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TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt Vorlesung: Einführung in die vergleichende historisch- sozialwissenschaftliche Institutionenforschung I: Theorien der Institutionenanalyse und des Institutionenwandels im Überblick

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Vorlesung:

Einführung in die vergleichende historisch-sozialwissenschaftliche Institutionenforschung I:

Theorien der Institutionenanalyse und des Institutionenwandels

im Überblick

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Das Modul SYS 1: Vergleichende historisch-sozialwissenschaftliche Institutionenforschung

Inhalte / Qualifikationsziele des Moduls SYS 1: vertiefte Kenntnisse der Logik und Methodik des historischen und

sozialwissenschaftlichen Systemvergleichs zentrale Theorien sozialwissenschaftlicher Institutionenanalyse zentrale Theorien institutionellen Wandels Anwendung beider Theoriegruppen bei der vergleichenden Analyse zentraler

politischer Institutionen aus Geschichte und Gegenwart Aufbau des Moduls:

Vorlesung, 2 SWS, abgeschlossen mit Klausur, voraussichtlich in der letzen Semesterwoche zur Vorlesungszeit

Hauptseminar, 2 SWS, diesmal: „Autoritäre Rückschläge demokratischer Staaten im Vergleich“ (PD Dr. Kailitz / Jan Stoye, M.A.), abgeschlossen i.d.R. durch Referat und Hausarbeit

Leitgedanke: theoretische und methodische Grundlagen schaffen für den gesamten MA-

Studiengang ‚Politik und Verfassung‘ insbesondere: Einführung in die Denkweisen und Theoreme des Historischen

bzw. Evolutorischen Institutionalismus

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Leitgedanken des MA-Studiengangs ‚Politik und Verfassung‘ (zumindest aus Sicht der Systemlehre …)

Politik als „Prozess der Herstellung allgemein verbindlicher Regeln und Entscheidungen in und zwischen Gruppen von Menschen“ … schafft sich Strukturen / Institutionen, die solche Prozesse ordnen sowie mehr oder

minder erwartbar bzw. steuerbar machen (v.a.: ‚Verfassungen‘, ‚Regime‘) wird von solchen Strukturen / Institutionen sodann geprägt – und zwar nicht nur ‚hier und

jetzt‘, sondern auch hinsichtlich … ihrer grundsätzlich in Rechnung zu stellenden Spielräume (‚Machtbeschränkung‘ vs.

‚Machtfreisetzung‘) der weiteren Entwicklungsmöglichkeiten jener Strukturen selbst (‚Pfadabhängigkeit‘).

Eben die Wechselwirkungen politischer Prozesse mit den sie ordnenden institutionellen Strukturen (‚Verfassungsstrukturen‘) gilt es …

theoretisch zu durchdringen empirisch zu studieren (mit der geeigneten Methodenkompetenz!),

und zwar auf nationaler, subnationaler und supra-/internationaler Ebene. Nützlich ist das für das Verständnis und die praktische Begleitung von …

Konflikten um zu schaffende / bestehende Verfassungen, v.a. demokratische Reformen politischer Institutionen bzw. solcher institutioneller Mechanismen, die politische Prozesse

steuern Versuchen der Stabilisierung brüchig gewordener politischer Ordnungen / Verfassungsstrukturen (z.B.:

Stabilisierung von ‚failing states‘)

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Ziel der Vorlesung

Vertrautmachen mit jenen Theorien über (politische) Institutionen und ihren Wandel, die einem helfen, die Wechselwirkungen zwischen Politik und ‚Verfassung‘ geistig zu durchdringen (Foliensatz SYS 1-1)

systematische Einführung in eine sehr gehaltvolle Theorie institutioneller Genese, Architektur und Geschichte, welche für die Analyse vielfältiger politischer Institutionen (Geschichte, Funktionslogik, Reform- und Stabilisierungsmöglichkeiten) sehr nützlich ist: Evolutorischer Institutionalismus (Foliensatz SYS 1-2)

Systematische Einführung in Ansätze sowie Methodik (historisch) vergleichender System- und Institutionenanalye (Foliensatz SYS 1-3)

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Achtung: Während der Vorlesung bilden konkrete politische Institutionen / Systeme nur das Beispielsmaterial für die zu vermittelnden übergreifenden Zusammenhänge; Befassung mit konkreten Institutionen / Systemen ist Aufgabe des Hauptseminars

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Aufbau der Vorlesung

Überblickezentrale Theorien sozialwissenschaftlicher

Institutionenanalyse zentrale Theorien institutionellen Wandels

Systematische EinführungenEvolutorischer InstitutionalismusLogik und Methodik des historischen und

sozialwissenschaftlichen Systemvergleichs

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... und fällt leider aus am 19. und 26. Oktober!

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Hinweise zur Lehrform und zum erfolgreichen Studierverhalten

Nutzung der so wertvollen Kleingruppensituation Vorlesung in Art eines Seminarvortrags, der stets durch

Fragen / Diskussionen unterbrochen werden kann Eigene Initiativen der Studierenden

umfangreiche Begleitlektüre zur Vorlesung Möglichkeit, die Texte in der Vorlesung selbst (über den

Vorlesungsstoff hinaus) als Diskussionsstoff einzubringenn Rat:

Foliensatz der Vorlesung über Lehrstuhl-Homepage herunterladen / ausdrucken

schon vor den jeweiligen Vorlesungsstunden durcharbeiten begleitende Lektüre, u.a. anhand der gegebenen

Literaturhinweise

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Literaturhinweise (Neo-) Institutionalismus

Senge, Konstanze / Hellmann, Kai-Uwe (Hrsg.) 2006: Einführung in den Neo-Institutionalismus. Mit einem Beitrag. von W. Richard Scott, Wiesbaden

Hall, Peter A. / Taylor, Rosemary C. R., 1996: Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Studies 44, 936-957.

Keohane, Robert 1988: International Institutions: Two Approaches, in: International Studies Quarterly, 32 (1988), S.379-396

Peters, B. Guy: Institutional Theory in Political Systems, London 1999²

Historischer / Evolutorischer Institutionalismus Mahoney, James, 2000: Path Dependence in Historical Sociology, in: Theory and

Society, 29, 507-548. Thelen, Kathleen, 2002: How Institutions Evolve. Insights from Comparative-Historical

Analysis, in: Mahoney, James / Rueschemeyer, Dietrich (Hrsg.): Comparative Historical Analysis in the Social Sciences. New York, 208-240.

Patzelt, Werner J. (Hrsg.) 2007: Evolutorischer Institutionalismus, Würzburg.

Logik und Methodik des Systemvergleichs Sabine Kropp / Michael Minkenberg, Hrsg., 2005: Vergleichen in der

Politikwissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Es wäre gut, im Lauf des Semesters alle diese Titel wenigstens auszugsweise durchzuarbeiten!

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zentrale Theorien sozialwissenschaftlicher Institutionenanalyse

Einführendes: ,Was ist eine Institution‘? Überblicke:

zur Begriffs- und Theoriegeschichte ‚klassische Institutionenkunde‘ vs.

Neo-Institutionalismus Institutionenökonomik (‚rational choice-

Institutionalismus) ‚konstruktivistischer‘ Institutionalismus akteurszentrierter Institutionalismus institutionelle Analyse

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Was ist eine ‚Institution‘? (I) ‚harter‘ Kern ‚des Politischen‘ (≈ ‚polity-Bereich‘), z.B. …

im Bereich des ‚Regierens‘: Verwaltung, Polizei, Armee im Bereich des ‚Partizipierens‘ an Politik: Parlamente, Parteien,

Verbände ‚Gehäuse‘ und (!) ‚Werkzeug‘ politischer Prozesse, z.B. …

Rechtsstaat als Rahmen und Instrumentarium des politischer Gestaltungsabsichten

Parlament als Ort und Mittel politischer Auseinandersetzung Ergebnis von Politik – und darin: ‚Vehikel‘ von politischen

Werten / Ideen, z.B. … unabhängige Gerichte (statt ‚Monarch = Gerichtsherr‘) als Vehikel

von Rechtsstaatlichkeit (statt Willkürherrschaft) Parlamente als Gegenlager zur Exekutive (statt ‚alle Macht in eine

Hand‘) als Vehikel von (demokratischer) Partizipation

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Frage: ‚Braucht‘ der politische Prozess vielleicht ‚Institutionen‘ – und ‚schafft‘ er deren ‚Vorgänger‘ (z.B. ‚internationale Regime‘), wo immer für ‚richtige Institutionen‘ noch die Voraussetzungenfehlen?

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Bei Politik geht es um die Frage:

Prozesse Strukturen

Was soll wie in welchem Rahmen allgemein verbindlich gemacht werden?

politics

Inhalte

policy

polity

Festgelegt werden inhaltsgeprägte & prozesssteuernde politische Strukturen durch -Verfassungen- Vereinbarungen über (internationale) Regime

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Was ist eine Institution? (II) ein (formelles oder informelles) Regelwerk (‚eingelassen‘ in kulturelle Kontexte) zur mehr oder minder dauerhaften Ordnung von Interaktionen zwischen

Akteuren (Personen oder Organisationen/Institutionen), das zu (mehr oder minder dauerhaften) sozialen Strukturen führt, und zwar zur Erfüllung von Zwecken (‚Funktionen‘)

gleich ob in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur oder Politik gleich ob diese Zwecke manifest oder latent, symbolisch oder instrumentell sind

wobei die Stabilisierung jener Strukturen dadurch erfolgt, dass die Zwecksetzung (‚Leitidee‘) der Institution ‚werthaft aufgeladen‘ , ‚symbolisch repräsentiert‘ und dadurch bei den Akteuren bzw. Adressaten der Institution (auch) ‚emotional verankert‘ wird.

Im Übrigen lassen sich unterscheiden (siehe Maurice Hauriou) … personenzentrierte Institutionen (‚institution-personne‘): Orden, Partei, Parlament …. Das alles

sind selbst schon soziale Strukturen mit [personalen] Akteuren (‚institutionelle Strukturen‘). sachzentrierte Institutionen (‚institution-chose‘): Ehe, Privateigentum, Asyl … . Um das alles

herum entstehen dann soziale Strukturen mit personalen Akteuren (‚sekundäre‘ institutionelle Strukturen).

TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. PatzeltFolge: Institutionen sind besonders ‚feste‘ Bestandteile sozialer bzw. politischer Wirklichkeit – und als solche ein zentraler Gegenstand sozial- bzw. politikwissenschaftlichere Forschung.

… und im Kern geht es bei Politik stets um das Schaffen / Stabilisieren / Nutzen / Reformieren / Bekämpfen / Beseitigen von Institutionen als den zentralen Ressourcen zur Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen.

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‚Strukturfunktionalismus‘ = eine analytische Perspektive, bei welcher das Zusammenwirken von Strukturen und Funktionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht (in anderer Perspektive auch: ‚Funktionsstrukturalismus‘)

Funktion

System Suprasystem

setzt dem Subsystem RahmenbedingungenRahmenbedingungen

erbringt LeistungenLeistungen für das Suprasystem

Funktion = eine Leistung, die ein (Sub-) System für ein (Supra-) System erbringt

nützlich sind so abstrakte analytische Kategorien v.a. für Vergleiche!

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Arten von Funktionen

manifest latent

symbolisch

instrumentell

beabsichtigt,

‚leicht erkennbar‘

(ursprünglich) unbeabsichtigt,

‚nur mit analytischer

Anstrengung erkennbar‘

wirksa

m über tech

nische oder

institutio

nelle M

echanism

en

wirksam über Kommunikations- und

Interpretationsbeeinflussung

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ausgewählte Parlamentsfunktionen: Beispiele für Arten von Funktionen

manifest: Gesetzgebung latent: Sicherung von Kommunikation zwischen

gesellschaftlicher Peripherie und zentralem politischen Entscheidungssystem

instrumentell-manifest: Wahl der Regierung instrumentell-latent: Anreiz für Schaffung

organisationsstarker Parteien symbolisch-manifest: Widerspiegelung der im Volk

vorhandenen politischen Ansichten symbolisch-latent: Hervorhebung der Grenzlinie zwischen

‚vernünftigerweise akzeptablen‘ und ‚vernünftigerweise nicht akzeptablen‘ politischen Ansichten

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Institution und Organisation Organisationen …

bestehen immer aus Akteuren, sind also stets soziale Systeme (wie Unternehmen aus Mitarbeitern).

Hingegen kann es auch rein ‚sachzentrierte‘ Institutionen (Hauriou: institution-chose) geben kann wie das Privateigentum oder die Ehe, d.h. solche, die zunächst einmal nur ‚Regelsysteme‘ (ohne konkret ‚geregelte‘ Personen / konkrete Beziehungen Personen) sind, um die herum sich erst sekundär soziale Strukturen (d.h.: Organisationen) entwickeln ( ‚Institutionen ohne Akteure‘).

Institutionen … bringen ihre Ordnungsprinzipien und Geltungsansprüche auch noch symbolisch zum

Ausdruck (wie Parteien oder Kirchen), verankern sie dergestalt in emotionalen Tiefenschichten ihrer Akteure oder Adressaten und erlangen so besonders große Stabilität.

Das heißt: Institutionen werden zwar oft auch eine organisatorische Konkretisierung haben

(nämlich die ‚Institutionsorganisation‘), können als ‚institutions-chose‘ aber auch ohne sie bestehen

Organisationen werden dann zu Institutionen, wenn sie ihre Ordnungsprinzipien und Leitideen auch noch symbolisch zum Ausdruck bringen.

TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. PatzeltIm Bereich der Politik: ‚Verfassungen‘ sind sachzentrierte Institutionen, Verfassungsorgane (wie der Bundestag) und wichtige politische Akteure (wie Parteien) personenzentrierte Institutionen – und obendrein gibt es jede Menge an wichtigen Organisationen (wie die Steuerverwaltung oder die Liegenschaftsämter)

Nötig zu verstehen: Verfassungen bzw. Vereinbarungen über internationale Regime schaffen sowohl sachzentrierte Institutionen (z.B. [Verteidigungs-] Krieg) als auch personenzentrierte Institutionen (z.B. Gerichtshöfe), die beide sowohl gut zusammenpassen als auch einander widerstreiten können.

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Umrisse der Begriffs- und Theoriegeschichte I lateinische Antike:

institutio = Einleitung, Anleitung, Erziehung; Einrichtung wichtig für Sprachgebrauch v.a. ‚institutio‘ = ‚Lehrbuch‘, meist in das Recht. Folgenreich: „Gaii institutiones“, juristisches Anfängerlehrbuch aus Mitte 2. Jh. n. Chr., oder die

‚Institutionen‘ des Kaisers Justinian, die weitgehend auf den ‚Gaii institutiones‘ beruhten und 533 n.Chr. obendrein selbst den Status eines Gesetzes erhielten.

Achtung: Noch 1536 erscheint das Theologielehrbuch von Johannes Calvin unter dem Titel ‚Institutio christianae religionis‘.

Nachklang bis heute: ‚Institution‘ (im heutigen Begríffsgebrauch) gekennzeichnet durch symbolisch-lehrhafte Verankerung eines strukturbildenden Sinngefüges in emotionale / kognitive Tiefenschichten von Menschen

institutio als ‚Einrichtung‘ eher benannt mit ‚constitutio‘ (Anordnung, Verfügung, Verordnung) oder mit ‚institutum‘ (Sitte, Brauch, Brauchtum, Vorhaben)

Mittelalter: Das vom heutigen Institutionenbegriff Gemeinte wird im Wesentlichen vom Begriff

der ‚universitas‘ = ‚Gesamtheit von am Gleichen Interessierten‘ abgedeckt (vgl. Otto v. Gierke, ‚Theorie der realen Verbandspersönlichkeit‘ in „Das deutsche Genossenschaftsrecht“)

Zentral: die von Ernst Kantorowicz formulierte Einsicht ‚universitas non moritur‘ – weil sie nämlich im Wechsel der sie tragenden Generationen weiterlebt (vgl. E. Kantorowicz, „The King‘s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology“)

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Umrisse der Begriffs- und Theoriegeschichte II

Der heutige Institutionenbegriff (samt ‚Institution‘ als Begriffswort) wurzelt in den Werken von Montesquieu und Rousseau: Welche sozialen oder politischen Strukturen bzw. deren kulturelle Einbettungen muss man schaffen, wenn bestimmte Verhaltensregulationen auf Dauer gestellt werden sollen? Achtung: Dieser Gedanke selbst ist schon uralt. Nur die Bezeichnung all dessen mit ‚Institution‘ (statt etwa

einfach ‚Konstitution‘) ist neu – und obendrein der Gedanke, dass es um ein Hineinwirken in emotional-kulturelle Tiefenschichten geht ( Montesquieu: ‚esprit des lois‘, ‚principe du régime‘ [terreur/Despotie – honneur/Monarchie –vertu/Republik]; Rousseau: ‚religion civile‘).

Für die Sozialwissenschaften wird dann folgende Theorietradition wichtig: Fustel de Coulanges (1830-1889), Lehrer von Émile Durkeim, studiert die ‚Institutionen‘ der antiken Stadt

und betont deren Jahrhunderte überdauernde Stabilität (= politische Kernleistung) Émile Durkheim (1858-1917), einer der Gründerväter der modernen Soziologie:

„On peut (...) appeler institutions toutes les croyances et tous les modes de conduite institués par la collectivité. La sociologie peut être alors définie comme la science des institutions, de leur genèse et de leur fonctionnement .»

Von Durkheim an ist der Institutionenbegriff zentral für die Sozialwissenschaften: Institutionen sind die zentralen ‘faits sociaux’, die man wie ‘Dinge’ erforschen muss.

‘Abrundung’ dieser einseitigen Position: ‘Les faits sociaux ne sont pas des choses’ – sondern Sozialkonstruktionen, die des ständigen Neubewirktwerdens in Tausenden von Alltagssituationen bedürfen (Prozesse der ‘sozialen Wirklicheitskonstruktion’; vgl. Berger / Luckmann, das Schrifttum zur Ethnomethodologie sowie die Dresdner ‘institutionelle Analyse’)

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Umrisse der Begriffs- und Theoriegeschichte III Max Weber (1864-1920): Einführung des Begriffs der ‘Institutionalisierung’

für die Verfestigung von Vergesellschaftungen Talcott Parsons (1902-1979): Institutionen (die ihrerseits Funktionen erfüllen)

als Kernstücke sozialer Strukturen Maurice Hauriou (1856-1929, Rechtswissenschaftler): Institutionen als

rechtliche sowie soziale Konkretisierungen von ‘Leitideen’; Unterscheidung von ‘institution-personne’ und ‘institution-chose’

Friedrich August v. Hayek (1899-1992, Wirtschaftswissenschaftler): Institutionen sind ‘wie lebende Organismen’; Anschluss: institutionelle Populationsökologie der 1970er; siehe Hannan/Freeman, Aldrich/McKelvey

John Rawls (1921-2002, Philosoph): Institutionen als ‘Mittel zum Zweck’ (vgl. Mancur Olson, Logik des kollektiven Handelns)

Arnold Gehlen (1904-1976): Instutionen dienen der ‘Daseinsentlastung’; sie helfen dem ‘Urmenschen’, sich auch noch in der ‘Spätkultur’ zurechtzufinden

Peter L. Berger (1929 - ) / Thomas Luckmann (1927 - ): Institutionen entstehen aus Habitualisierung von Rollen

TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. Patzelt Alles das ist von Interesse für politikwissenschaftliche Grundlagentheorien, deren Interesse über das ‚Nachzeichnen‘ konkreter (politischer) Institutionen hinausgeht, um sie auch von allgemeinen Prinzipien ihrer Konstruktion und Funktionslogik her zu verstehen.

Bitte selbständig weiterlesen!

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‚Klassische (politische) Institutionenkunde‘ Ausgegangen wird von den Institutionen, „die da sind“, z.B. Monarch/Hof,

Verwaltung, Gerichte, Parlamente, Parteien usw. Diese Institutionen werden beschrieben hinsichtlich ihrer …

Rechtsgrundlagen, Handlungskompetenzen, Rolle im (rechtlichen) Gesamtsystem

Beschaffenheit (z.B. Zusammensetzung), tatsächlichen Wirkungsweise, erreichten Leistungen, Funktionsprobleme …

Diese Institutionen werden ferner erklärt durch … Darstellung ihrer Geschichte (‚genetische‘ bzw. ‚historische‘ Erklärung) Darlegung ihrer Zwecke, derentwillen ‚es sie braucht‘ (‚rationale‘ Erklärung).

Ferner kann man zu Werturteilen und Handlungsanweisungen (beibehalten – reformieren – abschaffen) über sie gelangen durch … Erarbeitung von Wertmaßstäben, anhand welcher man die Ziele, Performanz

und / oder Wirkungsfolgen konkreter Institutionen beurteilt Erarbeitung von Werturteilen bzw. Handlungsanweisungen anhand einesteils

solcher Wertmaßstäbe, andernteils empirischer Bestandsaufnahmen des Ist-Zustandes

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Bewertung: Notwendiger Ausgangspunkt aller Beschäftigung mit Institutionen – und unmittelbar praktisch wichtig für (Aus-) Bildung und (politische) Beteiligung

vgl. Carl Deichmann, Mehrdimensionale Institutionenkunde in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 1996

z.B. W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag

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Forschungsentwicklung: von der Institutionenkunde zum Neo-Institutionalismus

‚behavioral revolution‘ der Sozialwissenschaften nach 2. Weltkrieg: ‚Nicht Rechtsnormen, sondern das konkrete Verhalten von Individuen studieren!‘ ( Info) wissenschaftstheoretisch-forschungspraktischer Hintergrund: methodologischer Individualismus Lit: Jürgen W. Falter, Der ‚Positivismustreit‘ in der amerikanischen Politikwissenschaft, Opladen 1982

Dominanz des ‚strukturfunktionalistischen Paradigmas‘ (Parsons …) Lit.: Hilde Weiss, Soziologische Theorien der Gegenwart. Darstellung der großen Paradigmen, Wien

1993 Kernbegriff: ‚soziales System‘ (mit Institutionen lediglich als ‚Sonderfällen‘ sozialer Systeme) zu untersuchen:

deren Stukturen (darunter freilich auch: Institutionen) die grundlegenden Funktionen, die alle Strukturen sozialer Systeme zu erfüllen haben:

adaptation, goal attainment, integration, latent pattern maintenance (‚AGIL‘) zentraler Fortschritt: Löst institutionenanalytisches Denken von (verfassungs-) rechtlichen Kategorien

Folge: ‚klassische‘ Institutionenkunde galt als ‚veraltet‘, nachgerade als ‚vor-wissenschaftlich‘ Vorliebe für abstrakte systemtheoretische Darstellungsweisen, bei denen konkrete Institutionen vor

allem als Beispielsmaterial für sie übergreifende Zusammenhänge dienten Vorliebe für Befragungsmethoden, mit denen man sich Institutionen aber nur rekonstruierend

zuwenden kann: Befragter – Rolle – Rollenstruktur - Institution

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Gegenbewegung zum Behavioralismus: Neo-Institutionalismus (und seine unterschiedlichen Ausprägungen)

Errungenschaft dieser Entwicklung: Starke Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Dimension der Politikwissenschaft – in Ergänzung zu ihren juristischen, geschichtswissenschaftlichen und philosophischen Dimensionen ( Szientifizierung, Szientismus; vgl. J.David Singer, Die szientifische Methode, Politische Vierteljahresschrift 1973/1974).

in 1980ern ‚Wiederentdeckung‘ der Institutionen

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Behavioralistische Forschungsfragen / -strategien

Welche Rollenorientierungen haben die Akteure X i-n? qualitative oder quantitative Befragungen geeigneter Stichproben;

hermeneutische oder statistische Analysen Wie verhalten sie sich, geprägt wovon?

qualitative oder quantitative Befragungen geeigneter Stichproben; qualitative oder quantitative Beobachtungen; hermeneutische oder (multivariate) statistische Analysen

Was sind die Folgen solchen Verhaltens? qualitative oder quantitative Befragungen geeigneter Stichproben;

qualitative oder quantitative Beobachtungen; hermeneutische oder (multivariate) statistische Analysen

theoriebildende ‚Zusammensetzung‘ / Synthese … von Rollenorientierung / Rollenverhalten zu ‚Rolle‘ von einzelnen Rollen über ‚Rollenmbündel‘ und ‚Rollenstruktur‘ (mit

Funktionen) zu ‚Organisation / Institution‘

TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. PatzeltForschungsbeispiele: Wahlke et al., The Legislative System (1962); Fenno, Home Style (1978)

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Aufrechterhaltung der Wertgrundlagen,

Sinnstrukturen und handlungsleitenden

Selbstverständlichkeiten des Systems

Aufrechterhaltung der ‚Passung‘ zwischen

dem System und seiner Umwelt

Allgemeine Aufgabeneines sozialen Systems: AGIL

Adaptation

IntegrationLatent pattern maintenance

Goal attainment

Hinarbeiten auf die vom

System verfolgten Ziele

Sicherung des Zusammenhalts

des Systems

Analyseschema vonTalcott Parsons

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Neo-Institutionalismus Seit 1970er Jahren: ‚Wiederentdeckung‘ der Wichtigkeit von Institutionen als

konkret und anschaulich verhaltensregulierenden Ordnungen – und nicht nur als ‚abstrakte Funktionen erfüllende Systeme‘

keine Engführung auf politische Institutionen, sondern auf alle Arten solcher Verhaltensregulierungen – von der Wirtschaft über die Kultur bis hin zur Gesellschaft und Politik, so dass politische Institutionen als Sonderfall allgemeiner Zusammenhänge analysierbar werden

keine ‚einheitliche Theorie‘, sondern lose verbundenes Nebeneinander von … Rational choice- Institutionalismus: rationale Wahlhandlungen führen zur Einrichtung von

Ordnungsarrangements, die wichtigen Interessen ihrer Akteure / Nutzer dienen; entfaltet v.a. als ‚Institutionenökonomie‘

Soziologischer Institutionalismus: Betonung der ordnungskonstruierenden / ordnungsreproduzierenden Handlungen konkreter Akteure sowie der alledem vorausliegenden kulturellen Orientierungsleistungen

Historischer / Evolutorischer Institutionalismus (zu behandeln bei ‚Theorien sozialen Wandels‘) Institutionelle Analyse (Dresdner Spezialität aus dem Sonderforschungsbereich ‚Institutionalität

und Geschichtlichkeit‘): Untersuchung, wie aus Institutionalität als ‚Aggregatzustand sozialer Wirklichkeit zwischen Dauer und Wandel je konkrete Ordnungsstrukturen werden und sich wandeln (‚konstruktivistischer Ansatz‘)

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Prägt auf vielfältige Weise, unterschiedlich je nach Forschungsgebiet, seit 1990er Jahren die Politik-wissenschaft; in Deutschland u.a. wegen DFG-Schwerpunktprogramm ‚Theorie politischer Institutionen‘

Literaturhinweise

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Literatur zum Neo-Institutionalismus

Göhler, Gerhard: Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994

Göhler, Gerhard: Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997

Hall, Peter A. / Taylor, Rosemary C. R., 1996: Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Studies 44, 936-957.

Senge, Konstanze / Hellmann, Kai-Uwe (Hrsg.) 2006: Einführung in den Neo-Institutionalismus. Mit einem Beitrag von W. Richard Scott, Wiesbaden

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Institutionenökonomik

Entwicklung in der Wirtschaftswissenschaft, mit immer mehr Einwirkungen auf die Politikwissenschaft und deren Institutionenanalyse

Kernanliegen: Untersuchung der Wirkung von Institutionen auf die Handlungsweisen von

Interessenträgern aller Art Dabei: Hinausgehen über die neoklassische Wirtschaftstheorie mit ihren

Zentralkonzept des ‚homo oeconomicus‘ = Menschen handeln nur rational hinsichtlich der Maximierung ihres Nutzens

wichtige Konzepte u.a.: beschränkte Rationalität asymmetrische Information Rolle der Transaktionskosten Opportunismus unvollständige Verträge Rolle von Marktmacht

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Allesamt typisch für politische Prozesse und die aus ihnen entstehenden bzw. diese Prozesse prägenden Institutionen

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Institutionenökonomikim Überblick

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Info Info Info Info Info

vgl. auch: Erlei, Mathias / Leschke, Martin / Sauerland, Dirk : Neue Institutionenökonomik, Stuttgart 2007; Richter, Rudolf / Furubotn, Erik: Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. Tübingen 2003; Pappenheim, Reiner: Neue Institutionenökonomie und politische Institutionen, Frankfurt u.a. 2001

Unglückliche Darstellung, weil die untenstehenden Theorien allesamt auch für die Analyse politischer Institutionen fruchtbar & einschlägig sind.

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Prinzipal-Agent-Theorie (‚Agenturtheorie)

Im Zug gesellschaftlicher Arbeitsteilung beauftragen Menschen (= Prinzipale) andere Menschen (= Agenten) damit, für sie Dienstleistungen zu erbringen, und zwar zum Zweck wechselseitiger Nutzenmaximierung.

Das kann sich über viele Stationen (d.h. P/A-Beziehungen) fortsetzen kann. im Bereich der Politik: Herrschaft und Repräsentation (‚chain of delegation‘) sind P/A-Beziehungen!

(vgl. Torbjörn Bergman, Parliamentary democracy and the chain of delegation, Dordrecht 2000)

Da es bei P/A-Beziehungen stets um (unvollkommene) Vertragsbeziehungen geht, lassen sich alle ‚Vertragstheorien‘ der politischen Theorie agenturtheoretisch reformulieren / durchleuchten

So entstehen mehr oder minder lange Handlungsketten, gekennzeichnet durch … asymmetrische Informationsverteilung:

Agenten wissen mehr als ihre Prinzipale (verborgenes Wissen, verborgene Absichten, verborgene Handlungen) verschiedene – (transaktions-)kostenreiche! – Möglichkeiten der Kontrolle: bürokratische Verfahren,

Controlling, Anreize für korrektes Verhalten, (Unternehmens-) ‚Kultur‘, Reputation, Vertrauen … Prinzipale können i.d.R. nicht klar beurteilen, welche Ergebnisse auf wirkliche (Fehl-) Leistungen ihrer Agenten,

welche andere aber auf Glück oder Missgeschick der Agenten zurückgehen. Agenten können ihren Informationsvorsprung zu Ungunsten des Prinzipals für sich nutzen (‚moral hazard‘ =

Gefahr einer Verhaltensänderung nach [scheinbarem] Wegfall eines Risikos)

Opportunismus: P und A können je eigene (wechselnde!) Interessen verfolgen, woraus Konflikte und wechselseitig unbefriedigende Ergebnisse resultieren können.

unterschiedliche Risikoneigung von P und A – mit wechselseitiger Unzufriedenheit

… macht typische Probleme politischer

Institutionenbildung hier als Sonderfälle ganz

allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Jan-Erik Lane, Public administration and public management. The principal-agent perspective, London 2005

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Transaktionskostenökonomik Transaktion = Übertragung von Verfügungsrechten an Gütern und / oder

Dienstleistungen zwischen Vertragspartnern vgl. Harold Lasswell (1950): Politik meint ‚Who gets what, when, and how?‘

zu lösendes Problem: Die für solche Transaktionen nötigen Ressourcen (‚Kosten‘) sollen möglichst gering sein. Darunter fallen: ex ante – Kosten: Informations-, Verhandlungs-, Vertragskosten ex post – Kosten: Durchsetzung, Kontrolle, nachträgliche Vertragsanpassungen

Bedingungen, unter denen die Problemlösung erfolgt: begrenzte Rationalität des jeweiligen Vorgehens wegen begrenzter

Wahrnehmung / Information der Vertragspartner Handeln unter Unsicherheit (unvorhergesehene Ereignisse; opportunistisches

Verhalten des Vertragspartners …) Skaleneffekte: Je mehr (gleichartige) Transaktionen, um so geringere

Transaktionskosten Vertrauen, gemeinsame Kultur (Präferenzen, Kompetenzen,

Selbstverständlichkeiten …), auf dem Spiel stehende Reputation senken die Transaktionskosten

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… macht typische Probleme politischer Institutionenbildung als Sonderfälle ganz allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Fritz, Carl-Thomas: Die Transaktionskostentheorie und ihre Kritik sowie ihre Beziehung zum soziologischen Neo-Institutionalismus. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2005; Begründer: Ronald Coase, Nature of the Firm, 1937

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Theorie der Verfügungsrechte (‚property rights theory‘)

Verfügungsrecht: Recht, eine Sache zu benutzen, aus ihr Erträge zu ziehen, sie zu verändern, sie – zum eigenen Gewinn – zu veräußern.

Zu lösendes Problem: ‚Tragödie der Allmende‘: allgemein zugängliche Güter werden individueller Interessen

wegen zum Nachteil der Gemeinschaft übernutzt, wenn es keine klaren – und durchgesetzten – Regelungen des Verfügungsrechtes über sie gibt (≈ ‚Trittbrettfahrer-Problem‘)

Wo keine klaren und durchgesetzten Verfügungsrechte bestehen, gibt es nur geringe Anreize für Investitionen, da niemand sicher sein kann, Nutzen aus seinen Investitionen zu ziehen.

Struktur des Problems: doppeltes ‚Gefangenendilemma‘: Es ist kollektiv besser, wenn sich alle an eine Verfügungsrechteverteilung halten –

individuell aber besser, sich nicht daran zu halten. Es liegt im kollektiven Interesse, Rechtsverletzer zu bestrafen – doch es liegt im

individuellen Interesse, sich an den Kosten solcher Bestrafung bzw. der Durchsetzung der Verfügungsrechteverteilung nicht zu beteiligen.

Lösung: Bereitstellung einer Rechtsordnung, in deren Rahmen Verträge abschließbar und

nötigenfalls veränderbar sind, die ihrerseits eine akzeptable Verfügungsrechteverteilung herbeiführen

Aufbau und Sicherung einer Staats- und Verfassungsordnung, die eine sowohl stabile als auch flexible Rechtsordnung dieser Art garantieren kann.

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… macht typische Probleme politischer

Institutionenbildung hier als Sonderfälle ganz

allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Dietl, H./van der Velden, R.: Verfügungsrechtstheorie - Property Rights Theorie, in: Handwörterbuch Unternehmensführung und Organisation, 4. Aufl., Hrsg. G. Schreyögg/A. v. Werder, Stuttgart (Schäffer-Poeschel), 2004, Spalten 1566-1572

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Wangenheim, Georg. v., Sie denken anders. Verfassungsökonomik und Verfassungsrecht, in: Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, Kassel 2007, S. 407-421Verfassungs-

ökonomik Verfassungen sind Regelwerke, die – neben anderem – zur Regulierung von (Verteilungs-)

Konflikten dienen. ( Definition von Politik als Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen; Vertragstheorien …)

Dabei stellen sich u.a. die von der Agentur-, Transaktionskosten- und Verfügungsrechtstheorie und der beschriebenen Probleme. Sie zu lösen ist Aufgabe der Verfassungsökonomik, die im Wesentlichen spieltheoretisch ( Th. Riechmann, 2008) vorgeht .

Ansatz: Verfassungen sollen bei der Lösung politischer Konflikte nicht Nullsummenspiele herbeiführen (‚Was der

eine gewinnt, verliert der andere‘), sondern Positivsummenspiele (‚win-win-situations‘) – v.a. deshalb, weil sie (oft) hinter einem ‚veil of ignorance‘ (J. Rawls) entstehen.

Analytisch werden unterschieden: ‚Basisspiele‘ = reale politische Konflikte (mit ‚originären Präferenzen‘) ‚Metaspiele‘ = Konflikte um die Festlegung jener Spielregeln, nach denen die realen politischen Konflikte ausgetragen /

beigelegt werden sollen (mit ‚konstitutionellen Präferenzen‘) . D.h.: Auf der Ebene der Metaspiele werden jene Anreizstrukturen geschaffen, welche das Verhalten der Spieler im

Basisspiel steuern sollen; und folglich muss man die Metaspiele so einrichten, dass sie zu möglichst allgemein zustimmungsfähigen Regeln für Basisspiele führen.

Lösung: Einrichtung eines ‚Meta-Metaspiels‘, d.h. eines verfassungspolitischen Diskurses über sinnvolle Verfassungsprinzipien. Eben der ist der Ort des Auffindens konsensualer Konfliktlösungsmöglichkeiten.

Konkret geht es auf dieser dritten Ebene um die politisch-wissenschaftliche Erörterung der Einrichtung wünschenswerter institutioneller Mechanismen, etwa: Was wäre eine optimale horizontale oder vertikale Gewaltenteilung, was ein – durch das Wahlrecht zu steuernder – optimaler Parteienwettbewerb, was ein ‚politisch optimales‘ Mediensystem?

… macht typische Probleme politischer

Institutionenbildung hier als Sonderfälle ganz

allgemeiner Zusammenhänge transparent!

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Neue politische Ökonomie (public choice – Theorie)

Analyse individueller und kollektiver politischer Akteure (wie: Wähler, Verwaltungen, Parteien, Verbände …)

… anhand wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte mit Schwerpunkt auf … rational handelndem, von Eigeninteressen geleitetem ‚homo oeconomicus‘,

der seinen Nutzen maximieren will und seine Entscheidungen danach ausrichtet

Annahme von (immer wieder neu herbeizuführenden) Gleichgewichtszuständen durch Verlagerung des ‚modalen Politikpunkts‘ / der ‚modalen Handlungsstrategie‘ im zwei- oder mehrdimensionalen Handlungsraum ( ‚spatiale Modelle‘; vgl. David Austen-Smith, Positive political theory, 2 Bde, Ann Arbor /

Mich., 1999/2005) konkrete Anwendungsfelder u.a.: ökonomische Theorie … der

Demokratie, der Bürokratie, der Interessengruppen, des Parteiverhaltens, der Regulierung, politischer Vorteilssuche, politischer Konjunkturzyklen, des Wirtschaftswachstums usw.

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… macht typische Probleme politischer Institutionen und politischen

Institutionenverhaltens als Sonderfälle ganz allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Guy Kirsch: Neue Politische Ökonomie, Stuttgart 2004; Dennis C. Mueller: Public Choice III, Cambridge 2003.

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‚konstruktivistischer‘ Institutionalismus

völlig richtig & analytisch höchst fruchtbar

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oft attraktiv für ideologische und

aktionistische (‚progressive‘)

politische Positionen

Wendt, Alexander: Social theory of international politics, Cambridge u.a. 200811

Generell: ein Ansatz, der – nicht gründlich durchdacht – auf intellektuelle Abwege führt! ‚harter Kern‘:

Institutionen ‚fallen nicht vom Himmel‘, sondern werden von Menschen geschaffen, aufrechterhalten – und beseitigt. Sie sind also ‚Konstruktionen‘ auf der Grundlage von Wissenssystemen, Glaubensakten und Interessen

Hintergrundtheorien: ‚soziale Konstruktion der Wirklichkeit‘ (P. Berger/ Th. Luckmann, A. Giddens, Ethnomethodologie …; Patzelt, Grundlagen der Ethnomethodologie, 1987)

richtige, doch viele Studierende als ‚erkenntnistheoretischer Konstruktivismus‘ in die Irre führende Kernaussage der Theorien der Konstruktion sozialer Wirklichkeit: Institutionen werden durch menschliches Handeln erzeugt; menschliches Handeln wird

geprägt u.a. durch Leitideen, ‚kognitive Landkarten‘, Ideologeme usw., d.h.: durch kulturelle / intellektuelle ‚Konstruktionen‘.

Folge: Verändert man seine intellektuellen / kulturellen Konstruktionen und – davon angeleitet – das Handeln vieler, so ändern sich bisherige Institutionen oder entstehen neue Institutionen ( ‚Thomas-Theorem‘)

falscher, doch häufiger Schluss: Weil Institutionen Konstruktionen sind, Konstruktionen aber intellektuell umgeschaffen werden können,

lassen sich Institutionen auch allein durch ‚intellektuelle/kulturelle Umkonstruktion‘ verändern (‚Man denkt sie sich anders, also ist sie anders!‘).

Und das hieße: Institutionen haben keine ‚Existenz an sich‘, sondern sind Ergebnisse reiner Interpretation – weshalb sich die Welt schon durch Uminterpretieren verändern lässt!

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‚Konstruktionsmodell‘der Erkenntnis (Heinz v. Förster)

richtig: Information über O ist immer durch theoretische Begriffe (vor-) strukturiert

Anspruch: Vor Augen führen, dass sinnvolle Empirie nicht möglich ist. Problem: Leben 6 Millionen Juden sowie ihre Nachkommen dann wieder,

wenn man sich ein Geschichtsbild konstruiert, in dem es keinen Holocaust gab? Oder wurden sie nach (!) Konstruktion eines solchen Geschichtsbildes nie umgebracht?

Von einer ‚Operationswirklichkeit‘, die unabhängig von unserer Perzeptionswirklichkeit bestünde, kann man nicht sinnvoll sprechen. Es ist nicht so, dass man etwas ‚erkennt‘; vielmehr wählt man Denkkate-gorien und konstruiert anhand ihrer etwas, das man dann so behandelt, als ob es ‚die Wirklichkeit‘ wäre.

≈ Begriffe / Theorien

erkennendesSubjekt S

‚erkanntes‘ Objekt O

Operationswirklichkeit ?

Perzeptionswirklichkeit

‚Kategorien‘

‚erkanntes‘ Objekt O‘

konstruiert geistig

konstruiert geistig

‚konstruktivistische‘ Erkenntnistheorie

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= ‚Gesetz‘ von der wirklichkeitskonstruktiven Rolle bloßer Situationsdefinitionen

„Wenn Menschen eine Situation als so-und-nicht-anders-beschaffen definieren

und von dieser Situationsdefinition ausgehend handeln,

dann sind die Folgen dieses Handelns real,ganz gleich, wie irreal die

Situationsdefinition war.“

Das ‚Thomas-Theorem‘

Ideologie, gerade auch als

falsches Bewusstsein

reale Handlungsfolge

einer irrealen Ursache

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Beispiel zum ‚Thomas-Theorem‘

Eine Bank ist wirtschaftlich gesund. Dennoch wird in den Medien

berichtet, sie stehe vor dem Bankrott. Viele Einleger glauben den Medien. Sie ziehen darum ihre Einlagen von

der Bank ab. Die Bank kommt in

Liquiditätsprobleme. Jetzt erleben die Einleger, dass die

Bank wirklich Liquiditätsprobleme hat. Auch die Zweifler ziehen nun ihre

Einlagen ab. Die Bank geht in Konkurs.

Operationswirklichkeit

Medienwirklichkeit

Perzeptionswirklichkeit Situationsdefinition

Handeln auf der Grundlageder Situationsdefinition

Operationswirklichkeit Beglaubigung der

zunächst irrealen Situationsdefinition

Handeln auf der Grundlageder Situationsdefinition

Operationswirklichkeit

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akteurszentrierter Institutionalismus im Kern: eine Synthese der schon behandelten Einsichten des Neo-

Institutionalismus. Elemente:

Institutionen sind das Werk (‚eine Konstruktion‘) des sozialen Handelns konkreter Akteure. Dieses ist kein ausschließlich rationales Handeln, sondern es spielen auch internalisierte Normen eine wichtige Rolle.

Darum lassen sich Institutionen nicht auf Regelsysteme reduzieren, sondern umfassen auch die bei ihrer Konstruktion verwendeten Symbolsysteme, ‚kulturellen Skripte‘ (= Meme, Memplexe), ‚Deutungsrahmen‘.

Institutionen prägen gewiss ihrerseits das Handeln der Akteure – sowohl durch ‚incentives‘ als auch durch ‚constraints‘.

Hinsichtlich von bzw. in Institutionen handeln Akteure unter jenen Rationalitätsdilemmata, die von den Spielarten der Institutionenökonomik behandelt werden.

Auf diese Weise entstehen stets Unterschiede zwischen ‚realem Verhalten‘ und ‚wirklichen Präferenzen‘, weshalb kollektive Entscheidungen nicht der Summe individueller Interessen entsprechen (können).

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… macht typische Probleme politischer

Institutionenbildung hier als Sonderfälle ganz

allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Mayntz, Renate / Scharpf, Fritz W. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregulierung und politische Steuerung, Frankfurt a.M./New York 1995

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institutionelle Analyse Schwerpunkt des Interesses sind nicht Institutionen, sondern ist

‚Institutionalität‘ als ‚Aggregatzustand‘ sozialer Wirklichkeit (d.h. ihrer

Kommunikations- und Handlungsstrukturen) zwischen Dauer und Wandel. Untersucht werden die Mechanismen und Prozesse der

Stabilisierung solcher – prinzipiell ‚flüchtigen‘ – Ordnungs-arrangements, also: der Verfestigung jenes opaken ‚Aggregatzustandes‘ in (zeitweise) bestehende soziale Strukturen.

Derartige Stabilisierungsmittel sind u.a.: Selbstsymbolisierung der Geltungsansprüche und Ordnungsprinzipien, der

Leitideen und Leitdifferenzen eines Sozialgefüges ‚Geltungsgeschichten‘ als stabilisierende Kontinuitätsbehauptungen ‚Subjektformierung‘ als koordinierende Anpassung von individuellen

Habitusformen an bestehende soziale Strukturen Machtverdeckung – um jene Prozesse schwer (an-)greifbar zu machen, welche

solcher Verfestigung sozialer Strukturen dienen ( epimemetisches System)

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… macht typische Probleme politischer Institutionenbildung hier als Sonderfälle ganz allgemeiner Zusammenhänge transparent!

Werner J. Patzelt: Institutionalität und Geschichtlichkeit in evolutionstheoretischer Perspektive, S. 287-374 in ders., Hrsg., Evolutorischer Institutionalismus, Würzburg 2008

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zentrale Theorien institutionellen Wandels

Einführendes Überblicke

zyklische Entwicklungstheorien Verfassungskreisläufe Aufstieg und Altern von Kulturen / Sozialgebilden Revolutionstheorie

lineare Entwicklungstheorien Historischer Materialismus ‚zunehmende Rationalisierung‘ ‚Wandel gesellschaftlicher Integrationsmechanismen‘ Modernisierungstheorie

Wandel ohne ‚vorgegebenes‘ Ziel Historischer Institutionalismus Evolutorischer Institutionalismus

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Defizite der referierten institutionenanalytischen Theorien

recht nebensächliche Berücksichtigung des Faktors ‚Zeit‘ ‚Zeit‘ zwar implizit berücksichtigt bei der Konstruktion von Institutionen, beim

Abschluss und Verändern von Verträgen, bei der Verfügungsrechtsproblematik usw., doch in der Regel nicht als expliziter Faktor

Ausnahme: Rational choice-Modelle mit einander folgenden ‚Spielrunden‘ (von wo aus dann auch die Kategorie der Evolution neuentdeckt wurde)

keine (ausreichende) ‚Modellierung‘ der Geschichtlichkeit von Institutionen (also: ‚Ahistorizität‘), und somit keine (guten) Ansatzpunkte für … Diagnose / Therapie von ‚Institutionenverfall‘ Abschätzung von Notwendigkeit und Erfolgsaussichten von – auf längere

Wirkungsfristen berechneten – Reformen Das ist umso unbefriedigender, als bei der Betrachtung des

Zusammenhangs von ‚Politik‘ und ‚Verfassung‘ Erscheinungen wie die folgenden unübersehbar sind: ‚Verfassungskreisläufe‘ ‚Verfassungsevolution‘ Systemzusammenbrüche

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also nötig: Blick auf Theorien institutionellen Wandels

Hierfür viele Kandidaten: von der Geschichsphilosophie bis

zu ‘Evolutionstheorien‘ unterschiedlichster Art

Göhler, Gerhard (Hrsg.): Institutionenwandel, Opladen 1997

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institutioneller Wandel: einige analytische Kategorien ‚Einheiten‘ des Wandels

einzelne institutionelle Strukturen, gesamtgesellschaftliche Strukturen Elitengruppen [R. Dahrendorf], (politische) Generationen [K. Mannheim] kognitive / affektive / normative Ordnungen, die der Generierung institutioneller Strukturen

zugrunde liegen [u.a. T. Parsons] ‚Dimensionen‘ des Wandels

‚Tempo‘ ( Zeitstrukturen & Chronorhythmik [F. Braudel, La longe durée], ‚Ereignisdichte‘ …) ‚Tiefgang‘ ( bis hinunter zu welchen Ebenen: soziale Makro-, Meso-, Mikroebene – und dann?) ‚Richtung‘

Form: linear, exponentiell, logarithmisch; zyklisch Steuerbarkeit: deterministisch bzw. teleologisch, [rein] kontingent, teleonomisch, ‚post-stabilisierend‘ bzw.

pfadabhängig …)

‚Prägefaktoren‘ des Wandels ‚innere‘ Faktoren, v.a.: ‚Bauplan‘ / ‚Grundform‘ eines Systems, z.B. einer Verfassung ‚äußere‘ Faktoren, v.a.: Anforderungen aus der Umwelt / Nische eines Systems

typischerweise studierte inhaltliche Bereiche sozialen / institutionellen Wandels:

Ordnung / Fortschritt Herrschaft / Teilhabe Solidarität / Differenzierung Produktivkräfte / Produktionsverhältnisse Religion / Säkularisierung

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Historizismus

(Irr-)Lehre, dass die Geschichte einen objektiv notwendigen Verlauf nimmt ( ‚Determinismus‘)

Folgerungen aus dieser (Irr-)Lehre: Man kann den notwendigen Verlauf der Geschichte objektiv

erkennen. Das Ziel von Geschichts- und Sozialwissenschaft besteht darin,

den notwendigen Gang der Geschichte objektiv zu erkennen. Politik soll solche Erkenntnis beherzigen und – auf der Grundlage

einer derartigen ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ – das geschichtlich objektiv Notwendige herbeiführen ( Gemeinwohl a priori)

NB: Nicht zu verwechseln mit ‚Historismus‘, d.h. einer geschichtswissenschaftlichen Schule und Epoche, welche ihren Gegenstand möglichst genau beschreiben und aus sich selbst heraus, am besten entlang seines Selbstverständnisses, verstehen wollte.

Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 20037

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Kontingenz

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716): „Contingens est quod nec impossibile nec necessarium“deutsch: „Kontingent ist, was weder unmöglich noch notwendig ist“

D.h.: ‚Kontingenz‘ meint, daß den Lauf der Dinge verändernde Ereignisse und Prozesse ... aus gleich welchen Gründen mit gleich welchen Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 in einem System und / oder in dessen Umwelt

auftreten und so die Entwicklung eines Systems, oder von dessen Umwelt, in wenig vorhersehbarer Weise beeinflussen.

Folgenreich für Systementwicklung und Systemgeschichte: ‚doppelte Kontingenz‘ – einesteils im System, andernteils in dessen Umwelt.

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Teleologie und Teleonomie

Unterschied zu verstehen analog zu dem zwischen Astrologie und Astronomie

Teleologie: ein System trägt sein Ziel in sich (= Finalismus) d.h.: es hat eine notwendige Entwicklungsrichtung und Geschichte

(= Determinismus, Historizismus) Teleonomie:

ein System hat eine bestimmte Struktur und Funktionslogik z.B. der Körperbau eines Wirbeltiers – vom Fisch über den Vogel bis zum

Menschen

die Freiheitsgrade seiner Weiterentwicklung sind darum eingeschränkt, d.h.: es kann nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt alles werden

z.B. es wird kein lebensfähiges Wirbeltier ohne Wirbelsäule entstehen

anders formuliert: seine Entwicklung ist nicht notwendig, sondern kontingent, und dabei pfadabhängig

d.h.: Sehr wohl könnten / können kontingent neue Arten von Wirbeltieren entstehen – doch keines ohne Wirbelsäule!

Bernhard Hassenstein, Biologische Teleonomie, Neue Hefte für Philosophie, 20/1981, S. 61-71; Pleines, Jürgen-Eckhardt (Hrsg.), 1994: Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart. Würzburg.

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Pfadabhängigkeit t4: zwei längst getrennte Pfade kommen wieder zusammen!

nur im Nachhinein, bei der historischen Analyse, klar erkennbare Entwicklungen

Geschichte

t4

t2: Pfade A und B trennen sich von C und D

A

B

C

D

t3t2t1

t1: noch istalles möglich!

t3: Pfade A und B trennen sich

„kein W

eg fü

hrt m

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n

ach D

, un

d d

och

....!“

nicht vorhersehbare Ergebnisse

kontingente Abzweigungen an ‚critical junctures

man schleppt mit, was man wurde

Prägekraft ‚der Evolution‘

offe

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blau

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‚Was gestern wurde, prägt heute, was morgen sein kann‘Mahoney, James, 2000: Path Dependence in Historical Sociology, in: Theory and Society, 29, 507-548

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Verfassungskreisläufe Leitgedanken / Beobachtungen:

Sogar ‚gute Ordnungen‘ / ‚bewährte institutionelle Formen‘ werden, wenn sie denn einmal entstanden sind / stabil sind, immer wieder schlecht genutzt / übernutzt / ‚zum Schlechteren reformiert‘.

Gründe: neue Generationen gehen mit dem Überkommenen riskant / ignorant / selbstsüchtig um; ‚die Umstände haben sich gewandelt‘; moralischer Verfall der Regierenden (Habsucht, Überheblichkeit, Ungerechtigkeit, Herrschsucht …)

Dann entstehen Systemkrisen / Institutionenkrisen, aus denen – oft zum Schlechteren, manchmal auch zum Besseren – veränderte ‚reformierte‘ Systemstrukturen / institutionelle Formen hervorgehen.

wichtige Autoren: Platon, Politeia: Aristokratie – Timokratie – Oligarchie – Demokratie – Tyrannis – Aristokratie … Aristoteles, Politik: Monarchie – Tyrannis – Aristokratie – Oligarchie/Plutokratie – Politie –

Ochlokratie/Demokratie – Monarchie – Tyrannis … Polybios, Universalgeschichte: Basilie/Monarchie – Tyrannis – Aristokratie – Oligarchie – Demokratie –

Ochlokratie – Basilie/Monarchie – Tyrannis … empfohlene ‚Heilmittel‘ gegen solche ‚Degeneration‘ (‚constitutional engineering‘):

Gewaltenteilung mit wechselseitiger Kontrolle (Polybios, Locke, Montesquieu …) Anvertrauung der unterschiedlichen ‚Gewalten‘ / Institutionen an unterschiedliche Gesellschaftsgruppen (z.B.

– wie in der Römischen Republik – Senat dem Adel, Gesetzgebung dem Volk, Exekutiv- und Prärogativmacht gewählten Magistraten, die ihrerseits sowohl dem Adel als auch dem Volk verantwortlich sein konnten; so Polybios oder Montesquieu).

exemplarische Bestrafungen bei Skandalen, um so die ursprünglichen Prinzipien wieder vor Augen zu führen / in Geltung zu halten (so Machiavelli in den ‚Discorsi‘)

= klassisches Thema der Politikwissenschaft, zentral für Studiengang ‚Politik und Verfassung‘

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Aufstieg und Altern von Kulturen / Sozialgebilden Leitgedanken / Beobachtungen:

Oft fängt etwas an, blüht (unter großen, die vorhandenen Möglichkeiten entfaltenden Wandlungen) auf und stagniert dann (ggf. auch auf hohem Niveau) – und das alles so, als habe jenes Gebilde nun alle ‚in ihm angelegten Möglichkeiten‘ irgendwie ausgeschöpft

z.B. Menschen, Unternehmen, Parteien, Staaten, Kulturen, Wirtschaft (Konjunktur) … Fehlen äußere Herausforderungen, dann kann dieses Gebilde noch lange bestehen, ohne sich

allerdings noch grundlegend zu wandeln. Erwächst ihm kulturelle (oder wirtschaftliche, militärische, demographische …) Konkurrenz, so zerfällt leicht seine Form. Es ist aber sehr wohl möglich, dass Teile des Gebildes (und seiner Kultur) von neuen Kulturen / Sozialgebilden aufgenommen und weitergetragen werden.

theoretische Folgerungen: Nicht nur Lebewesen, sondern auch die von Menschen hervorgebrachten Institutionen und Kulturen

haben eine Art ‚Lebenszyklus‘, den es zu erkennen und dann zu akzeptieren gilt: ‚Gegen ihn‘ Politik machen zu wollen, ist sinnlos (‚Das Morsche muss man zum Einsturz bringen‘, ‚Die Zeit von X ist vorbei!‘ usw.).

Institutionen und Kulturen darf man nicht ‚mechanisch nach Jahreszahlen‘ vergleichen, sondern muss sie (auch) hinsichtlich ihres jeweiligen ‚Entwicklungsstadiums‘ vergleichen.

wichtige Autoren (beziehen sich auf Kulturen, nicht auf Institutionen): Oswald Spengler (1880-1936), ‚Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der

Weltgeschichte‘, 2 Bde, orig. 1918/1922 Arnold Toynbee (1889-1975), ‚A Study of History‘, 12 (!) Bde, 1934-1961; gekürzte

dt. Ausgabe ‚Der Gang der Weltgeschichte‘, 2 Bde, Zürich 1949/1958

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Die Revolution

Wandel:

• Desynchronisation von politischem Prozess und Umweltwandel

Funktionsdefizite des zpES

verfügbareInstitutionen

Steuerungsmusterder Eliten

‚Auslöser‘

Autoritätsverlust des zpES

Systemerhaltung durch Repression

Ergebnis abhängig von den Machtverhältnissen und der

Tatkraft der Akteure

revolutionäre Erhebung

durchbricht die Abschreckungslogik

des zpEsProtest:

System ändern!

Protest:Wandel stoppenoder korrigieren!

rascher Systemumbau

Gesellschaft

zpEs

Polarisierung

endogen exogen

… und ‚nach der Revolution‘ mag dann ‚vor der Revolution‘ sein – und komme diese neue Revolution vielleicht auch erst nach Jahrzehnten!

nach Chalmers Johnson, Revolutionstheorie, dt. Köln 1971

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‚Antizipationsschleifen-Politik‘Wenn ...

die Adressaten einer Handlung wissen, dass diese Handlung eintreten und sicher ganz bestimmte Folgen haben wird

oder wenn ...der Autor einer Handlung weiß, dass die Adressaten

seiner Handlung (darum) ganz sicher auf eine bestimmte Weise reagieren werden

dannreicht es für den Autor der Handlung meist aus, seine

Handlung nur anzudeuten oder zu symbolisieren,aber nur solange wie ...

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Exogener Wandel

= in der Umwelt des Systems:politische Umwelt: etwa Nachbarstaat wird

aggressiv, neue Fernwaffen schaffen Bedrohung

wirtschaftliche Umwelt: Krise im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem

gesellschaftliche: Bevölkerungsdruck in anderen Staaten und Migration aus ihnen nimmt zu

natürliche Umwelt: Klimawandel, Überflutungen, Erdbeben, GAU

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Endogener Wandel

= erzeugt im System selbst: technischer Wandel: neue Techniken verändern

die Struktur der Arbeitswelt (Produktivkräfte Produktionsverhältnisse)

wirtschaftlicher Wandel: Gesellschaft verliert internationale Konkurrenzfähigkeit, Inflation

gesellschaftlicher Wandel: Überalterung, Einwanderung ohne Lösung des Integrationsproblems, Klassenkonflikt

kultureller Wandel: Zerfall alter Wertgrundlagen, Ausbreitung neuer, mit dem bisherigen System nicht kompatibler handlungsleitender Werte

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Funktionsdefizite des zpEs Fixierung auf ideologische (Wunsch-)Vorstellungen

Festhalten an bisherigen Sichtweisen und ‚politisch korrekten‘ Lagebeurteilungen

Verlust an Responsivität Parteien, Interessengruppen, Medien entwickeln weniger

Initiative und Kritik Input wird eher abgeschottet als gesucht

Verlust an Steuerungsleistung politische Klasse befasst sich eher mit eigenen Interessen

als mit gesellschaftlichen Problemen die politischen Institutionen funktionieren nur mit großen

Reibungsverlusten

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Desynchronisation von politischem Prozess und Umweltwandel

unbeseitigbare Uneinigkeit über konkrete Zielsetzungen

‚Schönwetter-Institutionen‘ funktionieren nicht mehr richtig (z.B. anhaltende Regierungsinstabilität wegen verantwortungsscheuer Parteien)

friedliche Konfliktbeilegung (etwa durch allgemein

akzeptierte Mehrheitsentscheidung) gelingt nicht mehrVermittlung systemstabilisierender

politischer Wertemuster und Verhaltensweisen misslingt bei Eliten und Bürgerschaft mehr und mehr

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Bewältigung von Wandel und politische Institutionen

in der Regel gut geeignet, Wandel zu verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer pluralistischen Demokratie

Probleme: allzu konsensabhängiges zpEs fortgeschrittener informeller Verfall der formalen

Institutionen in der Regel schlecht geeignet, Wandel zu

verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer autoritären Diktatur Ausnahme: entschlossen und kompetent geführte

Entwicklungsdiktaturen während ihrer ‚Aufbruchsphase‘

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Bewältigung von Wandel und die Steuerungsmuster politischer Eliten

Reformismus: systembewahrender Wandel ‚Der wahre Konservative ist ein Reformer!‘

Einbinden der Führer von Protestgruppenzielgerichtete Responsivitätssteigerungsymbolisch-befriedende Wirkung

‚Durchwursteln‘ ‚Politik der pragmatischen Aushilfen‘

‚harte Linie‘ abnehmender Nutzen

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Historischer Materialismus (I)Die Geschichte nimmt einen notwendigen, vorbestimmten Verlauf, weil sie von folgendem, unumstößlichen und sehr klaren Bewegungsprinzip geprägt ist: Menschen gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, soziale Beziehungen ein

(‚Produktionsverhältnisse‘), von deren Beschaffenheit alle anderen gesellschaftlichen Institutionen (sowie das Bewusstsein der Gesellschaft über sich selbst) abhängen. D.h.: Die jeweiligen Produktionsverhältnisse prägen eine ganze Gesellschaftsformation.

Wie diese Produktionsverhältnisse konkret geartet sind, hängt vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte ab, v.a. der verfügbaren Werkzeuge (‚Produktionsmittel‘) sowie des verfügbaren Qualifikationsniveaus.

Da sich die Produktivkräfte schneller entwickeln als die Produktionsverhältnisse, kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und dem Entwicklungsstand der Produktionsverhältnisse.

Weil die Nutznießer einer Gesellschaftsformation kein Interesse an der Reform jener Produktionsverhältnisse haben, die zu Fesseln der Entwicklung der Produktivkräfte geworden sind, vollzieht sich der erforderliche Ausgleich jener Spannungen in Gestalt von Revolutionen. Deren Trägerschicht sind jene, die von den jeweiligen Produktionsverhältnissen benachteiligt werden.

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Kelle, Vladislav / Kovalzon, Matvej: Der historische Materialismus. Abriß der marxistischen Gesellschaftstheorie, Moskau 1975

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Historischer Materialismus (II)

Spannungen zwischen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse treten auf, seit es – aufgrund der technischen Entwicklung über das Steinzeitniveau hinaus – komplexere, nicht mehr jedermann zugängliche Produktionsmittel und somit ein ‚Privateigentum‘ an Produktionsmitteln gibt: Seither müssen die Nichtbesitzer der Produktionsmittel ihre Arbeitskraft den Besitzern der

Produktionsmittel verkaufen, was diese überlegen macht. Folge: Die Besitzer der Produktionsmittel (‚Ausbeuter‘, ‚herrschende Klasse‘) geben den Arbeitenden

(‚ausgebeutete Klasse‘) vom Produkt ihrer Arbeit weniger ab, als deren Arbeit wert ist – und streichen den so erzielten ‚Mehrwert‘ ein (= Ausbeutung).

Jene, die von der Entwicklung neuer Produktionsmittel profitieren, finden keinen ausreichenden Platz mehr in einer Gesellschaftsformation, die auf die alten Produktionsmittel adaptiert ist. Folglich haben sie ein Interesse am Umsturz der bestehenden Produktionsverhältnisse; anders formuliert: Die neue Gesellschaftsformation wird ‚im Schoß der alten ausgebrütet‘.

Die innerhalb der bisherigen Gesellschaftsformation Ausgebeuteten teilen das Interesse an der Überwindung der alten Gesellschaftsformation, so dass die ‚Schwungmasse‘ für eine revolutionäre Erhebung zusammenkommt (‚revolutionäres Subjekt‘).

Es lässt sich nachweisen, dass die bisherige Geschichte die folgende Abfolge von Gesellschaftsformationen kannte: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus (teils schon entstanden, teils im Kommen; geht, einmal erfolgreich etabliert, über in den Kommunismus).

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Historischer Materialismus (III)Es gibt folgende Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformationen: Urgesellschaft: keine Ausbeutung, da kein Privateigentum an Produktionsmitteln; konnte

nicht bestehen bleiben, weil der technische Fortschritt wegen der menschlichen Kreativität über das Steinzeitniveau hinausgehen musste.

Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus: Ausbeutung, da Privateigentum an – immer komplexeren – Produktionsmitteln

Sozialismus / Kommunismus: Die Arbeiterklasse leitet den Staat; der vergesellschaftet die Produktionsmittel. Da die Arbeiterklasse – zumindest perspektivisch – mit der Gesamtheit des Volkes identisch ist,

hat sie als überhaupt erste Klasse kein Interesse daran, andere auszubeuten – und tut das auch nicht.

Folglich gibt es im Sozialismus / Kommunismus auch keinen Widerspruch mehr zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen – mit zwei Folgen: Weil es keine Fesseln mehr für die Produktivkräfte gibt, entwickeln sich Technik, Wirtschaft

und Kultur besonders gut. Weil niemand mehr ausgebeutet und nach einiger Zeit auch kein Reaktionär mehr

niederzuhalten sein wird, braucht es auch den Staat nicht mehr: Er stirbt ab – und die Herrschaft von Menschen über Menschen geht über in die Verwaltung von Sachen.

Damit hört die ‚politische Geschichte‘ gleichsam auf – und das ist gut so!

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Historischer Materialismus (IV)Konsequenzen: Wenn man weiß, in welcher geschichtlichen Phase man lebt, dann weiß man

auch genau, welches zu dieser Zeit die – zu unterstützenden! – ‚fortschrittlichen‘ Kräfte sind, wer anderes aber als ‚Reaktionär‘ der notwendigen geschichtlichen Entwicklung willen bekämpft werden muss.

Also gibt es für Politik eine klare wissenschaftliche Anleitung: Geschichtsanalyse Parteinahme zugunsten des Fortschritts politische Aktivität zugunsten der historisch jetzt anstehenden

Gesellschaftsformation: subversive Tätigkeit vor der Revolution, repressive & agitatorisch-propagandistische Tätigkeit nach dem Sieg der Revolution.

Folgen für die Analyse des Verhältnisses von Verfassung und Politik: Ausfindig machen, wessen Interessen eine Verfassungsordnung wie dient! Wissenschaftliche Analyse praxisnützlich anwenden, nämlich im Kampf zugunsten

derer, deren Interessen in der jeweiligen geschichtlichen Phase gefördert werden müssen – derzeit: Kampf für die Arbeiterklasse!

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‚zunehmende Rationalisierung‘ Auguste Comte, ‚Dreistadiengesetz‘:

‚theologisches Zeitalter‘: Menschen suchen den Grund der Weltereignisse in Dämonen und Göttern – und bauen entsprechende Gesellschaftsformationen / Institutionen auf

‚metaphysisches Zeitalter‘: Menschen fragen philosophisch / spekulativ nach jenem ‚Wesen der Dinge‘, das hinter deren ‚bloßer Erscheinung‘ verborgen sei (vgl. Platon), aber doch ‚gewusst werden müsste‘ – und bauen entsprechende Gesellschaftsformationen / Institutionen auf

‚positivistisches Zeitalter‘: Menschen haben empirische Wissenschaften entwickelt, entdecken anhand ihrer, wie die Welt wirklich funktioniert – und bauen, gerade auch auf der Grundlage solchen Wissens, entsprechende Gesellschaftsformationen / Institutionen auf.

‚savoir pour prévoir pour pouvoir‘ = Ziel der Soziologie als ‚physique sociale‘

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Erstmals gibt es nun die Chance auf eine wirklich funktionierende und darum gute Gesellschaft – und eben dafür hat man sich einzusetzen!

Ähnlich im Grundgedanken: Max Weber zur ‚Entzauberung der Welt‘, Rationalisierung, Bürokratisierung …

Ditmar Brock u.a., Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, München 20072

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Wandel gesellschaft-licher IntergrationsmechanismenBeobachtung / Deutungen: Ursprünglich gibt es ‚gewachsene‘ Gemeinschaften, wie Familien und Dorfgemeinschaften, in

welche (und in deren [totale] Institutionen; vgl. E. Goffman) die Einzelnen vielfältig, auch emotional eingebunden sind.

Im Zug der gesellschaftlichen Arbeitsteilung rücken die Lebenssphären auseinander: Familie, Arbeit, Freizeit, Religion, Politik – so dass der Einzelne nun immer nur noch partiell in einzelne Lebenssphären eingebunden ist, auf diese Weise mobil wird – aber auch emotional bzw. institutionell heimatlos.

Dergestalt entwickelt sich … das Ordnungsprinzip der Gesellschaft vom durch Geburt erworbenen ‚Status‘ zum anhand von Leistung / Glück

ausgehandelten ‚Vertrag‘ (Henry Sumner Maine, 1822-1888) neben / über der (kleinräumigen) ‚Gemeinschaft‘ die (weit) ausgreifende ‚Gesellschaft‘, in

der die Menschen zwar auf friedliche Weise nebeneinander leben / arbeiten / wohnen, aber nicht mehr innerlich / wesentlich aneinander gebunden sind (Ferdinand Tönnies, 1855-1936)

die aus selbstgenügsamen Gruppen bestehende ‚segmentäre‘ Gesellschaft (mit ‚organischer Solidarität‘) hin zu einer funktionelle ausdifferenzierten ‚organisierten‘ Gesellschaft (mit ‚mechanischer‘ Solidarität; Émile Durkheim, 1858-1917).Diese ‚differenziert-integrierten‘ Gesellschaftssysteme / Institutionenordnungen besitzen (wie auch die biologische Evolutionstheorie zeigt) ihrer Alternative gegenüber einen großen Vorsprung an Effizienz und Anpassungsfähigkeit (sind ‚fitter‘).

Problem: Mit Aufsplitterung der Funktionen /

funktionserfüllenden Institutionen sinken

Verantwortung und Verantwortungsgefühl – was

zu Effizienzeinbußen und Systemkrisen führt.

Rupert Riedl, Kein Ende der Genesis. Wir und unsere Staaten, Wien 2004

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Modernisierungstheorie ‚Modernisierung‘ (statt etwa: Fortschritt, Differenzierung, Rationalisierung …)

meint … Staaten- und Nationsbildung Demokratisierung, wohlfahrtsstaatliche Sicherung, Umverteilung zum Zweck ‚sozialer

Gerechtigkeit‘ Industrialisierung mit Massenkonsum, dann Tertiarisierung (= ‚Übergang zur

Dienstleistungsgesellschaft‘), später: Übergang zur ‚Wissensgesellschaft‘ Urbanisierung, Bildungsentwicklung, Massenkommunikation; steigende soziale

Mobilität Individualisierung, Leistungsorientierung (‚Meritokratisierung‘) Säkularisierung, Rationalisierung, Universalisierung (der eigenen Werte)

Status der Theorie (stammend aus USA nach WK II): ‚Theoretisierung‘ und (prospektive) Verallgemeinerung der Geschichte der

westlichen Gesellschaften Als ‚westliches Modell‘ genutzt wie eine ‚Blaupause‘ für proaktive ‚Entwicklungshilfe‘

und ‚exportierende Modernisierungspolitik‘ der westlichen Staaten in ‚Dritter Welt‘ Erfahrungen mit dieser Theorie

gut für ‚westliche Selbstverständigung‘, sogar auch normativ! schlecht, wenn ‚sozialtechnologisch‘ auf nicht-westliche Gesellschaften angewandt Konsequenz: Diskussion über Scheitern des ‚Projekts der Moderne‘ und über

‚postmoderne Gesellschaften‘TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Andreas Langenohl, Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie, Frankfurt 2007

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Historischer Institutionalismus (I) Anliegen: ausfindig machen,

ob es inhaltsunabhängige (!) Prägefaktoren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels geben mag – und ggf. welche

welche Rolle Institutionen bei solchen Wandlungsprozessen spielen – sei es als Produkte, sei es als Faktoren oder Rahmenbedingungen solchen Wandels

… und zu diesem Zweck weit ausgreifende vergleichende historische Studien durchführen: Durchkämmen historischer Studien mit HI-Konzepten.

entwickelt zwischen späten 1960er und späten 1970ern mit bahnbrechenden und oft preisgekrönten Studien wie… Barrington Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy, 1966 Samuel Huntington, Political Order in Changing Societies, 1968 Theda Skocpol, States and Social Revolutions. A Comparative Analysis of

France, Russia, and China, 1979 Paul Pierson, Politics in Time: History, Institutions, and Social Analysis, 2004 Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990-1992 , 1990;

ders., European Revolutions, 1492–1992 , 1993 ; ders., Cities and the Rise of States in Europe, A.D. 1000 to 1800, 1994

Kathleen Thelen, How Institutions Evolve, 2004TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Literaturhinweise

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Literatur zum Historischen Institutionalismus

Bates, Robert et al.: Analytic Narratives, Princeton Pierson, Paul & Skocpol: Theda, Historical Institutionalism in

Contemporary Political Science”, in: Ira Katznelson / Helen V. Milner, Hrsg., Political Science: State of the Discipline, New York S. 693-721.

Adam Przeworski, Institutions Matter?, in: Government and Opposition 39/4, 2004, S. 527ff

Theda Skocpol: Why I am an Historical-Institutionalist, in: Polity 28, 1995, S. 103-106

S. Steinmo / K. Thelen / F. Longstreth, Hrsg.: Structuring Politics: Historical Institutionalism in Comparative Analysis, New York 1992

Charles Tilly, Big structures, Large Processes, and Huge Comparisons, 1984.

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Historischer Institutionalismus (II) intellektuelle Merkmale:

stellt sich in große Traditionen ‚geschichtsphilosophischer‘ Geschichtsanalyse rückt Institutionen (‚kulturalistisch‘ interpretiert, d.h. keinesfalls nur als rechtliche

Regelwerke, sondern auch als ‚mentale Strukturen‘ / ‚Ideenmuster‘) in den Mittelpunkt seiner Geschichtsanalysen

lehnt alle Dogmen von ‚Linearität der Geschichte‘ oder ‚Fortschritt als geschichtliches Bewegungsprinzip‘ ab

will herausfinden, warum die Geschichte einer Institution oder die von einer (Gruppe von) Institution(en) geprägte Geschichte einen bestimmten Entwicklungspfad einschlug – und keinen anderen.

Das heißt: Nicht das ‚Dass‘ oder ‚Wann‘ oder individuelle ‚Wie‘ von Wandlungsprozessen interessiert, sondern das fallübergreifende ‚Wie‘.

Schlüsselkonzepte der Pfadabhängigkeit, der ‚critical junctures‘ (‚Weggabelungen‘) und ‚trajectories‘ (‚Entwicklungspfaden‘)

Offenheit dafür, dass die Ursachen, die zur Entstehung einer Institution führten, recht andere sein können als jene, die ihren weiteren Bestand bewirken

ist kein ‚monotheoretisches‘, sondern theorienpluralistisches Unterfangen: zwischen spieltheoretischen Annahmen, die Entwicklung laufe immer wieder auf ‚punktelle

Gleichgewichtszustände‘ hinaus … bis zu Positionen, welche die Rolle und Folgewirkungen reinen Zufalls stark betonen

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Historischer Institutionalismus (III)

zu erklärende Phänomene samt Hinweisen auf die wirksamen Mechanismen: z.B.: Warum haben wir ‚seit jeher‘ QWERTZ-Tastaturen (im englischen

Sprachraum: QWERTY-Tastaturen), obwohl sie ergonomisch unvorteilhaft sind? z.B.: Warum hat sich bei Videokassetten der VHS-Standard durchgesetzt – und

kein anderer? (entsprechend: Warum haben sich Windows, WinWord Windows Explorer durchgesetzt – statt ihrer früheren Konkurrenten?)

‚bandwagon effect‘: Hersteller von Videorekordern vermuteten zu einem bestimmten Zeitpunkt, VHS werde sich durchsetzen – und erzeugten so eine ‚sich selbst erfüllende Prophezeiung‘

‚network effect‘: Händler vermuteten, die relativ meisten Kunden hätten VHS-Systeme und boten vor allem VHS-Kassetten an, weswegen die Kunden erst recht schlossen, sie sollten sich auf das VHS-System einlassen – was das Äquivalent einer ‚Redespirale‘ erzeugte

asymmetrische Machtverteilungen: begünstigen die eine Entwicklung, verhindern eine rivalisierende Entwicklung ( Bill Gates)

im Hintergrund: sich selbst verstärkende Prozesse (‚increasing returns‘, ‚positive Rückkoppelung‘) … führen zur Verfestigung selbst zufällig entstandener Entwicklungen … und lösen über Begleit- und Nachfolgeeffekte die Schaffung eines solchen Nachfrage- und

Einschätzungsumfelds aus, das seinerseits die eingeschlagene Entwicklung begünstigt

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„Evolution ist Erkenntnis- und Ertragsgewinn in wechselseitiger Rückkoppelung“ (M. Sliwka)

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Historischer Institutionalismus (IV)

zwei wichtige Theorieansätze zur Erklärung von Pfadabhängigkeit: ‚critical juncture‘-Theorie (‚Weggabelungs-Ansatz‘)

Bestehende Vorbedingungen weiterer Prozesse ermöglichen & begrenzen den Spielraum hier und jetzt gegebener Handlungsmöglichkeiten.

In einer so geprägten Situation, in welcher eine Entscheidung zwischen den – ihrerseits folgenreichen – Handlungsmöglichkeiten A, B, C ... besteht (= critical juncture, Weggabelung), entscheidet sich ein Akteur (und sei es rein zufällig!) für B …

und schafft auf diese Weise Vorbedingungen für weitere Prozesse, welche nicht selten die Entscheidung für B – ggf. nach einer schwierigen Anfangsphase – stabilisieren (‚increasing returns‘ / ‚steigende Erträge ‘).

‚reactive sequences‘-Theorie (‚Reaktionsfolgen-Ansatz‘) Ein zufällig – freilich nicht ‚ursachenlos‘ – auftretendes Ereignis ([1] Erfindung der Dampfmaschine,

[2] Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, [3] Ermordung Martin Luther Kings …) … erzeugt Anschlusspraxen ([1] leichtere Entwässerung von Bergwerken verbesserte Kohle- und

Eisenerzförderung Durchbruch zur Industriellen Revolution …; [2] Verfügung über den staatlichen Machtapparat Unterdrückung legal möglichen Widerstands Diktaturdurchsetzung …; [3] Rassenunruhen Befriedung durch Ausbau des Wohlfahrtsstaates) …

die für die beteiligten Akteure / Interessenträger so ‚überzeugend‘ bzw. ‚zwingend‘ sind, dass eine schwerlich unterbrechbare Entwicklungsdynamik entsteht (‚Eigendynamik‘).

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Formen von Institutionenwandel unter den Bedingungen von Pfadabhängigkeit (I)

institutional layering (‚institutionelle Überschichtungsprozesse ‘) neue Bauteile einer Institution werden – je nach Erfordernissen – über die

schon bestehenden gelagert Beispiele: Anbauten an schon bestehende Gebäude/Strukturen, neue

Einfügungen in Verfassungen, Gründung neuer Abteilungen in Organisationen …

institutional conversion (‚Umfunktionieren/Umbauen von Institutionen‘) schon bestehende Institutionen werden durch Modifikationen ihrer Leitideen

und / oder Veränderungen ihrer Mechanismen an neue Herausforderungen angepasst

Beispiele: Sozialreformen des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson (‚Great Society‘) fallen mit Rassenunruhen zusammen, so dass die verfügbaren Gelder besonders stark zu afroamerikanischen Problemgruppen gelenkt werden; deutsches Arbeitskräfte-Entsendegesetz wird wegen seiner Möglichkeiten, Mindestlöhne für nicht-deutsche Bauarbeiter festzulegen, durch ‚Einbeziehung weiterer Branchen in das Entsendegesetz‘ zum Instrument der Einführung von Mindestlöhnen überhaupt

TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. Patzeltvgl. Thelen, Kathleen, 2002: How Institutions Evolve. Insights from Comparative-Historical Analysis, in: Mahoney, James / Rueschemeyer, Dietrich (Hrsg.): Comparative Historical Analysis in the Social Sciences. New York, 208-240.

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Formen von Institutionenwandel unter den Bedingungen von Pfadabhängigkeit (II)

institutional drift (‚Institutionendrift‘, analog zur ‚Kontinentaldrift ‘) Eine bestehende Institution passt nicht mehr recht zu den an sie

gestellten Anforderungen und reagiert durch versuchsweise Veränderungen auf sie – in deren Verlauf sie ihre Leitideen und institutionellen Mechanismen verändert.

Beispiele: Ritterorden wie Johanniter und Malteser verlieren nach der Aufgabe Palästinas ihre Aufgabe, das Heilige Land zu sichern – und wenden sich karitativen Aufgaben: heute bis hin zum Malteser-Hilfsdienst und den Johannitern als Trägern von Krankenkäusern

institutional displacement (‚Verdrängung von Institutionen‘) Eine bestehende Institution passt sich veränderten neuen

Herausforderungen nicht an – und wird verdrängt. Beispiele: Parteien, die ihre Wähler verlieren; Unternehmen, deren

Produkte ‚nicht mehr laufen‘.

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Vorzüge und offene Fragen Instrumentarium, um inhaltsunabhängige Prägefaktoren

gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels zu erfassen, v.a.: Pfadabhängigkeit, kontingente Entscheidungen an Weggabelungen,

steigende Erträge, überwältigende Reaktionsfolgen institutionelle Überschichtungsprozesse, Institutionendrift,

Umfunktionieren/Umbauen oder Verdrängen von Institutionen Allerdings …

liefern diese Konzepte durchaus noch keine erklärungsstarke Theorie dessen, wie genau die so bezeichneten Prozesse funktionieren und in welchen Grenzen sie sich an welchen Stellen beeinflussen ließen

bleiben endogene Faktoren von Institutionenstabilität bzw. Institutionenwandel noch unklar

wirken die analysierten ‚Weggabelungen‘ und ‚Pfade‘ mitunter wie Ergebnisse mentaler Konstruktionen des Forschers, nicht aber wie ‚der Geschichte leicht abschaubare‘ Strukturen bzw. Prozesse

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Also lohnt es sich, über die Konzepte / Theoreme des Historischen Institutionalismus hinauszugehen.

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Evolutorischer Institutionalismus

Integration der Leitgedanken vieler Zweige des Neo-Institutionalismus, zumal auch des Historischen Institutionalismus.

Formulierung einer Theorie, die gleichgewichtig die soziale Konstruktion, die Stabilität und den (gerade auch langfristigen!) Wandel von Institutionen erklärt

Greift die Anliegen der in den Wirtschaftswissenschaften lange schon verbreiteten Populationsökologie (‚Unternehmen als Organismen im Wettbewerb ums Überleben‘) sowie der Evolutorischen Ökonomik (= Anwendung der Evolutionstheorie auf wirtschaftliche Prozesse) auf, desgleichen die von weiteren Versuchen, Evolutionstheorie für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen.

Reuter, Norbert (1994): Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomik, Marburg

Giesen, Bernhard (1980): Makrosoziologie. Eine evolutionstheoretische Einführung, Hamburg

Wurde im Dresdner Sonderforschungsbereich ‚Institutionalität und Geschichtlichkeit‘ entwickelt und verbindet sozialwissenschaftliche Analyse mit – evolutionstheoretisch geprägter – geschichtswissenschaftlicher Forschung.

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präzise Einführung: im Foliensatz SYS 1 - 2