Über primitiven Beziehungswahn

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(Aus der Psychiatrisehen- und Nervenklinik der Universit~t KSln [Dir.: Prof. Dr. G. Ascha/#nburg].) [rber primitiven Beziehungswahn. Von Kurt Schneider. Die Arbeiten Gaupps und der Tiibinger Schule sind fiir die modernen Bestrebungen, das wahnhafte Erleben psychologisch verst~ndlieh zu machen, yon ftihrender Bedeutung. Ffir diese Festgabe scheint uns daher ein Beitrag zu dieser Frage besonders geeignet zu sein. Wit teilen Beobachtungen mit, die nicht nur dutch ihre UngewShnlichkeit auf- fielen, sondern auch gestatten, einen bisher kaum besehriebenen Typus a/cuter wahnha/ter Reaktion sch~rfer herauszuarbeiten. Erste Beobachtung. Am 16. Mai 1928 morgens gegen halb vier wachte der Diener Christian eines KSlner Konsuls an Schritten im Kies des Hausgartens auf; auBerdem hSrte er sprechen. Er ging ans Fenster und sah unten einen Mann, der ihm auf seinen Anruf zur Antwort gab, man mSge ihn hinauslas~en, er sei auf der Flucht und kSnne nicht mehr heraus. Der Konsul, der ebenfalls wach geworden war, rief das ~berfall- kommando, das im Garten den 24j~hrigen Johann Obermiller aus einem kleinen ]:)off in l~iederbayern vorfand und verhaftete. Papiere hatte er nicht bei sich. Es stellte sich heraus, da~ er eine mindestens 4 Meter hohe Mauer mit Hilfe eines hoch gesteUten Handwagens iiberstiegen hatte. Auf cler Mauer befand sich noch ein etwa 50 cm hoher Stacheldrah~zaun, in dem seine Krawatte h~ngen blieb. ,,Zweifellos bestand bei dem Vorgeffihrten die Absicht zu stehlen, da sonst eine Erkl~rung fiir das Ubersteigen der so hohen Mauer nicht gefunden werden kann." Auf dem Polizeirevier gab Obermiller seine riehtigen Personalien an. Er gab zu, in dem Garten gewesen zu sein, habe in KSln keine feste Wohnung und auch kein Geld, sich ein Unterkommen zu suchen. W~hrend der Vernehmung sprang er pl6~zlich vom Stuhl auf ,,Es ist mir so warm, ieh babe so Angst." Dann 6ffnete er cl~s Fenster und sprang hinaus. Der Kriminalsekret~r lief ihm nach und holte ihn mit Hilfe eines anderen Beamten wieder ein. Dem Versueh, ihn auf die Waehe zurfickzufiihren, leistete er energischen Widerstand, wobei er die beiden Beamten im Gesich$ verletzte. Erst mit Hilfe zweier weiterer Beamten gelang es, ihn zur Wache zu schleifen. Hier war er zuerst 5 Minuten ruhig,,dann griff er aufs neue an, bis es endlich 4 Beamten gelang, ihn mi~ gebundenen Beinen in die Zelle zu bringen. Dort schlug er s~mtliehe Fensterseheiben ein und zertrfimmerte die Pritsche. Als man die unterbrochene Vernehmung fortsetzen wollte, weigerte sich Obermiller, die Zelle zu verlassen und drohte alle totzusehlagen. Mit einem Stiick der Holz- pritsehe griff er wiitend an, wobei er mehrere Beamte verletzte. Obermiller wurde selbst im Gesieht und auf dem Kopf verletzt und voriibergehend bewuBtlos. In dem z. f. cL g. Neut. u. Psych. 127. 47

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(Aus der Psychiatrisehen- und Nervenklinik der Universit~t KSln [Dir.: Prof. Dr. G. Ascha/#nburg].)

[rber primitiven Beziehungswahn. Von

Kurt Schneider.

D i e A r b e i t e n Gaupps u n d d e r Tiibinger Schu le s ind f i i r d ie m o d e r n e n B e s t r e b u n g e n , d a s w a h n h a f t e E r l e b e n p sycho log i s ch v e r s t ~ n d l i e h z u m a c h e n , y o n f t i h r e n d e r B e d e u t u n g . F f i r diese F e s t g a b e s c h e i n t u n s d a h e r e in B e i t r a g zu d i e se r F r a g e b e s o n d e r s gee igne t zu se in . W i t t e i l e n B e o b a c h t u n g e n m i t , d ie n i c h t n u r d u t c h ih re U n g e w S h n l i c h k e i t au f - f ie len , s o n d e r n a u c h g e s t a t t e n , e i n e n b i she r k a u m b e s e h r i e b e n e n T y p u s a/cuter wahnha/ter Reaktion sch~r f e r h e r a u s z u a r b e i t e n .

Erste Beobachtung. Am 16. Mai 1928 morgens gegen halb vier wachte der Diener Christian eines

KSlner Konsuls an Schri t ten im Kies des Hausgartens auf; auBerdem hSrte er sprechen. E r ging ans Fenster und sah unten einen Mann, der ihm auf seinen Anruf zur Antwor t gab, man mSge ihn hinauslas~en, er sei auf der F luch t und kSnne nicht mehr heraus. Der Konsul, der ebenfalls wach geworden war, rief das ~berfa l l - kommando, das im Garten den 24j~hrigen Johann Obermiller aus einem kleinen ]:)off in l~iederbayern vorfand und verhaftete. Papiere hat te er nicht bei sich. Es stellte sich heraus, da~ er eine mindestens 4 Meter hohe Mauer mi t Hilfe eines hoch gesteUten Handwagens iiberstiegen hatte. Auf cler Mauer befand sich noch ein etwa 50 cm hoher Stacheldrah~zaun, in dem seine Krawat te h~ngen blieb. ,,Zweifellos bestand bei dem Vorgeffihrten die Absicht zu stehlen, da sonst eine Erkl~rung fiir das Ubersteigen der so hohen Mauer nicht gefunden werden kann ." Auf dem Polizeirevier gab Obermiller seine riehtigen Personalien an. E r gab zu, in dem Garten gewesen zu sein, habe in KSln keine feste Wohnung und auch kein Geld, sich ein Unterkommen zu suchen. W~hrend der Vernehmung sprang er pl6~zlich vom Stuhl auf �9 ,,Es ist mir so warm, ieh babe so Angst ." Dann 6ffnete er cl~s Fenster und sprang hinaus. Der Kriminalsekret~r lief ihm nach und holte ihn mi t Hilfe eines anderen Beamten wieder ein. Dem Versueh, ihn auf die Waehe zurfickzufiihren, leistete er energischen Widerstand, wobei er die beiden Beamten im Gesich$ verletzte. Ers t mi t Hilfe zweier weiterer Beamten gelang es, ihn zur Wache zu schleifen. Hier war er zuerst 5 Minuten ruhig,,dann griff er aufs neue an, bis es endlich 4 Beamten gelang, ihn mi~ gebundenen Beinen in die Zelle zu bringen. Dor t schlug er s~mtliehe Fensterseheiben ein und zertrfimmerte die Pritsche. Als man die unterbrochene Vernehmung fortsetzen wollte, weigerte sich Obermiller, die Zelle zu verlassen und drohte alle totzusehlagen. Mit einem Stiick der Holz- pritsehe griff er wiitend an, wobei er mehrere Beamte verletzte. Obermiller wurde selbst im Gesieht und auf dem Kopf verletzt und voriibergehend bewuBtlos. I n dem

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Ber ich t fiber diese Vorgange heiBt es: , ,Bei dem Obermiller hande l t es sieh u m einen Menschen, der seinesgleichen noeh zu suchen hat , der in der gemeinsten Ar t und Weise auf die Menschheit losgeht un t e r Anwendung aller erdenkl ichen Mittel. Es is t anzunehmen, dab er entweder gar n ieh t Obermiller heiBt oder sonst schwere Saehen auf dem Kerbholz hat . Aueh k a n n cr vielleicht aus einer Ans ta l t entwichen sein" . AllergrSBte Vorsicht sei am Platze, u m weitere Verletzungen oder Besehadi- gungen zu vermeiden. Obermiller muBte schlieBlieh gefesselt ins Polizeigefangnis gebrach t werden, wo er in der Zelle samtl iehe Fensterscheiben und das ganze Mobiliar zer tr i immerte . Auch hier gab es schwerste Kampfe , wobei er wieder einen B e a m t e n verletzte . Er konnte erst am 18. Mai v e r n o m m c n werden, und zwar gab er ungefahr folgendes an. Er sei vor einigen Tagen aus sciner He ima t nach K61n gekommen, u m seine Brau t Therese zu besuchen, die aus seiner H e i m a t s t amme und in einem K61ner Hotel Z immermadchen sei. E r habe bei ihr sein Gepaek abgestel l t u n d yon der Bahnhofsmission einen Schein zum l~bernaehten im Obdaehlosenasyl bekommen. Dor~ seien zwei MAnner am Tiseh gesessen. , ,Ich glaubte zu h6ren, dab diese beiden n n d auch mehrere u m nns s tehende M~nner davon spraehen, daB sie mieh t o t m a e h e n wollten. Ich en t fern te mich aus dem Asyl und wurde ansehe inend yon den obigen M~nnern verfolgt. N achdem ich langere Zeit durch die S t ad t gegangen war u n d ieh immer noch verfolgt wurde, flfichtete ieh mich vor ihnen, indem ich fiber eine Mauer stieg und in einen Hof kam. Ieh wurde dor t entdeekt , durch die Polizei abgefiihrt und zur Wache gebracht . W a h r e n d meiner dor t igcn Ver- n e h m u n g kam mir der Gedanke, dab die Pol izeibeamten, die mieh dor th in gebracht ha t t en , verkleidete MAnner aus dem Asyl seien, die etwas mi t mir vor ha t t en . Aus Angs t vor ihnen bin ich d a n n dor t aueh aus dem Fens te r gesprungen, u m zu ent- laufen. Es ist m6glich, daB ich mieh gewehr t habe, als ich eingeholt wurde. Ich g laub te immer, man wollte mir ans Leben und deshalb habe ieh mich gewehrt . I eh g laubte dann auch in der folgenden Nacht , wo ich in eine Zelle eingesperr t wurde, S t immcn geh6rt zu haben, dab meine E l t e rn getOtet seien und wonach auch verabredet wurde, dab m an mich t6 t en will. Ich erinnere mich, dab ieh reich mi t e inem Stfiek Holz bewaffnete, welches ich yon der Pr i tsche abbraeh, u m reich dami~ zu wehren, wenn man an reich wollc. Ich erinnere reich dann auch dunkel, dab mehrere MAnner in die Zelle gekommen sind. Ob ieh bei dieser Gelegenheit mi t dem Stiiek Holz gesehlagen habe, dessen kann ieh mich n ieh t mehr ents innen. W e n n ieh mich hier zur W e h r setzte, dann geschah dies aus Angst , dab man reich umbr ingen wollte. W e n n mi r gesagt wird, dab ich aueh nach meiner Einl ieferung in das Gefangnis mehrere M6belstficke zerschlagen und auch auf die Bcamten eingeschlagen habe, so k a n n ich darauf nur sagen, dab ieh davon n ichts weiB. W e n n es r icht ig sein sollte, dab ich in meiner Verwirr thei t Beamte gesehlagen habe, die sieh mi t mir befassen muBten, so bedauere ich dieses sehr n n d b i t t e h ie rmi t alle betroffenen B e a m t e n u m Entschuldigung. Sollte durch mich i rgendweleher Schaden anger ich te t worden sein, so bin ich bereit, denselben zu bezahlen. Ich besitze zwar augenblieklich keine Barmi t t e l , ich werde aber bemiih t sein, den Schaden dureh mein Verdienst zu be- zahlen. Wenn ich bier ent lassen werden sollte, d a n n werde ich wieder nach meiner H e i m a t reisen und mir dort Arbei t suchen. I ch muB auf Befragen noeh real erkl~ren, dab an meinem ganzen Verha l t en kein b6ser Wille die Schuld tr~gt, sondern ich muB durch irgendwelche Umst~nde dazu getr ieben worden sein, die ich mir heu te n i e h t erklhren kann . " - - Die vorgeladene B r a u t Therese des Obermiller erklar te aufs Best immtcste , dab dies ihr Br~u t igam sei. Sie babe mi t ihm seit e twa 2 J a h r e n ein Verh~ltnis und auch ein Kind yon ihm. Sie s t amme aus derselben Gemeinde wie er. Seine El te rn h a t t e n eine kleine Landwi r t scha f t n n d seien sehr ans tandige Leute . Aueh Obermiller sei noch nie bes t ra f t und bisher noch nie m i t der Polizei i n K o n f l i k t gekommen. Er se i am 14. Mai 1928 yon der He ima t nach K61n gekommen in der Absicht, hier Arbei t zu suchen. Sie seien zwei S tunden zusammen und in einer Wir tschaf t gewesen, wo Obermil ler schon gesagt habe, die Leute t a t e n fiber

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i hn sprechen. ] ) ann habe sie m i t ihm auf der Bahnhofsmission, wo seine Ausweis- papiere geblieben seien, den Sehein ffirs Obdaehlosenasyl geholt . Abends u m 7 U h r h~ t ten sie sieh ge~rennt mad sie babe ihren Br~ut igam bis j e tz t n i eh t wieder- gesehen. Die B r a n t maeh te einen gediegenen, glaubwiirdigen E indruek , so dab a n ihren Angaben n ieh t gezweifelt wurde. - - Bei seiner r ich terhehen V e m e h m u n g ebenfalls am 18. Mai best~t igte Obermiller seine der Polizei gemaeh ten Angaben . ~ b e r die Manner im Asyl und seine weiteren Erlebnisse erg~nzte er noeh folgendes: ,,Die Manner sahen feindselig aus, so dab ieh reich ffirchtete, l~nger zu bleiben, und ieh ging wieder auf die Strabe. Die M~nner aus dem Asyl folgten mi r n n d h a b e n reich du t ch die ganze S tad t gehetzt . Wie ieh an das Haus des Konsuls gekommen bin, weib ieh nicht . Als ich dor t war, kamen mir die M~nner h a t h . An der Mauer lehnte ein Kar ren , mi t dessert Hilfe ich fiber die Mauer und fiber den D r a h t z a u n stieg. Ieh sprang he run te r und sah nun, dab ieh in einem Hof war, aus dem ich n ich t wieder herauskonnte . I ch stieg wieder auf einen Baum und yon dor t auf ein flaches Dach. Von dor t h5r te ich, wie vor dem Hole und im Hofe Leute mi t e inande r s p r a e h e n u n d d a v e r s t a n d i ehe twas von ,Schieben ' . I chbekam v o n n e u e m A n g s t , ba ld legte ieh reich, bald stellte ich reich wieder bin. Ich glaubte, vo r tier Mauer s t~nde j emand mi t dem Gewehr im Anschlag. Ich stieg nun wieder in den Hof u n 4 ba t und f lehte urn mein Leben, m a n sollte mir doeh mindestens einen Geis thehen sehicken. Darauf 5ffnete sich oben ein Fens ter und man rief mir zu, n i emand wolle mir etwas, ich soUe warten. Naeh einer Weile wurde das Tor au fgemaeh t und ich wurde fes tgenommen u n d sollte in das Auto steigen. Ieh h a t t e Angs t u n d babe reich zum Auto schleppen lassen. Ich hiel t die Beamten fiir verkleidete Leute yore Obdachlosenasyl. Bei dieser Gelegenheit merkte ich auch, dab der M a n n mi t dem Gewehr ein Holzgestell m i t e inem ausgestreckten Arm war. Bei meiner Ver- n e h m u n g auf der Wache sprachen die jungen Sehutzleute for tw~hrend leise mit- einander. Ich fi irchtete, dab sie mieh fiberfallen wollten, he~ das Fens te r auf m a c h e n nnd sprang hinaus. Gegen meine Veffolger habe ich reich gewehrt . Sie sehleppten reich zurfick und haben reich auf der Wache zersehlagen, bis ieh bewuBtlos war. I eh bin noeh hie ernst l ich k r a n k gewesen, habe abe t vor 3 oder 4 J a h r e n eine s ta rke Grippe mi t Kopfsehmerzen gehabt . Es war das erste Mal, dab ich einen Angstzu- s t and bekam." Aueh bei dieser Ve rnehmung machte 0bermil ler noeh einen s t a rk ver- ~ngst igten Eindruck. - - A m 19. Mai 1928 he ib t es, dab ObermiUer inzwisehen zur Ruhe und Besinnung gekommen sei. Seine ganzen Handlungen seien dadu reh zu erkl~ren, , ,dab der Mann sich in einem gewissen Verfolgungswahn befand, i ndem er in den Glauben verse tz t war, m a n t r ach te ibm naeh dem Leben. Nur so sind aueh wfitenden Angriffe auf die m i t i bm in Berfihrung gekommenen B e a m t e n und sein verzweifeltes Zurwehrse tzen zu vers tehen. Auch n u t ein Mensch, der seiner Sinne n ich t m/~chtig ist, karm eine solche Kra f t en t fa l ten und yon solch ka tzenar t ige r Schnelligkeit sein, wie es Obermil ler war ." Obermiller wnrde vom Gericht, da er den E ind ruek eines Geis teskranken mach te und kein Verdacht des ve r sueh ten schweren Diebstahls vorlag, der Polizei zur Vefffigung gestellt, die ihn am 20. Mai 1928 in die Kt in ik brachte . E ine Anzeige wegen Widerstandsleis tung lief gegen ihn, auberdem kam noch sehwere KSrperver le tzung und Sachbeseh~digung in Frage . I m ganzen h a t t e Obermiller 7 B e a m t e zum Teil n ieht unerheblich verletzt , 6 bei den Vorg~ngen auf der Waehe u n d einen im Polizeigefangnis.

I n der Kl in ik best~t igte Obermil ler seine bisherigen Aussagen. E r babe geglaubt , man jage ihn d u t c h die Stadt , ,,well ieh yon B a y e m bin, weil ich n i eh t so ans t~nd ig gekleidet bin." ] )a sei er aus Angs t den Vers tand losgeworden. Selbst kSnne er sieh n ieh t mehr genau er innern, doeh h~ t t en ihm die Beamten naehhe r gesagt, was alles gesehehen sei. E r babe noeh hie einen a lmhehen Zus tand gehabt , sei sons t ein ganz ruhiger Menseh, b a b e hie gerauft , t r inke auch nieht. I n einer GroBstad t sei er noeh nie gewesen. I n der n~heren und weiteren Familie sei n ich t s yon Geistes- k rankhe i t en bekannt . Abgesehen yon einer Grippe sei er hie k r a n k gewesen. E r

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habe mittelm~l~ig gelernt, sei aber nie sitzen geblieben. Nach der Sehule sei er zuerst in der Landwirtsehaft gewesen, dann bei einem Sehreiner in der Lehre. Seit Februar sei er arbeitslos. Mit der Polizei sei er noeh nie in Konflikt gekommen. Mi~ seiner Braut habe er ein Kind, fiir das er 15 Mark monatlich zahlen miisse, wenn er es k6nne. Sie wollten bald heiraten. Auf die Frage, wie er sieh heute die ganze Sache erkl~re, sagte er: ,,Ich hatte immer Angst. Ich sah so viele Leute, die guekten mich immer an, ich war sehlecht gekleidet. Im Asyl dachte ich, die wollten reich sehlagen. Nun wurde ich etwas verriickt und bin auf und davon und zu diesen Zust~nden gekommen. Ich bin immer in der Stadt hernmgelaufen, mit der Trambahn herum- gefahren, die Bursehen waren immer hinter mir her, ich habe ihnen nieht ausweichen kSnnen. Ieh weiB nieht, bin ich schon so verriickt oder ist das Tatsache gewesen." -- Es handelte sich um einen kleinen, kr~ftigen, gedrungenen Mann mit wuehtigen, ,,nahezu akromegalischen" H~nden. An Amen , H~knden, Brus$ fanden sich erhebliche Hautabsehiirfungen, an beiden Skleren Blutaustritte, an der rechten Schl~fe Beulenbildungen. Intern und neurologisch fand sieh niehts Krankhaftes. Ober- miller war vSllig geordnet und einsichtig und liel3 sieh leieht vollends yon der Un- wirklichkeit der Verfolgung iiberzeugen, die er sieh selbst durchaus richtig aus seiner Angst und seinem Fremdsein in der GroBstadt erkl~rte. Von Sinnest~usehungen war nichts mehr festzustellen. Sein Wesen hatte etwas Kindliches, Treuherziges. Er wurde am 25. Mai 1928 entlassen und mit einer Fahrkarte in seine Heimat ver- sehen. In einem nachtr~glich wegen der Widerstandsleistung eingeforderten Gut- achten wurde ihm der w 51 zugebilligt. Der Zus~and wurde als eine psychogene Angstpsychose mit zeitweisem ~bergang in D~mmerzust~nde aufgefaBt. -- Nach einer Mitteilung der Heimatgemeinde im April 1930 ist Obermiller inzwischen nicht mehr aufgefallen. Er arbeite in Baden in einer Schreinerei, verheiratet sei er nicht.

Zusammen/assung: E i n 24j~hriger kr~f t iger unbeseho l t ene r Nieder- bayer , der aus e inem ganz k le inen Dof f s t a m m t und noch hie in einer grSi3eren Stadt war, k o m m t naeh K61n, u m seine B r a u t zu besuehen. Sehon bald naeh der A n k u n f t g l aub t er sieh yon den Mensehen angesehen u n d abends im Obdachlosenasyl yon Sehlafgenossen aueh bedroh t . I n gr613ter Angst r enn t er du t ch die S tad t , u m sehlieBlich vo r den ver- me in t l i chen Verfolgern fiber eine h o h e Mauer in den Gar t en einer Villa zu f l iehen. E r wird en tdeck t u n d v o m U b e r f a l l k o m m a n d o als E inb reche r ve rha f t e t . Bald beginnt e in wf i t ender K a m p f gegen die B e a m t e n der W a c h e und des Polizeigef~ngnisses, in denen er ve rk le ide te Leu te aus d e m Asy l zu sehen glaubt . E r v e r w u n d e t im ganzen sieben B e a m t e n ieh t unerhebl ich . E r hSrt in der Zelle auch r eden : seine E l t e r n seien um- g e b r a c h t und aueh er mfisse s te rben . N a c h zwei T a g e n be ruh ig t er sieh u n d ba ld ist er v6Uig einsieht ig u n d erkl~rt sieh alles selbst aus seiner Angs t . Die E r inne rung an die zwei Tage ist n ich t ganz lfiekenlos.

Zweite Beobachtung. Am 28. Nov. 1920 abends 5 Uhr wurde auf dem Hauptbatmhof KSln der dienst-

habende Polizeiwaehtmeister in den Wartesaal 1. und 2. Klasse gerufen, woselbst 4 auf der Durehreise befindliehe polnische Frauen yon einem Tobsuehtsanfall befallen seien. Den vorher sehon gerufenen Samaritern yon der nahegelegenen Rettungswache war es nieht gelungen, sie fort und dorthin zu sehaffen. Erst dem Wachtmeister und 4 englischen Polizeisoldaten gelang es, die Frauen auf die Rettungs-

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wache zu bringen. I )or t begannen sie erneut zu toben, schlugen die Fensterscheiben ein und brachten einem Samari ter mehrere Kratz- und BiBwunden bei. Wegen des gemeingefghrliehen Verhaltens wurden alle vier Frauen in zwei Krankenwagen in die Klinik gebracht. Es handelte sieh um die 62jghrige polnisehe Ji idin Sarah Weinberg, ihre 30jghrige Tochter Hella, ihre 26jghrige Tochter Sperenza und ihre 22jghrige Tochter Chara. Wie sieh spgter herausstellte, kamen sie aus Lublin und wollten sie tiber Paris nach Amerika. Sie waren vier Tage unterwegs und hat ten wghrend der Fahr t weder riehtig geschlafen noch etwas Rechtes gegessen. Auf dem KSlner Bahnhof bekamen sie wegen irgendeiner Formali tgt , anseheinend der Beschaffung yon Platzkarten, Sehwierigkeiten, bei weleher Gelegenheit die glteste Schwester so erregt wurde, da6 sie eine Seheibe einschlug. Die Mutter und die anderen Sehwestern wurden dann gleiohfalls erregt, so dab es sehlieBlich zu den Szenen kam. - - Zuerst wurde die glteste Tochter Hella eingeliefert. Sie schrie, zeigte groBe Angst, guBerte, man wolle sie yergiften trod umbringen. Die Mutter benahm sich geordnet und ruhig. Von den beiden andern T6ehter war die gltere ebenfalls gngstlich und unruhig, aber nicht in dem MaBe wie die ~lteste. Die deutsche Sprache verstanden alle nur recht mangelhaft. Die ~lteste und die zweitglteste Tochter mu~ten mi t Scopolaminspritzen beruhigt werden. - - Am andern Morgen war die ganze Famil ie wieder sehr erregt. Fast ununterbrochen spraehen alle vier gleichzeitig, tells polnisch, teils jiddiseh. Als der Arzt ihnen bedeutete, dal3 er sie einzeln sprechen wollte, erhoben sie ein groBes Jammern, klammerten sieh anein- ander and beteten laut. Endl ieh gelang es, die zweitMteste Tochter Sperenza allein ins Untersuchungszimmer zu bringen. Sie gab an, sie seien so aufgeregt, weil sie glaubten, daI~ man sie in ein Freudenhaus gebrach~ habe. Es gelang nur miihsam, sie yon ihrer Meinung abzubringen und zu beruhigen. Nachdem sie ihre Angeh6rigen aufgekl~rt hatte, t r a t zungchst Beruhigung ein. Schon am I~achmittag aber war die ganze Famil ie sehon wieder auBerordentlieh erregt, so dab sie ins Dauerbad gebracht werden muBte. I )or t hockten s~mtliche vier in einer Badewanne, well sie zusammen sterben wollten. Sie jammerten und klagten dauernd laut, sehlugen sich an die Brust und rangen die Hgnde. ,,Vergeben Sie uns, vergeben Sie uns, wir wollen noeh nicht sterben, wir haben noeh niehts vom Leben gehabt - - wir sind sehuldig." Was sie etwa begangen hgtten, war nicht zu erfahren, auch waren sic durch Zusprueh nieht zu beruhigen. Infolge des lauten und anhaltenden Sehreiens waren sie sehllel~lich alle heiser. Zum Essen waren sie alle, obsehon sie, namentlieh die Mutter, sehr heruntergekommen und erschSpft aussahen, nicht zu bekommen. Sie erkl~rten, der Hals w~re zu, es ginge nichts herunter. Ob es sieh um Vergiftungs- furcht oder rituelle Bedenken handelte, war nicht zu erfahren. Auch einem Herrn des jiidisehen Emigrantenkomitees, der sie versieherte, dal] n iemand ihnen etwas wolle, dab ihre Papiere in Ordnung seien und dab sie, sobald sie erholt seien, weiter- fahren k6nnten, gelang es nicht, das MiBtrauen zu iiberwinden. Von dieser Seite war noeh zu erfahren, zwei der T6chter h~tten erzghlt, sie seien an der Grenze yon polnischen Soldaten vergewalt igt worden, man wisse jedoch nieht, was daran Wahres sei. Sie h~tten auch Selbstanklagen erhoben, daB sie sieherlieh schwer gesiindigt haben miiBten, dab ihnen Got t so etwas schicke, sie miiBten sich sehgmen. Sie hgt ten dann welter gesagt, hier auf dem Bahnhof wollten ihnen die Leute etwas tun. Was dann den letzten Grund zu der Erregung gegeben habe, sei nicht zu effahren gewesen. Am lautesten und unruhigsten sei die glteste Tochter gewesen, sie habe Seheiben eingeschlagen und sieh zur Wehr gesetzt. Die Mutter und die jiingste Toehter seien ziemlich ruhig gewesen. Nach diesem Tag schliefen alle mi t Scopolamin tier die l~acht hindurch. - - Am Morgen des 30. waren alle vier ~uBerlieh ruhiger. D i e Mutter lag still und ergeben im Bett, die T6chter waren mfirrisch und leicht gereizt. Immer wieder produzierte eine yon ihnen irgendwelche Beein- tr~ehtigungsgedanken. I)er Stempel in der Anstaltsw~sche P. F. (d. h. Psych- iatrischeFrauen) wird als, ,Polnische Festung" gedeutet, worauf die ~lteste Toehter,

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die auch jetzt noch am meisten miBtrauisch war, zweifelte, dab sie iiberhaupt in K(iln seien. Selbst die Worte ,,Stadt K61n" auf den Mineralwasserflasehen iiber- zeugten sie nieht. Eine Tochter hatte einen ganz geringen Herpes labialis, was sofort als Vergiftungserseheinung gedeutet wurde. Von were diese wahnhaften Deutungen im einzelnen ausgingen, war nicht stets festzustellen. Das Versprechen des Arztes, dab sic weiter reisen dfirften, sobald sic sich beruhigt und etwas erholt hatten, land keineneigentlichen Glauben. Am 1. Dez. kam ein polnisch sprechender l~abbiner und rituelles Essen, worauf weitere Beruhigung eintrat. -- Am 2. Dez. war das Ver- halten nur noch wenig auffallig. Die jiingeren Schwestern waren auf die alteste bSse, weil diese immer noeh etwas mil]trauisch sei. Alle aBen gut und sahen er- frischter aus. Am Abend wurden sie yon dem jiidischen Emigrantenkomitee zur Bahn gebracht. Bei der Auslieferung der in Verwahrung gegebenen Gegenstande waren sic besonders darauf bedacht, ja nieht etwa zuviel zuriickzuerhalten. -- Eine Katamnese war natiirlich nicht zu erheben. Die klinische Bezeichnung lautete : Psychogener Verfolgungswahn sprachlich Isolierter mit Induktion.

Zusammen]assung: Eine polnisch- j i id isehe Auswanderer fami l ie , be- s t ehend aus Mut te r und drei TSeh te rn gera t nach t age langer erschSpfender E i s e n b a h n f a h r t auf dem Bahnhof K S l n ansche inend im Ansehlui] an eine fo rmale Reiseschwier igkei t in e inen Z u s t a n d angs t l icher und gewal t - t a t i ge r Er regung , wobei die a l tes te T o c h t e r f i ih rend ist. Alle vier k o m m e n in die Kl in ik , wo die Angst- un4 E r r e g u n g s z u s t a n d e zunachs t f o r t d a u e r n und Bez iehungsgedanken im Sinne der Bee in t r ach t i gung en twicke l t werden . I n der Kl in ik wird ein F r e u d e n h a u s , d a n n eine polnische F e s t u n g v e r m u t e t . E r s t mi t Hilfe eines poln iseh sp reehenden Rabb ine r s gel ingt die Beruh igung , worauf die Reise fo r tgese t z t wird.

Dritte Beobachtung.

Am 17. Mai 1923 wurde die aus der Oberpfalz gebiirtige 32j~hrige Buehhalterin Maria Strohbacher yon der medizinischen Klinik, wo sic wegen einer offenen Lungen- tuberkulose mit H~moptoe war, zur psychiatrischen Klinik verlcgt. Sic sei seit einer Stunde erregt, schreie, spucke ins Bert, beschmiere mit der Spucke sieh selbst und den Arz~. Oftmals hintereinander sage sie: ,,Warum muB ich denn leiden bis an mein Ende !" -- Eine Tante gab an, in der Familie seien keine Geistes-oder Nervenkrankheiten, aber viel Tuberkulose. Maria sei seelisch nie irgendwie auf- f~llig gewesen. Bis zum 6. Mai habe sic noch zur Zufriedenhiet ihren Dienst getan. -- W~hrend der ersten 10 Tage konn~e die ersichtlich schwer Kranke schon wegen ihrer dauernden Blutungen nicht exploriert werden. Sie war sehr unruhig, w~lzte sich umher, schrie, spuckte auf den Boden, schlug nach dem Arzt, war mil~trauisch und abweisend gegeniiber allem, was mit ihr vorgenommen wurde. Manchmal maehte sic Bemerkungen wie folgende: ,,Herr Doktor, Sic sind so spitz, warum sagen Sic nichts ?~ Am 29. Mai machte sic folgende Angaben. In der medizinischen Klinik h~tten sic die vielen Untersuchungen ermiidet. Aui3erdem habe man ihr Spritzen gemacht, zu denen sie kein Vertrauen habe. Sie habe sofort den Gedanken geh~bt, dab das Gift sei, dab man sic mit dem Gift zwar nicht sofort tSten, aber doch so allm~hhch ihrem Leiden ein Ende bereiten wolle. Es sci ja eine ansteckende Krankheit und es sei vielleicht im Volksinteresse, da$ solch ein Mensch nicht raus komme. Sic sei noeh hie in einem Krankenhaus gewesen. Sie habe auch aus An- deutungen und dem Verhalten der Sehwestern eines Abends gemerkt, dab man Vor- bereitungen fiir eine schwere Nacht, fiir eine Sterbende treffe, und habe sieh fiir die Sterbende gehalten. An Worte kSnne sic sich nicht erinnern; es habe in der Stimme

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gelegen und sie habe das so rausgefiihlt. Eine Frau im Saal habe gesagt: ,,die is$ aber s134t gegangen." Das habe bedeutet, sie sei zu spi~t zum Arzt gegangen. Sie glaube aueh, dab man hinter ihrem Bert einen Tiseh f fir das Allerheihgste gedeckt habe, sicher k6nne sie das aber nicht sagen. Die Schwester babe aueh das Abendgebet eine ganze Stunde friiher gebetet als sonst und noch ein Sterbegebet -- sie habe das alles auf sieh bezogen. Sie habe dann in dem festen Glauben, dab sie sterben mfisse, Briefe schreiben wolten. Wegen ihrer Aufregung habe man ihr eine Spritze geben wollen. Sie habe immer geschrien: ,,keine Spritze!", denn sie habe diese Spritze als Erleichterung des Sterbens aufgefaBt, die sie nieht gewollt habe. Von diesem Zeitpunkt an wisse sie nichts mehr und das Weitere sei ihr erst hier wieder einge- fallen. Sie habe sieh auf einmal so kri~ftig wie nie gefiihlt und habe nach dem Arzt gesehickt, um mit ihm abzurechnen. Sie habe dann im Bett herumgespuekt und dabei gesagt, das sei seine Strafe u n d e r mfisse das jetzt mitansehen. Sie habe wahrscheinlich auch gesagt, er sei ein Sehuft. Aueh den lqonnen mad dem Pfarrer sei sie abgeneigt gewesen; sie habe in dem Augenblick zu keinem Menschen mehr Vertrauen gehabt. Aueh hier babe sie am ersten Tag geglaubt, man rue ihr etwas an, weshalb sie sieh so gewebrt habe. Jetzt halte sie die ganze Vergiftungs- geschiehte ffir Unsinn. -- Aus ihrem Vorleben war nichts Bemerkenswertes zu er- fahren. Sie war jahrelang fern der Heimat in Stellen gewesen. Sie gab an, zur Zei~ des Unwohlseins sehleeht gelaunt zu sein; sie ziehe sich in dieser Zeit zuriick und wolle dann mit niemand etwas zu tun haben. Auch w/ihrend des Aufenthaltes in der medizinisehen Klinik sei sie unwohl gewesen. Sie sei fiberhaupt leieht mil3trauiseh mad denke oft, dab man sehleeht fiber sie urteile, mache sich aber nicht viel daraus. Ein Bruder yon ihr sei an Lungentuberkulose gestorben. Dem Arzt driiben habe sie gesagt, es sei ein Herzfehler gewesen, denn sie habe gemeint, werm er aueh das noeh wisse, gebe er sich gar keine Miihe mehr. -- Die Kranke blieb v611ig einsiehtig, hatte sichtlieh Vertrauen und war sehr zuspruchsbediirftig. Sie wurde am 1. Juni zur medizinisehen Klinik zurfickverlegt, wo sie am 20. Aug. starb. Mitre Juli scheint sie zeitweise wieder etwas erregt gewesen zu sein. Unsere klinisehe Bezeiehnung lautete: Paranoide Angstreaktion bei H~moptoe.

Zusammen/assung: E i n an Lungen tube rku lose schwer k rankes M/~d- chen en twicke l t im Anschlul3 an die ~rzt l iche Behandlung , zu der sie ke in V e r t r a u e n ha t , /~ngs t l iche Vergif tungsideen. Auch bezieht sie a l ler le i Vorg/~nge i m K r a n k e n s a a l f/~lschlich auf sich und ihren b e v o r s t e h e n d e n Tod. N a c h psychischer Beruh igung t r i t t rasch v611ige E ins i ch t u n d K o r r e k t u r auf. - -

Was diese 3 B e o b a c h t u n g e n verb inde t , ist der U m s t a n d , dab s ieh in a l len F/s aus e inem a k u t e n r e a k t i v e n /~ngstlichen A f f e k t s t u r m ein B e z i e h u n g s w a h n und zwar im Sinne der Beeintr /s und Ver- fo lgung en twicke l t . I n al len F/~llen k l ing t die Psychose rasch und rest- los ab. Be i der zwei ten und d r i t t en Beobach tung d i i r f ten kSrper l i ch e rseh6pfende M o m e n t e die E n t w i e k l u n g der Angs t r eak t ion e r l e i eh t e r t haben. A u c h im e r s t e n F a l l i s t i m m e r h i n zu bemerken, dal3 der Mann soeben eine sehr lange Reiseze i t h in te r sieh h a t t e und auBerdem des Re i sens durchaus u n g e w o h n t war. I n ke inem der Fi~lle kann nach E n t s t e h u n g , Aussehen u n d Verlauf an einer psyehogenen Psychose, an e iner ab- n o r m e n R e a k t i o n gezweifel t werden. (~ber die erste B e o b a e h t u n g k a n n in dieser H i n s i c h t wohl i ibe rhaup t n ich t d iskut ier t werden. A u e h in der zwe i t en B e o b a e h t u n g lag keinerlei Grund vor, bei d e r / i l t e s t e n T o c h t e r

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eine schizophrene Psychose zu vermuten; sehon dab hier 4 Personen zur gleichen Stunde in ungef~hr dieselbe Angstreaktion hineingerieten, spricht entschieden dagegen. DaB diese Beobachtung infolge der sprach- lichen Schwierigkeiten nicht bis aufs letzte gekl~rt werden konnte, macht ihre klinische Auffassung nicht weniger sicher. Abet selbst dann, wenn man bei der /~ltesten Tochter eine schizophrene Psychose nicht ausschliel3en zu kSnnen meint, miil3te man doch bei der Mutter und bei den zwei anderen TSehtern eine psychogene (induzierte) Psychose annehmen, denn dab alle 4 zugleich sehizophren erkrankten, kann doch unmfglich in Frage kommen. Bei der dri t ten Beobachtung kann an eine sehizophrene Psyehose sieher nieht gedaeht werden. Es w/~re ja aueh kliniseh ganz ungewShnlich, dab eine solehe bei einer fiebernden, fast moribunden TuberkulSsen zum erstenmal' auf t re ten sollte, also in einer Zeit, in der auch manifeste Sehizophrene ihre Symptome meist weit- gehend verlieren. Was die in allen F/illen rasch eingetretene Einsicht und Korrektur betrifft, so war sie in allen F~llen fiir die Untersucher vSllig evident. Gerade die l~berzeugung einer echten Krankheitsein- sieht 1/~13t sieh bekanntlich unwiderlegbar schwer oder gar nieht ob- jektiv begriinden. Man m u B sie und darf sie dem geiibten Beobaehter glauben.

Wenn wit yon ,,primitivem" Beziehungswahn sprechen, so denken wir bei ,,primitiv" nieht etwa an die 1/indliche Abkunft des bayerischen Burschen oder an das Exotisehe der ostjiidischen Familie, vollends nicht an besehr~nkte Intelligenz, sondern wir meinen die Primitivreaktion im Sinne Kretschmers: Erlebnisreize werden nicht yon der Gesamt- persSnlichkeit erfal3t, sondern kommen unvermit te l t in impulsiven Augenbliekshandlungen oder in seelischen Tiefenmechanismen reaktiv wieder zum Vorschein. Eine primitive Pers6nlichkeit ist fiir diese Primitiv- reaktion keineswegs erforderlich; sie ist unspezifisch im Gegensatz zu denexpansiven und sensitiven PersSnlichkeitsreaktionen. Bei entsprechen- der Erlebnisst~rke kann jede PersSnliehkeit pr imit iv reagieren: fiber- starke Erlebnisreize schlagen die ,,hShere" PersSnlichkeit gewisser- mal3en dutch und lassen elementar-tr iebhafte Tiefenmeehanismen an die Oberfl~ehe kommen und den spezifisehen charakterlichen Oberbau iiberfluten. Es eriibrigt sich fast, zu sagen, dab unsere Beobachtungen mit dem, was man sonst als , ,Primitivpsychosen", aueh als wahnhafte Primitivpsychosen zu bezeichnen pflegt, niehts gemein haben. Jene wahnhaften Fdnbildungen Gefangener, jene Wunseherfiillungspsychosen sehen sehon inhaltlich vSllig anders aus. Aul3erdem fehlt ihnen das Eehte und Elementare; auch entstehen sie kaum je aus einem ganz akuten Angst- und Affektsturm. (Von den Schreck- und Panikzust~nden wird nachher noeh kurz die Rede sein.) Dennoeh mag es sein, dab sieh z. B. unter den Kirnschen F/~llen der , ,akuten halluzinatorischen Melan- eholie", der ,,charakteristischen Psychose der Einzelhaf t" einzeine den

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unsern vergleichbare l~ l le linden. Wegen der Kiirze der Darstellung jener F~lle Kirns ist dies nicht nachprfifbar.

Man kSnnte bei unsern F~llen aueh yon ,,akuter Angstpsychose" reden - - und wenn Zustandsbilder den Namen ,,Angstpsyehose" ver- dienten, so w~iren es diese. Nun versteht man aber iiblicherweise yon Wernieke fiber Forster zu Rawak unter Angstpsychose etwas vSllig anderes, n~mlich ein dutch Vorherrschen yon Angst gekennzeichnetes nicht reaktiv entstandenes melancholisches Bild. So ist auch unter Fors~rs zahlreichen F~llen yon Angstpsychosen nichts, was zu unsern Beobachtungen gehSren k6nnte. Andererseits ist auch zu sagen, da~ der Name Angstpsychose nichts fiber das Wahnha/te dieser Angstreaktion aussagt, auf das es uns sehr wesentlich ankommt.

Sieht man sich welter in der Literatur um, so finder man h6chstens ganz beseheidene Anf~nge solcher paranoider Angstreaktionen einmal angedeutet. I~ur jene Beobaehtungen yon Allers fiber psychogene StSrungen in sprachffemder Umgebung, fiber den Verfolgungswahn der sprachlich Isolierten, gehSren zweifellos bierher. Diese F~lle sind Unterformen des primitiven Beziehungswahnes, dureh eine besondere, aber nieht notwendige Situation hervorgerufen. Auch unsere zweite Beobachtung geh5rt weitgehend dazu. In unserm ersten Fall ha t zwar die l~remdheit der Umgebung eine ausschlaggebende Rolle gespielt, aber yon einer S~racMremdheit kann man in Anbetracht der doeh erhaltenen Verst~ndigungsmSgliehkeit nieht reden. Im dr i t ten Fall diirfte die Fremdhei t fiberhaupt keine Rolle spielen; die Kranke war seit vielen Jahren ohne Sehwierigkeiten fern yon der Heimat in Stellungen t~tig. Hersehmann berichtete, den Veffolgungswahn spraehlieh Isolierter insbesondere bei Schwaehsinnigen beobachtet zu haben. In keinem unserer Fs kann man yon Schwachsinn reden. Auch Neustadt land unter den paranoiden Psychosen Schwachsinniger nichts unseren F~llen Entspreehendes. Abgesehen yon den F~llen yon Allers erinnern wir uns an eine yon E. Meyer ausffihrlich mitgeteilte Beobachtung, die mit unserer zweiten auch ~u~erlich keine geringe ~hnliehkeit hat. Es handelte sieh um eine Frau mit 2 T6chtern, die im Ms 1915 vor dem Einfall russischer Truppen aus dem Memelgebiet geflohen war. Alle drei warden in die K6nigsberger Klinik aufgenommen wegen Psyehosen, die darch t raumhaf te Bewul~tseinstrfibung mit lebhaften Sinnes- t~uschnngen, illusion~ren Ausdeutungen, wahnhaften Ideen, Angst undErregung ausgezeichnet waren. Die jfingereToehter ha t te anscheinend die induzierende Fiihrung. Wegen der ~hnlichkeit der Zusts mit symptomatischen Psyehosen bei kSrperlichen Erkrankungen glaubte E. Meyer, der kSrperlichen Erseh6pfung infolge starker Strapazen doeh wohl grSl~ere Bedeutung beilegen zu mfissen, als den psyehogenen Mo- menten. Er nhnmt keine eigentliehe psychogene StSrung im gew6hn- lichen Sinne an, sondern glaubt, dal~ neben k6rperlichen Fak toren

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psychische Ursachen eine schwere ErschSpfung bedingt haben und dab nun als Symptom dieser ErschSpfung eine psychisehe StSrung auftrat, die den Bildern der sonst bei kSrperliehen Erkrankungen beobachteten GeistesstSrungen entsprach. Wit glauben, dab insbesondere die Tat- saehe der Induktion auch hier wohl das Reeht gibt, das Psychogene st/~rker zu betonen. Das starke Vorherrschen yon traumhaften BewuBt- seinstriibungen unterseheidet immerhin diese Beobachtung yon den unsrigen, in denen eine Trfibung des BewuBtseins nur angedeutet ist. Sicher geh5ren psyehogene D~mmerzustKnde auf dem Boden der Angst, z. B. naeh Katastrophen irgendweleher Art, in die psychologisehe Nachbarschaft unserer FKlle, aber aueh abgesehen davon, dab es eben Ddimmerzust~nde sind, fehlt ihnen das Wahnhafte. Und vor ahem haben sie nieht jene Farbe der ~ngstlichen Eigenbeziehung, sie sind kein Beziehungswahn.

Der Typus des primitiven Beziehungswahns ist eine seltene Er- scheinung. In den Jahren 1919--29 haben wir unter fiber 27 000 Auf- nahmen sonst nichts J(hnliches beobachtet. Und sicher kommen diese ganz akuten und sehnell abklingenden Psyehosen in erster Linie in die Beobaehtung einer Klinik. Bescheidene Ans~tze dazu sind sicher h~ufig, aber psyehotisehe Zuspitzungen, die zum Arzt oder sogar in ein Kranken- haus ffihren, anscheinend fiberaus selten. Zum Wesen dieses Typus gehSrt die Entstehung yon wahnhaften Beziehungs- und Verfolgungs- erlebnissen auf dem Boden elementarer reaktiver Angst, rasehes Ab- klingen der Erseheinungen naeh Beruhigung, endlich vSllige Einsieht und Korrektur. Fehlt auch nur eines dieser Merkmale, hat man diesen Typus nicht vor sich. Fremde Umgebung und kSrperlich ersch5pfende Momente seheinen das Auftreten des primitiven Beziehungswahns zu begfinstigen, doch sind sie nieht unbedingt dazu notwendig. Einzelne SinnestKuschungen, wohl illusion~re Umdeutungen, und Andeutungen yon BewuBtseinstrfibungen ffigen sich natfirlich ohne weiteres in das Bild ohne wesentlieh zu sein. - -

Auf die Stellung dieser wahnha/ten Reaktion zum ,,echten", nicht psyehopathischen, prozeBhaften Wahn soll hier nieht n~her eingegangen werden. Sicher handelt es sich um ,,wahnhafte" Ideen im Sinne yon Jaspers, d. h. sie gehen verst/~ndlieh aus der Angst hervor. Wahn- wahrnehmungen, abnormes BedeutungsbewuBtsein Beziehungssetzung ohne AnlaB (Gruhle) finden sich auch in unsern Fi~llen, abet getragen yon der Angst, w/~hrend diese Erlebnisse beim prozeBhaften Wahn psyehologisch primer, wahrseheinlieh aber auch in der Struktur anders sind. W/~hrend ferner bei unseren F/~Hen diese Wahnwahrnehmungen stfirmiseh und kurzsehlul~artig, kurz ,,primitiv" vollzogen werden, geschehen sie in der Schizophrenie und beim prozeBhaften Paranoiker meist langsam, bed~chtig, beobachtend, registrierend. Also auch im Tempo ist hier wohl ein Unterschied, doeh gibt es zweifellos aueh aus

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Gemi i t sbewegungen en t s t ehende W a h n w a h r n e h m u n g e n , die n i c h t dieses s t i i rmisehe Tempo der W a h n w a h r n e h m u n g e n unserer F~lle haben . DaB in unse re rn B e o b a c h t u n g e n das W a h n h a f t e sicher u n m i t t e l b a r aus der r eak t iven Angs t vers t~ndl ich able i tbar ist, diese Fes t s t e l lung be- deu te t keinen AnschluB a n die Uberzeugung, aueh den W a h n des prozel3- ha f t en Parano ikers u n d Sehizophrenen verst~ndlich aus Gemii ts- bewegungen, S t r ebungen , W e r t u n g e n und Komplexen ab le i t en zu kSnnen , was n u t auf d e m W e g e k o n s t r u k t i v e r MethodenmSglich ist. Die T r e n n u n g der w a h n h a f t e n R e a k t i o n v o m echten, d. h. vielleicht i n se inen I n h a l t e n , n ich t aber in se inem Dase in psychologisch vers t~ndl iehen W a h n scheint uns auch heute noeh berecht ig t u n d notwendig.

Literaturverzeichnis. Allers: Z. Neur. 60, 281 (1920). -- Forster: Die klinische Stellung der Angst-

psychose. Berlin 1910. -- GruMe, Hans W.: Psychologie der Sehizophrenie in Berze-Gruhle ,,Psychologie der Sehizophrenie". Berlin 1929. -- Herschmann: Z. Neur. 66, 346 (1921). -- Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 3. Aufl. Berlin 1923. -- Kirn: Z. Psyehiatr. 45, 1 (1889). -- Kretschmer: Der sensitive Beziehungs- walm, 2. Aufl. Berlin 1927. -- Medizinisehe Psychologie, 3. Aufl. Leipzig 1926. -- Meyer, E.: Arch. f. Psychiatr. 56, 247 (1915). -- Neustadt: Die Psyehosen der Sehwaehsinnigen. Berlin 1928. -- l~awak: Msehr. Psyehiatr. 72, 196 (1929). -- Wernicke: Z. Psychiatr. 51, 1020 (1895). -- Grundrifl der Psyehiatrie, 2. Aufl. Leipzig 1906.