Übergänge in die Zeit nach dem Heim Ergebnisse aus … · Ereignisses „Heimunterbringung“...

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Übergänge in die Zeit nach dem Heim Ergebnisse aus einem Projekt mit ehemaligen Jugendlichen aus den Erziehungshilfen Dokumentation November 2012 Gefördert vom Rheinland Westfalen Lippe

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Übergänge in die Zeit nach dem HeimErgebnisse aus einem Projekt mit ehemaligen Jugendlichen aus den Erziehungshilfen

Dokumentation November 2012

Gefördert vom

RheinlandWestfalenLippe

Impressum

HerausgeberDiakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.27ff Evangelischer Fachverband für Erzieherische Hilfen RWLFriesenring 32/34 Lenaustraße 41 48147 Münster 40470 Düsseldorf Telefon 0251 2709-222 Telefon 0211 6398-273 Telefax 0251 2709-904 Telefax 0211 6398-299 [email protected] [email protected]

AutorinLaura Kress, Fachhochschule Münster

AnsprechpartnerinNicole Knuth, Diakonie RWL e. V.

Projektleitung der Fachhochschule MünsterProf. Dr. Peter Hansbauer

Gestaltungluxgrafik, Münster

TitelfotoFFCucina Liz Collet – Fotolia.com

DruckDruckhaus Süd, Köln

Münster, November 2012

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 3

Inhalt

1. Einleitung

2. Das Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt „Übergänge in die Zeit nach dem Heim“

3. Gelingensfaktoren für einen erfolgreichen Prozess der

Ablösung und Integration in die Zeit nach dem Heim

3.1. Beziehungsgestaltung junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

3.2 Schlüsselkompetenzen junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

3.3 Berufliche Integration junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

4. Konzeptionelle Konsequenzen für die Praxis der Heimerziehung

5. Schlusswort und Ausblick

6. Literatur

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4 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

1. Einleitung

In der stationären Kinder- und Jugendhilfe wird immer wieder (und öfter) die Frage diskutiert, was unter Qualität in der Heim-erziehung zu verstehen sei. Eine Antwort darauf, was gute Heimerziehung ausmacht, suchen Fachkräfte der Praxis und der Trägerverbände ebenso wie MitarbeiterInnen aus Instituten und Hochschulen. Meist jedoch drehen sich die Diskussionen um die Gegen-wart im Heimalltag, nur selten wird der Blick weiter auf die Zukunft von jungen Menschen mit Heimerfahrung außerhalb des Heims gerichtet.

Grundlage dieser Broschüre ist ein Projekt, das sich an eben diesem Punkt verortet. Im Rahmen des Forschungs- und Praxisentwick-lungsprojektes „Ablösung und Integration: Übergänge in die Zeit nach dem Heim“ befassten sich MitarbeiterInnen der Fach-hochschule Münster, der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e. V. (RWL) und Fachkräfte aus der Praxis der stationären Erziehungshilfe mit Interviewmaterial aus der aktuellsten Erhe-bungsphase einer Langzeituntersuchung der Fachhochschule Münster über Folgen und subjektive Relevanz von stationärer Heimun-terbringung, bei der junge Menschen selbst regelmäßig zu ihrer Lebenssituation und ihren Erfahrungen mit und Sichtweisen auf Heimerziehung befragt werden. Die gemein-same Betrachtung von Aussagen der jungen Menschen zielte hauptsächlich darauf, folgende Fragen zu beantworten:

• Welche Kompetenzen und Eigenschaften lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass junge Menschen den biografischen Schritt von der Hilfe zur Erziehung in die Eigen-ständigkeit erfolgreich bewältigen?

• Welche strukturellen Konsequenzen sind daraus mit Blick auf die Heimerziehung zu ziehen?

Das Projekt wurde in Kooperation zwischen der Fachhochschule Münster und dem Evangelischen Fachverband für Erzieherische Hilfen RWL durchgeführt und aus Mitteln des MGFFI NRW finanziert. Mit der vorliegenden Broschüre sollen nun die zentralen Erkennt-nisse möglichst praxisorientiert an Fachkräfte aus dem Bereich der stationären Erziehungs-hilfe und weitere Interessierte herangetragen werden.

Die Broschüre wird hierzu zunächst kurz das Projekt und die rahmengebende Langzeitstu-die vorstellen (Kapitel 2). Daran anschließend geht sie auf die drei Themen „Beziehungsge-staltung“, „Schlüsselkompetenzen“ und „berufliche Integration“ ein, die sich als zentrale Gelingensfaktoren für eine erfolg-reiche Integration in die Zeit nach dem Heim herauskristallisiert haben und benennt dabei erste konzeptionelle Empfehlungen für die Praxis (Kapitel 3). Darauf folgend fasst sie die zentralen Erkenntnisse des Projektes zusammen, bündelt die gewonnen Praxis-empfehlungen stichpunktartig (Kapitel 4) und schließt mit einem ausblickhaften Schlusswort (Kapitel 5).

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2. Das Forschungs- und Praxis- entwicklungsprojekt „Übergänge in die Zeit nach dem Heim“

Bei dem Forschungs- und Praxisentwick-lungsprojekt „Ablösung und Integration: Übergänge in die Zeit nach dem Heim“ handelt es sich um eine Projektauskoppelung aus der Langzeituntersuchung über Folgen und subjektive Relevanz von stationärer Heimunterbringung. Das Projekt selbst beschäftigte sich mit dem Themenkomplex der positiven Wirkfaktoren für eine gelingende Integration in die Zeit nach dem Heim.

Die LangzeituntersuchungIm Rahmen der Langzeituntersuchung der Fachhochschule Münster werden in regel-mäßigen Abständen von zwei bis drei Jahren Jugendliche und junge Menschen, die 2008 älter als 15 Jahre und in verschiedenen Formen der Heimer-ziehung untergebracht waren, mit Hilfe standardisierter Fragebögen und Leitfadeninterviews befragt. Das vorliegende Interviewmaterial wird mittels des Softwareprogramms MAXQDA einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen und ausgewertet (Mayring 2002). Primäres Ziel der Langzeituntersuchung ist die Erforschung von subjektiven Relevanzen des biografischen Ereignisses „Heimunterbringung“ für den Verlauf des eigenen Lebens sowie von Mustern der späteren Integration dieses Ereignisses in das eigene „Selbstkonzept“. Im Mittelpunkt stehen also die Selbstaussagen der jungen Menschen, ihre Deutungen sowie ihre Sichtweisen auf die Zeit im Heim und den Verlauf ihrer weiteren Biografie. Bisher kann

die Untersuchung auf zwei Befragungswellen zurückgreifen:

Im Rahmen der Erstbefragung (T1) wurden in den Jahren 2008/2009 102 junge Menschen in stationären Einrichtungen befragt. Die Ergebnisse, die sich aus der wissenschaftli-chen Auswertung dieser Befragungswelle ergaben, wurden am 10. September 2009 unter dem Titel „Atmosphäre – Haltung – Konzept: Was heißt Qualität aus Sicht von Jugendlichen in der Heimerziehung?“ im Rahmen einer Fachtagung der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in Münster präsentiert und in den Zeitschriften Forum Erziehungshilfe (15. Jg, Heft 5, 2009) und Kontakte (Nr. 14, Mai 2009) in gekürzter Form

veröffentlicht. Bei der Auswertung damals wurde zum einen deutlich, dass junge

Menschen die Frage nach qualitativ guter Heimerziehung weniger auf der Ebene des WAS (Konzepte, Strukturen etc.) sondern des WIE (Atmosphäre, Haltung, respektvoller Umgang etc.) beantworten. Zum anderen begriffen die meisten jungen Menschen sich selbst als aktiv Gestaltende und sahen subjektiv durchaus einen Sinn in ihrem Heimaufenthalt. Die meisten Untersuchungs-teilnehmer waren in den Interviews sehr präzise in der Lage zu benennen, welchen Nutzen sie aus der Heimerziehung mit Blick auf eine autonome Lebensführung, die Entwicklung von Zukunftsperspektiven oder angestrebte Verhaltensänderungen ziehen.

Junge Menschen wissen, auf was es in der Heimerziehung ankommt.

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Zwei Jahre später ist ein Teil der Untersu-chungsteilnehmerInnen erneut befragt worden (T2). Entsprechend des neuen Lebensab-schnittes der jungen Menschen und der Erfahrungen aus T1 sind die Erhebungsinstru-mente (quantitativer Fragebogen und Leitfa-den für die Interviews) hierzu leicht modifiziert worden. An der Untersuchung T2 haben sich noch 68 junge Menschen beteiligt, das entspricht exakt zwei Dritteln der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der ersten Befragung. Die Gründe für die Nichtbeteiligung sind unterschiedlich: sechs Personen haben ausdrücklich erklärt, sich zukünftig nicht mehr an der Studie beteiligen zu wollen; fünf Personen sind „unauffindbar“, d. h. weder über die angegebenen Kontaktdaten und -adressen, noch über soziale Netzwerke (Facebook, STUDI-VZ etc.) zu erreichen; sechs Personen waren zum Zeitpunkt von T2 „verhindert“, d. h. sie befanden sich in einer Auslandsmaß-nahme, in Haft oder in der Psychiatrie; acht Personen erklärten explizit, bei T2 kein Interview führen zu wollen, stehen aber für weitere Befragungen zur Verfügung. Die Gründe hierfür waren unterschiedlich und reichen von „zu viel Stress im Moment“ bis „ist mir noch zu nahe“; neun Personen sind zwar mit ihrem Aufenthaltsort bekannt, Interviews kamen aber aus verschiedenen Gründen nicht zustande (nach dem Erstkontakt nicht mehr erreichbar, Termine wurden mehrfach kurz-fristig abgesagt, massive Alkohol- und Drogenprobleme etc.). Die Befragung und bisherige Auswertung in dieser Erhebungspha-se übernahmen Studierende der Fachhoch-schule Münster im Rahmen von Projektarbeiten.

Lebenssituation der Befragten zum Befragungszeitpunkt T2Die Überlegung, ein separates Projekt aus der zweiten Befragungswelle der Langzeituntersu-chung auszugliedern, ergab sich primär aus der Lebenssituation, in der sich die Mehrzahl der jungen Menschen zu diesem Zeitpunkt befand. So standen zum Zeitpunkt von T2 eine Reihe der Untersuchungsteilnehmer und -teilnehmerinnen altersbedingt vor zwei zentralen Aufgaben: Sie müssen die Einmün-dung in den Arbeitsmarkt, oder alternativ, in das Bildungs- und Ausbildungssystem organisieren und die Ablösung von ihren Herkunftsfamilien bzw. den Settings der Heimerziehung, in denen sie bisher gelebt haben, bewältigen. Daran geknüpft sind häufig weitere Aufgaben wie das Beziehen

einer eigenen Wohnung, das Einüben einer selbstständigen Lebensführung, der

Aufbau einer Partnerschaft sowie von Beziehungen außerhalb der Heimerziehung, etwa der verantwortliche Umgang mit Medien, Konsum, Geld, Drogen.

Eine erneute, dies fokussierende Analyse des mit T2 gewonnenen Materials zu Beginn des Forschungs- und Praxisentwicklungsprojektes (s. Kap. 2.3) bestätigte dieses Bild:

Die Lebensthemen der jungen Menschen stellen vorwiegend ihre Verselbstständigung, ihre Einbindung in alte und neue Beziehungs-geflechte (Herkunftsfamilie, alte und neue Freundschaften, Partnerschaften) und vor allem die mal mehr mal weniger gelingende berufliche Integration dar. Nur sehr wenige

Der Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenwelt ist mehr als nur ein Auszug.

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verfügen bereits über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Und obwohl viele von ihnen noch die Schule besuchen, ist ein großer Teil entweder mit der Ausbildungs-platz-, Studienplatz- oder Arbeitssuche beschäftigt. Darüber hinaus befinden sich die befragten jungen Menschen in einem Freiwilligen Sozialen Jahr, einem Praktikum oder einer berufsvorbereitenden Maßnahme. Betrachtet man diese „beruflichen“ Lebenssi-tuationen der Befragten, müssen nicht nur individuelle Aspekte bei dem Einzelnen oder ggf. erschwerte Bedingungen durch einen Heimaufenthalt berücksichtigt werden. Vielmehr sollte daneben zumindest auch im Blick behalten werden, in welchem Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sie bestehen. Diese zeichnet etwa Thomas Olk (2012, S. 8) recht treffend nach, indem er erklärt:

„Die Jugendgeneration des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts war beim Übergang in das Erwerbsleben in den vergangenen Jahren mit chronisch hohen Arbeitslosenquoten, reduzierten Wachstumsquoten sowie einem Überangebot an Bewerbern auf den Ausbil-dungs- und Stellenmärkten konfrontiert. […] Die Anforderungen an den Einzelnen, diesen schwierigen Übergang zu bewältigen, stiegen.“

Gerade für die Heimerziehung stellt sich dabei zwangsläufig die Frage, welche Faktoren für die jungen Menschen hilfreich sind und waren, um die beschriebenen biografischen Aufgaben vor dem Hintergrund der gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen rund um die Themen Ablösung und Integration erfolgreich meistern zu können.

Das ProjektvorgehenDie beschriebene Situation der jungen Menschen zum Ausgang nehmend, konzen-trierte sich das Forschungs- und Praxisent-wicklungsprojekt auf die Beantwortung folgender, eingangs bereits benannter Leitfragen:

• Welche Kompetenzen und Eigenschaften lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass junge Menschen den biografischen Schritt von der Hilfe zur Erziehung in die Eigen-ständigkeit erfolgreich bewältigen?

• Welche strukturellen Konsequenzen sind daraus mit Blick auf die Heimerziehung zu ziehen?

Zunächst galt es, anhand des bisherigen Stands der Heimerziehungsforschung sowie des vorhandenen Materials aus der Langzeit-untersuchung zu definieren, was genau unter der erfolgreichen Bewältigung des Schritts von der Heimerziehung in die Eigenständig-keit verstanden werden kann. Hierfür bot es sich an, auf den Ansatz von Rainer Treptow zurückzugreifen, der ursprünglich die Wechselwirkungen zwischen Heimerziehung und Bildung fundieren sollte, aber über diesen Anspruch bei Weitem hinausgeht. Mit Treptow (ebd. S. 12 ff.) soll Heimerziehung auf ein so genanntes „Gelingendes Leben“ hinwirken. Dabei soll sie in der Gegenwart handeln, um auf die Zukunft vorzubereiten, denn das so definierte „Gelingende Leben“ ist, wie Treptow ausführt, dadurch gekennzeichnet, dass die AdressatInnen der Heimerziehung ihr Leben im Heim retrospektiv als „gute Zeit“ (S. 12) bewerten. Er richtet den Blick auf die subjektive Sicht der jungen Menschen selbst.

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Das „gelingende Leben“ könnte somit auch mit Lebenszufriedenheit gleichgesetzt werden. Gleichwohl schränkt er ein, dass Pädagogik in ihren Bewertungen immer auch um eine „Balance zwischen individuellen Bedürfnissen und sozialen Erwartungen“ (ebd.) bemüht sein muss. Vorwiegend diesem Ansatz folgend, sollte im Projekt die subjek-tive Wertung der Befragten zum Maßstab von erfolgreicher Bewältigung genommen werden. Ist also von Erfolg die Rede, geht es im Kontext des Projektes primär um die Fragen, was die jungen Menschen selbst im Anschluss an die Heimerziehung erreichen möchten und wie ihnen dies gelingen kann.

Mit dieser Überlegung im Hintergrund sind die Leitfragen des Projektes letztlich in drei Schritten beantwortet worden. Zunächst wurde das vorhandene Material einer Vorabanalyse unterzogen. Dies geschah erstens hinsichtlich der Lebensziele der jungen Menschen und zweitens hinsichtlich zentraler, auf diese zielende Gelingensfak-toren (Schritt 1). Daraufhin fanden insgesamt vier Praxisworkshops mit Fachkräften der stationären Erziehungshilfe statt, in denen jeweils ein entsprechend der Thematik gekürzter Teil des Interviewmaterials anhand zuvor definierter Fragestellungen inhaltlich sowie mit Blick auf konzeptionelle Konse-quenzen diskutiert wurde (Schritt 2). Abschlie-ßend wurden die Erkenntnisse aus der Vorabanalyse und aus den Workshops strukturiert aufgearbeitet (Schritt 3), um sie am 2. Oktober 2012 auf der Abschlussfach-tagung des Projektes zu präsentieren.

Die Vorabanalyse des Gesamtmaterials aus T2 zeigte sehr deutlich, dass die jungen Menschen über ein recht klares Bild von einer zufriedenstellenden Zukunft verfügen. Auf die Fragen, welche Ziele sie erreichen wollen oder wie ihr Leben in drei Jahren aussehen wird, antwortete die große Mehrzahl der Befragten damit, beruflich weiter gekommen bzw. abgesichert sein zu wollen. Der Schulab-schluss, die Ausbildung und der sichere Job sind hierbei drei oft benannte Stichworte.

Daneben möchten viele der jungen Menschen zum Zeitpunkt T2 vorhandene Bezie-

hungen vertiefen oder neue aufbauen, etwa indem sie eine Familie gründen oder mit Freunden bzw. PartnerInnen zusammen leben. Beides, die berufliche Integration und Beziehungen, stehen immer wieder im Zusammenhang mit den Antworten auf die Fragen nach besonders wichtigen Ereignissen der letzten zwei Jahre. Erfolg setzen sie folglich in erster Linie mit einer gelingenden beruflichen Integration und in zweiter Linie mit stabilen Beziehungen gleich. Sie verfügen größtenteils über Lebenskonzepte, die den klassischen gesellschaftlichen Wertvorstel-lungen von Familie und Beruf entsprechen und zudem im Allgemeinen als Aspekte der Eigenständigkeit betrachtet werden können.

Einem kleinen Teil der Gesamtstichprobe von insgesamt zwölf jungen Menschen ist es bis zum Befragungszeitraum T2 bereits gelungen, große Schritte auf dem Weg zur beruflichen Integration zu meistern. Diese zwölf verfügen über mindestens einen Schulabschluss und befinden sich entweder in einem festen

! Ablösung und Integration fußt auf Beziehungen, Schlüsselkompetenzen und beruflicher Integration

Junge Menschen mit Heimerziehungs-biografie streben beruflichen und sozialen Erfolg an.

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Ausbildungsverhältnis oder haben dies erfolgreich beendet. Eine erste Analyse des Gesamtmaterials ließ vermuten, dass diese jungen Menschen über eine Reihe von Eigenschaften und Kompetenzen verfügen, die anderen, weniger erfolgreichen Jugend-lichen fehlen. Weiter ergab die Vorabanalyse den keineswegs überraschenden Befund, dass diejenigen der Befragten, die auf verlässliche Beziehungen zurückgreifen können, auch hinsichtlich der beruflichen Integration besser aufgestellt sind und umgekehrt. Insgesamt haben sich drei in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehende Themen-bereiche bzw. Gelingensfaktoren als zentral für das Meistern des biografischen Schritts von der Heimerziehung in die Eigenständig-keit herauskristallisiert: Erstens die „Bezie-hungsgestaltung“, zweitens „der Erwerb von

Schlüsselkompetenzen“ und drittens die „berufliche Integration“.

Die im Rahmen der Praxisworkshops mit den Fachkräften durchgeführten inhaltlichen Diskussionen um das Material bestätigten dieses Bild nicht nur, sie brachten darüber hinaus weitere spannende Aspekte rund um diese Themenbereiche zu Tage, die letztlich dazu führten, dass fundierte konzeptionelle Konsequenzen abgeleitet werden konnten. Im

Folgenden sollen entsprechend dem Projektvorgehen die Erkenntnisse aus der Analyse des Interview-

materials zu diesen drei Themenbereichen vorgestellt werden, um davon ausgehend die konzeptionellen Konsequenzen, die sich für die Fachkräfte im Rahmen der Praxiswork-shops ergaben, festzuhalten.

Ablösung und Integration fußt auf Beziehungen, Schlüsselkompetenzen und beruflicher Integration.

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3. Gelingensfaktoren für einen erfolgreichen Prozess der Ablösung und Integration in die Zeit nach dem Heim

Das Leben im Heim ändert nur wenig daran, dass für die befragten Jugendlichen die beiden Gruppen „Freunde“ und „Familie“ eine zentrale Stellung einnehmen. Diese zählen mit Abstand am häufigsten zu den Personen, welche die jungen Menschen als für sie besonders wichtig klassifizieren. Mit dem Ereignis „Heimerziehung“ tritt neben diesen Personengruppen noch eine dritte Gruppe in das Leben der Jugendlichen. Über verläss-liche Beziehungen zu Betreuungspersonen zu verfügen oder nicht zu verfügen, die externe Hilfestellung leisten, zum Bewertungsmaßstab für das eigene Handeln werden, Mut zuspre-chen, Zuhören oder einfach Zuneigung zeigen, scheint im Leben eines Großteils der Befragten eine wichtige Rolle zu spielen.

Hier soll in einem ersten Schritt auf das seitens der Jugendlichen selbst beschriebene Verhält-nis zu Freunden, Familie und Betreuenden eingegangen werden, um in einem nächsten Schritt zu klären, wie Heimerziehung mit diesen Beziehungen umgehen sollte, damit die spätere Ablösung und Integration in die Zeit nach dem Heim besonders erfolgreich gelingen kann.

FreundschaftenSoweit vorhanden geben nahezu alle Jugendlichen an, dass ihnen enge Freund-schaften zu bestimmten Personen sehr wichtig seien, ebenso bestehende Partner-schaften.

Ein Teil der Befragten setzt hier sogar die hauptsächliche Priorität bei den für sie wichtigen Personen. Häufig scheinen die freund- oder partnerschaftlichen Beziehungen sogar eine Familienersatzfunktion zu überneh-men. Ihnen schreiben die Jugendlichen Eigenschaften zu, die klassischerweise bei Familienmitgliedern gesehen werden. So äußert sich ein junger Mann, bezogen auf die Frage, wer ihm besonders wichtig sei:

„Meine Freundin. Die gibt mir Halt, wenn ich in der Einrichtung bin und denke, jetzt könnte ich wieder was Alkoholisches trinken, dann denke ich immer an sie und denke, wenn ich sie jetzt zwei Monate nicht sehen darf. Dann würde ich kaputt gehen.“

3.1 Beziehungsgestaltung junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

Beziehungen zu Freunden, Familie und BetreuerInnen sind den jungen Menschen wichtig.

Die jungen Menschen erhoffen sich aus Freund- und Partnerschaften Verlässlich-keit und emotionalen Halt.

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Bei den Jugendlichen besteht oft der Wunsch nach einer frühen, eigenen Familiengründung bzw. nach dem Leben in familienähnlichen Kontexten. Dies spiegelt sich besonders in den von ihnen beschriebenen Zielen und Zukunftsvorstellungen wieder und geht mit einem (geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägten) Wunsch nach Verantwortung einher. So antwortete auch eine junge Frau auf die Frage nach ihren privaten Zielen und ihren Möglichkeiten, diese zu erreichen, wie folgt:

„Ja, dass ich mit meinem Freund weiter in Richtung Familie ziehe. Er hat zwar seine Familie hier, aber ich muss wieder so ein bisschen zurück. [...] Meinen Freund muss ich [hierfür] versuchen, weiter zu überreden [...]“.

Die privaten Zukunftsvorstellungen eines zum Zeitpunkt T2 noch 17-jährigen Jungen gehen in eine ähnliche Richtung. Im Mittelpunkt steht dabei seine exklusive Beziehung zu dem besten Freund, den er als ihm „seelenver-wandt“ beschreibt:

„Meinen 18ten. Dann wahrscheinlich eine eigene Wohnung mit M. zusam-men. Wir wollen wahrscheinlich zusammenziehen.“

Die Jugendlichen scheinen, so wie die junge Frau und der 17-jährige Junge, ihre exklusiven Freund- und Partnerschaften vor allem außer- halb der Wohngruppe zu finden. Auf die Frage, ob es vergleichbare Freundschaften auch gruppenintern gibt oder gab, antworten nahezu alle Jugendlichen verneinend. Generell fallen ihre Aussagen bezogen auf

Freundschaften innerhalb der Gruppe eher verhalten aus.

„Ich war in vielen Einrichtungen, die meisten interessieren sich nicht für Andere.“,

erklärt eine junge Frau und steht damit nicht allein. Denn die hierfür am häufigsten angeführte Begründung lautet, dass die gemeinsame Zeit kaum ausreiche, um enge Freundschaften auf- und vor allem auszubauen. Zu schnell verließen oder wechselten die BewohnerInnen den gemeinsamen, temporä-ren Lebensort. Innerhalb der Gruppe scheint einem Aufbau von verlässlichen Beziehungen zwischen den BewohnerInnen, also vorwie-gend die mangelnde Konstanz, im Wege zu stehen.

HerkunftsfamilieWeniger emotional eindeutig als im Falle von Freundschaften verhält es sich mit dem Wunsch nach Nähe zur Herkunftsfamilie. Eine der häufigsten Antworten der jungen Men-schen auf die Frage, was ihr Heimaufenthalt Positives bewirkt habe, lautet, dass sich das Verhältnis zu der Herkunftsfamilie gebessert habe, vorwiegend wegen des gewonnen Abstands zur selbigen. Es ist jedoch schwie-rig, eine Aussage darüber zu tätigen, welche Rolle die Familie tatsächlich für sie spielt.

Auf der einen Seite gibt ein Großteil der Befragten an, bestimmte Mitglieder der Herkunftsfamilie seien für sie die besonders

Die Herkunftsfamilie spielt für die jungen Menschen eine zentrale Rolle, auch noch während und nach ihrer Zeit im Heim.

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wichtigen Personen. Um welche Familienmit-glieder es sich bei den als wichtig benannten Personen handelt, variiert je nach der Situation, in der sich die Interviewten befinden. Neben den leiblichen Eltern und (vorwiegend jüngeren) Geschwistern werden auch die Großeltern der Jugendlichen genannt. Dabei ist das Verhältnis zu den Familienmitgliedern meist nicht frei von Ambivalenzen, insbesondere bezogen auf die leiblichen Eltern. Einige sehen in diesen zwar weiterhin eine wichtige Unterstützung im eige-nen Leben. Sie beschreiben zum Beispiel den Kontakt oder das „gute Verhältnis“ als besonderen Anreiz, um zentrale Probleme zu bewältigen oder nehmen ihre Familie (neben Freunden) als seelischen Anker wahr:

„Meine Familie, meine Freundin und Freund halten mich immer davon ab, irgendwie Scheiße zu bauen mit den Anderen. Die Anderen wollen sich jetzt Waffen holen und so. So was brauche ich gar nicht, ne, brauch ich nicht.“

Mitunter sind die Rollen auch umgekehrt verteilt: Ein Teil der jungen Menschen fühlt sich selbst verantwortlich für einzelne Familienmitglieder. Eine Sonderstellung in der Herkunftsfamilie räumen die Jugendlichen in diesem Fall vor allem ihren Geschwistern ein. So bestehen die größten Verantwortungs-gefühle gegenüber kleinen Brüdern und Schwestern. In diesem Sinne antwortet ein junger Mann beispielsweise auf die Frage nach Kontakt zu seiner Stiefmutter mit den beiden Sätzen:

„Ja. Da wohnen meine kleinen Brüder und die lasse ich nicht im Stich.“

Häufig sind es, wie bei diesem Jungen, weniger die Trennungen von den leiblichen Eltern als von Geschwisterkindern im Zuge der Heimunterbringung, welche die betrof-fenen Befragten als besonders belastend beschreiben. Ob es schlimm war, dass sie von ihren Geschwistern getrennt wurde, wird eine nach eigener Aussage sehr familien-orientierte junge Frau gefragt und erwidert:

„Ja, weil ich früher auch noch ziemlich viele Muttergefühle und Verantwortung für die übernommen habe und für mich war das ganz schlimm, dass auf einmal meine Geschwister nicht mehr bei mir waren. Ich habe mich immer darum gekümmert, weil es für mich einfach zur Routine wurde. Und auf einmal war das nicht mehr so. Auf einmal konnte ich an mich denken und das war einfach was ganz ganz komisches für mich. Das ging gar nicht und das hat mich auch sehr traurig gemacht. Mittlerweile versteh ich das. Klar. Aber zu dem Zeitpunkt habe ich immer gefragt ‚Wie geht’s?‘ und ‚Was macht ihr?‘ und dies und das, weil ich einfach diese Verantwor-tung hatte und mir Sorgen gemacht habe.“

Eine andere junge Frau berichtet ebenfalls, dass sie im Heim erst langsam habe lernen können, die von ihr verspürte Verantwortung für andere abzugeben, um sich so auf das Gelingen ihrer eigenen Biografie konzentrieren zu können. Solch starke Gefühle von Verant-wortung zeigen die jungen Menschen insbesondere dann, wenn sie die Erziehungs-kompetenz ihrer leiblichen Eltern als unzu-

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länglich erleben. Und obwohl, wie eben beschrieben, die leiblichen Eltern eine wichtige (und geliebte) Rolle im Leben der Jugendlichen dieser ersten Gruppe spielen, betonen die meisten von ihnen ebenso verletzende Momente in deren Verhalten, wenn die Herkunftsfamilie zur Sprache kommt. Wenn dann gerade jüngere Geschwis-ter vorhanden sind, drängt es häufig, die erkannte Lücke zu füllen und die Rolle der „Mutter“ oder des „Vaters“ für diese einzu-nehmen.

Viele der Befragten, die die Mitglieder der Herkunftsfamilie als wichtig erachten, sind aber, wie auch die zuletzt zitierte junge Frau, sehr darauf bedacht, das elterliche Fehlver-halten auf seine Gründe hin zu hinterfragen. Sie suchen möglichst realitätsnahe Erklä-rungen oder haben sie für sich bereits gefunden. Oft erklären diese Jugendlichen sehr reflektiert, warum das Verhalten ihrer Eltern zwar verletzend sei, jedoch weniger mit ihnen als mit mangelnder Kompetenz der jeweiligen Elternteile in Zusammenhang stehe. Dies verdeutlicht folgendes Zitat einer Interviewten, die zu ihrem Kontakt zur leiblichen Mutter befragt wurde:

„Ja, ein bisschen, aber das ist auch wieder weniger geworden, weil sie mich einfach so oft verletzt hat. Weil sie immer einfach nur für eine Person aus unserer Familie da sein kann. Und dann hat sie jetzt auch noch einen total schrägen Freund. Der hat einen an der Waffel. Also er akzeptiert uns. Er kennt uns auch alle, aber er hat so eine komische Einstellung zum Leben. Angeblich ist er streng katholisch. Ist

er aber nicht, weil er sich nur die Sachen raus nimmt, die er gut findet davon. […] Ja. Und er hat halt so eine Meinung von wegen, dass wir auf eigenen Beinen stehen müssen, dass Mama ihr eigenes Leben führen sollte. Also sie hat das erste Kind auch ziemlich früh gekriegt, aber das sie halt jetzt gucken sollte, dass sie an sich denken sollte. Und deswegen werden wir halt ganz oft verletzt alle.“

Obwohl der Bereich Familie für diese erste Gruppe, also trotz Heimaufenthalt, eine übergeordnete Rolle spielt und einige über solide Erklärungen für elterliches Fehlverhal-ten verfügen, bleibt der Schmerz über erlittene Verletzungen in der Regel erhalten, wie auch aus diesem Zitat hervorgeht.

Auf der anderen Seite verdeutlichen zahl-reiche Aussagen in den übrigen Interviews klare Abgrenzungsbedürfnisse einzelner Jugendlicher gegenüber ihrer Herkunftsfami-lie, insbesondere gegenüber den leiblichen Eltern. So ist eine zweite Gruppe von Befragten auszumachen, welche die Mitglie-der der Herkunftsfamilie keineswegs als wichtig für ihr Leben erklärt. Mitunter findet die Herkunftsfamilie bei ihnen keinerlei Erwähnung, auf die Direktansprache durch die Interviewenden reagieren sie ausweichend oder offensiv ablehnend. Bei denjenigen dieser Gruppe, die sich äußern, rücken meist die in der Biographie begründeten Ambiva-lenzen in der Beziehung in den Vordergrund der Erzählungen. Aus negativen Vorerfah-rungen, welche die Beziehungsgestaltung bisher prägen, resultieren Frustration oder Wut, die bei einem Teil der Befragten dazu

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führen, dass ihr Bedürfnis nach (räumlichem) Abstand sehr hoch ist. Häufig geben diese Jugendlichen an, die Herkunftsfamilie spiele keine Rolle mehr in ihrem Leben. Ob Kontakt zu ihr besteht, sei irrelevant und erlittene Verletzungen unbedeutend, da sie nicht anders zu erwarten gewesen seien. Gleichzei-tig lassen aber teils starke Emotionen, die sich im Zusammenhang mit Berichten über die Eltern zeigen, diese Aussagen brüchig werden. Gleiches gilt für einzelne Aussagen die in anderem Kontext getätigt werden, aber auf unbehandelte Konflikte hinweisen. Dies zeigen, wie im folgenden Fall, zum Beispiel geäußerte Wünsche, den leiblichen Eltern etwas zu beweisen. So antwortete ein junger Mann auf die Frage, was er mit dem 18. Geburtstag verbände:

„Erwachsen werden. Eigene Entschei-dungen treffen. Piercing stechen lassen. Tätowieren. So, dann kann ich zu meinem Vater gehen und sagen ‚So hier, sieh mich an.‘, das fände ich cool, so ein Gefühl frei zu sein. Das ist als wenn ich entlassen werde aus der Einrichtung. Genau so wird es sein. Keine Vorschriften, von Niemandem. Das wird richtig geil.“

Unabhängig davon, wie viel Bedeutung die Jugendlichen ihren leiblichen Eltern noch zuschreiben, gilt: Zwar fordern nur wenige der Befragten für sich und oder die leiblichen Geschwister zum Zeitpunkt der zweiten Erhebungsphase noch die direkte Verantwor-tungsübernahme der leiblichen Eltern ein. Nichtsdestotrotz spielen sie im Leben der meisten jungen Menschen aber weiterhin eine wichtige Rolle. Zum Teil gelten sie für die

jungen Menschen noch immer als zentrale Unterstützer, zum Teil besteht nur der Wunsch, dass sie diese Rolle einnehmen. Selbst denjenigen, die mit eindeutiger Ablehnung auf die Ansprache der Herkunfts-familie reagieren, scheint es wichtig zu sein, die leiblichen Eltern von ihrem Wert und ihren Entwicklungsfortschritten zu überzeugen. Heimerziehung sollte hier sensibel sein. Sie sollte Elternkontakte ermöglichen und gezielt Elternarbeit leisten. Darüber hinaus gilt es, strukturierte Biographiearbeit anzubieten, die es den jungen Menschen ermöglicht, sich mit ihrer Herkunftsbiografie und dem Herkunfts-milieu zu arrangieren.

BetreuendeAuch wenn kaum einer oder eine der Be-fragten, die BetreuerInnen der Wohngruppe noch heute zu den besonders wichtigen Personen in ihrem Leben zählt, scheint vor allem deren Rolle erwähnenswert zu sein, wenn die Jugendlichen an ihre Zeit im Heim denken. Es lassen sich, trotz aller individu-ellen Besonderheiten, immer wiederkehrende Muster in den Beschreibungen von Betreuen-den durch die Befragten erkennen. Grob umrissen sind drei Typen von BetreuerInnen anzutreffen. Hierzu zählen die BetreuerInnen als Belastungsquelle, die BetreuerInnen als Unterstützende und die BetreuerInnen als FreundInnen bzw. Elternersatz. Diese sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden:

Die jungen Menschen brauchen funktio-nale und emotionale Unterstützung durch die BetreuerInnen.

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BetreuerInnen, in denen vorwiegend eine Belastungsquelle gesehen wird, stehen für die jungen Menschen häufig für misslingende Heimerziehung. Sie haben entweder eine zu stark ausgeprägte Tendenz zur Bestrafung oder zur Nachsichtigkeit. Die Jugendlichen bemängeln bei ihnen „Fehldeu-tungen“ ihres Handelns oder ihrer Motive, meist damit in Zusammenhang stehende Ungerechtigkeit und Inkonsequenz, insbeson-dere bei der Vergabe von Sanktionen. So klagt einer der Befragten wie folgt über das Verhalten seiner BetreuerInnen:

„Die ihre Regeln machen, gerade wie sie wollen. Wir haben zwar feste Hausordnung, aber die stellen mal einfach irgendwelche Regeln auf, die dann gelten. Wir kriegen dann Strafpunkte oder so z. B. jetzt keinen Führerschein machen.“ Später führt er weiter aus: „Die machen ihre Regeln von einer Minute auf die andere, wie sie wollen. Das ist schon sehr traurig.“

Insgesamt wird dieser Typ des Betreuenden von den Jugendlichen häufig als sehr fordernd erlebt, ohne dabei in der Lage zu sein, Trans- parenz zu zeigen und auf den Jugendlichen und seine Bedürfnisse einzugehen.

Die BetreuerInnen als Unterstützende sind dadurch charakterisiert, dass sie hauptsächlich beim funktionalen Kompeten-zerwerb sowie der Regelung von dringenden Angelegenheiten unterstützen. Die emotionale Komponente, also das soziale Miteinander, ist hierbei in den Beschreibungen der Jugend-lichen auf den ersten Blick sekundär. Es handelt sich um ein eher funktionales

Verhältnis, das auf die notwendige Bewälti-gung von drängenden Problemlagen zielt. Im Vordergrund scheinen hier Themen wie das Erlernen von Alltagsstruktur, die Erledigung von Ämterangelegenheiten, die Beseitigung von Schulschwierigkeiten oder die Hilfe bei Bewerbungen zu stehen. Bezüglich dessen, was die BetreuerInnen von den Jugendlichen fordern und welche Gegenleistung diese dafür erhalten, besteht weitgehend Transparenz. Mit anderen Worten die Regeln der Heimerzie-hung sind bekannt; von einer möglichen Verhandelbarkeit sprechen die Jugendlichen dabei aber eher selten. Die Befragten vertrauen in diesem Fall auf die fachlichen Kompetenzen und das Wissen der Betreuen-den, äußern aber kaum etwas, das auf eine insgesamt vertrauensvolle und Sicherheit bietende Beziehung hinweist.

Den BetreuerInnen, die als Freun-dInnen oder Elternersatz beschrieben werden, werden im Gegensatz dazu Werte wie Empathie, Vertrauen und Respekt zugeordnet. Sie unterstützen in der Wahrneh-mung der Jugendlichen vorwiegend auf emotionaler Ebene. Die Jugendlichen fühlen sich bei ihnen aufgehoben und verstanden. Nicht selten berichten diejenigen von ihnen, die einen solchen Betreuertypen beschreiben, auch von einem gegenseitigen Vertrauensver-hältnis, bei dem sich auch die Betreuenden auf eine persönliche Beziehung einlassen sowie von Anzeichen für eine ihnen entgegen-gebrachte Parteilichkeit der BetreuerInnen. Das gemeinsame Gespräch spielt in mehr-facher Hinsicht eine übergeordnete Rolle. So betonen viele der Befragten in diesem Zusam-menhang ihren Nutzen, den sie aus verbaler Bestätigung oder wohlwollenden Ratschlägen

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ziehen. Insbesondere scheinen sie sich positiv an solche Gesprächsthemen zu erinnern, bei denen es um ihre eigene Biographie und entsprechende Deutungsvorschläge ging. Zudem verdeutlichen die Aussagen der Befragten, dass hierbei auch die Verhandel-barkeit von Regeln eine Rolle spielte:

„Die diskutieren sehr viel, was einem dann manchmal auf die Nerven geht und man erst recht abblockt. Gut machen die, dass die so viel diskutie-ren, weil entweder man blockt ab oder man hört zu, blockt erst ab und wenn man dann im Zimmer ist, denkt man darüber nach.“

Unter Rückgriff auf die von der OECD (2005) zusammengestellte Definition von Schlüssel-kompetenzen, über die Menschen verfügen sollten, um sich in der modernen Welt erfolgreich zurechtzufinden, sind im Rahmen des Projektes solche Kompetenzen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt worden. Laut OECD sind es folgende drei Bereiche um die sich wichtige Schlüsselkompetenzen gruppieren: Die „Interaktive Anwendung von Tools“, das „Interagieren in Heterogenen Gruppen“ sowie „Eigenständiges Handeln“ (vgl. ebd., S. 11). Übersetzt in pädagogisches Vokabular könnte man den ersten dieser Bereiche als Methodenkompetenz, den zweiten als Sozialkompetenz und den dritten als Selbstkompetenz bezeichnen.

Richtungsweisend für das Projekt waren die Fragen, welche dieser Kompetenzen die jungen Menschen selbst als zentral empfin-den und inwiefern Heimerziehung zu deren Aus- bzw. Aufbau beitragen kann und sollte. Mit Blick auf das Ziel konzeptionelle Überle-gungen für die Heimerziehung aufzustellen

sowie auf den Inhalt des vorliegenden Interviewmaterials sollten dabei die Sozial- und Selbstkompetenzen der jungen Men-schen im Vordergrund stehen. Die Methoden-kompetenz hingegen hat nur am Rande Berücksichtigung gefunden.

SozialkompetenzBetrachten wir also zunächst den Bereich der Sozialkompetenz. Dass viele der Befragten der Sozialkompetenz einen hohen Stellenwert beimessen, lässt sich aus der übergeordneten Priorität ableiten, die sie – wie erläutert – ihren sozialen Kontakten einräumen. Die jungen Menschen benutzen den Begriff der Sozial-kompetenz zwar nicht, allerdings zeigen viele ihrer Aussagen, dass es ihnen wichtig ist, in eben diesem Bereich, dem „Umgang mit Menschen“, gut aufgestellt zu sein. Das Zulassen können von Nähe und Kontakt steht

3.2 Schlüsselkompetenzen junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

Die jungen Menschen möchten sozial kompetent sein. Die Wohngruppe kann sie dabei unterstützen.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 17

dabei an erster Stelle. Meist stehen hierauf zielende Aussagen im Zusammenhang mit Erfolgen, die sie in ihrer Heimzeit erreicht haben. So erklärt etwa ein 17-Jähriger:

„Ja, verbessert hat sich der Umgang mit Menschen. Damals hatte ich große Angst in Menschenmassen zu gehen.“

Diese Lernerfolge resultieren nicht ausschließ-lich aus der reinen Anwesenheit von vielen neuen Personen am Lebensort. Im Gegenteil: Einige der Befragten kritisierten sogar, dass das soziale Miteinander in den Gruppen häufig an dem Zusammenprall verschie-denster Multiproblembelastungen der BewohnerInnen leide. Die Lernerfolge werden von den Befragten vielmehr in Abhängigkeit zu dem Verhalten der BetreuerInnen in der Gruppe beschrieben. Hierzu ein anderes Zitat einer Befragten:

„Ich hab neue Leute kennen gelernt, ich war vorher total schüchtern und meine Betreuerin hat mich da total aufgepeppt, also ich kann jetzt auf die Straße gehen, einfach Leute anspre-chen, hätte ich früher nie gemacht und ich hab zu meiner Betreuerin auch immer noch Kontakt, obwohl das vom Jugendamt nicht bewilligt wurde. Das ist halt ab und zu mal quatschen.“

Eine besondere Bedeutung beim Erwerb der Sozialkompetenz kommt insofern dem Vertrauen der Jugendlichen zu den Fachkräf-ten zu. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist eine wichtige Eigenschaft des Einzelnen, um überhaupt in Beziehungen lernfähig zu werden.

Eine 16-jährige Jugendliche gibt an, sie habe plötzlich an sich selbst denken können, nachdem sie zuvor nahezu ausschließlich auf die Bedürfnisse ihrer Geschwister konzentriert war. Ein komisches, zum Teil trauriges Gefühl sei dies anfangs gewesen. Sie spricht damit exemplarisch für viele Andere die Fähigkeit an, eine Balance zwischen Selbst- und Fremdfürsorge einzuhalten. Nicht nur die Fähigkeit Nähe zuzulassen, sondern auch die Fähigkeit des Nein-Sagens, also der Abgren-zung in der sozialen Interaktion, scheint insgesamt ein wichtiges Thema zu sein, gerade für junge Frauen. Eine 19-Jährige bezieht sich ebenfalls auf diese Kompetenz:

„Ich habe gelernt, dass ich auch mal was für mich machen muss und nicht immer für Andere. Ich habe früher viel für meine Geschwister gemacht, weil meine Mama das einfach nicht geschafft hat. Und die haben mir gezeigt, dass eigentlich ich erst mal dran bin und nicht alle anderen.“

Auch diese junge Frau hat in der Wohngruppe gelernt, trotz des Zulassens von Nähe ebenso Distanz zu halten, sich abzugrenzen. Die Fachkräfte schlossen in der Diskussion aus ihren Aussagen, dass sie heute Konflikte besser eingehen und aushalten könne. Insgesamt habe sie die Fähigkeit erworben, soziale Kontakte differenziert zu bewerten und diese auch über längere Zeit aufrecht halten zu können.

Es geht darum Nähe zulassen zu können und zur Abgrenzung fähig zu sein.

18 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

Die Analyse des Interviewmaterials zeigte recht deutlich, dass die Reflexionskompetenz im Bereich des sozialen Miteinanders bei vielen Befragten zum Zeitpunkt T2 stark ausgeprägt ist. Dies gilt nicht nur für die Reflexion des eigenen Denkens und Handelns im Kontext des sozialen Miteinanders, sondern auch bezogen auf das Verständnis für das Handeln und die Motive Anderer. Ähnliches zeigten schon die Erkenntnisse zur Beziehungsgestaltung der jungen Menschen, gerade wenn es um die Beziehungen zur Herkunftsfamilie geht (s. hierzu Kap. 3.1). Die Fachkräfte bewerteten dies in der Diskussion als sehr positives Ergebnis von Heimerzie-hung: Viele Jugendliche würden erst in den Wohngruppen lernen, ihre sozialen Kompe-tenzen zu beschreiben und zu bewerten.

Dennoch beschreiben andere Befragte auch ihre „Isolation“ innerhalb der Gruppen. Wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt, ist der Aufbau von gruppeninternen, sicheren Freundschaf-ten eher selten. Ein junger Mann hierzu recht plakativ:

„Also mit den Jugendlichen habe ich ehrlich gesagt gar nichts zu tun, da kenn ich nicht einen von.“

Insgesamt zeigte sich aus Sicht der projekt-teilnehmenden Fachkräfte, dass eine Wohngruppe kein allein professionell gestalt-barer Trainingsraum für soziale Kompetenzen ist. Es gäbe viele Variablen und Einflüsse, die

kaum zu kontrollieren aber dennoch zu nutzen sind. Die Bedeutung der Erfahrungen in den Herkunftsfamilien für den Erwerb von Sozialkompetenzen ist, wie allgemein bekannt, sehr hoch. Eine zentrale Rolle spielt aber auch das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren BetreuerInnen. Diese können unter anderem als Vorbilder fungieren oder schlicht Mut machen, neue soziale Erfahrungen zu sammeln. Wichtig seien zudem weitere Lernräume neben der Schule und der Herkunftsfamilie. Auch die Gestaltung erster Partnerschaften ist ein wichtiges Lernfeld für das Erlernen sozialer Kompetenzen. Vielfach aber ist dieses Lernfeld brisant, da die Beziehungen von starken Konflikten, übertrie-benen Erwartungen, bis hin zu frühen Schwangerschaften geprägt sind. Hier könnte eine sensibel agierende Betreuung eine wichtige, emotionale Begleitung sein. Wichtig sei zudem eine Einbindung in weitere soziale Arrangements wie Sportvereine. In der Gesamtsicht der Interviews fällt aber auf, dass die Themen Freizeit, soziale Netzwerke und Vereine keine große Rolle in den Erzäh-lungen spielen. Dabei liegen aus Sicht der PraktikerInnen gerade in der Zusammenarbeit mit solchen Organisationen viele Chancen.

SelbstkompetenzInsofern man sich nun die Frage stellt, welche der Selbstkompetenzen es sind, die die jungen Menschen besonders betonen, trifft man insbesondere auf sehr „handfeste“ Kompetenzen, d. h. solche, deren Konse-quenzen vorzeigbar (direkt sichtbar) sind und entsprechend der Zielvorstellungen letztlich zu materieller Absicherung führen können. Hierzu zählen etwa messbar schulischer Erfolg, Ordnung, Disziplin oder der Umgang

Der Erwerb von Sozialkompetenz setzt verschiedene Lernfelder und Personen voraus, die in ihnen agieren.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 19

mit Geld. Kaum angesprochen sind hingegen solche Selbstkompetenzen, die für die Umwelt auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, wie zum Beispiel Durchhaltevermögen, Problemlösungskompetenz oder kognitive Kompetenz. Hier fällt auf, dass die Befragten weniger ihre Fähigkeiten als das Ergebnis dieser Fähigkeiten betonen. Hierzu ein junger Mann bezüglich seiner Entwicklung:

„A: Ja, dass ich jetzt, also die Situation, die ich jetzt im Moment habe, ist die, dass ich weiter hoch möchte. Also, dass ich mich jetzt weiter hoch arbeite und wo ich bei meiner Mutter war, da habe ich mich eher runter gearbeitet so Richtung Knast. Jetzt läuft das ein bisschen besser. So Straftaten so, wenn ich trinke, habe ich mich immer geschla-gen, jetzt ist es geringer merke ich selber auch. – F: Und wie findest du das? – A: Weniger blaue Flecken. Finde ich auch eigentlich ganz gut, weil meine Freundin, wenn jetzt ein Kind kommt und so, dann kann ich mich ja auch nicht jedes Mal schlagen oder so wenn irgendwie das Kind auch dabei ist oder so. Ich muss ja ein gutes Vorbild sein.“

Ähnlich räumen viele der Befragten der Fähigkeit eigenständig zu entscheiden und zu handeln höchste Priorität ein.

In der Diskussion um diesen Befund im Rahmen der Praxisworkshops mit den Fachkräften, ergab es sich, die von den jungen Menschen benannten Selbstkompe-tenzbereiche in zwei Kategorien aufzuteilen, in so genannte harte und weiche Kompetenzen. Harte Kompetenzen haben die Diskussions-teilnehmerInnen als diejenigen Kompetenzen definiert, welche direkt prüfbar sind, weil sie über einen hohen Grad an Außenwirkung verfügen. Die von den Jugendlichen diesbe-züglich benannten Kompetenzen berühren vorwiegend die Sach- bzw. Handlungsebene und stimmen, so die Fachkräfte, unter Rückgriff auf das eigene Praxiswissen, mit den häufig zwischen Jugendamt und Einrichtung vereinbarten Checklisten zur Überprüfung des Hilfeerfolgs überein. Vor allem die Erlangung von nach außen sicht-barer Selbstständigkeit steht hier im Vorder-grund, die wiederum die eigenständige Regelung von Angelegenheiten, den Umgang mit Geld oder das Halten von Ordnung beinhaltet. Den Begriff der „weichen Kompe-tenzen“ haben die DiskussionsteilnehmerIn-nen als Kompetenzen definiert, die wenig prüfbar sind, weil sie sich vorwiegend auf der inner-psychischen, emotionalen Ebene zeigen und nur eingeschränkt nach Außen sichtbar werden, gleichwohl kreisen natürlich auch sie um den weiten Bereich der Selbstständigkeit. So zum Beispiel die Fähigkeit zur Abgrenzung oder zur Selbstreflexion. Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Schablone nun den Bereich der Selbstkompetenzen und die diesbezüglichen Aussagen der Befragten über ihre Erfahrungen in der Heimerziehung, ergibt sich folgendes Bild:

Die jungen Menschen betonen den Erwerb handfester Selbstkompetenzen mit sichtbaren Erfolgen.

20 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

Die Mehrzahl der Jugendlichen setzt Heimer-ziehung vorwiegend in Verbindung mit dem Erwerb „harter Kompetenzen“, weniger mit dem „weicher Kompetenzen“. Beispielhaft kann hier die folgende Antwort eines Jugend-lichen auf die Frage angeführt werden, was ihm persönlich sein Heimaufenthalt gebracht habe:

„Auf jeden Fall, dass ich, wie das angefangen hat, dass ich überhaupt die eigene Wohnung gekriegt hab. Das hat ja anfangs dann auch erst mal nicht geklappt. Da ist ja jemand gekommen, um mit mir dann einzu-kaufen und das alles, damit man dann das Geld verwalten kann und so was alles. Das wurde dann einem beige-bracht und jetzt mit 19 Jahren würde ich aber schon behaupten, dass ich relativ selbstständig bin für mein Alter. Also krieg ich eigentlich schon alles hin von Wäsche waschen über Putzen und Kochen und alles hab ich schon drauf und das ist eigentlich positiv.“

Anders als im Falle der Sozialkompetenz und der „harten“ Selbstkompetenzen geben die analysierten Interviews nur wenig Aufschluss darüber, inwiefern die Heimerziehung den Erwerb der „weichen“ Selbstkompetenzen positiv begünstigen konnte. Nichtsdestotrotz benennen einzelne der Jugendlichen die eher weichen Kompetenzen. So erklärt etwa eine junge Frau:

„Ich habe gelernt, dass ich auch mal was für mich machen muss und nicht immer für Andere. Ich habe früher viel für meine Geschwister gemacht, weil meine Mama das

einfach nicht geschafft hat. Und die haben mir gezeigt, dass eigentlich ich erst mal dran bin und nicht alle anderen. [...] Ich habe halt gelernt, dass ich auch wirklich an mich selber denken muss und nicht immer nur an andere und das Nein-Sagen habe ich da gelernt. […] Ja, die [BetreuerInnen] haben mir halt gesagt, dass ich nicht immer ja ja sagen kann und nachher total überfordert bin.“

Die PraktikerInnen, die sich im Rahmen des Projektes mit möglichen Erfolgen von Heimerziehung im Hinblick auf die Selbstkom-petenz der jungen Menschen befassten, sahen den Grund für die Dominanz der harten Kompetenzen in den Aussagen der Jugend-lichen aber weniger in einer dies vermeintlich weniger berücksichtigenden Struktur der Heimerziehung, als in der Sache selbst. Weiche Kompetenzen seien generell schwer kognitiv sowie verbal zu fassen, deshalb nicht prüfbar und sowohl für die Fachkräfte als auch für die Jugendlichen selten/einge-schränkt kommunizierbar. Zudem sei es für Fachkräfte der Jugendhilfe nur bedingt möglich, den Erwerb weicher Kompetenzen zielgerichtet zu unterstützen. Es setzt mehr als der Bereich harter Kompetenzen gelin-gende Beziehungen voraus und vollzieht sich auf der informellen Lernebene. Deshalb sei es nur wenig intendiert zu beeinflussen.

Alles in allem lässt sich aber festhalten, dass der größte Stellenwert solchen Kompetenzen beizumessen ist, die trotz eines Grenzbe-wusstseins mit dem Selbstwirksamkeitsemp-

Die jungen Menschen sehen und erleben Erfolg, wenn sie sich als selbstwirksam empfinden.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 21

finden der Jugendlichen in Zusammenhang stehen. D. h., dass in der Gesamtsicht der Interviewpassagen der Eindruck dominiert, dass diejenigen Jugendlichen mit sich und ihrer Lebenssituation am zufriedensten scheinen, die sich selbst als aktive Gestalter ihres Lebens/der Situation empfinden und entsprechend handeln. Hierzu eine in puncto beruflicher Integration recht erfolgreiche junge Frau:

„Ich habe mein Abi gemacht. Mit einem für mich, fand ich, sehr guten Schnitt von 2,7. Und ja, dafür, dass damals keiner gedacht hätte, dass ich das schaffe, weil ich ja auch letztes Jahr ausgezogen bin aus der Wohn-gruppe und dann halt alleine hier jetzt wohne, dann halt im Sommer mein Abi gemacht habe, das war eigentlich schon so der Höhepunkt in den letzten zwei Jahren. Halt mit dem Auszug, aber eigentlich war es mehr das Abitur. Weil damals viele gesagt haben, ich soll lieber ne Ausbildung machen.“

Mit diesem Selbstwirksamkeitsempfinden in Zusammenhang stehend, sind dem Interview-material vorwiegend folgende weitere, wichtige Kompetenzen zu entnehmen, über die ein Teil der Befragten nach eigener Ansicht verfügt:

• Zielgerichtetheit• Wille zur Entwicklung• gesunder Realismus• Lern- und Reflexionsfähigkeit• gefestigtes Selbstbild• Bewusstsein der Selbstverantwortlichkeit

• situationsbezogene Selbstsorge• Mut, Optimismus, Zuversicht• Fähigkeit zum Transfers von der Reflexi-

ons- auf die Handlungsebene unter Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen

Die Frage, inwieweit dies bei den einzelnen befragten Jugendlichen bisher von der Heimerziehung beeinflusst wurde, kann zwar nicht für jeden Einzelfall beantwortet werden. Dennoch gibt es Hinweise auf diesbezügliche Unterstützung seitens der Heimerziehung. Eine Interviewte erklärte etwa in diesem Sinne:

„Also, ich würde sagen, wenn ich jetzt noch bei Mama gewesen wäre, dann hätte ich mein Abitur glaube ich auch nicht gemacht und somit war das eigentlich auch gut. Meine Betreuer haben auch gesagt, wenn du es machen willst, dann mach es. Und wir helfen dir dann auch. Also, es war jetzt nicht so, dass die gesagt haben, nein, du machst jetzt eine Ausbildung. Und ich hatte damals eine Ausbildungsstel-le, aber die haben dann gesagt, wenn du es machen willst, dann mach es und dann habe ich es auch gemacht.“

Meist handelt es sich dabei, wie auch in diesem Interviewausschnitt, um Beschrei-bungen von Betreuenden, die den jungen Menschen mit Vertrauen in das eigene Können und einem entsprechenden Unter-stützungswillen begegneten.

Obwohl das Material im Vergleich zur Sozialkompetenz nur wenig Aufschluss

22 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

darüber gibt, wie Heimerziehung die Selbst-kompetenzen junger Menschen fördern kann, waren auch hier konzeptionelle Ableitungen möglich. Wichtig seien, so die Fachkräfte, dass neben der funktionalen Unterstützung des Betreuenden im Bereich der harten Kompetenzen, der Auf- beziehungsweise Ausbau des Selbstwirksamkeitsempfindens der Jugendlichen besonders berücksichtigt würde. Denn wie die Analysen der Interview-passagen recht deutlich zeigten, sei gerade dies zentral für die erfolgreiche Ablösung aus den alten Bezügen des Heimkontextes in die folgende Eigenständigkeit. Problematisch dabei ist, dass es vorwiegend informell erlernt

werden kann, so dass die Fachkräfte kaum intendiert steuern, nur unterstützen können. Hierzu müssen Räume im Heimalltag geschaffen werden, die es den Jugendlichen mit Hilfe der Betreuenden erlauben, in einen Selbstaneignungsprozess zu treten, um eben dies zu tun. Lernräume wie diese wiederum setzen eine entsprechende, dies begünsti-gende Prioritätensetzung der Leitung der Einrichtung und der MitarbeiterInnen in der Gruppe u. a. voraus, die nicht auf starre Strukturen pocht. Eine solche Prioritätenset-zung umfasst vielmehr konzeptionelle Vorgaben und informelle Strukturen, die eher Möglichkeiten zur flexiblen Zeiteinteilung von Mitarbeitenden im Umgang mit den Jugend-lichen beinhalten als einen festen Terminplan und dezidiert ausgearbeiteten Strichlisten mit terminierter Zielvorgabe.

Wichtige Bereiche der Selbstkompetenz werden auf informellem Wege erlangt, Heimerziehung muss dem Rechnung tragen.

3.3 Berufliche Integration junger Menschen mit Heimerziehungserfahrung

Erfolg und berufliche Integration gehen für die Mehrzahl der Befragten direkt miteinan-der einher, wie bereits in Kapitel 2 erläutert. In diesem Zusammenhang war bisher unter anderem angesprochen, dass die jungen Menschen vorwiegend über klassische Lebenskonzepte rund um die Themen

Familie und Beruf verfügen und in der Mehrzahl relativ klare berufliche Ziele verfolgen.

Private Lebensziele und -pläne werden während der Priorität der beruflichen Integration zunächst hinten angestellt. Hierzu exemplarisch die Antwort eines 20-jährigen Mannes (aus T2), der seinen Realschulab-schluss nachholt, auf die Frage, wie es um seine Pläne mit der Partnerin stehe, eine Familie zu gründen:

Für die meisten jungen Menschen steht berufliche Sicherheit vor der Familien- planung.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 23

„Daran denke ich noch gar nicht, weil, ich sehe den Punkt eins, ich muss meinen Abschluss kriegen. Dann sehe ich Punkt zwei, nebenbei vielleicht eine Ausbildung zu suchen. Auch Berufsausbildung abzuschließen. Das sind locker drei bis vier Jahre und dann kann man weiter schauen. Kann sein, dass ich bis dahin schon von ihr getrennt bin. Kann sein, dass ich immer noch mit ihr zusammen bin, aber da gucke ich nicht hin; ich gucke Schritt für Schritt. Ich denke jetzt gar nicht ans Kind, weil ich es eh nicht bezahlen könnte und daher ist das ein sinnloser Punkt.“

So wie dieser Interviewte geben auch andere an, zunächst berufliche Sicherheit anzustre-ben, bevor sie das Ziel der Heirat, der Familiengründung, des Zusammenzugs forcieren wollen. Sie möchten die Schule abschließen, ihre Ausbildung beenden und Geld verdienen können. Einem Teil der jungen Menschen ist die Zufriedenheit durch berufliche Erfüllung dabei sehr wichtig, mehr noch als die familiäre Zufriedenheit. Diverse Interviewausschnitte verdeutlichen demge-genüber, dass es vielen Anderen weniger darum zu gehen scheint, Erfüllung im Beruf oder zuvor in der Ausbildung zu finden, als darum, möglichst schnell „Geld zu verdienen, egal wie“ (Interviewter 9) und somit materielle Absicherung für sich und die zukünftige Familie zu erhalten.

Einer erfolgreichen beruflichen Integration stehen nur sehr selten die Absichten der Befragten entgegen. Letztlich ist die Umset-zung der beruflichen Ziele bisher aber nur

einer kleinen Gruppe der Befragten gelungen (vgl. Kap. 2). Auf der einen Seite ist der Grund hierfür für einen Teil der jungen Menschen schlicht in ihrem Alter zu finden, ihr Lebens-weg hat sie noch nicht an diesen Punkt gebracht. Auf der anderen Seite sind die Gründe für einen anderen Teil aber altersun-abhängiger Natur. Es mangelte nicht selten an den persönlichen Möglichkeiten, ihre Ziele auf die Handlungsebene zu transferieren. Wichtig, das erklären auch die Befragten selbst, ist unter anderem, dass notwendige Schlüssel-kompetenzen vorliegen, insbesondere solche rund um das Empfinden von Selbstwirksam-keit. In diesem Sinne beschreibt beispielswei-se eine junge Frau recht detailliert, was sie tun müsse, um ihre beruflichen Ziele zu erreichen:

„Ich würde mal sagen, auch ganz viel an mich glauben. Weil ich ein Mensch bin, der ganz viel an andere glaubt, aber nicht an sich selber. Also, wenn ich auch mal was schaffe, unterbuttere ich das so ein bisschen. Oder ich auch mal eine eins schreibe, dann rege ich mich erst voll über etwas auf und sage „boar alles scheiße“ und dann so im Nebensatz, sag ich dann mal eben „ja, ich hab eine eins geschrieben“ oder so. Also das, was ich in den letzten Jahren auch geschafft habe, sehe ich nicht so ein. Ich sehe das nicht so, wie andere Leute jetzt sagen würden, hast du toll gemacht und so.“

Berufliche Integration scheitert nicht an den Absichten der jungen Menschen, sondern an ihren Möglichkeiten.

24 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

Dies allein scheint, so ergab die Materialana-lyse, aber nicht auszureichen. Daneben stellen die Kompetenzen zur realistischen Einschätzung der eigenen Lebenssituation, des eigenen Könnens, zum Setzen von Teilzielen und die Rahmenbedingungen begünstigende Momente dar. Das Wissen darum etwa, dass es sehr schwierig sein kann, eine Balance zwischen Familie und Beruf herzustellen, scheint dabei gerade junge, familienorientierte Frauen zu beschäfti-gen. So möchte beispielsweise die bereits zitierte junge Frau sicherstellen, dass sie

„auch irgendwann mal eine Familie gründen kann und dass ich die ernähren kann. Das ich sie wirklich ernähren kann. Dass ich halt auch einfach nicht unbedingt einen Job haben kann, aber das ich alles gut bei denen mache, wenn ich Kinder kriege. Das ich nicht den Fehler wie meine Mama mache und nicht einfach Kinder mache, obwohl man nicht merkt, dass man sie nicht alle lieben kann. Das will ich zum Beispiel nicht. Ich will ein Kind kriegen und dann in drei, vier Jahren das nächste und nicht alle so gesehen auf einmal und dann hast du da ganz viele Kinder sitzen und du weiß nicht, was du machen sollst. “

Hauptsächlich benennen die Befragten soziale Komponenten als wertvolle Unterstüt-zungskriterien auf ihrem Weg zur beruflichen Integration: AnsprechpartnerInnen, die eigene Familie, Beziehungen und Freunde verspre-chen den Rückhalt, um die beruflichen Pläne umsetzen zu können. Diese wichtigen Personen im Leben unterstützen, indem sie

Möglichkeiten zur Rückkoppelung bieten, beim Kompetenzerwerb helfen und Verant-wortung für die jungen Menschen überneh-men. Anhand des Interviewmaterials wird deutlich, dass die Jugendlichen sich Mitarbei-ter und Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen wünschen, die sie nicht „aufgeben“. Beson-ders harte Worte für diesbezügliches „Fehl-verhalten“ seiner BetreuerInnen findet ein 20-Jähriger. Im Wissen darum, dass man es mit ihm schwer hatte, klagt er:

„Schlecht fand ich, die ganzen Betreuer, in meiner ganzen Laufbahn, in jedem Heim in dem ich war, haben zu schnell aufgegeben. Sie haben es zwei, drei Mal mitgemacht und beim vierten Mal sind sie gegangen. Durch meine Erfahrung müssten die die ganze Zeit dran bleiben, egal wie anstrengend er ist, egal wie aggressiv. Die dürfen nicht locker lassen, weil sonst krieg, wie z. B. ich, ich hab meinen Willen bekommen. O.K., jetzt regen die sich auf und jetzt hab ich meine Ruhe. Also, da finde ich, sollte jeder Betreuer ein bisschen Durchhaltevermögen haben, auch zeigen, auch bisschen härter dran gehen, wenn es mit der ruhigen Art und Weise nicht geht.“

Wie schon dieses Zitat vor dem Hintergrund des Alters diesen jungen Mannes spekulieren lässt, spielt auch der Faktor Zeit eine wichtige Rolle, wenn es um die berufliche Integration geht. Dem eigenen Lebenstempo folgen zu

Gefordert sind verlässliche Beziehungen zu Personen, die nicht aufgeben.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 25

können, die Möglichkeit zu haben, Schritt für Schritt vorzugehen und nicht an gesellschaft-lichen Zeitvorgaben scheitern zu müssen, stelle, so die Fachkräfte in der Diskussion um das Material, einen weiteren perspektivisch positiv wirkenden Unterstützungsfaktor dar. Viele der jungen Menschen mit Heimerzie-hungserfahrung sind in ihrer Jugend, einer Zeit, in der laut des gesellschaftlich vorgese-henen Zeitplans zentrale Bausteine für späteren beruflichen Erfolg gelegt werden, mit Problemlagen konfrontiert, die eine Konzen-tration hierauf erschweren. Mitunter, so zeigten einzelne Aussagen der Befragten, brauchen sie deshalb etwas länger als Jugendliche mit „Normalbiografien“, um die einzelnen Schritte hin zu einer erfolgreichen beruflichen Integration zu meistern.

Mit Blick auf die Kritik, die Heimerziehung habe „zu schnell aufgegeben“, sind konzeptionelle Aspekte gefragt, die es Fachkräften ermögli-chen, auch in „schwierigen Fällen“ größeres Durchhaltevermögen zu zeigen. Die Fachkräfte sahen in einer akzeptierenden und wertschät-zenden Haltung der Mitarbeiter und Mitarbeite-rinnen den wesentlichen Aspekt, um der Forderung der Jugendlichen nach einem stärkeren Durchhaltevermögen nachkommen zu können. Es sei erforderlich, Mitarbeitende diesbezüglich zu unterstützen, z. B. durch

Fort- und Weiterbildungen, aber auch durch Team- und Fallsupervisionen. Sowohl für ältere als auch für jüngere MitarbeiterInnen müssten Unterstützungssysteme geschaffen werden, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind und die sie in die Lage versetzen, dass geforderte „Durchhaltevermögen“ zu zeigen. Insbesonde-re Maßnahmen zur Prävention von „Burn-Out-Syndromen“ sollten strukturell verankert sein.

Da für viele der jungen Menschen die zu knapp bemessene Zeit zum Erwerb von Grundvoraussetzungen für die berufliche Integration (Schulabschluss, Berufsausbil-dung) eine entscheidende Rolle spielt, sollten Maßnahmen ergriffen werden, mit denen verhindert werden kann, dass dieses langfri-stig biographische Negativkonsequenzen mit sich bringt. Möglichkeiten hierzu seien, so die projektteilnehmenden Fachkräfte, u. a. der erhebliche Ausbau der Hilfen gemäß § 41 SGB VIII und der Aufbau von und die Gewöhnung an weitere professionelle und private Netz-werke, die im Anschluss an die Heimzeit weiter bestehen bleiben. Für die Heimerzie-hung selbst, sei es zentral eine strukturierte (und finanzierte) Nachbetreuung der jungen Menschen zu organisieren, zumindest aber sollten Möglichkeiten gefunden werden, den Kontakt zwischen Einrichtung und jungem Menschen zu halten. Besonders positiv wäre aber, wenn Einrichtungen einen Bereich speziell für die „Nachbetreuung“ etablieren könnten. Denkbar sei dies zum Beispiel als offenes Angebot mit festen Bezugspersonen.

Auch nach dem 18. Lebensjahr brauchen die jungen Menschen Unterstützung bei ihrer beruflichen Integration.

Betreuende brauchen organisierte Unterstützung, um auch in schwierigen Fällen konstant unterstützen zu können.

Wichtig sind tragfähige Netzwerke und ein Ausbau der Hilfen gemäß § 41 für die Zeit nach der Heimerziehung.

26 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

4. Konzeptionelle Konsequenzen für die Praxis der Heimerziehung

Die Analyse des Interviewmaterials ergab, dass die jungen Menschen größtenteils über sehr klassische Lebenskonzepte verfügen. Erfolg in der Zukunft setzen sie mit einer gelingenden beruflichen Integration und dem Erhalt stabiler sozialer Beziehungen gleich. Weiter zeigte die Analyse, dass besonders drei Faktoren relevant sind: Die Beziehungen der jungen Menschen zu FreundInnen, Familie und BetreuerInnen, ihre Selbst- und Sozial-kompetenz sowie die Integration in die Arbeitswelt selbst. In der Heimerziehung gilt es deshalb, diese besonders zu fördern.Die Frage, was Heimerziehung hinsichtlich der drei zentralen Gelingensfaktoren leisten könne und solle, beantworten die projektteilneh-menden Fachkräfte auf Basis das Interview-materials sowie ihrer Feldkenntnis wie folgt:

BeziehungsgestaltungWegen der hohen Relevanz von Beziehungen zur Herkunftsfamilie müsse vor allem diese Berücksichtigung bei der Arbeit am Unterbrin-gungsort finden. Hierzu gilt es, die notwendi-gen Rahmenbedingungen herzustellen. Dazu zählen die folgenden Aspekte:

• Verankerung von Elternkontakten und Zusammenarbeit mit Eltern in der Konzep-tion und in Konzepten,

• Supervision mit Blick auf den Umgang/Kontakt zur Herkunftsfamilie, inklusive den Einstellungen den leiblichen Eltern gegenüber und

• Geschwisterkontakte ermöglichen und begleiten.

Außerdem sind entsprechende Haltungen und Kompetenzen der MitarbeiterInnen zu fördern. Dies wird über folgende Faktoren möglich:

• Vorhandensein eines Klimas in der gesamten Einrichtung, das die Eltern wertschätzt, ihnen mit Respekt, Toleranz für Fehler und unterschiedliche Lebens-konzepte begegnet,

• Postulat des „Schulterschlusses“ mit den leiblichen Eltern (nicht nur laut Konzeption, auch auf Ebene impliziter Haltungen) und

• Perspektivwechsel in Teamsitzungen.

Nicht zuletzt ist die in der Gruppe gewählte Methodik anzupassen. Diese soll immer auch folgende Punkte beinhalten:

• Rückkehrmanagement ab dem Tag der Aufnahme (nicht nur räumlich, ggf. auch im Sinne einer Rückkehr von Kontakt),

• individuelle Passung: womöglich Einbin-dung der leiblichen Eltern in den Alltag,

• Kreativität bei der Gestaltung von Kontak-ten, individuell erstellte Pläne und Sprache im Kontakt mit den jeweiligen Eigenheiten der Personen,

• intensive, systematische Biographiearbeit, z. B. Erarbeitung eines „Lebensbuches“, zur Einordnung des aktuellen Lebensortes „Heim“ in den Kontext der eigenen Biographie („etwas mitnehmen“),

• ggf. parteiliche Anwaltschaft für das Kind und zugleich Zusammenarbeit mit den Eltern ermöglichen, durch Einsatz ver-schiedener MitarbeiterInnen.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 27

Weiter sind Freundschaften außerhalb der Einrichtung als wichtige Komponente im Leben der jungen Menschen anzuerkennen. Kontakte, die nicht als gefährdend, sondern als positiv oder neutral bewertet werden, sind

• als Unterstützer ins Haus zu holen,• in den Alltag einzubinden (z. B. durch

Teilnahme an Veranstaltungen oder gemeinsame Hausaufgabenhilfe),

• ggf. ins Hilfeplangespräch einzubinden (bei Wunsch des Jugendlichen),

• und ähnlich wie Familienmitglieder zu behandeln (im Sinne von Regelungen zu „Besuchskontakten“, Übernachtungsrege-lungen bei Partnerschaft u. a.).

Der Aufbau von freundschaftlichen Bezie-hungen unter den BewohnerInnen sollte trotz aller Schwierigkeiten unterstützt werden. Hierzu sollten

• ritualisierte Abläufe bei der Aufnahme und Entlassung in die Gruppe vorhanden sein,

• Räume für Begegnung in der Gruppe geschaffen werden und

• vermehrt das Wir-Gefühl stärkende Gruppenaktionen vorgenommen werden.

Da das Verhältnis zu den BetreuerInnen eine sehr zentrale Rolle für die Entwicklung von Kompetenzen und die berufliche Integration der jungen Menschen zu spielen scheint, sollte hier viel Energie investiert werden. Wichtig sei, so schlossen die Fachkräfte aus den Aussagen der jungen Menschen, dass die BetreuerInnen sowohl funktional als auch emotional unterstützend handeln (können). Betreuende sollten in diesem Sinne

• authentisch und wertschätzend handeln,• Regeln ernst nehmen, sie aber auch nicht

als Selbstzweck ansehen,• bei schwierigen Jugendlichen in der Lage

sein, zwischen der Person und ihrem Verhalten zu unterscheiden,

• exklusive Zeit anbieten, in der sie allein für einen jungen Menschen verfügbar sind

• und Partizipation und Mitsprache der jungen Menschen ermöglichen.

Schlüsselkompetenzen: Sozial- und SelbstkompetenzSoziale Kompetenzen sind für die jungen Menschen besonders relevant und erwäh-nenswert. Heimerziehung birgt das Potenzial, sehr förderlich auf die Entwicklung von Sozial-kompetenzen bei ihren AdressatInnen zu wirken und tut dies erfreulicherweise in vielen Fällen bereits. Allerdings entstehen die Erfolge der Heimerziehung nicht kontextlos, sondern vielmehr in Abhängigkeit zu dem Verhalten der Fachkräfte und zu den gruppeninternen Beziehungen der Jugendlichen untereinander. Diese sollten deshalb auch aus diesem Grund Förderung genießen.

Das Selbstwirksamkeitsempfinden als A und O der Selbstkompetenz der jungen Menschen sollte gestärkt werden. Heimerziehung sollte hierzu, neben den selbstverständlich nicht zu umgehenden Vorgaben aus Hilfeplänen,

• Vertrauen zeigen und die Eigeniniti-ative der Jugendlichen wo möglich fördern,

• dabei Räume des Ausprobierens bereitstellen,

• gemeinsame Vorbereitung wichtiger Termine (HPGs, Schulgespräche usw.),

28 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

z. B. mit Hilfe von Rollenspielen forcieren

• und eine Haltung der MitarbeiterInnen aus Einrichtung und Jugendamt begünstigen, bei der die Jugendlichen selbst den Takt vorgeben.

• Experimentierfreundlichkeit mit-bringen,

• als Ausdruck einer spezifischen Haltung der Fachkräfte,

• einer Methodik die Kreativität und eine individuelle Passung vorgibt,

• und mit einem Erlauben von Fehler-freundlichkeit,

• und die Partizipation der Jugend-lichen im Gruppenalltag zulassen,

• indem das Gruppenklima offen für Teilhabe ist,

• eine Offenheit gegenüber Wünschen besteht,

• eine Aufklärung über Rechte (bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Rechte des Anderen) erfolgt

• die Gruppe als Übungsfeld für Rechte angesehen wird,

• Mitbestimmung des Jugendlichen im Alltag möglich ist,

• und Strukturen flexibel gehalten sind und dort, wo Flexibilität beziehungswei-se Verhandelbarkeit nicht möglich ist, dies und die Gründe dafür klar benannt werden.

Umfassend möglich ist dies vor allem dann, wenn es sich in der Kultur der gesamten Einrichtung widerspiegelt. Die Kultur sollte deshalb dadurch gekennzeichnet sein, dass

• Anregungen der Jugendlichen ernst genommen werden (z. B. in Gruppenge-sprächen und Jugendparlamenten),

• je nach Einrichtungsgröße Begegnungen und Kontakt auch zwischen Jugendlichen und Einrichtungsleitung möglich sind

• und ein Verhältnis zwischen der Leitung und den MitarbeiterInnen besteht, welches das Handeln der Fachkräfte fördert (Kultur der gegenseitigen Offenheit).

Berufliche IntegrationAls Querschnittsthema zu den bislang genannten Ebenen muss sich die Arbeit in der Heimerziehung auch hinsichtlich einer gelingenden Integration in den Arbeitsmarkt auszeichnen durch

• Transparenz, • Partizipation und• Fehlerfreundlichkeit.

Diese Aspekte gilt es, konzeptionell und strukturell umfassend zu verankern. Wie beschrieben, scheint es den jungen Men-schen selbst hinsichtlich ihrer Integration auf dem Arbeitsmarkt aber besonders wichtig, dass Fachkräfte dort Durchhaltevermögen zeigen, wo sie selbst es nicht können. Um dies zu ermöglichen, sollten diese Fachkräfte durch Folgendes unterstützt werden:

• Fort- und Weiterbildungen,• Team- und Fallsupervisionen,• Unterstützungssysteme, die auf die

Bedürfnisse der Fachkräfte abgestimmt sind,

• Maßnahmen zur Prävention von „Burn-Out-Syndromen“.

Übergänge in die Zeit nach dem Heim 29

Daneben spielt für viele der jungen Menschen die zu knapp bemessene Zeit zum Erwerb von Grundvoraussetzungen für die berufliche Integration (Schulabschluss, Berufsausbil-dung) eine entscheidende Rolle. Damit dieses nicht weit reichende biografische Konse-quenzen hat, sollten folgende Bedingungen erfüllt sein:

• Das Vorgehen mit individueller Passung,• die zeitnahe sowie zukunftsgerichtete

Vorbereitung der Hilfe und der Hilfeschritte: individuellen Bedarf im Hilfeplan rechtzeitig benennen/verfolgen (Alternativen planen),

• ein Ausbau der Hilfen gemäß § 41 SGB VIII,

• der Aufbau von und die Gewöhnung an Netzwerke/n (professionell und privat),

• das Ernstnehmen fachlicher Aussagen über zeitliche Bedürfnisse seitens der Jugendämter,

• eine Nachbetreuung und das Halten von Kontakt nach der Zeit im Heim und

• die Etablierung eines Bereichs „Nachbe-treuung“ an der Einrichtung, ggf. in Form eines offenen Angebots mit festen Bezugspersonen.

30 Übergänge in die Zeit nach dem Heim

5. Schlusswort und Ausblick

Die vorliegende Broschüre zeigt, wie viel die jungen Menschen selbst über ihre Erfah-rungen mit Heimerziehung, ihre Ziele und Wünsche sowie ihre Möglichkeiten zu sagen haben. Auch wird deutlich, wie kompetent viele darin sind, das Erlebnis Heimerziehung in den Kontext ihrer eigenen Biografie einzuordnen und wie wichtig es für die Praxis der Heimerziehung sein sollte, sie danach zu fragen, um die eigene Arbeit zu verbessern. Nicht zuletzt ist es den teilnehmenden Einrichtungen und ihren Fachkräften zu verdanken, dass das Projekt dort nicht stehen blieb. Ohne sie wären das Projekt sowie diese Broschüre nicht möglich gewesen. Viele der Einrichtungen haben bereits im Zuge der Langzeitstudie Jugendliche zur Teilnahme motiviert. Neben ihren wichtigen Aufgaben in den Einrichtungen, haben ihre Fachkräfte dem Projekt nun auch ihr Fachwissen, ihre Feldkompetenz sowie ihre Zeit zur Verfügung gestellt, um sich gemeinsam mit den Vertrete-rInnen der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e. V. und der Fachhochschule Münster den Aussagen der jungen Menschen zu widmen und von ihnen ausgehend konzeptio-nelle Überlegungen für die Praxis zu formulie-ren.

Eine wichtige Erkenntnis des Projektes ist es, dass viele konzeptionelle Bausteine deutlich stärker in den Blick genommen werden sollten, deren Zentralität für die Heimerzie-hung in der Fachwelt bereits anerkannt ist. Dies gilt z. B. für die Elternarbeit und -kon-takte, die Beziehungsarbeit der Betreuenden oder die Gestaltung von Partizipationsmög-lichkeiten in den Einrichtungen. Viele bekann-

te Bausteine sind auch für das Gelingen des Übergangs in die Zeit nach dem Heim entscheidend und sollten vor diesem Hintergrund neu durchdacht werden. Eine Mehrzahl der konzeptionellen Überlegungen ist dabei stark von den individuellen Kompe-tenzen und Haltungen der Betreuenden abhängig. Weiter hat sich das Thema der Nachbetreuung als besonders zentral herausgestellt. Hilfen sollten nicht mit der Volljährigkeit enden, sondern sich auch zeitlich an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientieren, damit Übergänge gelingen können.

Abschließend ist aber darauf hinzuweisen, dass es nicht nur in den Händen der jungen Menschen, der Betreuenden und der Einrich-tungen liegt, ob der Übergang vom Heim in die Zeit danach gelingt. Es hängt in vielen Fällen auch von der sozialpolitischen Frage ab, ob es möglich ist, wichtige konzeptionelle Überlegungen in der Praxis umzusetzen. Eine zentrale Baustelle scheint dabei gerade das Thema der (Anschluss-)Hilfen nach Erlangung der Volljährigkeit zu sein. Zu oft wird etwa berichtet, dass es an finanziellen Mitteln und strukturellen Rahmenbedingungen in Kommu-nen fehlt, um eine tragfähige Weiterbetreuung der jungen Menschen nach ihrer Heimzeit gewährleisten zu können. Gleiches gilt für die Vermittlung in Anschlusshilfen, die häufig nicht finanziert werden. Möchte man Heim-jugendliche nicht als BildungsverliererInnen zurücklassen, ist hier das Handeln der Kommunen gefragt.

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Diese Broschüre geht auf vier Expertenworkshops zurück, an der folgende Einrichtungen beteiligt waren:

Eylarduswerk, Bad Bentheim

Ev. Stiftung Ummeln, Bielefeld

Jugendhilfe Bethel OWL, Bielefeld

Ev. Stiftung Overdyck, Bochum

Wichernhaus, Bottrop

Fürstin-Pauline-Stiftung, Detmold

Kiwo-Jugendhilfe Dülmen, Dülmen

Kaiserswerther Jugendhilfe gGmbH, Düsseldorf

Diakoniewerk Essen, gemeinnützige Jugend- und Familienhilfe GmbH, Karl-Schreiner-Haus, Essen

Friedrich-Wilhelm-Stift gGmbH, Hamm

Jugend- und Sozialwerk Gotteshütte e.V., Hückeswagen

Kinder-, Jugend- und Familienhilfe kreuznacher diakonie, Haus Zoar, Hüttenberg-Rechtenbach

Rheinische Gesellschaft, Leichlingen

Evangelische Jugendhilfe Oberhausen gemeinnützige GmbH, Oberhausen

Diakonie in Ratingen Jugendhilfe U25, Ratingen

HPZ e.V., Selfkant

Kinder- und Jugendhilfekonzepte, Unna

Jugendhilfe Werne, Werne

Literatur

Mayring, P. (2002): Einführung in die Qualitative Sozialforschung, Belz Verlag, Weinheim und München

Olk, Thomas (2008): Zwischen Konflikt und Solidarität. Zum Wandel der Generationenbezie-hungen in der modernen Gesellschaft. In: DJI (Hg.); Impulse. Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts, Heft 1/2012 , S. 4 ff.

Treptow, Rainer (2009): Gegenwart gestalten – auf Ungewissheit vorbereiten. In: Hast, Jürgen u. a. (Hg.): Heimerziehung und Bildung. IGfH-Eigenverlag, Frankfurt am Main

OECD (2005): Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. PDF unter: http://www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf

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