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TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Hauptseminar
‚Staatszerfall‘
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Ziel das weltweit unübersehbare Phänomen des
‚Staatsverfalls‘ analytisch in den Blick nehmen die Selbstverständlichkeit der Vorstellung
aufbrechen, es müsse Staaten geben und auf diese sich ein globales politisches System gründen lassen
Denkfiguren erarbeiten und ihren Gebrauch einüben, welche das Phänomen fragiler, scheiternder oder zerfallener Staatlichkeit zu erschließen erlauben
die ‚Gestalt‘ des Scheiterns von Staaten erkennen und erklären
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Weg zum Ziel Vermittlung themenerschließender analytischer
Kategorien in den ersten drei Sitzungen sowie durch eigene Lektüre
‚Phänomenologie‘ des Staatszerfalls im perspektivischen Überblick (Staatszerfall und ‚neue
Kriege‘ bzw. Entwicklung des globalen Systems) in vergleichenden Fallstudien
Dabei: Ziel ist ‚Gestalterkenntnis‘, denn man kann nur erklären, was man zuvor erkannt hat.
Überblick zu Möglichkeiten, politische Systeme zu stabilisieren – sowohl im perspektivischen Überblick als auch in Fallbeispielen
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Erfolgreiches StudierenLesen – und zwar ‚Theorie‘ nicht minder als
‚Empirisches‘ zu den FallbeispielenNur im Wechselspiel des Kennenlernens
nützlicher analytischer Kategorien mit der gründlichen Zurkenntnisnahme einer Vielzahl von konkreten Fällen entsteht ‚Gestalterkenntnis‘.
Diskutieren ist Zweck von Seminaren!gelingt nur, wenn man auch vor der Sitzung
schon etwas weißGute Referate und Diskutantenbeiträge
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Was ist eine ‚Analyse‘?
‚analytische Distanz‘
Sie beantwortet mit Anspruch auf Wahrheit eine klare Frage, etwa: Warum ist der Staat X am Zerfallen?
Sie ordnet den Stoff nach Gesichtspunkten oder Begriffen, die für eine Antwort auf jene Frage nützlich sind. Genau solche Gesichtspunkte oder
Begriffe sind ‚analytische Kategorien‘. Sie löst sich von ...
der Chronologie der Ereignisse (‚historische Beschreibung‘) der Selbstsicht der Akteure (‚Nachzeichnung der Sicht von innen‘) der für den Autor unverbindlichen Wiedergabe der Sichtweisen
anderer (‚Nachzeichnung des Diskussionsstandes‘)
Erwartet in den Referaten: gute, ‚gestalterkennende‘ Analysen
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Aufgaben von ...Referent und Diskutant trägt den zu vermittelnden
Stoff vor oder präsentiert die einzuübenden Fertigkeiten anhand einer klaren
Fragestellung in zielführender Gliederung mündend in eine begründete
Antwort auf seine Frage; zeigt auf ...
weiterführende Fragestellungen
erkenntnisträchtige weitere Richtungen der Gedanken- und Argumentationsführung.
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erörtert, ob das vom Referenten an den Tag gelegte Verständnis des Stoffes wohl das bestmögliche war legt ggf. eine Alternative vor
hinterfragt den Gedankengang des Referenten legt ggf. eine Alternative vor
bringt Sachverhalte, Sichtweisen und Gedanken vor, die der Referent überging, obwohl sie nach Ansicht des Diskutanten wichtig sind.
• lobt• kritisiert• bringt Eigenes
... aber niemals ein ‚Koreferat!‘
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Anforderungen für den Erwerb eines Leistungsnachweises Übernahme eines Referates von ca. 30-40
Minuten Mehrfachvergabe von Referaten!
Übernahme der Rolle des Diskutanten wird von Stunde zu Stunde ausgelost
Abgabe einer schriftlichen Hausarbeit zum Thema des Referats im Umfang von 30 Textseiten (ohne Titelei, Inhaltsverzeichnis, Literatur) bis zum 30. SeptemberDringender Rat: Fangen Sie gleich zu Beginn des
Semesters mit der Mitarbeit und der Arbeit an Ihrem Referat an – sonst werden Sie viel weniger Freude an diesem Seminar haben und schlimmstenfalls auch in einigen Wochen aufgeben.
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Literatur Auf Hauptseminarniveau muß jeder selbst in der Lage
sein, die einschlägige Literatur zu finden. Dies einzuüben, gehört zu den Ausbildungszielen dieser
Lehrveranstaltung! Ein ‚Leitfaden‘ findet sich im Foliensatz zur ersten
Proseminarsitzung des Basismoduls ‚Systeme‘ Erste Literaturhinweise fanden sich bereits im KVV,
wesentlich mehr auf dem Seminarplan Gerade für die aktuellen Fallstudien sind Recherchen
nach geeignetem Material im Internet wichtig! Die Foliensätze meiner ‚Einführung‘ ins Thema sind
über die Homepage meines Lehrstuhls herunterladbar.
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Schritte zielführenden Bibliographierens SLUB: Suche nach einschlägigen Lexika, Handbüchern, Lehrbüchern, Monographien,
spezialisierten Fachzeitschriften am Regal – möglich dank systematischer Aufstellung! Einlesen, um Verständnis und Gefühl für das Thema zu bekommen! Internet:
Suche im Schlagwort-, Stichwort- oder systematischen Katalog des OPAC (Open Public Access Catalogue) einer großen oder einschlägigen Bibliothek nach Literatur
Beschaffung solcher Bücher in SLUB oder über Fernleihe falls die Abfragesprache einer guten, einschlägigen Suchmaschine gut beherrscht wird:
Stichwortsuche im WWW (etwa über Google) vervollständigende Suche nach aktuellen einschlägigen Büchern: Rezensionsteil der
Zeitschrift für Politikwissenschaft (Zpol); ferner: VLB, ‚Books in Print‘ usw. gezielte Suche nach Aufsätzen aus Fachzeitschriften:
International Political Science Abstracts, Sociological Abstracts, Social Science Citation Index, Zeitschrift ‚Current Contents‘ (letzterer in SLUB auf CD ROM)
Durchsehen von einschlägigen Fachzeitschriften und deren Rezensionsteilen (v.a.: Zeitschrift für Politikwissenschaft) ab den jüngsten Ausgaben
Durcharbeiten der Literaturhinweise in jüngeren, zentral einschlägigen Aufsätzen, Sammelbänden und Büchern: Einleitungen, Literaturberichte, Fußnoten, Literaturverzeichnisse
Kontaktaufnahme (am besten per e-mail) mit identifizierten zentralen Autorenund Forschungseinrichtungen mit Bitte um weitere Hinweise
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Noch Fragen? -
Bitte!
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Thematische Einführung
I. Überblick zur Thematik(eine Seminarsitzung)
II. Konzepte und Theorien des Staatszerfalls(zwei Seminarsitzungen)
Anschließend – d.h. in vier (!) Wochen – müßte sich jeder soweit eingelesen haben, daß Diskussionen auf Hauptseminarniveau möglich sind.
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Verfall von Staatlichkeit
Massenmedien
Verwaltung
Gesellschaft
Forde
runge
n Entscheidungen /
Regeln
GesellschaftAuswirkunge
n
zentrales politisches
Entscheidungs-system
Illegitimitä
t
korrupt, ineffizient
Unter
stützu
n
g
Rückkoppelung
unglaubwürdig
zentrales politisches
Entscheidungs-system
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Beobachtungen und Fragen Internationale Politik und Völkerrecht gehen von der Annahme aus,
daß es für jedes Gebiet der Erde eine zuständige Regierung gibt. Nur mit dieser oder mit deren Zustimmung darf man Abmachungen
eingehen, welche dieses Gebiet betreffen. Umgekehrt ist diese Regierung dafür verantwortlich, die international
getroffenen Abmachungen auf ‚ihrem‘ Gebiet auch um- und durchzusetzen.
Aber: Durchaus nennenswerte Gebiete der Erde sind ohne verläßlich arbeitende staatliche Strukturen! ( ‚marginale Staatlichkeit‘) Beispiele: Somalia, Kongo (Kinshasa), Afghanistan, Irak …
Was folgt hieraus – praktisch und für unsere Versuche, politische Systeme zu verstehen? Sind ‚staatenlose‘ Gebiete oder solche mit schlecht funktionierenden
Staaten ‚abnormale Fälle‘, in denen man möglichst schnell wieder eine funktionierende Staatlichkeit herstellen soll?
Ist etwas falsch mit unseren politischen Denkweisen, die in aller Selbstverständlichkeit davon ausgehen, daß überall auf der Erde gut funktionierende Staaten bestehen?
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‚marginale‘ Staatlichkeit
Grad der Machtteilung
Grad der Partizipation
• durchstrukturierte Ein-Parteien-Herrschaft
• Clanherrschaft
Grad derIdeologisierung
• Ideologisierung• Mentalitätspflege
• Apolitizität• Mobilisierung
‚starker‘ Autoritarismus Totalitarismus
‚marginale‘ Staatlichkeit
vielfältige Misch- und
Übergangsformen
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt‚marginale
‘ Staatlichke
it
‚marginale Staatlichkeit‘ und die Arten politischer Systeme
Herrschaftsstruktur
Willensbildung
• monistisch• gewaltenteilend
politischerGestaltungsanspruch
• begrenzt• unbegrenzt
• konkurrierend• monopolisiert
(2) totalitäre Diktatur
(3) liberaler demokratische
r Verfassungssta
at(1) autoritäre
Diktatur
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Historische Tatsachen I ‚Staatlichkeit‘ ( Info) ist eine Ausnahmeform politischer Ordnung – mit
großen Vorzügen und etlichen Kosten Beispiele: Ägypten, Hethitisches Reich, mesopotamische Reiche, Persien,
griechische Poleis, Karthago, Rom/Byzanz; europäische ‚Staaten‘ seit dem Frankenreich, Rußland; China, Japan; mittelamerikanische Staaten (Maya, Azteken), Inka; Äthiopien, Timbuktu, Benin …; arabische Reiche, osmanisches Reich …
viel häufiger: ausgedehnte herrschaftslose Räume mit instabilen und oft eher clanartigen als fest institutionalisierten machtausübenden Gruppen Beispiele: große Teile des Mittelmeerraums bis zur phönizischen und später
griechischen Kolonisation; Nordeuropa bis zum (Früh-) Mittelalter, Sibirien bis zum russischen Imperialismus; große Teile von Afrika, Amerika und Australien bis zum Kolonialismus/Imperialismus
nicht selten auch: ‚Übergangszustände‘ zwischen ‚autonomen Stammesstrukturen‘ und ‚loser Oberherrschaft einer Hegemonialgewalt‘ Beispiele: Peripherie der antiken Großreiche, große Teile West- und Mitteleuropas
zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter, große Teile Afrikas in den ersten gut zwei Jahrhunderten des Kolonialismus
Ferner gilt: Die meisten Staaten, die es je gab, waren autoritäre Diktaturen. Warum?
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Historische Tatsachen II ‚Moderne Staatlichkeit‘ entstand in Europa seit den Religions- und Bürgerkriegen des
16./17. Jahrhunderts (‚westfälisches Staatensystem‘) aus mindestens drei Ursachen. Kulturelle Voraussetzungen u.a.: sehr konkretes Nachwirken von römischer Reichsidee und
römischem Recht, Institutionenmodell und Regierungspraxis der römischen Kirche, Verbindung von stabilem Ständewesen mit stabiler Zentralgewalt.
Mit der außergewöhnlichen technischen Entwicklung Europas und dem so möglich gewordenen Kolonialismus / Imperialismus werden die Leitideen und institutionellen Formen europäischer Staatlichkeit über einen Großteil der Erde verbreitet. Achtung: zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren außer v.a. China, Japan, Thailand und
Äthiopien nur sehr wenige Gebiete der Erde nicht unter die (indirekte) Regierungsgewalt europäischer Staaten geraten!
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen Entkolonisierung und kommunistische Revolutionen in den allermeisten Ländern der Erde politische Strukturen, die der europäischen Staatlichkeit nachgebildet sind. Wichtiger Stabilisierungsfaktor: weltweit prägender Ost/West-Konflikt samt ‚Kaltem Krieg‘. In genau dieser Zeit wird das System der modernen internationalen Beziehungen immer
komplexer, dessen Rechtsgrundlagen auf der Annahme beruhen, alle bewohnten Gebiete der Erde gehörten zu für sie verantwortlichen souveränen Staaten.
Seit dem Ende des Ost/West-Konflikts beobachten wir den Wegfall von dessen Stabilisierungsleistung sowie Prozesse, in denen Staatlichkeit zusammenbricht (etwa: Somalia), mühsam von außen stabilisiert wird (z.B. multinationale Protektorate wie auf dem Balkan) oder sich nach Zerstörung von außen kaum mehr wieder errichten läßt (z.B. Afghanistan, Irak).
Faustformel: „Staatlichkeit ist ein europäischer Exportartikel, dessen Import oft mehr Probleme schuf als löste!“
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Was ist ein ‚Staat‘? verläßlich funktionierendes Gefüge von Institutionen, welches die Herstellung und
Durchsetzung allgemein verbindlicher Regeln und Entscheidungen (≈ ‚Staatsgewalt‘) übernimmt, und zwar … auf einem mehr oder minder klar umrissenen Gebiet (≈ ‚Staatsgebiet‘) über einen mehr oder minder klar umrissenen Personenkreis, deren Zusammenleben durch
jene Staatsgewalt geregelt wird (≈ ‚Staatsvolk‘) verläßliches Funktionieren der Staatsgewalt wird in der Regel bewerkstelligt durch
… informale und formale Rechtsnormen Legitimitätsglauben bei einem großen Teil des Staatsvolkes Unterscheidung zwischen akzeptierter Staatsgewalt und nicht akzeptierten derzeitigen
Inhabern der Staatsgewalt ‚Produkt‘ dieses Institutionengefüges: ‚politische Güter‘ – aufsteigend von denen,
derentwillen man Staaten schafft, bis zu jenen, die einen Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bringen: Sicherheit nach außen und im Inneren; Rechtsstaatlichkeit; persönliche Freiheit und praktizierten Pluralismus; gute sowie nachhaltige Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur-, Finanz- und
Wirtschaftssysteme; Demokratie
Alternativen zum Staat: persönliche Herrschaft, Protektorat, Reich
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persönliche Herrschaft Herrschaft
= Eigenschaft, ganz persönlich – und nicht als Inhaber eines Amtes – Herr über andere zu sein
Begründungsmöglichkeiten / Erscheinungsformen Mann über Frau und Gesinde (vgl. Aristoteles:
Unterscheidung von Oikos und Polis) Vater über Kinder (vgl. Robert Filmer, 1588-1653,
Hauptwerk ‚Partriarcha‘, wo dieses Verhältnis von ‚Gott über die Menschen‘ bis hin zu ‚Monarch über Untertanen‘ ausgearbeitet wird)
Führer über – mehr oder minder freiwillige – Gefolgschaft (z.B. germanisches Heerkönigtum, Lehensbeziehung mit Dialektik von Treue und Huld, ‚Pate‘ über ‚cosa nostra‘ …)
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Protektorat Begriff
von lat. protégere = beschützen, protéctor = Beschützer; also: ein von einem Beschützer verwaltetes / gesichertes Gebiet
Begründungsmöglichkeiten / Erscheinungsformen ein Gebiet braucht ein Mindestmaß an politischen Gütern,
schafft aber nicht den Aufbau oder Erhalt eines Institutionensystems, das diese zu produzieren in der Lage ist – weswegen ein anderer Träger von Herrschaftsmacht aus eigenem Interesse dafür sorgt
Beispiele: Bosnien-Herzegowina, Kosovo; perspektivisch vielleicht Afghanistan
Form der Annexion anderer Staaten Beispiele: ‚Schutzgebiete‘ wie im Kolonialismus/Imperialismus;
Reichsprotektorat Böhmen und Mähren
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Reich Begriffshintergrund
germanisches Wort ‚Reich‘: von ‚reichen‘ im Sinn einer Ausdehnung von etwas, hier: des Reichens von Regeln, Zuständen, Verhältnissen
romanisches Wort ‚empire‘ (engl. u. franz.): von lat. imperium, d.h. Befehlsgewalt, Befugnis.
Definition Verständnishilfe: Definiton beim mittelalterlichen Historiker Wipo, nach welchem
ein Reich ein politisches Gebilde ist, das mehrere Königreiche umfaßt Reich = eine politische Organisationsform, welche mehr oder minder lose eine
Mehrzahl von gleichwie strukturierten politischen Systemen umfaßt (Staaten ebenso wie persönliche Herrschaften oder Protektorate) und genau so weit ‚reicht‘, wie eine wenigstens symbolisch akzeptierte Herrschaftsbefugnis besteht
d.h.: Ein Reich ist einesteils ‚mehr‘ als ein Staat, insofern es eine höhere Systemebene politischer Integration darstellt, und andernteils ist ein Reich ‚weniger‘ als ein Staat, insofern es weder selbst ein Staat sein muß noch seinerseits Staaten umfassen muß
Erscheinungsformen Reiche der Hethiter, Perser, Römer, Franken, Deutschen, arabischen und
osmanischen Kalifen, Mongolen, Chinesen, Engländer (im Imperialismus) und US-Amerikaner (heute!)
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Ursachen für Entstehung des modernen Staates Realpolitische Erklärung:
Im Grunde ein nicht-beabsichtigter, evolutionärer Prozeß, bei dem die Gewährleistung von (minimaler) Sicherheit durch politische Eliten mit (wachsender) Bereitschaft der Gesellschaft einherging, dafür die Ressourcen aufzubringen – was sich im Lauf der Zeit immer mehr verfeinerte und das Institutionensystem des modernen Staates hervorbrachte.
Liberale Erklärung: Ein auf wechselseitige Einsicht gegründeter ‚kontraktualistischer‘
Prozeß, bei dem politische Eliten und Bürgerschaft übereinkamen, daß die erstgenannten solange Privilegien haben dürften, wie sie sich als als Treuhänder der Bürgerschaft verstünden und für sie Sicherheit und Wohlfahrt gewährleisteten.
Politisch-ökonomische Erklärung: Moderner Staat entsteht als effizienter Mechanismus, der Märkte
möglich macht und Eigentumsrechte sichert und dergestalt jenes Mehrprodukt zu realisieren erlaubt, das die Finanzierung differenzierter staatlicher Institutionen und deren Legitimation über – auch nur ansatzweise – ‚Sozialstaatlichkeit‘ erlaubt.
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Vorzüge von Staatlichkeit Bannung der Gefahr des Bürgerkriegs, Chancen
friedlicher Entwicklung im Inneren. Effektivierung der Steuerungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten des Staates: wirksame Fiskalsysteme rationale Verwaltungsstrukturen Erzeugung eines – ggf. nach
Gerechtigkeitsgesichtspunkten staatlich umzuverteilenden – ‚Mehrprodukts‘.
Klare institutionelle Ansatzpunkte für die Bändigung und Begrenzung von Staatsmacht.
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‚Kosten‘ von Staatlichkeit politische Kosten: Durchsetzung eines staatlichen Waffen- und
Bewaffnetenmonopols, Notwendigkeit der Unterdrückung von Aufständen, Mißlingen ‚guten Regierens‘ mit erheblichen Folgelasten für die Legitimitätslage
soziale Kosten: schwer durchzusetzender oder durchzuhaltender Verzicht auf Sozialstrukturen und Kulturmuster, die sich schlecht mit einem hierarchischen Institutionengefüge vertragen (z.B. stets Nomadentum, oft auch auf Eigenleben bedachte ethnische Vielfalt)
wirtschaftliche Kosten: teuer sind Armeen und Verwaltungen (‚harter Kern‘ von Staatlichkeit), desgleichen jene sozialstaatlichen Leistungsstrukturen, nach deren Umfang heute oft die Legitimität von Staatsgewalt bemessen wird. das heißt: Staatlichkeit ‚funktioniert‘ ohnehin erst ab einem
Mindestmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit! Transaktionskosten sowohl von Verfassungsstaatlichkeit als
auch von Diktatur
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Warum sind autoritäre Diktaturen so häufig? wenig anspruchsvolle und darum oft gegebene
Voraussetzungen, weil Beschränkung auf Sicherung von Machtstrukturen (Info)
wenig Verlangen nach Alternativen in ‚traditionellen‘ Herrschaftssystemen (Info)
gut stabilisierbar durch ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ (Info)
von Regierten oft begrüßt als Überwindung nationaler Machtlosigkeit (‚Modernisierungs-diktatur‘), bürgerkriegsartiger Zustände oder von totalitärer Herrschaft (Info)
Und was geschieht wohl, wenn es weder Voraussetzungen für den Übergang zur Verfassungsstaat gibt noch die Stabilitätsgrundlagen bisheriger autoritärer Herrschaft weiterbestehen? … Eben!
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Erster Grund:wenig anspruchsvolle und darum oft
gegebene Voraussetzungen, weil Beschränkung auf Sicherung von Machtstrukturen.
Beispiele:germanische Eroberungsstaaten der
Völkerwanderungszeit ‚Personenverbandsstaaten‘ des Hochmittelaltersviele postkoloniale Staaten des 20. Jhdts.,
darunter fast ganz Schwarzafrika
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Zweiter Grund:wenig Verlangen nach Alternativen in
‚traditionellen‘ Herrschaftssystemen.Beispiele:
‚Häuptlingsverfassungen‘ neolithischer oder eisenzeitlicher Kulturen
pharaonisches Ägypten, kaiserliches Romabendländischer dualistischer Ständestaat,
Absolutismuschinesisches Kaiserreich, Reiche der Azteken
und Inka‚traditionale‘ Legitimierung, nicht ‚rationale‘ oder ‚charismatische‘!
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Dritter Grund:gut stabilisierbar durch ‚Zuckerbrot und
Peitsche‘, d.h.: Eine den Regierten als ausreichend erscheinende
staatliche Daseinsvorsorge in Verbindung mit verläßlich wirksamer Repression rät auch Unzufriedenen davon ab, sich auf eine Herausforderung der Regierenden einzulassen.
Beispiele:Franco-Spanien, Salazar-Portugal, Obristen-
Griechenland, Pinochet-Chilerealsozialistische Staaten nach ihren offen
totalitären Phasen, darunter: DDR
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Vierter Grund:von Regierten oft begrüßt als Überwindung nationaler Machtlosigkeit (‚Modernisierungsdiktatur‘)
Beispiele: Türkei Attatürks, Ägypten Nassers, Syrien Assads
bürgerkriegsartiger Zustände Beispiele: aufsteigender Absolutismus im Frankreich des
späten 16. Jhdts., PRI-Diktatur in Mexiko im frühen 20. Jhdt., Spanischer Franco-Faschismus
von totalitärer Herrschaft Beispiele: Herrschaft Napoleons nach der Instabilität von
jakobinischem Terror und Directoire, Chrustschow- und Beschnew-Zeit der SU, Deng-Periode Chinas, derzeit: Islamische Republik Iran
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Ordnende Begriffe (nach Robert I. Rotberg)
starke Staaten (‚strong states‘)schwache Staaten (fragile Staaten,
marginale Staaten, ‚weak states‘)gescheiterte Staaten (‚failed states‘)zusammengebrochene Staaten
(‚collapsed states‘)
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starke Staaten kontrollieren wirkungsvoll ihr Territorium stellen ihren Bürgern die ganze Bandbreite politischer Güter zur
Verfügung: Sicherheit nach außen und im Inneren; Rechtsstaatlichkeit; persönliche Freiheit und praktizierten Pluralismus; gute sowie nachhaltige Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur-,
Finanz- und Wirtschaftssysteme; Demokratie
Haben gute Performanz in allen diesen Dingen, gemessen etwa mit … Bruttosozialprodukt pro Kopf Human Development Index Transparency International Corruption Perceptions Index Freedom House Index
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schwache (fragile, marginale) Staaten schwach, weil …
schwierige geographische oder wirtschaftliche Grundsituation interne Spannungen (ethnische, religiöse, sprachliche, kulturelle, soziale
Konflikte) und / oder Kleptokratie übliche äußere Anzeichen:
reduzierte oder sich verringernde Fähigkeit, politische Güter (von innerer Sicherheit bis zur Demokratie) in ausreichendem Umfang herzustellen
Anzeichen von Vernachlässigung bei Infrastruktur, Bildungssystem, Rechtssystem
sinkendes Bruttosozialprodukt, steigende Korruption Beeinträchtigungen der Selbstorganisation und Eigenaktivität der
Zivilgesellschaft Sonderform: autoritäre Diktaturen
einesteils: stabiles Herrschaftssystem andernteils: Bereitstellung von nur wenigen politischen Gütern Beispiele: Kambodscha unter Pol Pot, Irak unter Saddam; heutiges
Weißrußland, Turkmenistan, Nordkorea und Libyen an die 40 Fälle, darunter etwa Haiti und Niger, Tschad und Papua-
Neuguinea
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vom schwachen zum gescheiterten Staat leicht Absinken zu gescheiterten Staaten bei inkompetenter,
korrupter und zugleich arroganter politischer Führung Anzeichen für solches Absinken im Verhalten politischer Führer:
Ausbeutung / Beraubung der eigenen Bevölkerung sich intensivierende autoritäre Herrschaft Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte Wahlbetrug steigende Zahl politischer Gefangener und unaufgeklärte Morde
Weitere Anzeichen für solches Absinken: Abnahme des Bruttosozialprodukts pro Kopf Inflation samt Gebrauch ausländischer Währungen im Inland schlechter werdende Infrastruktur Absinken der durchschnittlichen Lebenserwartung Zunahme von Auswanderung
‚Kandidaten‘ dafür: Zimbabwe, Nepal, vielleicht auch Bolivien
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gescheiterte Staaten stellen nur noch in geringem Umfang politische Güter (von innerer Sicherheit bis zur
Demokratie) bereit verwirken dadurch ihre Rolle als erstrangige Anbieter politischer Güter, so daß Clan-
und Bandenführer und sonstige nicht-staatliche Akteure (z.B. INGOs) ihrerseits in diese Rolle rücken.
staatliche Institutionen sind defekt: Bürokratie verliert an Professionalität und wird zum – oft auch noch korrupten –
Unterdrückungsinstrument Gerichte agieren auf Weisung der Regierung und werden für den rechtssuchenden Bürger
unnütz Parlamente, falls existent, sind ‚Abnickorgane‘ demokratische Willensbildung fehlt
Es verfallen: Infrastruktur verfällt: Wasser- und Stromversorgung, Telefon, Eisenbahn Gesundheitssystem, mit Zunahme von Aids und Kindersterblichkeit Bildungssystem, mit steigenden Raten von Analphabeten
Für Reiche bieten sich spektakuläre Profitmöglichkeiten: Währungsspekulation, passive Korruption
Arme werden immer ärmer: sinkendes Bruttosozialprodukt pro Kopf, Wirtschaf schrumpft, Zunahme von Versorgungsengpässen und Hunger
Folge: Aufständische organisieren sich und bedrohen die wohlhabenderen Städte und Personen
= ‚ausgehöhlte Form, in deren Rahmen die grundlegenden Aufgaben eines Staates eben nicht mehr erfüllt werden
z.B. Liberia, Nepal, Sierra Leone, Kongo, Elfenbeinküste …
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Folgeprobleme des Scheiterns von Staaten ‚Export‘ eigener Instabilität in das staatliche Umfeld:
Sierra Leona – Liberia – Guinea – Elfenbeinküste Kirgisien – Tadschikistan – Afghanistan
Stützpunkte und Rekrutierungspools von internationalem Terrorismus
z.B. Somalia, Irak nähren internationales Waffen- und
Rauschgiftgeschäft Vermutung:
Es ist vielleicht billiger, dem Scheitern von Staaten vorzubeugen, als nach dem Scheitern von Staaten in humanitäre Hilfe und in Maßnahmen zur Wiederherstellung von Staatlichkeit zu investieren
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zusammengebrochene Staaten sind sehr seltene und extreme Formen gescheiterter Staaten
typisch: Absenz von zentraler politischer Autorität; im Grunde nur noch geographische Begriffe
Kennzeichen: politische Güter (v.a. Sicherheit) durch private Mittel bzw. fallweise
beschafft ‚Sicherheit‘ läuft hinaus auf ‚Recht des Stärkeren‘
nicht-staatliche Akteure übernehmen das Kommando (von Clans bis zu INGOs)
falls noch Teile der früheren Staatsmacht bestehen, arbeiten sie unorganisiert und schwer erkennbar.
einzige Chance des Wiederaufstiegs zur Form des (bloß) ‚gescheiterten‘ Staates: Wiedererlangung von Sicherheit im Inneren und – davon abgeleitet – von Legitimität einer Zentralmacht. Eben das ist die Kernaussage der politischen Analyse von Thomas
Hobbes!
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Warum brechen Staaten zusammen? (I) Letztlich naives Aufpfropfen der europäischen Form von Staatlichkeit auf
Gesellschaften, die dafür weder eine Notwendigkeit noch die Voraussetzungen haben und denen auch noch die Idee einer festen Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt fremd ist (= mangelnde ‚governmentality‘) So entsteht im Grunde nur ‚Pseudo-Staatlichkeit‘, deren Fiktivität man – kurzfristiger
Einfachheit halber – als Faktizität behandelte (z.B. meiste postkoloniale Staaten) Trifft zu auf fast ganz Afrika und auf Teile Asiens. In Afrika wurde der ‚Staat‘ meist zum
Hemmschuh weiterer Entwicklung; in Asien gab es mitunter einen Übergang zu ‚echter‘ Staatlichkeit ( Info)
Zusammenbruch der dortigen ‚Quasi-Staatlichkeit‘ bei Einschränkung von materieller und militärischer Unterstützung der jeweils regierenden Eliten
zu kurze Zeiten einer ‚geschützten‘ Entwicklung, bei der die einmal implementierten ‚europäischen‘ Institutionen ihrerseits ein sich ihnen anpassendes gesellschaftliches und kulturelles Umfeld hätten schaffen können in Europa: 350jähriger Staatswerdungsprozeß zwischen Hochmittelalter und Neuzeit! Vor allem: Befreiungskriege, sozialistische Revolutionsversuche, Invasionen von
Nachbarstaaten, Bevölkerungsdruck, Zerstörung des traditionellen Sozialgefüges durch neue industrielle und urbane Siedlungen, Zerstörung des regionalen Wirtschaftsgefüges durch dichten Anschluß an den Weltmarkt und seine Dynamik
ungünstiges Verhältnis zwischen dem Nutzen und den Kosten von Staatlichkeit gerade während solcher – so die Hoffnung – ‚Übergangsperioden‘
Wegfall von innerem Stabilisierungsdruck, wie ihn eine Diktatur ermöglicht etwa: Sowjetunion, Jugoslawien, Afghanistan, Irak …
Achtung: Keine einfachen Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und dem Zusammenbruch von Staatlichkeit!
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‚Modernisierungsursachen‘ mißlingender und gelingender Staatlichkeit außerhalb ‚Europas‘
Aufbau von ‚Staatlichkeit‘ nach Zweitem Weltkrieg allenthalben versucht durch ‚staatszentrierte Modernisierung‘ Aufbau effektiver staatlicher Strukturen Modernisierung der Infrastruktur und Industrialisierung durch den – aufzubauenden bzw. zu festigenden –
Staat nötige Kapitalbeschaffung durch …
Aufbau von importsubstituierenden eigenen Industrien prohibitiven Protektionismus: Einfuhrverbote oder hohe Zollschranken für Güter, die man künftig selbst produzieren wollte Überbewertung nationaler Währungen, um im Land nicht herstellbare Güter leichter erwerben zu können ‚Einwerben‘ von Entwicklungshilfegeldern seitens anderer Regierungen oder internationaler Organisationen
In vielen Fällen mißlungen: ineffektiv bleibende staatliche Strukturen, die wegen der von ihnen zu treffenden Allokationsentscheidungen
korrupt und wegen des einströmenden Entwicklungshilfegeldes kleptokratisch wurden Marktverzerrungen und nicht-nachhaltige Wirtschaftsstrukturen, weil ‚politisches angemaßtes Wissen‘ über
die künftige Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung nicht die Leistungsfähigkeit von Wissenserwerb über freie Märkte und das dortige Wechselspiel von privatem Versuch und Irrtum, privatem Risiko und Profit besitzt
Instrumentalisierung der staatlichen Institutionen durch private Kapitalinteressen, Elitenbereicherung und Klientelismus
Gelungen, wo … lange Tradition bürokratischer Strukturen integrierte, funktionierende ländliche (!) Gesellschaften – ohne ‚Megacities‘ mit ihren politischen
Folgeschäden dominierende Rolle eines nicht-kleptokratischen Staates mit geringer Korruption
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Warum brechen Staaten zusammen? (II) unzulängliche Fähigkeit, ein stabiles politisch-rechtliches Rahmenwerk
zu sichern, innerhalb dessen humanes, soziales und wirtschaftliches Kapital akkumuliert und investiert werden kann. Anzeichen: fehlende oder nicht verläßlich durchgesetzte Regeln Einmal zusammengebrochen, ist ein derartiges Rahmenwerk besonders
schwer wieder herzustellen. nicht-nachhaltiges Wohlfahrtssystem
erfolgreiche westliche Staaten: gründeten es auf ein vergleichsweise effizientes Besteuerungssystem und einen – vergleichsweise! – fairen Umverteilungsmechanismus
schwache post-koloniale Staaten: gründen es meist auf … Subventionen für Preise und öffentliche Güter, die aber nicht aus einem selbstverantworteten Besteuerungs- und
Umverteilungssystem aufgebracht werden, sondern die aus äußeren Hilfsquellen finanziert werden: Entwicklungshilfe, Leistungen von
NGOs usw. Das führt zu das eigene Wirtschaftssystem zerstörenden Marktverzerrungen
und einer nicht mehr zu beseitigenden Kluft zwischen der auch ohne fremde Unterstützung möglichen Leistungsfähigkeit des Staates und den – meist ohnehin sehr geringen – Leistungserwartungen der Bürger.
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Warum brechen Staaten zusammen? (III) Globalisierung erzeugt – über Entstehung eines echten Weltmarkts –
wirksame Allokationsmechanismen jenseits des staatlichen Gestaltungsrahmens
Folgen: verringerte innerstaatliche Steuerungsmöglichkeiten von Wirtschaft und
Gesellschaft Delegitimierung aufgrund von ‚Leistungsdefiziten‘ des Staates
Ausdünnung der Wirkungsmöglichkeiten von Demokratie, weil diese – so wie wir sie bislang zu institutionalisieren vermochten – den Ordnungsrahmen des Staates voraussetzt
Delegitimierung aufgrund von ‚Wertverwirklichungsdefiziten‘ des Staates Während starke Staaten diese Probleme vergleichsweise gut abpuffern und
vielleicht sogar Einfluß auf die Ausgestaltung von Globalisierung gewinnen können, geraten schwache Staaten durch die ‚Umweltturbulenzen‘ der Globalisierung leicht aus dem – wenn überhaupt bestehend, dann labilen – Gleichgewicht: sinkende Exporterlöse verschärfen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme solche Problemverschärfung vergrößert die kulturellen, ethnischen usw. Probleme … was alles zum Scheitern eines Staates führen kann, der sich unter den
Bedingungen der Globalisierung dann auch nicht mehr leicht ‚sanieren‘ läßt
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analytische Dimensionen von ‚Staatszerfall‘ institutionelle Dimension: ‚Die Institutionen funktionieren an
sich nicht mehr (gut)!‘ Ursachen: Fehlkonstruktionen; Legitimitätsmängel;
Ressourcenmangel; kontraproduktive Reformen, welche wichtige Träger ‚memetischer Bürden‘ beseitigen
funktionelle Dimension: ‚Die Institutionen erbringen nicht (mehr) die Leistungen, die sie erfüllen sollen!‘ Ursachen: nicht ausreichende Adaption der Institutionen an das
gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle oder politische Umfeld; Ressourcenmangel; kontraproduktive Reformen, welche wichtige Träger ‚funktioneller Bürden‘ beseitigen
Achtung: Es kann sein, daß immer noch (gut) funktionierende Institutionen
nicht mehr die erforderlichen Funktionen erfüllen! Es kann sein, daß erforderliche Funktionen trotz nicht mehr
funktionierender staatlicher Funktionen erfüllt werden – nur eben von ‚nicht-staatlichen‘ Institutionen!
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Einige Einsichten Staatlichkeit entsteht aus dem Zusammentreffen sehr spezieller und keineswegs
allenthalben verfügbarer Vorbedingungen. Staatlichkeit ist darum keine universell anwendbare politische Ordnungsform,
sondern hat – vielleicht! – lebensfähige Alternativen. Problem: Wir kennen bislang nur die traditionelle Formen von ‚Staatlichkeit‘ oder
‚Reichsbildung‘ und wissen nicht, was von ihnen auch künftig akzeptabel oder wirksam ist (etwa wegen der Verfügbarkeit von ABC-Waffen und optimalen Bedingungen für international agierenden Terrorismus)
‚Scheitern von Staaten‘ ist darum vielfach keine Abweichung von einem Normalfall, sondern entweder ein ohnehin ganz normaler Prozeß oder sogar das Ende einer geschichtlichen Ausnahmesituation.
Stimmt das, so … sollten wir von bisherigen entwicklungspolitischen Vorstellungen Abschied nehmen,
wonach es ‚Entwicklungsstaaten‘ immer besser zum ‚richtigen Vorbild‘ des westlichen Staates zu ‚modernisieren‘ gelte
sind bereits die normativen Grundlagen unserer internationalen Ordnung brüchig kehren als ‚geschichtlich überwunden‘ geglaubte Formen zwischenstaatlicher Politik
wieder als aktuelle Herausforderungen zurück: Bildung einesteils von Protektoraten, andernteils von Reichen langfristige Zusammenarbeit von freiheitlichen Staaten mit Diktaturen ohne Versuche, dort auf
Systemwechsel hinzuwirken Versuche einer Abschottung gegen die nicht beseitigbaren ‚Slums der Weltpolitik‘
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Züge traditionellen Staatsdenkens, die derzeit als defizitär erkennbar werden
Staat = eine letztlich allmächtige und ganz einfach moderne ‚Organisationstechnologie‘
Anwendungsbereiche dieser ‚Organisationstechnologie‘: nationalstaatliche Integration Industrialisierung und Staatswirtschaft staatliche Transzendenzbefriedigung durch Staatsreligion oder Staatsideologie Sozialstaat mit gesicherter sozialer Gerechtigkeit von der Wiege bis zur Bahre
Im Grunde ist das Scheitern von solchem staatlichen ‚Verantwortungs-imperialismus‘ samt staatlich genährter ‚Politikillusion‘ auch schon im unproblematischen Anwendungsbereich europäischer Staatlichkeit offenkundig: ‚multikulturelle Gesellschaft‘ statt Nationalstaat – freilich mit eher
rückschrittlicher Wirkung Zusammenbruch der Staaten mit Zentralverwaltungswirtschaft bei
Reliberalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen Rückbau des Sozialstaates
Also muß erst recht nicht wundern, daß außerhalb der westlichen Kultur das europäische Staatsmodell erst recht immer wieder scheitert.
Höhepunkte:Faschismus,
Kommunismus
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Besonderes Problem: ‚Nation & Staat‘ Besonderheit der voll entfalteten europäischen Staatlichkeit des 19.
Jahrhunderts: Verbindung von Nation (= Sprößling von ‚Rousseau & Romantik‘) und Staat (= Sprößling des Absolutismus) zum ‚Nationalstaat‘
Scheitert schon in Europa: ‚mild‘ in Deutschland: Was tun mit der Donaumonarchie? ‚scharf‘ in Mittel- und Osteuropa nach Erstem Weltkrieg
Problematisch erst recht in Weltgegenden, in welchen das ganze Konzept der ‚Nation‘ keine Wurzeln hat und keinen handlungsleitenden Sinn besitzt, v.a. : in AfrikaDort Anschlußfragen: Kann dort das europäische Nationalstaatsmodell überhaupt sinnvoll sein – oder
ist es an sich schon ein Sprengsatz für ‚Staatlichkeit‘? Welche Form von ‚Nationalismus‘ entsteht, wo der staatliche Rahmen eine
‚Nation‘ voraussetzt, die Bedingungen für das Entstehen von (Staats-) Nationen ‚europäischer‘ Art aber nicht gegeben sind? Und wie fatal ist genau dies dann für einen formal bestehenden ‚National‘-Staat?
Welche institutionellen Formen politischer Repräsentation könnte es für die Vielfalt von ‚nicht-europäischen Nationen‘ geben, die nun einmal bestehen und von einem stabilen, legitimen politischen System vielfachen Nutzen ziehen könnten?
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Nachfolgeprobleme des einstigen Siegeszugs ‚europäischer Staatlichkeit‘ Zerstörung der Tradition alternativer politischer Ordnungsformen seit
dem imperialistischen Institutionentransfer und den kommunistischen Revolutionen auf allen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus betroffenen Kontinenten ‚problemlos‘ nur dort, wo lange Zeit auch eine neu und vor allem aus Europa
zugewanderte Bevölkerung dominierte: USA, Kanada, Australien; mit Einschränkungen: Südamerika
Verbindung ‚europäischer‘ Institutionenruinen mit regionalen Traditionen zu wenig lebensfähigen politischen Systemen, v.a. in Afrika
Fehladaptation des internationalen Staatensystems auf die sehr brüchige Voraussetzung gesicherter Staatlichkeit in weiten Teilen der Erde
Umsetzung des Glaubens an den Wert europäischer Staatlichkeit (mit u.a. Gewaltenteilung, weltanschaulichem Pluralismus und Demokratie) in abenteuerliche Programme der Staatenbildung und Demokratisierung, die … ihrerseits den ‚clash of civilizations‘ auslösen (können): arabische Welt, China mangels gegebener oder willentlich schaffbarer Voraussetzungen scheitern:
Afghanistan, Irak, viele afrikanische Staaten
Das heißt: ‚scheiternde Staaten‘ sind (auch) Opfer des Scheiterns der europäischen Staatsidee unter Bedingungen, für die sie wenig
geeignet ist !
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Folgerungen Die vorrangige Aufgabe ist es wohl weniger, gescheiterte Staatlichkeit
‚wiederherzustellen‘, als vielmehr Möglichkeiten zu finden, mit Weltgegenden zurechtzukommen, in denen … es keine Staatlichkeit gibt Staatlichkeit so schlecht funktioniert, daß die zentralen Staatsfunktionen eben nicht
erfüllt werden (v.a.: Durchsetzung von Recht und Ordnung im Inneren). Es ist einzusehen, daß dieses Problem kleiner ist, als es zunächst erscheint:
‚Staatlichkeit‘ ist kein Entweder/Oder, sondern es gibt immer schon Übergangsstufen. Also ist ein eher traditionelles Problem zu lösen, für das wir viele geschichtliche Erfahrungswerte besitzen.
‚Entstaatlichung‘ muß nicht zu sozialer Unordnung führen. Im Gegenteil scheint erst die Einführung des Staates in Gesellschaften ohne staatliche Tradition viele Formen sozialer Unordnung erzeugt zu haben. Also kann vermutet werden, daß sich jenseits von Staatlichkeit aufs neue stabile Ordnungsformen einspielen werden.
Viele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse brauchen gar keinen staatlichen Ordnungsrahmen ‚vor Ort‘: etwa benötigen Technik, Währung und Gerichtsbarkeit nur irgendwelche funktionierenden Staaten zur ihrer Nutzbarkeit, nicht aber notwendigerweise den Staat, in dem man sich gerade aufhält.
Bei Bedarf läßt sich seitens von NGOs oder von Staaten mit oder ohne UN-Mandat zur Behebung dringender Probleme zweckbezogen und begrenzt in staatsfreien Regionen intervenieren.
Ende des westlichen Traums einer ‚demokratischen Staatenwelt‘;freilich: kein schönes Erwachen!
Obendrein ist unklar, wohin, wie weit und wie gut die
Reise mit ‚poststaatlichen Strukturen‘ gehen wird!
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Damit sollte klar sein, daß der Typ europäischer Staatlichkeit eine sehr
voraussetzungsbedürftige und darum kulturspezifische und nicht einfach verallgemeinerbare politische Ordnungsform ist
welche schlimmen Folgen der selbstsichere Export dieser Ordnungsform in vielen Teilen der Erde angerichtet hat
warum es immer wieder zum Scheitern von Staaten kommt
was angesichts dessen wohl zu unternehmen ist
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Ende bei beobachtungen und fragen