezeichnet wurden wie „post- Vietnam syndrome“, „prisoner-of war syndrome“, „concentration-camp syn- drome“, „child-abuse syndrome“ oder „battered women’s syndrome“ etc. [3]. Das DSM-III (1980; [4]) prägte erst- mals die Diagnose einer „posttraumati- schen Belastungsstörung“ (PTSD, PTBS). Gegenüber früheren Konzepten beton- te diese neue Diagnose vier wichtige Ele- mente: F eine Definition von „Trauma“ als Ex- position gegenüber einer überwälti- genden Belastung, F eine vereinheitlichende, prägnanz- typische Psychopathologie des klini- schen Bildes mit den drei Symptom- Clustern von traumabezogener intru- siver Wiedererinnerung, emotiona- ler Betäubung und Vermeidung und autonomem Hyperarousal, F die ätiopathogenetische Annahme einer explizit-implizit kausalen Ver- knüpfung von Traumaexposition und PTSD, F die Anerkennung einer PTSD sowohl in der Variante einer akuten als auch einer langfristig bestehenden Trau- mafolgestörung. Das DSM-III legte ein Traumakriterium zugrunde, das sich an „überwältigen- den Ereignissen außerhalb des Bereichs durchschnittlichen menschlichen Erle- bens“ wie z. B. an unmittelbaren kriege- rischen Auseinandersetzungen, Konfron- tationen mit lebensbedrohlicher Gewalt oder Vergewaltigung orientierte. Es im- plizierte normativ einen erheblichen Di- stress für fast jedes betroffene Individu- um, das in seiner bisherigen psychoso- zialen Entwicklung sonst unauffällig sein konnte. Mit dem DSM-III-R (1987; [5]) wurde das Traumakriterium entschei- dend modifiziert. Das Spektrum poten- ziell traumatischer Ereignisse vom Be- reich extremer Gewalteinflüsse wurde bedeutsam auch auf Naturkatastrophen und Ziviltraumata (z. B. Verkehrsunfälle) ausgeweitet. Diese Bedrohung konnte in unmittelbarer persönlicher Betroffenheit oder Zeugenschaft bestehen oder aber in- direkt in der Nachricht über den plötzli- chen Tod oder eine schlimme Traumati- sierung naher Verwandter oder Freun- de vermittelt werden. Diese quantitati- ve Traumadimension wurde andererseits obligatorisch an ein subjektives Erleben von intensiver Angst, Horror und Hilflo- sigkeit geknüpft. Das DSM-IV (1994; [6]) behielt die- se objektive und subjektive Charakteri- sierung des Traumas in einem explizi- ten Trauma-A1- und -A2-Kriterium bei. In einer neuerlichen Erweiterung wur- den fortan auch der mitgeteilten Diagno- se einer lebensbedrohlichen Erkrankung, der Tatsache eines sexuellen Missbrauchs des eigenen Kindes (auch ohne Bedro- hung oder aktuelle Gewalt), der Nachricht über den plötzlichen Tod eines Familien- mitglieds oder Freundes sowie über die le- bensbedrohliche Erkrankung des eigenen Kindes ein A1-Status zugesprochen. Die Konfrontation mit einem Trauma muss- te von einer intensiven emotionalen Re- aktion als A2-Kriterium begleitet wer- Leitthema 553 Der Nervenarzt 5 · 2014|

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Nervenarzt 2014 · 85:553–563DOI 10.1007/s00115-013-3988-0Online publiziert: 13. April 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

H.P. KapfhammerKlinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz

Trauma- und stressorbezogene StörungenDiagnostische Konzeptualisierung im DSM-5

Die Conditio humana ist seit jeher durch eine wiederkehrende Konfron-tation mit schwerwiegenden Schick-salsschlägen, mit Gewalt, Krieg, Ter-ror, mit Naturkatastrophen, mit Ver-lust von Heimat, sozialer Sicherheit und wirtschaftlicher Existenz, mit Zerstörung persönlicher Identität und körperlicher Integrität charakte-risiert. Seit ca. 150 Jahren sind diese grundlegenden menschlichen und so-zialen Erfahrungen sowie ihre Konse-quenzen für die individuelle psycho-logische und psychosomatische Ge-sundheit Gegenstand auch wissen-schaftlicher Untersuchungen. In den sukzessiven Versionen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) ist dieses Thema unterschiedlich behandelt worden.

Entwicklung der DSM

Im DSM-I (1952; [1]) ermöglichte die Diagnose einer „starken Stressreaktion“ („gross stress reaction“) die Kodierung psychologischer Symptombildungen nach so schlimmen Erfahrungen wie Kriegs-traumata, Kriegsgefangenschaft, Aufent-halt im Konzentrationslager oder Verge-waltigung. Die hiermit erfassten psychi-schen Zustände wurden aber als lediglich vorübergehend konzeptualisiert. Bei Fort-bestehen der Symptomatik nach Beendi-gung der auslösenden traumatischen Si-tuation war diese Diagnose aufzugeben und in eine „neurotische Reaktion“ ab-zuändern. DSM-II (1968; [2]) beinhal-tete keine analoge Diagnose mehr. Aku-te und persistierende psychische Folge-zustände nach katastrophalen Erlebnis-

sen konnten allenfalls in der diagnosti-schen Restkategorie „Situationsreaktion“ („situational reaction“) beschrieben wer-den. Daneben bestanden aber zahlreiche Syndrome, die nach dem jeweiligen Aus-lösekontext bezeichnet wurden wie „post-Vietnam syndrome“, „prisoner-of war syndrome“, „concentration-camp syn- drome“, „child-abuse syndrome“ oder „battered women’s syndrome“ etc. [3].

Das DSM-III (1980; [4]) prägte erst-mals die Diagnose einer „posttraumati-schen Belastungsstörung“ (PTSD, PTBS). Gegenüber früheren Konzepten beton-te diese neue Diagnose vier wichtige Ele-mente:Feine Definition von „Trauma“ als Ex-

position gegenüber einer überwälti-genden Belastung,

Feine vereinheitlichende, prägnanz-typische Psychopathologie des klini-schen Bildes mit den drei Symptom-Clustern von traumabezogener intru-siver Wiedererinnerung, emotiona-ler Betäubung und Vermeidung und autonomem Hyperarousal,

Fdie ätiopathogenetische Annahme einer explizit-implizit kausalen Ver-knüpfung von Traumaexposition und PTSD,

Fdie Anerkennung einer PTSD sowohl in der Variante einer akuten als auch einer langfristig bestehenden Trau-mafolgestörung.

Das DSM-III legte ein Traumakriterium zugrunde, das sich an „überwältigen-den Ereignissen außerhalb des Bereichs durchschnittlichen menschlichen Erle-bens“ wie z. B. an unmittelbaren kriege-rischen Auseinandersetzungen, Konfron-

tationen mit lebensbedrohlicher Gewalt oder Vergewaltigung orientierte. Es im-plizierte normativ einen erheblichen Di-stress für fast jedes betroffene Individu-um, das in seiner bisherigen psychoso-zialen Entwicklung sonst unauffällig sein konnte. Mit dem DSM-III-R (1987; [5]) wurde das Traumakriterium entschei-dend modifiziert. Das Spektrum poten-ziell traumatischer Ereignisse vom Be-reich extremer Gewalteinflüsse wurde bedeutsam auch auf Naturkatastrophen und Ziviltraumata (z. B. Verkehrsunfälle) ausgeweitet. Diese Bedrohung konnte in unmittelbarer persönlicher Betroffenheit oder Zeugenschaft bestehen oder aber in-direkt in der Nachricht über den plötzli-chen Tod oder eine schlimme Traumati-sierung naher Verwandter oder Freun-de vermittelt werden. Diese quantitati-ve Traumadimension wurde andererseits obligatorisch an ein subjektives Erleben von intensiver Angst, Horror und Hilflo-sigkeit geknüpft.

Das DSM-IV (1994; [6]) behielt die-se objektive und subjektive Charakteri-sierung des Traumas in einem explizi-ten Trauma-A1- und -A2-Kriterium bei. In einer neuerlichen Erweiterung wur-den fortan auch der mitgeteilten Diagno-se einer lebensbedrohlichen Erkrankung, der Tatsache eines sexuellen Missbrauchs des eigenen Kindes (auch ohne Bedro-hung oder aktuelle Gewalt), der Nachricht über den plötzlichen Tod eines Familien-mitglieds oder Freundes sowie über die le-bensbedrohliche Erkrankung des eigenen Kindes ein A1-Status zugesprochen. Die Konfrontation mit einem Trauma muss-te von einer intensiven emotionalen Re-aktion als A2-Kriterium begleitet wer-

Leitthema

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den. Der Traumaexposition kam weiter-hin eine kausale Rolle in der Pathogenese einer PTSD zu. Die syndromale Grund-struktur mit den drei Symptom-Clustern wurde beibehalten, allerdings die Liste von bisher 12 auf 17 Symptomen ergänzt. Eine PTSD konnte erst diagnostiziert wer-den, wenn die durch ein Trauma ausge-lösten Symptome für mindestens einen Monat bestanden und auch mit erhebli-chem subjektiven Distress oder bedeut-samer psychosozialer Beeinträchtigung verknüpft waren. Eine akute PTSD wur-de bis zu einer 3-monatigen Symptomper-sistenz diagnostiziert, jenseits dieser zeit-lichen Trennmarke eine chronische PTSD kodiert.

»  Das DSM-IV führte „die akute Belastungsstörung“ ein

Das DSM-IV führte eine zusätzliche dia-gnostische Erneuerung ein. Durch das bei der PTSD-Diagnose geforderte 1-Monats-Kriterium war es nicht möglich, auffälli-ge posttraumatische Stressreaktionen in den ersten 4 Wochen nach einem Trau-ma eigenständig zu erfassen. Es blieb le-diglich die Zuordnung zur Anpassungs-störung. Mit der neuen Diagnose einer „akuten Belastungsstörung“ (ASD, ABS) sollte zunächst diese Zeitlücke geschlos-sen werden. Andererseits sollten hiermit Patienten mit einem schwerwiegenden Stresssyndrom nach einem Trauma iden-tifiziert werden, die ein hohes Übergangs-risiko zu einer späteren PTSD zeigten. In einer theoretischen Bewertung der unmit-telbar nach einem Trauma beobachteten psychischen Auffälligkeiten wurde einzel-nen dissoziativen Symptomen eine spe-zielle prädiktive Relevanz zugesprochen. Eine ASD zeichnete sich einerseits durch prominente dissoziative Symptome, an-dererseits durch Symptome aus allen drei Symptom-Clustern der PTSD aus. In der Perspektive einer sekundären Prävention wurde angenommen, dass sich Patienten mit einer ASD für pharmakologische und psychotherapeutische Frühinterventio-nen besonders eigneten. Auch die ASD besitzt ein definiertes Zeitkriterium. Da fast alle von einem Trauma betroffenen Personen in den ersten Stunden akute Be-lastungsreaktionen zeigen, sich dann aber

Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2014 · 85:553–563   DOI 10.1007/s00115-013-3988-0© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

H.P. KapfhammerTrauma- und stressorbezogene Störungen. Diagnostische Konzeptualisierung im DSM-5

ZusammenfassungDas DSM (Diagnostic and Statistical Manu-al of Mental Disorders) -5 berücksichtigt eine von der Gruppe der Angststörungen separa-te trauma- und stressorbezogene Störungs-gruppe. Für den Versorgungsbereich der Er-wachsenenpsychiatrie werden einerseits die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und die akute Belastungsstörung (ASD), an-dererseits die Anpassungsstörungen aufge-führt. Eine strengere Fassung des Traumakri-teriums fokussiert auf akute Lebensbedro-hung, schwerwiegende körperliche Verlet-zung und sexuelle Gewalt. Direkte Konfronta-tion, Zeugenschaft und indirekte Konfronta-tion werden unterschieden, letztere aber auf gewaltsame oder unfallbedingte Traumata von nahen Familienmitgliedern oder Freun-den eingeengt. Personen, die durch ihren speziellen professionellen Ersteinsatz mit den Folgen extremer Traumata indirekt konfron-tiert sind, werden in ihrem speziellen PTSD-Risiko anerkannt. Das im DSM-IV enthaltene A2-Traumakriterium wird aufgegeben. Eine breite klinische PTSD-Phänomenologie ent-

hält ein neues Cluster anhaltender Verände-rungen in negativen Kognitionen und Emo-tionen infolge der Traumatisierung. Die ASD zielt nicht mehr darauf, eine spezielle Risiko-gruppe für ein späteres PTSD-Risiko zu iden-tifizieren, sondern ein intensives Stresssyn-drom mit hoher akuter Behandlungsbedürf-tigkeit zu definieren. Anpassungsstörungen zeichnen sich weiterhin durch eine im Ver-gleich zur sozialen und kulturellen Norm mal-adaptive Auseinandersetzung mit unspezi-fischen, nichttraumatischen Stressoren aus. Sowohl komplexe PTSD als auch anhalten-de Trauerstörung besitzen im DSM-5 keinen eigenständigen diagnostischen Status. DSM-5 und künftige ICD-11 werden in der Konzep-tualisierung stressbezogener Störungen gro-ße Unterschiede aufweisen.

SchlüsselwörterDSM-5 · Posttraumatische Belastungsstörung · Akute Belastungsstörung · Anpassungsstörung · ICD-11

Trauma and stressor-related disorders. Diagnostic conceptualization in DSM-5

SummaryThe Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5 (DSM-5) includes a dis-tinct diagnostic group of trauma and stress-or-related disorders that has been set apart from anxiety disorders. From a perspective of adult psychiatry this new disorder cate-gory includes posttraumatic stress disorder (PTSD), acute stress disorder (ASD), and ad-justment disorders. The PTSD is based on nar-rower trauma criteria that focus on acute life-threatening situations, serious injury, or sex-ual violence by way of direct confrontation, witnessing or indirect confrontation. Indi-rect confrontation, however, is reserved only for violent or accidental events that occurred to close family members or friends. The for-mer A2 criterion of an intense emotional re-action to trauma has been removed. A delib-erately broad approach to clinical PTSD phe-nomenology has created an empirically driv-en new cluster of persistent negative altera-

tions in cognition and mood due to experi-encing traumatic events. The ASD has been reconceptualized as an intense stress syn-drome with a clear need of acute treatment during the early course after traumatic expo-sure. Adjustment disorders continue to em-phasize maladaptive emotional and behav-ioral responses to unspecific, non-traumatic stressors in an intensity that is beyond social or cultural norms. Neither complex PTSD nor prolonged grief disorders have received an independent diagnostic status within DSM-5. With respect to stress-related disorders ma-jor divergences between DSM-5 and the fu-ture International Classification of Diseases 11 (ICD-11) are to be expected.

KeywordsDSM-5 · Posttraumatic stress disorder · Acute stress disorder · Adjustment disorder · ICD-11

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mehrheitlich rasch wieder erholen, wur-de neben einer hohen Symptomschwel-le auch eine 48-stündige Wartezeit gefor-dert, bis die Diagnose einer ASD gestellt werden konnte.

DSM-III bis DSM-IV-TR (2000; [7]) fokussierten in ihrem Klassifikations-rationale primär auf das Furcht- und Angstsystem. ASD und PTSD blieben daher in der übergeordneten diagnosti-schen Gruppe der Angststörungen ange-siedelt [8]. Andere in traumatischer Er-fahrung und posttraumatischer Verarbei-tung entscheidend mitbetroffene Affekt-systeme wie Scham, Schuld oder Ärger erfuhren hingegen in dieser Konzeptua-lisierung eine nur untergeordnete Beach-tung [9]. Mit einer starken Ausweitung des Traumaspektrums ergab sich einer-seits die Gefahr einer inflationären PTSD-Diagnosestellung [10] und erhob sich an-dererseits die Frage einer empirisch sinn-vollen Grenzziehung zu anderen, nicht-

traumatischen Belastungen [11], wie sie etwa für die Diagnose einer Anpassungs-störung orientierender Bezugspunkt ist [12]. Die ätiologische Ausrichtung von PTSD und ASD an einem äußerlich de-finierten traumatischen Ereignis barg zu-dem eine Reihe ungelöster konzeptueller Probleme. Nicht nur musste in einer epi-demiologischen Perspektive erkannt wer-den, dass nach einem Trauma ASD und PTSD zwar als prägnante, aber auch an-dere psychopathologisch relevante Fol-gezustände wie z. B. Angst-, depressive, somatoforme oder dissoziative Störun-gen auftreten können [13, 14, 15]. Speziell die seit DSM-III getrennt geführten dia-gnostischen Kategorien von ASD, PTSD einerseits und dissoziativen Störungen an-dererseits haben sich für ein umfassende-res Verständnis posttraumatischer Reak-tionsmöglichkeiten als unvorteilhaft er-wiesen [16, 17]. Auch gelingt es offenkun-dig einer beträchtlichen Anzahl von Per-

sonen, selbst schwerwiegende Traumati-sierungen und Verluste ohne psychische Symptombildung zu überwinden [18].

In der Vorbereitung auf DSM-5 waren von der Work Group als zentrale Heraus-forderungen aufzunehmen [19]:FKlärung der klassifikatorischen Posi-

tionierung psychischer Traumafol-gestörungen über die Bestimmung einer definierenden Metastruktur von PTSD,

FPräzisierung des Traumakriteriums und Festlegung einer ätiologischen Relevanz,

FPräzisierung, Erweiterung und syn-dromale Anordnung der traumabezo-genen Symptomatologie,

FBestimmung klinisch relevanter PTSD-Subtypen,

FÜberprüfung des diagnostischen Sta-tus der ASD,

Feventuell eigenständige Beachtung von komplexer PTSD einerseits und

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anhaltender Trauerstörung anderer-seits,

FPositionierung der Anpassungsstö-rungen.

Nachfolgend sollen die im DSM-5 (2013; [20]) gefundenen konzeptuellen und dia-gnostischen Lösungen für die posttrau-matische Belastungsstörung, die akute Be-lastungsstörung und die Anpassungsstö-rung skizziert werden. Im Fokus auf die Erwachsenenpsychiatrie werden bewusst kinder- und jugendpsychiatrische Spezi-fikationen dieser Diagnosen nicht näher ausgeführt. Auch die beiden, nur in die-sem Versorgungsbereich anzuwenden-den speziellen Diagnosen einer „reakti-ven Bindungsstörung“ einerseits, einer „Beziehungsstörung mit Enthemmung“ andererseits, die im Kontext schwerwie-gender sozialer Vernachlässigungen beob-achtet werden, bleiben unberücksichtigt.

Klassifikatorische Positionierung von Trauma-folgestörungen im DSM-5

Zweifelsohne weist die PTSD auf einer Symptomebene zahlreiche Gemeinsam-keiten mit anderen Angststörungen auf, als zentrales Merkmal eine erhöhte Sen-sitivität gegenüber Bedrohung, die sich in einer verstärkten Furcht-/Angstreaktion manifestiert [21]. Typische PTSD-Sym-ptome von emotionaler Betäubung, Ent-fremdung und Depersonalisation werden hingegen häufiger mit depressiven Stö-rungen geteilt, was auch in hohen Komor-biditätsraten angezeigt wird [22]. Bei einer neurobiologischen Konzeptualisierung als „stressbezogene Furchtregelkreisstörung“ finden sich in einer Entkoppelung der Aktivität in Amygdala und Insel von Ein-flüssen medialer Anteile des präfrontalen Kortex zunächst ebenfalls auffällige Paral-lelen mit den Angststörungen, insbeson-dere der Panikstörung, der sozialen Pho-bie und den spezifischen Phobien [23, 24]. PTSD-Patienten mit prominenten disso-ziativen Symptomen zeigen allerdings ein hierzu völlig heterogenes neurona-les Aktivierungsmuster in funktionellen Neuroimaging-Methoden auf [25]. Auch gegenüber depressiven Störungen deu-ten sich für die PTSD auf dieser Untersu-chungsebene Differenzen an [26, 27]. Die

wiederum von PTSD-Patienten häufig geschilderten emotionalen Probleme von Schuld und Scham entziehen sich wiede-rum einem engeren Konditionierungs-paradigma [28]. Auch die Überprüfung einer Positionierung der PTSD innerhalb einer hierarchisch übergeordneten Kate-gorie von „Internalisierungsstörungen“, die sowohl Angst- als auch Stimmungsstö-rungen umschließt [29], ergibt, dass zahl-reiche symptomatische Äußerungen der PTSD wie erhöhter Ärger oder verstärk-tes aggressives Verhalten eher einer „Ex-ternalisierungsstörung“ zuzuordnen wä-ren [30].

»  Die „trauma- und stressorbezogenen Störungen“ vereinen PTSD, ASD und Anpassungsstörung

Diese auf mehreren Untersuchungsebe-nen festzuhaltenden Besonderheiten der PTSD veranlassten die Work Group zum Plädoyer für eine eigenständige Störungs-gruppe, die ihr Identifikationsmerkmal im Bezug zu einem Trauma oder spezi-fischen Stressor als entscheidendem Aus-lösemoment besitzen sollte [19]. DSM-5 kreierte die neue diagnostische Grup-pe der „trauma- und stressorbezogenen Störungen“, die PTSD, ASD und Anpas-sungsstörung vereint. Dem ursprünglich von der Work Group auch für die disso-ziativen Störungen analog mitdiskutierten Traumaauslösekontext folgte DSM-5 hin-gegen nicht, da bei ihnen kein universel-ler Bezug zu Traumata nachgewiesen wer-den kann. Dissoziative Störungen werden im DSM-5 als eigenständige Störungs-gruppe behandelt und nach den trauma- und stressorbezogenen Störungen aufge-führt [31].

Stellenwert und ätiopathogenetische Relevanz des Traumakriteriums

In einer allgemeinen Beurteilung des Traumakriteriums sah sich die Work Group zwei polaren Grundpositionen gegenüber: Einerseits, zwischen einer Traumaexposition und PTSD bestehe keinesfalls eine einzigartige Beziehung, da sie auch für andere psychische Stö-

rungen wie Angst-, depressive Störungen oder Substanzmissbrauch häufig nachge-wiesen werden könne. In einigen Fällen könne es sogar nach nichttraumatischen Stressoren zum Vollbild einer PTSD kom-men. Auf ein explizites Traumakriterium sei zu verzichten, die PTSD-Phänomeno-logie sei eng zu fassen und verstärkt auf PTSD-spezifische Symptome aus dem In-trusions-Cluster (z. B. Flashback, trauma-bezogene Albträume) auszurichten [26]. Andererseits, gerade die klinische Bewer-tung spezifischer PTSD-Symptome könne ohne den integralen Verweis auf die Be-sonderheiten der traumatischen Gedächt-nisbildung nicht gelingen [32]. Speziell sei die Nützlichkeit des A2-Kriteriums an-gesichts einer beträchtlichen Subgruppe von Personen, die nach einer Traumaex-position zwar das klinische Vollbild einer PTSD mit vergleichbarer Symptominten-sität und Behinderung aufwiesen, aber wegen einer fehlenden subjektiven emo-tionalen Reaktion keine PTSD-Diagno-se erlangten, generell infrage zu stellen [33, 34, 35]. Die Work Group sah es für das PTSD-Konstrukt als wesentlich an, an der Exposition gegenüber einem trauma-tischen Ereignis festzuhalten, verzichtete aber auf die spezielle Forderung eines A2-Kriteriums [36].

In den ursprünglichen DSM-IV Field Trials wie auch in den späteren Replika-tionsstudien zeigte sich, dass Personen mit erfüllten Kriterien B bis F das klini-sche Vollbild einer PTSD fast ausnahms-los nach schwerwiegenden traumatischen Stressoren ausgebildet hatten [37, 38]. Die Sorge, zwischen traumatischen und nicht-traumatischen Auslösesituationen nicht mit hinreichender Präzision unterschei-den zu können, erschien der Work Group als unbegründet. Das speziellere Argu-ment einer zu starken Ausdehnung trau-matischer Situationen nahm sie jedoch kritisch auf. Breslau und Kessler hatten nachgewiesen, dass durch die Hereinnah-me der Möglichkeit einer indirekten Kon-frontation im DSM-IV einerseits die allge-meine Rate der Traumaexpositionen von 68,1 auf 89,6% gestiegen war, andererseits durch das erweiterte A1-Kriterium 38% der gesamten PTSD-Fälle diagnostiziert worden waren [11]. Die meisten dieser speziellen Fälle waren durch die Benach-richtigung über den plötzlichen Tod oder

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Leitthema

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die schwere Erkrankung eines Familien-mitglieds oder Freundes zustande gekom-men. Die Möglichkeiten einer indirekten Konfrontation sollten fortan auf gewaltsa-me oder unfallbedingte Fälle eingegrenzt werden, speziell auch für jene militäri-schen und zivilen Berufsgruppen offen sein, die in ihrem professionellen Handeln häufig mit der Aufarbeitung von entstell-ten Leichen nach Unfällen, Kampfeinsät-zen, Genoziden, Vergewaltigungen oder mit grausamen Details aus dem sexuellen Missbrauch an Kindern befasst sind und ein hohes PTSD-Risiko zeigen [39]. Es ist empirisch zu prüfen, ob durch das Weg-fallen des subjektiven A2-Kriteriums für diese Personengruppe in einem forensi-schen Kontext ein eventuell problemati-scher Anstieg in den Häufigkeiten einer PTSD-Diagnose beobachtet werden wird.

Die ätiopathogenetische Relevanz der-art definierter traumatischer Ereignis-se wurde als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entwick-lung einer PTSD angesehen. Eine unili-neare kausale Sequenz wurde aufgege-ben, ein zeitlich vorausgehendes entschei-dendes Auslöseereignis gefordert, dessen differenzielle traumatogene Toxizität aber mit der besonderen, über zahlreiche gene-tische und peristatische Risiko- und pro-tektive Faktoren vermittelten Vulnerabi-lität einer betroffenen Person interagiere [36]. Weitere belastende Ereignisse und Beeinträchtigungen nach einem definier-ten Trauma schienen ebenfalls einen be-deutsamen Einfluss auf das PTSD-Risiko zu nehmen. Zudem belegten unterschied-liche Verlaufsgestalten posttraumatischer Reaktionen allgemein, dass die PTSD keineswegs als eine normative, sondern als eine atypische posttraumatische Re-aktion zu konzipieren ist, deren wesent-liches Kennzeichen die behinderte Erho-lung in einen psychosozialen Normalzu-stand darstellt [40, 41].

Das DSM-5 fordert für die Diagno-se einer PTSD hinsichtlich des Trauma-kriteriums A eine Exposition gegenüber aktueller oder drohender Lebensgefahr, schwerer Verletzung oder sexueller Ge-walt über eine der folgenden Möglichkei-ten (.Tab. 1):Fdirektes Erlebnis des/r traumatischen

Ereignisse/s

Tab. 1  DSM-5-Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung für Erwachsene, Jugendliche und Kinder über 6 Jahre [20]c

Krite-rium

Symptom- kategorie

Geforderte Symptome

Spezifische Symptome

A Exposure to a traumatic event

1 Exposure to actual or threatened death, serious injury, or sexual violence in one or more of the following ways

1. directly experiencing the event(s)

2. witnessing, in person, the event(s)

3. learning that the event(s) occurred to a close  relative or close friend

4. experiencing repeated or extreme exposure to aversive details of the events in professional first- response activitiesa

Bb Intrusion  symptoms

1 1. recurrent, involuntary, and intrusive distressing memories of the traumatic event(s)

2. recurrent distressing trauma-related dreams

3. dissociative reactions (e.g. flashbacks) in which individual feels or acts as traumatic event(s) were occurring

4. intense or prolonged psychological distress when exposed to traumatic reminders

5. marked physiological reactions to traumatic  reminders

Cb Avoidance symptoms

2 1. persistent avoidance of distressing memories, thoughts, feelings associated with traumatic  reminders

2. persistent avoidance of external traumatic  reminders

Db Negative alterations in cognitions and mood

2 1. dissociative amnesia of important aspects of  traumatic event(s)

2. persistent exaggerated negative beliefs or  expectations about oneself, others, world

3. persistent, distorted blame of self or others about the traumatic event(s)

4. persistent negative emotional state (e.g. fear,  horror, anger, guilt, or shame)

5. diminished interest or participation in significant activities

6. feeling of detachment or estrangement from others

7. persistent inability to experience positive emotions

Eb Alterations in arousal and reactivity

2 1. irritable behavior or angry outbursts

2. reckless or self-destructive behavior

3. hypervigilance

4. exaggerated startle response

5. problems with concentration

6. sleep disturbance

F Duration of symptoms >1 month

G Disturbance causes significant distress or impairment

H Disturbance is not due to alcohol, drugs, or another medical condition

Specify whether

With dissociative symptoms 1. depersonalization 2. derealization

Specify whether

With delayed expression Full diagnostic criteria not met until at least 6 months after event

aDoes not include traumatic exposure though electronic media.bAll B, C, D, E symptoms began or worsened after exposure to traumatic event(s).cFür Begrifflichkeiten aus DSM-5 liegen bisher keine konsentierten deutschen Übersetzungen vor. Auf eine Übersetzung wurde daher verzichtet.

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Funmittelbarer Zeuge eines einer ande-ren Person widerfahrenden traumati-schen Ereignisses

FBenachrichtigung über den aktuel-len/drohenden gewaltsamen oder un-fallbedingten Tod eines Familienmit-glieds oder Freundes

Fwiederholte oder extreme Konfronta-tion mit schockierenden Details eines traumatischen Ereignisses im Rah-men eines professionellen Erstein- satzes

Symptomstruktur der posttraumatischen Belastungsstörung

Das DSM-IV legte der klinischen PTSD-Phänomenologie eine 3-Faktoren-Lösung mit den Clustern von traumabezogener intrusiver Wiedererinnerung, Vermei-dung/emotionaler Betäubung und auto-nom-nervöser Hyperaktivität zugrunde und berücksichtigte insgesamt 17 Sym-ptome. Zahlreiche nachfolgende Fakto-renanalysen waren nicht imstande, eine stimmige 3-Faktoren-Lösung nachzu-weisen [36]. Die meisten Studien fanden eine 4-Faktoren-Lösung. Das Intrusions- und das autonome Hyperarousal-Cluster wurden je für sich gut bestätigt. Das frü-here Vermeidungs-/Betäubungs-Cluster schien hingegen auf zwei eigenständigen Faktoren zu laden, wobei der eine Faktor vor allem Symptome einer „passiven Ver-meidung“, der andere Faktor „Dysphorie“ aber Symptome verschiedener negativer Emotionen vereinte.

D Eine 4-Faktoren-Lösung stellte sich auch in einer Metaanalyse als best-taugliches Modell dar [42].

Die Work Group schloss sich dieser Inter-pretation an. Sie favorisierte einen breiten diagnostischen Fokus auf die PTSD-Phä-nomenologie, der nach einer Traumaex-position zahlreiche klinische Symptom-gruppen von Furcht und Angst, Dyspho-rie und Anhedonie, aggressiver Externa-lisierung, Schuld und Scham, Dissozia-tion sowie negativen Bewertungen über die eigene Person und die Welt berück-sichtigte [36]. Das DSM-5 zeigt folgende Symptomstruktur:

Im Cluster B intrusiver Symptome werden intrusive traumabezogene Er-innerungsbilder mit einer sensorischen „Hier-und-Jetzt-Qualität“, meist kurzfris-tiger Dauer und fehlender Kontexteinord-nung präzisiert und gegenüber unspezifi-schen, meist länger anhaltenden depres-siven oder obsessiven Ruminationen ab-gegrenzt. In typischen Albträumen müs-sen nicht alle Details einer traumatischen Szene, sondern lediglich einige traumabe-zogene Aspekte aufscheinen. Einen zen-tralen Stellenwert nehmen weiterhin die PTSD-spezifischen Flashbacks ein, die explizit als eine dissoziative Erinnerungs-modalität charakterisiert werden. Emotio-naler Distress und verstärkte physiologi-sche Reaktionen auf traumatische Erinne-rungen sind selbst keine intrusiven Symp-tome im engeren Sinne, zeigen aber intru-sive traumatische Erinnerungen an.

Im Cluster C werden die beiden im DSM-IV aufgeführten Vermeidungssymp-tome, einerseits gegenüber mentalen trau-mabezogenen Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen, andererseits gegenüber ex-ternen Stimuli, die Erinnerungen an das Trauma auslösen können, unverändert übernommen und lediglich in einer stär-keren Verhaltensorientierung formuliert.

Das neu eingeführte Cluster D trägt die Bezeichnung „anhaltende negative Veränderungen in Kognition und Stim-mung“. Hier werden einerseits die frü-her im DSM-IV-Cluster C mitaufgeführ-ten Symptome der emotionalen Betäu-bung platziert, anderseits ein besonde-res Augenmerk auf unterschiedliche ne-gative emotionale Zustände und assozi-ierte negative Bewertungen der eigenen Person und der Welt infolge der trauma-tischen Erfahrung gelegt. Die Unfähigkeit, sich an wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern, wird als dissoziative Amnesie kodiert. Es folgen persistierende negative Erwartungen und Beurteilungen der eige-nen Person, der Welt und der zukünftigen Optionen, die durch die traumatische Er-fahrung als grundlegend abgewandelt er-scheinen. Persistierende verzerrte Schuld-zuweisungen an sich selbst oder an ande-re Personen hinsichtlich Ursachen und Konsequenzen des Traumas schließen sich an. Diesen Symptomen wird eine wichtige prädiktive Wertigkeit für Chro-nizität, Schwere und funktionellen Be-

hinderungsgrad zugesprochen. Persistie-rende negative emotionale Zustände von Furcht, Horror, Ärger, Schuld oder Scham werden differenziert erfasst. Ein merklich reduziertes Interesse sowie eine verrin-gerte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten, dissoziative Symptome der Entfremdung und Depersonalisation sowie die Unfä-higkeit, in Folge der traumatischen Er-fahrung keine positiven Emotionen wie Freude, Befriedigung oder Liebesgefühle mehr zu verspüren, sind aus dem DSM-IV-C-Cluster übernommen worden und nunmehr im neuen Cluster E aufgeführt.

Das DSM-IV-D-Cluster wird im DSM-5 zum Cluster E und erhält die neue Be-zeichnung „Veränderung in Arousal und Reaktionsbereitschaft“. Die Symptome sind in einer prononcierten Verhaltens-orientierung formuliert und erweitert: Gereiztes Verhalten und ärgerliche Aus-brüche, rücksichtsloses oder selbstdest-ruktives Verhalten, Hypervigilanz, über-triebene Schreckreaktion, Konzentra-tionsprobleme und Schlafstörungen.

Im F-Kriterium wird analog zum DSM-IV eine Dauer der PTSD-Sympto-me von mindestens einem Monat gefor-dert. Zwischen einer akuten und einer chronischen PTSD entsprechend einer 3-Monats-Grenze wird nicht mehr expli-zit unterschieden. Das G-Kriterium for-muliert eine notwendige Assoziation zu einem bedeutsamen subjektiven Distress oder einer merklichen Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wich-tigen Funktionen. Die Ausschlusskriterien einer Verursachung der Symptome durch die physiologischen Wirkungen von Al-kohol, anderen psychotropen Substanzen oder medizinischen Bedingungen werden im H-Kriterium festgehalten.

Insgesamt weist DSM-5 eine auf 20 Symptome erweiterte Liste auf. Es hält aber eine hohe Symptomschwelle für die Diagnose einer PTSD aufrecht: B: 1, C: 1, D: 2, E: 2. In einer Perspektive häufig vorliegender kumulativer Traumata ist es nunmehr möglich, aktuelle Symptome aus den einzelnen Clustern nicht ausschließ-lich auf ein traumatisches Ereignis be-schränken zu müssen, sondern auf meh-rere sukzessive Traumata in der Bewer-tung beziehen zu können.

Als wichtiger Verlaufsspezifikator ist im DSM-5 die Möglichkeit einer „verzö-

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Leitthema

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gerten Expression“ der PTSD-Diagnose gegeben, wenn die vollen diagnostischen Kriterien erst 6 Monate oder länger nach einem Trauma erfüllt sind. Mit dieser Zu-satzkodierung trägt das DSM-5 mehreren Studien Rechnung, die in einem bedeut-samen Prozentsatz traumatisierter Per-sonen einen solchen verspäteten PTSD-Status registrierten [43, 44, 45, 46]. Diese Verlaufsvariante soll fortan nicht als „Typ mit verzögertem Beginn“ verstanden wer-den, da in einer longitudinalen Perspek-tive zumeist sehr wohl einzelne PTSD-

Symptome nachgewiesen werden kön-nen, bis nach einer variablen Zeitspanne schließlich die geforderte Schwelle einer PTSD erreicht wird [18].

Klinisch relevante PTSD-Subtypen

Das DSM-5 definiert für den erwachse-nenpsychiatrischen Bereich einen eigen-ständigen PTSD-Subtyp mit dissoziativen Symptomen, die in prominenter Deper-sonalisation und/oder Derealisation be-

stehen. Diese Entscheidung wurde durch empirische Daten auf mehreren Ebenen gestützt: In funktionellen magnetreso-nanztomographischen (fMRI-)Studien zeigte sich im Unterschied zum häufige-ren PTSD-Typus mit autonom-nervöser Hyperaktivität eine hohe präfrontal-kor-tikale Aktivierung mit assoziierter verrin-gerter Amygdalaresponse [47]. Ein dis-tinkter dissoziativer Subtyp konnte an mehreren Stichproben repliziert werden [48]. Für die PTSD-Subgruppe mit dis-soziativen Symptomen waren an eine op-timale Therapie differenzielle Anforde-rungen zu stellen [49]. PTSD-Patienten mit zusätzlichen ausgeprägten dissoziati-ven Symptomen wiesen außerdem einen schwerwiegenderen und chronischeren Verlauf mit stärkeren Behinderungsgra-den und höherer Suizidalität auf [50].

Diagnostischer Status der akuten Belastungsstörung

Mit dem DSM-IV wurde das diagnos-tische Konzept der akuten Belastungs-störung (ASD) erstmals eingeführt, das neben Symptomen aus den drei PTSD-Symptom-Clustern insbesondere ausge-prägte dissoziative Symptome beinhal-tete. Empirisch konnte bestätigt werden, dass ASD tatsächlich eine Subgruppe von Risikopatienten nach einer Traumatisie-rung reliabel erfasst, die in der weiteren Entwicklung auch ein hohes PTSD-Ri-siko zeigen. Neben einer befriedigenden Spezifität erwies sich die Diagnose einer ASD aber im Hinblick auf das allgemeine PTSD-Risiko als nicht ausreichend sensi-tiv [51, 52]. Die Work Group gab die zuvor mit dem ASD-Status verknüpfte Anfor-derung einer speziellen PTSD-Prädiktion einerseits, einer Indikation für sekundär-präventive Frühinterventionen anderer-seits auf. Sie betonte stattdessen mit die-ser Diagnose ein Stresssyndrom mit ho-her aktueller Behandlungsbedürftigkeit in den ersten 4 Wochen nach einer Trau-matisierung. Sie plädierte für eine breite klinische Phänomenologie, die im Einzel-fall stark variieren mochte und nicht re-gelhaft von dissoziativen Symptomen be-stimmt sein musste [53].

Tab. 2  DSM-5-Kriterien der akuten Belastungsstörung. (Nach [20])a

Krite-rium

Symptomkategorie Spezifische Symptome

A Exposure to a traumatic event Exposure to actual or threatened death, serious injury, or sexual violence in one or more of the following ways

1. directly experiencing the event(s)

2. witnessing, in person, the event(s)

3. learning that the event(s) occurred to a close relative or close friend

4. experiencing repeated or extreme exposure to  aversive details of the event(s) in professional  first-response activities

B Presence of nine (or more) of the following symptoms from any of the five categories of intrusion, negative mood, dissociation, avoidance, and arousal, beginning or worsening after the traumatic event(s) occurred

Intrusion symptoms 1. recurrent, involuntary, and intrusive distressingmemories of the traumatic event(s)

2. recurrent distressing trauma-related dreams

3. dissociative reactions (e.g. flashbacks) in which individual feels or acts as traumatic event(s) were occurring

4. intense or prolonged psychological distress or  marked physiological reactions when exposed internal or external traumatic reminders

Negative mood 5. persistent inability to experience positive emotions

Dissociative symptoms 6. altered sense of the reality of one’s surroundings or onself

7. dissociative amnesia of important aspects of traumatic event(s)

Avoidance symptoms 8. avoidance of distressing memories, thoughts,  feelings associated with traumatic reminders

9. avoidance of external traumatic reminders

Arousal symptoms 10. sleep disturbances

11. irritable behavior and angry outbursts

12. hypervigilance

13. problems with concentration

14. exaggerated startle response

C Duration: 4 days to 1 month after trauma exposure

D Disturbance causes significant distress or impairment

E Disturbance is not due to alcohol, drugs, or another medical condition and is not bet-ter explained by brief psychotic disorder

aFür Begrifflichkeiten aus DSM-5 liegen bisher keine konsentierten deutschen Übersetzungen vor. Auf eine Übersetzung wurde daher verzichtet.

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»  ASD-Symptome können frei kombiniert werden

Im DSM-5 müssen bei der ASD nicht gleichzeitig Symptome aus den drei PTSD-Clustern von Intrusion, Vermei-dung und autonomem Hyperarousal und ein eigenständiges dissoziatives Cluster vorliegen. Symptome können vielmehr frei kombiniert werden (Intrusion: intru-sive traumabezogene Erinnerungsbilder, Albträume, Flashbacks, intensive psycho-logische und physiologische Reaktionen auf innere und äußere traumaassoziierte Stimuli; negative Stimmung: keine positi-ven Emotionen; Dissoziation: Depersona-lisation/Derealisation, dissoziative Am-nesie; Vermeidung: von inneren trauma-bezogenen Erinnerungen, Gefühlen, Ge-danken, von äußeren traumaassoziierten Details; Arousal: Schlafstörung, gereiztes und ärgerliches Verhalten, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktion, Konzent-rationsprobleme). Die Diagnoseschwel-le wird mit 9 und mehr aus 14 Sympto-men erreicht. Das Zeitkriterium deckt die Spanne der ersten 4 Wochen ab dem 4. posttraumatischen Tag ab (.Tab. 2).

Komplexe PTSD und anhaltende Trauerstörung

Mehrfache Studien beschrieben nach chronischen interpersonalen Trauma-tisierungen ein komplexeres Symptom-bild, als durch die diagnostischen Krite-rien einer PTSD erfasst werden. Hierfür wurde als eigenständiges theoretisches Konzept eine „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ oder „Störungen nach Extremtraumatisierung“ (DESNOS) vor-geschlagen [54, 55]. Auch wenn die Kri-terien einer PTSD häufig gleichzeitig er-füllt sind [56], imponieren vor allem Sym-ptome einer affektiven Dysregulation, ein chronisches selbstdestruktives Verhalten (z. B. Selbstverletzung, Essstörung, Dro-genmissbrauch), dissoziative und somato-forme Symptome sowie pathologisch ver-änderte Selbstkonzepte und Beziehungs-stile.

Auch für die komplizierte, pathologi-sche oder traumatische Trauer wird ein eigenständiger diagnostischer Status zwi-schen anpassungs- und traumabezogenen Störungen diskutiert. Im Mittelpunkt ste-hen ein massiver Trennungsdistress nach dem Tod einer geliebten Bezugsperson, ein über viele Monate, weit über die so-ziale und kulturelle Norm hinaus anhal-tender Trauerprozess, ein schmerzerfüll-tes Sehnen nach oder eine persistieren-

de Beschäftigung mit dem Verstorbenen, eine Weigerung die Realität des Todes zu akzeptieren, ein durch den Tod ausgelös-ter Selbstverlust mit hieraus resultieren-den bedeutsamen psychosozialen Behin-derungen [57].

Das DSM-5 hat trotz intensiver theo-retischer, diagnostisch-konzeptueller, neurobiologischer und klinisch-thera-peutischer Beiträge in den letzten Jahren und lebhafter Diskussion in der Vorberei-tungszeit der komplexen PTSD/DESNOS keinen eigenständigen diagnostischen Status eingeräumt [58, 59]. Als Hauptar-gumente für diese Entscheidung waren einerseits Daten, die zeigten, dass fast al-le Patienten mit DESNOS-Status auch die diagnostischen Kriterien einer PTSD er-füllt hatten, und konsequent DESNOS als eine schwerere Form der PTSD angesehen wurde. Andererseits wies die Work Group darauf hin, dass mit der Neufassung und Erweiterung der PTSD-Symptomstruk-tur sowie mit der Kodierungsmöglich-keit eines dissoziativen PTSD-Subtyps die symptomatologischen Besonderhei-ten von DESNOS weitgehend beschrie-ben werden könnten [60]. Auch hinsicht-lich einer anhaltenden komplexen Trauer-störung nimmt das DSM-5 eine zuwar-tende Position ein. Diese Störung wird im Appendix unter der Rubrik „other condi-tions that may be a focus of clinical atten-tion“ behandelt und für eine weitere em-pirische Überprüfung offen gehalten [61].

Diagnostischer Status der Anpassungsstörungen

Anpassungsstörungen sind als psychi-sche Störungen konzeptualisiert, die we-sentlich auf psychosoziale oder psycho-biologische Stressoren zu beziehen sind. Das diagnostische Konstrukt beinhaltet die Vorstellung einer passager missglü-ckenden Auseinandersetzung mit unter-schiedlichen Stressoren, die für einen be-grenzten Zeitraum (bis 6 Monate) zu kli-nisch bedeutsamen Symptomen (neben Depression und Angst auch soziale Ver-haltensstörungen) einer allenfalls mittle-ren Intensität führt. Bei anhaltenden psy-chosozialen Belastungen wurde mit DSM-IV auch ein chronischer Verlaufstyp an-erkannt, bei dem die Symptome auch län-ger als 6 Monate bestehen können. In der

Tab. 3  DSM-5-Kriterien der Anpassungsstörung. (Nach [20])a

A Development of emotional behavioral symptoms in response to an identifiable stressor(s) occurring within 3 months of the onset of the stressor(s)

B Symptoms or behaviors are clinically significant, as evidenced by one or both of the following

1. marked distress that is in excess of what would be proportionate to the  stressor

2. significant impairment in social, occupational, or other important areas of functioning

C Stress-related disturbance does not meet criteria of another mental disorder and is not merely an exacerbation of a pre-existing mental disorder

D Symptoms do not represent normal bereavement

E Once the stressor or its consequences have terminated, symptoms do not persist for more than an additional 6 months

Specify  whether

With depressed mood

With anxiety

With mixed anxiety and depressed mood

With disturbance of conduct

With mixed disturbance of emotions and conduct

UnspecifiedaFür Begrifflichkeiten aus DSM-5 liegen bisher keine konsentierten deutschen Übersetzungen vor. Auf eine Übersetzung wurde daher verzichtet.

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symptomatischen Auffälligkeit ist impli-ziert, dass sie über der Schwelle einer nor-mativ zu erwartenden Reaktion eines In-dividuums innerhalb seiner sozialen Be-zugsgruppe oder der vorherrschenden Kultur liegt. Nicht inkludiert ist die nor-male Trauer.

»  Für die Anpassungsstörung existiert bis jetzt keine verbindliche Symptomliste

Es bestehen mehrere diagnostische Pro-bleme bei dem Konzept Anpassungsstö-rung. In einer klinisch phänomenologi-schen Sicht existiert bis jetzt keine ver-bindliche Symptomliste, die eine Anpas-sungsstörung reliabel charakterisieren würde. Lediglich der Verweis auf Sympto-me einer depressiven Verstimmung, einer Ängstlichkeit und/oder eines auffälligen Sozialverhaltens mit oft eingeschränk-ter Impulskontrolle erfolgt. Bedeutsam bei der Anpassungsstörung ist die gerin-

gere Intensität der Symptome im Ver-gleich zur Ausprägung bei anderen psy-chiatrischen Störungen, wie z. B. der Ma-jor-Depression oder Angststörungen. Ein unmittelbarer ätiopathogenetischer Zu-sammenhang mit einer Reihe belasten-der Ereignisse oder Lebenskrisen ist defi-nitorisch gefordert. Im Unterschied aber zu den auch bei anderen psychiatrischen Störungen unter der Achse V im DSM-IV kodierbaren koexistenten psychoso-zialen Problemen darf eine Anpassungs-störung nicht ausschließlich hieraus re-sultieren. Unter Anspielung auf eine so-ziale Norm soll sie „maladaptiv“ sein, d. h. Vertreter einer sozialen Bezugsgrup-pe würden mehrheitlich nicht mit der In-tensität, dem subjektiven Leidensdruck oder der sozialen Leistungsbehinderung auf einen umschriebenen psychosozia-len Stressor reagieren wie eine Person mit Anpassungsstörung. In dieser Sichtwei-se sind damit auch die besondere Persön-lichkeit eines betroffenen Menschen, sei-ne bisherige Lebensgeschichte und seine

typische Anfälligkeit für Belastungen und Krisen mit angesprochen sowie sein je-weiliges Coping-Vermögen in der Ausein-andersetzung hiermit [62]. In Anlehnung an psychologische Modellvorstellungen der PTSD wurde versucht, durch Her-vorheben von ereignisbezogenen intrusi-ven Wiedererinnerungen und Ruminatio-nen einerseits, von thematischem Vermei-dungsverhalten andererseits den diagnos-tischen Status von Anpassungsstörungen zu präzisieren [63, 64].

In der Vorbereitung auf das DSM-5 hielt die Work Group einerseits den allge-mein geringen Forschungsstand zur An-passungsstörung fest, betonte aber ande-rerseits die hohe Nützlichkeit dieser Dia-gnose im klinisch-psychiatrischen Alltag [65]. Sie plädierte für eine Beibehaltung dieser Diagnose in der Gruppe der „trau-ma- und stressorbezogenen Störungen“. DSM-5 legt eine Fassung vor, die weitge-hend identisch mit jener im DSM-IV ist (.Tab. 3).

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Aussicht auf ICD-11

Den bis jetzt einsehbaren Vorschlägen zur Revision von ICD-11 ist zu entnehmen, dass in den nächsten Jahren die ameri-kanische DSM-5-Version und die ICD-11 der WHO recht unterschiedliche kon-zeptuelle Wege in der Diagnose von trau-ma- und stressorbezogenen Störungen beschreiten werden [66, 67, 68, 69]. Beide diagnostische Traditionen sind sich einig darin, eine stressbezogene Störungsgrup-pe zu konzipieren, die eigenständig neben der Gruppe der Angststörungen besteht. In der konzeptuellen Ausrichtung und ka-tegorialen Spezifizierung werden jedoch signifikante Divergenzen bestehen.

Im ICD-11 wird sich die Diagnose einer PTSD einerseits auf ein sehr allgemein gehaltenes Trauma-A-Kriterium („an extremely threatening or horrific event“) stützen, andererseits eine relativ enge, als spezifisch erachtete klinische Phänome-nologie umfassen. Die neue Diagnose einer komplexen PTSD wird drei spezielle intra- und interpersonale Symptom-Clus-ter zusätzlich zu den PTSD-Kernsympto-men beinhalten. Die neue Diagnose einer prolongierten Trauerstörung wird Per-sonen beschreiben, die im Anschluss an den Tod eines geliebten Partners oder Fa-milienmitglieds einen abnorm lang an-haltenden, intensiv schmerzvollen und behindernden Trauerprozess auf diesen Verlust zeigen. Die Diagnose einer An-passungsstörung wird durch Anlehnung an das psychologische Modell der PTSD von Intrusion und Vermeidung eine we-sentlich stärkere Spezifizierung der Sym-ptome aufweisen. In einer für weitere For-schung offen gehaltenen Kategorie akuter Stressreaktionen sollen vorübergehende, intensive emotionale, kognitive und be-haviorale Reaktionen auf ein Trauma no-tiert werden, die aber angesichts der ext-remen Schwere des Stressors als noch im Normbereich angesiedelt sein sollen.

In Stellungnahmen zu diesen Vor-schlägen für das ICD-11 werden unter-schiedliche diagnostische Traditionen, theoretische Voraussetzungen und prin-zipielle Zielvorstellungen der beiden Klas-sifikationssysteme betont, in der künftig wahrscheinlich hohen Divergenz hin-sichtlich der Diagnose von trauma- und stressorbezogenen Störungen aber auch

eine Chance zur gezielten empirischen Überprüfung jeweiliger Vor- und Nach-teile in beiden Systemen anerkannt [60, 70, 71, 72].

Fazit für die Praxis

FDas neue DSM-5 berücksichtigt eine aus der Gruppe der Angststörungen ausgegliederte, eigenständige trau-ma- und stressorbezogene Störungs-gruppe. Diese umfasst für den Versor-gungsbereich der Erwachsenenpsych-iatrie einerseits die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und die akute Belastungsstörung (ASD) sowie andererseits die Anpassungsstörun-gen.

FDie PTSD-Konzeptualisierung zeich-net sich durch eine strengere Fassung des Traumakriteriums aus. Der Fokus liegt auf akuter Lebensbedrohung, schwerwiegender körperlicher Ver-letzung und sexueller Gewalt. Direkte Konfrontation, Zeugenschaft und in-direkte Konfrontation werden unter-schieden, letztere aber auf gewalt-same oder unfallbedingte Traumata von nahen Familienmitgliedern oder Freunden eingeengt. Personen, die durch ihren speziellen professionellen Ersteinsatz mit den Folgen extremer Traumata indirekt konfrontiert sind, werden in ihrem speziellen PTSD-Ri-siko anerkannt. Das frühere A2-Trau-ma-Kriterium, das eine starke subjek-tive emotionale Reaktion auf ein Trau-ma forderte, wurde aufgegeben. Das DSM-5 berücksichtigt eine breite kli-nische PTSD-Phänomenologie, die jetzt durch anhaltende negative Ver-änderungen in Kognitionen und Emo-tionen infolge der Traumatisierung zusätzlich erweitert worden ist.

FDie ASD ist nicht mehr in der früheren Vorgabe, eine spezielle Risikogruppe für ein späteres PTSD-Risiko zu iden-tifizieren, sondern als ein intensives Stresssyndrom mit eigenständiger hoher Behandlungsbedürftigkeit im Frühverlauf nach einer Traumatisie-rung konzeptualisiert.

FBei den Anpassungsstörungen über-wiegt weiterhin die Sichtweise auf eine im Vergleich zur sozialen und kulturellen Norm misslingende Aus-

einandersetzung mit unspezifischen, nichttraumatischen Stressoren.

FWeder der komplexen PTSD noch der anhaltenden Trauerstörung wird im DSM-5 ein eigenständiger diagnosti-scher Status eingeräumt.

FIm Hinblick auf das künftige ICD-11 sind bedeutsame Unterschiede der beiden Klassifikationssysteme in der diagnostischen Erfassung von trau-ma- und stressorbezogenen psychi-schen Störungen zu erwarten.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. H.P. KapfhammerKlinik für Psychiatrie,  Medizinische Universität GrazAuenbruggerplatz 31, 8036 GrazÖ[email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  H.P. Kapfhammer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.   Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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563Der Nervenarzt 5 · 2014  |