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RALF KLAUSNITZER Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand. Zur Imaginationsgeschichte geheimer Gesellschaften in der Vorromantik und bei Ludwig Tieck Vorblatt Publikation Erstpublikation: Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (Hrsg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn!“: Ludwig Tieck (1773-1853) (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; 9) Bern u.a.: Peter Lang 2004, S. 71-112. Neupublikation im Goethezeitportal Vorlage: Datei des Autors, URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/klausnitzer_kirche.pdf> Eingestellt am 23.08.2004 Autor Dr. Ralf Klausnitzer Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Deutsche Literatur Unter den Linden 6 10099 Berlin Emailadresse: <[email protected]> Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel das Datum der Einstellung oder des letzten Updates und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Be- suchs dieser Online-Adresse anzugeben. Ralf Klausnitzer: Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand. Zur Imaginations- geschichte geheimer Gesellschaften in der Vorromantik und bei Ludwig Tieck (23.08.2004). In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/klausnitzer_kirche.pdf> (Datum Ihres letzten Besuches).

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RALF KLAUSNITZER

Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand. Zur Imaginationsgeschichte geheimer Gesellschaften

in der Vorromantik und bei Ludwig Tieck

Vorblatt

Publikation Erstpublikation: Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (Hrsg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn!“: Ludwig Tieck (1773-1853) (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; 9) Bern u.a.: Peter Lang 2004, S. 71-112. Neupublikation im Goethezeitportal Vorlage: Datei des Autors, URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/klausnitzer_kirche.pdf> Eingestellt am 23.08.2004 Autor Dr. Ralf Klausnitzer Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Deutsche Literatur Unter den Linden 6 10099 Berlin Emailadresse: <[email protected]> Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel das Datum der Einstellung oder des letzten Updates und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Be-suchs dieser Online-Adresse anzugeben. Ralf Klausnitzer: Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand. Zur Imaginations-geschichte geheimer Gesellschaften in der Vorromantik und bei Ludwig Tieck (23.08.2004). In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/klausnitzer_kirche.pdf> (Datum Ihres letzten Besuches).

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RALF KLAUSNITZER

Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand. Zur Imaginationsgeschichte geheimer Gesellschaften

in der Vorromantik und bei Ludwig Tieck Ludwig Tieck war 58 Jahre alt und hatte als Dramaturg am königlichen Theater in Dresden erstmals in seinem Leben eine Stelle, ein Gehalt und einen Titel („Hofrat IV. Classe“) inne, als im Novellenkranz auf das Jahr 1831 die Novelle Die Wundersüchtigen erschien. Der 1829 entstandene Text schildert die Ver-wirrungen, die zwei konspirativ agierende Geheimbund-Emissäre in zwei Städ-ten, insbesondere aber in der Familie eines Geheimrats anrichten. Die Hand-lungszeit der Novelle ist ziemlich genau markiert, denn im ersten der zahlreichen Dialoge wird die Furcht vor einem erneuten Aufflammen mysti-zistischer Praktiken mit einem Hinweis auf die lebenden Garanten der Aufklä-rung abgewiesen:

So lange noch solche Geister in Deutschland regieren, wie hier uns nahe Friedrich der Zweite, und dort Joseph der Zweite, so lange noch ein Mann wie Lessing schreibt und wirkt, haben wir Nichts zu fürchten.1

Der Leser findet sich also in die Jahre vor 1781 zurückversetzt – und damit nicht nur in die Kinderzeit des Autors, sondern auch in die bewegte Zeit der Spätaufklärung, in der Geheime Gesellschaften und ihre mysteriösen Begleiter-scheinungen die Gemüter bewegten. Mit dem Abstand von 50 Jahren führt Tiecks Novelle die Zerstörung und die Restauration der aufgeklärten Vernunft vor. Die Aktivisten dieser Destruktion sind die Bundes-Emissäre Sangerheim und Graf Feliciano, die sich mit der Demonstration angeblich magischer Kräfte der Familie des Geheimrats von Seebach bemächtigen, die aufgeklärte Öffent-lichkeit einer Residenzstadt okkupieren und das Logenwesen der Freimaurer untergraben. Sich als Meister konkurrierender Geheimgesellschaften ausge-bend, inszenieren sie Wundertaten und versprechen ihren Adepten die Einwei-hung in immer tiefere Geheimnisse, was verständlicherweise beständig ver-schoben wird. So versammeln sie eine wachsende Schar von Anhängern um sich, die ihren Verheißungen Glauben schenken, bis die Radikalisierung ihrer Vorhaben zur Entlarvung führt: Sangerheim fordert den Protestanten Seebach zur Konversion auf und entpuppt sich als Emissär jesuitischer Propaganda, der selbst von „unbekannten Oberen“ gelenkt und geleitet wird. Der Magier Felici-ano gibt sich als Inkarnation des Messias zu erkennen und macht auf diese Weise das Maß voll, denn diesem Frevel kann nur die Entthronung folgen. Von seiner Selbstinszenierung und exzessivem Alkohol-Genuß berauscht, entlarvt er sich selbst lallend als skrupelloser Betrüger – und seinen Adepten, allen vor-

1 Die Wundersüchtigen. In: Ludwig Tieck’s Schriften, Bd. XXIII, Berlin 1853, S. 164.

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an dem verführten Sohn des Geheimrats von Seebach, gehen endlich die Augen auf. Der Freitod des jesuitisch manipulierten Sangerheim, die Heimkehr des verlorenen Sohnes und das Bekenntnis der Verführten zur Vernunft bilden den Schluß.

Auf den ersten Blick zeigen Erzählstruktur und Handlungsverlauf keine be-sonderen Auffälligkeiten: Es gibt konspirative Akteure und mehr oder weniger unschuldige Bürger, sinistre Machinationen sowie eine sukzessive Entfaltung von „Schwärmerei“ und „Wundersucht“ bis zur schließlichen Vernichtung der Obskurantisten durch Entlarvung ihrer Geheimnisse. Die Re-Integration der Getäuschten in eine bürgerlich-vernünftige Lebensordnung stellt die Harmonie des Anfangs wieder her. Die Forschung hat diese Novelle, deren Handlung durch ausufernde Gesprächspartien mit Reflexion von verschiedenen Stand-punkten aus erweitert und kommentiert wird, denn auch als ein Exempel für „die Neigung des alten Tieck zu tendenziöser und dadurch simplifizierender Darstellung“2 verbucht.3 Doch einer genaueren Lektüre offenbart der Erzähl-text eine Fülle von Anspielungen und Verweisen, die ein breites kulturhistori-sches Wissen dokumentieren und durch umfassende Kontextualisierung zu er-schließen sind: In fiktionaler Gestaltung finden sich nicht allein Hinweise auf die Praxis der Gold- und Rosenkreuzer, die den preußischen Kronprinzen und seit 1786 regierenden König Friedrich Wilhelm II. folgenreich manipulierten, sondern auch vielfältige Anschlüsse an die vor allem in der Berlinischen Mo-natsschrift von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester intensiv kolportierte These von der jesuitischen Unterwanderung der aufklärerischen Arkangesell-schaften. Daneben enthält die Novelle kenntnisreiche Beschreibungen des sog. Magnetisierens, d.h. jenes Suggestionsverfahrens auf der Basis des von Franz Anton Mesmer entdeckten „animalischen Magnetismus“, das von „Magneti-schen Gesellschaften“ praktiziert wurde und dessen Verbindung mit der Praxis diskreter Assoziationen ebenfalls einen Hauptgegenstand in der Publizistik der Spätaufklärung bildete.

Zugleich belegt die Novelle Die Wundersüchtigen mit ihrer Gestaltung kon-spirativer Machinationen eine signifikante Kontinuität im erzählerischen Werk Tiecks – die variantenreiche Gestaltung der Wirkungen und Gegenwirkungen geheimer Assoziationen und scheinbar invisibler Mächte, die sowohl den Ein-zelnen als auch die soziale Gemeinschaft ergreifen können und ihre Bemeiste-rung allein durch Enthüllung ihrer Geheimnisse erfahren. Ein intriganter Jesuit und Dunkelmann begegnet schon im Drama Alla-Moddin (1790), das auf Rambachs Anregungen entstand und einer Geschichte folgt, die Tieck in der von Friedrich von Gentz herausgegebenen Deutschen Monatsschrift gefunden

2 Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Roman-

tik, Stuttgart, Weimar 1995, S. 275. 3 Zu Tiecks Altersstil vgl. Roger Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, Mün-

chen 1988, S. 265-287; mit vergleichenden Ausblicken auf die Taschenbuchnovellistik der Biedermeierzeit Ralf Stamm: Ludwig Tiecks späte Novellen. Grundlagen und Technik des Wunderbaren, Stuttgart u.a. 1973, bes. S. 106-118; zur kontrovers diskutierten Zurechen-barkeit der Novelle Die Wundersüchtigen zur Tendenzdichtung vgl. Peter Wosellek: Lud-wig Tieck oder der Weltumsegler seines Inneren, Wiesbaden 1984, S. 182-195.

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hatte.4 In der 1795 erschienenen Erzählung Abdallah erkannte die zeitgenössi-sche Kritik einen jener Texte, „die durch schwarze Einwirkungen eines gehei-men Bundes, durch magische Wunder, und durch gehäufte Schreckensscenen zu erschüttern suchen“.5 Über den Roman William Lovell hinaus lassen sich konspirative Akteure und Verschwörungsszenarien bis zur 1839 veröffentlich-ten Novelle Liebeswerben nachweisen.6 Und noch in der geplanten Märchen-novelle Der Hütten-Meister, von der eine Inhaltsskizze in Rudolf Köpkes Vor-bericht zu Tiecks Nachgelassenen Schriften vorliegt, sollte das Geschehen um Elementargeister mit dem Thema der Geheimen Gesellschaften verbunden werden.7

Mit der erzählerischen Gestaltung geheimbündlerischer Akteure und konspi-rativer Machinationen agierte und reagierte der Autor Ludwig Tieck in einem Feld sozialhistorischer Vorgaben und kollektiver Imaginationen, das seit Ende der 1770er Jahre die Ausbildung des modernen Literatursystems innerhalb ei-ner sich ausdifferenzierenden Öffentlichkeit beeinflußte. Strukturiert wurde dieses Feld durch die realgeschichtlich vorhandenen, imaginativ potenzierten und fiktional übersteigerten Aktivitäten von Arkangesellschaften, die seit der kontinentalen Ausbreitung masonischer Logen, der ominösen Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer und des Illuminaten-Ordens des Adam Weishaupt zu einem forcierten Konventikel-Wesen führten: „Nie hat sich der Sektengeist

4 Seinen eigenen Angaben zufolge hatte Tieck die Anregung in Boies und Dohms Zeitschrift

Deutsches Museum gefunden; vgl. Ludwig Tieck: Schriften, Bd. XI, S. XVI f.; Rudolf Köpke: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen, Leipzig 1855, T. 1, S. 117. Die tatsächliche Quelle war Gottlob Nathanael Fischers Beitrag Der König der Suluh-Inseln in: Deutsche Monatsschrift 3 (1790), S. 317-328; vgl. Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bdn., Bd. I, Frankfurt a.M. 1991, S. 874 (fortan zit.: Hölter).

5 Nicht gezeichnete Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 162 v. 23.5.1797, Sp. 478; zitiert n.: Hölter, Bd. I, S. 985.

6 In der als polemische Zeitsatire und Stellungnahme gegen die Literaten des „Jungen Deutschland“ verfaßten Novelle Liebeswerben werden zwar keine Aktivitäten von Ge-heimgesellschaften, aber intrigante Machinationen von Schriftstellern in Szene gesetzt. Die als gesinnungslos und arbeitsscheu vorgeführten Autoren Amsel und Lindhorst bereichern sich an der Gutgläubigkeit ihres durch Lotteriegewinn vermögenden Freundes Walross, in-dem sie ihm durch fingierte Briefe vortäuschen, ein unglückliches Adelsfräulein bedürfe seiner Hilfe. Als die Entlarvung ihres Komplotts droht, wird dem Opfer Walross durch eine angeblich somnambule Hellseherin sein Glück prophezeit, das jedoch erst nach einer 20monatigen Italienreise und einer Spende von 20.000 Talern für das Krankenhaus ihres „Magnetiseurs“ eintreffen werde. Dieser „Magnetiseur“ ist ein Wilderer namens Rumberg, der seinerseits Amsel und Lindhorst manipuliert und nach dem Fehlschlag des Planes ver-haftet wird, während die Literaten zur Strafe zwei überspannte Damen heiraten müssen. Zu dieser Positionierung gegen Vertreter des „Jungen Deutschland“, die Tieck 1835 und 1836 massiv angegriffen und ihm die Immoralität des William Lovell vorgeworfen hatten, vgl. Christian Gneiss: Der späte Tieck als Zeitkritiker, Düsseldorf 1971, S. 58-86, und den Kommentar v. Uwe Schweikert in: Ludwig Tieck: Schriften in 12 Bdn., Bd. 12, Frankfurt a.M. 1986, S. 144-1180.

7 Vgl. Ludwig Tieck: Nachgelassene Schriften, hrsg. v. Rudolf Köpke, 2. Bde., Leipzig 1855, Bd. I, S. XVIII f.; der Anfang der Fragment gebliebenen Märchennovelle (mit den Alternativtiteln Chaotische Darstellungen oder Wahrheit und Lüge oder Biographie eines lebensmüden Invaliden, nebst Bekenntnissen verschiedener Art und Bemerkungen über ver-schiedene Gegenstände) findet sich in Bd. II, S. 19-32.

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tätiger gezeigt, als in unsern Tagen, welche man die aufgeklärten nennt“, stellte die u.d.T. Komitial-Nebenstunden herausgegebene Regensburger Reichstags-zeitung 1785 in einem von der Berlinischen Monatsschrift nachgedruckten Bei-trag fest.8 Die literarische Aneignung dieses Materials beeinflußte nicht nur die seit Beginn der 1780er Jahre beobachtbare Herausbildung der Trivial-Literatur, sondern auch Texte der klassischen und vorromantischen Höhenkamm-Produktionen – von Karl Philipp Moritz’ Andreas Hartknopf-Romanen über Jean Pauls (mit Lesererwartungen spielenden) Erziehungsroman Die unsicht-bare Loge bis zu Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre.9

Dabei läßt sich in Ludwig Tiecks Verarbeitung und fiktionaler Gestaltung von konspirativen Akteuren und geheimen Machinationen eine charakteristi-sche Veränderung feststellen: Während Texte der Frühzeit wie die Erzählung Abdallah und der Briefroman William Lovell mit dem tragischen Ende ihrer Ti-telhelden schließen und sich in die von Schiller vorgeprägte Gestaltung der verderblichen Wirkungen von Geheimgesellschaften einreihen, demonstrieren Texte der Spätzeit wie die Novelle Die Wundersüchtigen die Wiedererlangung einer vernünftigen Verfügungsgewalt durch Reflexion und Aufklärung bzw. eine Möglichkeit zu satirischer Stellungnahme angesichts aktueller literarischer Entwicklungen.10

8 Neuer Beitrag zu einiger Kenntnis verschiedener jetzt existierenden Geheimen Gesellschaf-

ten. In: Berlinische Monatsschrift 1785, 2, S. 357. In einer Vorbemerkung benannten die Herausgeber F. Gedike und J. E. Biester als Quelle des „unverändert in Text und Noten“ gegebenen Abdrucks die unter dem Titel Komitial-Nebenstunden erscheinende Regensburger Reichstagszeitung, 5. Jg., 28. und 29. Stück v. 25.8.1785: „Die genannte Zeitung wird von einem durch sein Amt und seine Kenntnisse angesehenen Manne geschrieben. Sie ist zwar nicht völlig unbekannt, indem noch neulich die Allgemeine Literaturzeitung und früher F. Nicolai davon geredet, indessen noch immer unbekannt genug, um voraussetzen zu können, daß die wenigsten unsrer Leser das folgende schon werden zu Gesicht bekommen haben.“

9 Seit der Untersuchung von Ferdinand Josef Schneider (Die Freimaurerei und ihr Einfluss auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Prolegomena zu einer Geschichte der Romantik, Prag 1909) ist eine Anzahl von Forschungen zum Einfluß der Arkangesellschaften auf die Entwicklung des Literatur- und Wissenschaftssystems erschie-nen, die sich vorrangig auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts konzentrierten. Eine um-fassende Darstellung des Problemfeldes (mit Textanalysen zu Schillers Geisterseher, Wie-lands Peregrinus Proteus und Agathodämon und Moritz’ Andreas Hartknopf) lieferte Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis: Untersuchungen zur Vermittlung von Litera-tur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, zu den seit Schneider gemachten Fortschritten S. 285-292. Nach den kontrovers diskutierten Veröffentlichungen des amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson (Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991; Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München u.a. 1999) ist die Forschung in ein neues Stadium eingetreten. Beleg für eine intensivierte Beschäftigung sind die Arbeiten von Hans-Jürgen Schings (Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Il-luminaten, Tübingen 1996 u.a.), Linda Simonis (Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002) sowie der von Walter Müller-Seidel und Manfred Riedel herausgegebene Sammelband: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde (Würzburg 2002).

10 Diese Veränderungen korrespondieren einer Zäsur im Schaffen, wie sie jetzt wieder festge-stellt wurde durch Sabine Haupt: „Es kehret alles wieder“. Zur Poetik literarischer Wieder-holungen in der deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff,

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Von diesen Beobachtungen ausgehend, werde ich versuchen, zwei Fragen-komplexe zu beantworten. Der erste Fragenkomplex betrifft das Verhältnis des Autors und seiner literarischen Texte zu den Konditionen eines vorstrukturier-ten literarischen Feldes: Wie positionierte sich der Autor Ludwig Tieck mit seinen Texten innerhalb der vielfältigen Imaginationsgeschichte des Geheim-nisses und seiner Akteure? Mit welchen Modifikationen nahm Tieck Geheim-bund-Phantasien und Konspirationsszenarien auf; welche Distinktionsgewinne konnte er auf diese Weise erzielen? Der zweite Fragenkomplex widmet sich dem Verhältnis literarischer Texte zum zirkulierenden kulturellen Wissen ihrer Entstehungs- und Handlungszeit. Hier ist danach zu fragen, welche Wissensbe-stände und Imaginationspotentiale in diesen Texten auf spezifisch literarische Weise verarbeitet wurden, welchen Status das so produzierte „literarische Wis-sen“ für die Interpretation der Texte wie für ihre Situierung in übergreifende Problemzusammenhänge hat und in welcher Weise „literarisches Wissen“ für die Beschreibung und Erklärung von Entwicklungen im literarisch-kulturellen Raum fruchtbar gemacht werden kann. Entsprechend gliedert sich mein Beitrag in drei Abschnitte: Im ersten Abschnitt werden knappe Hinweise auf die Ima-ginationsgeschichte von Arkangesellschaften in der kulturellen Öffentlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegeben. Der zweite Abschnitt rekonstruiert den Einsatz des Autors Tieck innerhalb eines vielfältig vorstrukturierten litera-rischen Feldes und widmet sich dabei insbesondere seinem 1795/96 bei Carl August Nicolai erschienenen Briefroman William Lovell. Ein abschließender dritter Abschnitt geht der Aufnahme und Verarbeitung von kulturellem Wissen über Arkangesellschaften in der 1831 veröffentlichten Novelle Die Wunder-süchtigen nach.

I. Der Autor Ludwig Tieck und die Imaginationsgeschichte von Arkangesellschaften in der kulturellen Öffentlichkeit

des ausgehenden 18. Jahrhunderts Um die Positionierung des Autors Tieck und seiner Texte innerhalb eines vor-strukturierten Feldes aus Geheimbund-Phantasien und Konspirationsszenarien angemessen beschreiben zu können, sind zunächst knappe Markierungen die-ses vielfältigen und unübersichtlichen Geländes notwendig. Sie betreffen zum einen die „Realgeschichte“ diskreter Gesellschaften, die seit Begründung der ersten Londoner Groß-Loge im Jahre 1717 und der rasanten Ausbreitung der Freimaurerei auf dem Kontinent eine kaum zu überschätzende Rolle bei der Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit spielten; sie betreffen zum ande-ren die „Imaginationsgeschichte“ dieser Assoziationen, die ein sich ausdiffe-renzierendes Literatursystem mit Stoffen und Formen belieferte.

Würzburg 2002, S. 480: „Früh- und Spätwerk unterscheiden sich, wobei das Zusammen-spiel von stets präsenter Gefahr und deren immer erfolgreicheren Bannung die Entwick-lungsrichtung bestimmt.“

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Durch das Prinzip des Arkanums organisiert, besetzten diskrete Assoziatio-nen eine Zwischenstufe zwischen den Korporationen des Absolutismus – die als „nicht voluntaristische, sondern durch Geburt und Stand bestimmte, auf das Ganze des Lebens unspezifisch ausgedehnte Organisationen“11 die stratifikato-rische Gliederung der vormodernen Gesellschaft stabilisierten – und Vereinen, die sich als „freier organisatorischer Zusammenschluß von Personen“12 im Zu-sammenhang mit einer bürgerlichen Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts herausbildeten. Konstitutiv für diese Gesellschaften, die in Deutschland seit Begründung der ersten Freimaurer-Loge 1737 in Hamburg existierten und sich (nicht zuletzt durch Unterstützung zahlreicher Monarchen) rasch ausbreiteten, war das Organisationsprinzip des „Geheimnisses“, das mehrere Funktionen aufwies.13 Das Arkanum wirkte erstens als Schutzraum gegen Ansprüche des absolutistischen Staates und der Kirche, in dessen Rahmen eine Kommunikati-on über die Grenzen von Ständen und Konfessionen hinweg möglich wurde – die Hoffnungen, die etwa Lessing in seinen Freimäurer-Gesprächen Ernst und Falk auf eine „unsichtbare Kirche“ zur Wiederherstellung einer Einheit des Menschengeschlechts artikulierte, werden von hier aus verständlich.14 Das Ar-kanum wirkte zweitens als Integrationsmoment zur Vereinigung und dauerhaf-ten Bindung divergierender Einzelmotivationen. Eine streng gestufte Hierar-chie der Geheimhaltung erzeugte eine permanente Erwartungsspannung und sicherte die Kohäsion von Gruppen, in denen sich sozial, konfessionell und in-tellektuell heterogene Elemente versammelten. Ein historisches Exempel ist der Fall Friedrich Wilhelm II., der als preußischer Kronprinz in die Hände des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer fiel. Unter dem Ordensnamen Ormesus im Jahre 1781 in die Bruderschaft aufgenommen, wurden ihm von Johann Rudolf von Bischoffwerder (der die Exhortation sprach) und Johann Christoph Wöll-ner (der die Einsegnungsrede gehalten hatte) fortgesetzt höhere Grade und tie-fere Geheimnisse versprochen, wenn er die Ideen des Ordens fest bewahre und

11 Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen

19. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 174. 12 Ebenda. 13 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen

Welt, Freiburg i.Br. 1959, zum Primat der „Funktion“ des Geheimnisses vor seinem „In-halt“ S. 57ff.; Norbert Schindler: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funk-tion des Geheimnisses in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. In: R. M. Berdahl u.a. (Hrsg.): Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschrei-bung, Frankfurt a.M. 1982, S. 205-262.

14 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: G.E. Lessing: Werke, hrsg. v. H.G. Göpfert u.a., Bd. 8, München 1979, S. 465f., wo im zweiten Gespräch der den Dialog bestimmende Falk offenlegt: „Wie, wenn es die Freimäu-rer wären, die sich mit zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammen zu ziehen?“ Zu Lessings masonischem Engagement vgl. Heinrich Schneider: Lessing und die Freimaurer. In: Ders.: Lessing: Zwölf biographische Skizzen, Bern 1951, S. 166-197; zu den „Freimäu-rer-Gesprächen“ analytisch und historisch kontextualisierend Gonthier-Louis Fink: Les-sings „Ernst und Falk“. Das moralische Glaubensbekenntnis eines kosmopolitischen Indi-vidualisten. In: Recherches germaniques 10 (1980), S. 18-64; umfassend M. Voges (wie Anm. 9), S. 146-188.

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zur Grundlage seiner Politik mache.15 Drittens setzte das Arkanum illusions-produzierende Energie zur Erzeugung von Gegenwartsbeschreibungen und Zu-kunftsprojekten frei, wobei restaurative Entwürfe (wie bei den preußischen Ro-senkreuzern um Wöllner und Bischoffwerder) neben utopischen Plänen (etwa bei den Illuminaten) standen.16 Das Arkanum wirkte viertens als pädagogisches Attraktions- und Repressionsmittel, das sowohl zur Werbung und Anziehung als auch zur Unterwerfung und Lenkung der Adepten genutzt wurde. Hier ist neben der erwähnten Praxis der Rosenkreuzer insbesondere an den Illuminate-norden und sein Programm der „Menschenerkenntnis“ bis zur wechselseitigen Bespitzelung und Denunziation zu denken.17

15 Vgl. Hans-Joachim Neumann: Friedrich Wilhelm II. von Preußen unter den Rosenkreuzern,

Berlin 1997. Zum Gesamtkomplex instruktiv Paul Schwarz: Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Staat (1780-1798), Berlin 1925, S. 73-86; Peter Weber: Die Berli-nische Monatsschrift als Organ der Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift (1783-1786), Leipzig 1985, S. 358-367, 412-434; Karlheinz Gerlach: Die Gold- und Rosenkreuzer in Berlin und Potsdam (1779-1789). Zur Sozialgeschichte des Gold- und Rosenkreuzerordens in Brandenburg-Preußen, in: Quatuor Coronati 32 (1995), S. 87-146; Dirk Kemper: Obsku-rantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph von Wöllners Politik der Gegenaufklä-rung am Vorabend der Französischen Revolution, in: Ch. Weiß, W. Albrecht (Hrsg.): Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutio-näre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 193-220. Als die Erhebung des 1786 zum König gekrönten Friedrich Wilhelm II. in den neunten Rang („Magus“) nicht vollzogen werden konnte, da die angekündigte Ankunft eines Vertreters der „unbekannten Oberen“ ausblieb, griffen Wöllner und Bischoffwerder zur bewußten Täuschung des geis-ter- und wundergläubigen Monarchen; vgl. die materialgesättigte Rekonstruktion von Y-vonne Wübben: Von ‚Geistersehern‘ und ‚Proselyten‘. Zum politischen Kontext einer Kon-troverse in der Berlinischen Monatsschrift (1783-1789), in: U. Goldenbaum, A. Košenina (Hrsg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2, Hannover 2003, S. 189-220 sowie Monika Neugebauer-Wölk: Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, erscheint in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jb. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wir-kungsgeschichte 15 (2003).

16 In ihrer Kritik am selbständigen Vernunftgebrauch eindeutig anti-aufklärerische Zielstel-lungen artikulierten u.a. die von Matthias Claudius übersetzte martinistische Schrift Des Erreurs et de la verité (Irrthuemer und Wahrheit, oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Principium aller Erkenntniß, Breslau 1782) und das von Wöllner herausgegebe-ne Buch Die Pflichten der G[old]. und R[osen]. C[reuzer] alten Sistems in Juniorats-Versammlungen abgehandelt von Chrysophorion, nebst einigen beigefügten Reden anderer Brüder (o.O., 1782). Wöllners restaurativer Position in religiösen Fragen gegenüber stan-den seine wirtschaftspolitisch liberalen Reformbestrebungen, vgl. P. Weber (wie Anm. 15), S. 360-362. – Die utopischen Entwürfe des Adam Weihaupt und seiner Mitstreiter sind do-kumentiert in Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analy-se, Dokumentation, Stuttgart-Bad Cannstadt 1975; Jan Rachold: Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Illumina-tenordens (1776–1785), Berlin 1984. Das von Monika Neugebauer-Wölk geleitete Forschungsprojekt Utopie – Anthropologie – Poli-tik. Strukturen und Strategien des Geheimbunds der Illuminaten im Kontext der Spätaufklä-rung am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung (Hal-le/S.) bereitet gegenwärtig die Veröffentlichung bislang unzugänglicher Originaldokumente des Bundes vor.

17 Sichtbar in den illuminatischen Instructionen zur Inszenierung einer Machtfülle, die gezielt für Werbungsversuche eingesetzt wurde; in: R. van Dülmen (wie Anm. 16), S. 195f. In-struktiv Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984, der auch die eschatologischen und sektiererischen Elemen-te im Geheimbundwesen beschreibt.

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Anders als in England, in dem sich 1717 vier Maurer-Logen zur ersten Lon-doner Groß-Loge zusammengeschlossen hatten und in pragmatischer Weise ei-ne symbolisch überhöhte Form geselliger Kommunikation pflegten, suchte die sich seit 1737 in Deutschland ausbreitende Freimaurerei nach „tieferer“ Weis-heit: In Anlehnung an die in Frankreich vollzogene Entwicklung zur sog. Hochgradmaurerei überzogen seit den 1750er Jahren differenzierte Gliederun-gen des Logenwesens die deutschen Länder. Während in der englischen Mau-rerei eine eher lockere Geselligkeit mit nur drei Johannes-Graden existierte, entwickelte das Hochgradsystem nicht nur eine Vielzahl neuer Stufen, sondern führte vor allem auch zum Eindringen hermetischer Traditionen. Geheimlehren der schwarzen und weißen Magie, der Alchemie, der Kabbala und der Theoso-phie, die auf der Basis gnostischer und neuplatonischer Ideensysteme standen, beeinflußten das Hochgradsystem der sog. Strikten Observanz wie auch die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer.18

Der freigesetzte Mystizismus und eine nahezu pedantische Regelungs- und Titelwut dienten der Befriedigung heterogener Bedürfnisse: Wie Adolph Frei-herr von Knigge in seinem Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurer-ordens von 1786 „mit Erlaubnis seiner Oberen“ mitteilte, fand

jeder etwas darin [...], das seinen Neigungen schmeichelte. Der Geldgeizige: Hoff-nung, einst den Stein der Weisen zu finden; der Ehrgeizige: Gelegenheit zu herr-schen, eine hohe Befehlshaberstelle in einem militärischen Ritterorden zu beklei-den; der rangsüchtige Bürger: den Vorzug, mit einem Ritterorden geziert unter den Adelichen in einer Reihe zu stehen; der Wißbegierige: Aussicht, höhere Kenntnisse zu erlangen; der Schwärmer: in die Tiefen mystischer Weisheit zu dringen.19

(Nur anzumerken ist, daß die Ausprägung von Hochgradsystemen einen para-doxalen Effekt zeitigte: Als Alternative zur absolutistischen Gesellschaft ge-gründet, glichen Arkangesellschaften mit ihren forciert ausgebauten Systemen der Initiation und den Stufen des Aufstiegs zu immer höheren Graden ihrem Gegenstück nun wie ein Spiegelbild. Als „Staat im Staat“ reproduzierten sie die Organisationsstrukturen des bürokratisierten Staates im Inneren.)

Die Anziehungskraft dieser Mixtur aus Mystizismus, Geheimnisglauben, Einweihungsstreben und gruppenspezifischem Zeichenwahn läßt sich allein vor dem Hintergrund gesellschafts- und geistesgeschichtlicher Entwicklungen der späten Aufklärung nachvollziehen, die zugleich die Basis für die seit Be-ginn der 1790er Jahre hervortretende Bewegung der Romantik bildete. Als ge-meinsamer Nenner dieser Entwicklungen, zu denen neben dem Geheimbund-wesen die Phänomene der „Schwärmerei“, der „Theatromanie“ und der „Geisterzitationen“ gehören, wie sie literarisch in Goethes Theatralischer Sen-

18 Vgl. das auf umfassender Materialbasis erstellte Werk von René Le Forestier: Die templeri-

sche und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, 4 Bde., Leimen 1987-89; Karl R. H. Frick: Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1973.

19 [Adolph Freiherr von Knigge:] Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurerordens in neun Gesprächen. Mit Erlaubniß meiner Obern, Berlin 1786, S. 67.

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dung, in Moritz’ autobiographischem Roman Anton Reiser oder in Schillers Geisterseher dokumentiert sind, kann eine Konjunktur des Scheins bezeichnet werden. Diese Konjunktur des Scheins resultierte aus einem Ungenügen an versachlichten Zweckbeziehungen und an einer durch Wissenschaft und kriti-sche Philosophie zunehmend entzauberten Welt und rief einen solchen Rück-gang auf arkane Wissensbestände und auratische Bünde hervor, daß die Re-gensburger Zeitung 1785 resümierte:

Nie hat sich der Sektengeist tätiger gezeigt, als in unsern Tagen, welche man die aufgeklärten nennt. Mit Mühe hatten wir den Gipfel der Vernunft erreicht und uns überzeugt, dass unser Geist nicht für alle Gegenstände empfänglich, und einem künftigen Leben die Vervollkommnung unserer Kenntnisse vorbehalten sei. Diese Leere gebar den Unglauben. Unzufrieden mit einer Lage, welche uns so viele Wünsche übrig läßt, stürzen wir uns in den tiefsten Grund des Aberglaubens und suchen durch die Greuel des mittleren Zeitalters und der scholastischen Philosophie neue Entdeckungen zu machen. Dieser fast allgemeine Hang zum Wunderbaren wird durch den alle Kräfte der Erwerbung übersteigenden Luxus, und durch das geschwächte Nervensystem der jetzigen Generation ungemein befördert. Unsere Großen suchen den Stein der Weisen, um unsterblich zu werden und durch die Geheimnisse der Alchemie Mittel, ihre Neigungen zu befriedigen. Der Umgang mit Menschen ist für ihre Wißbegierde nicht hinlänglich; einen Lambert, einen Kant zu studiren erfordert zu viele Präliminarkenntnisse, und eine ununterbrochene Anstrengung des Kopfes. Wir hoffen also durch den Umgang mit höheren Wesen, welche wir Geister nennen, neue Eroberungen in den Wissenschaften zu machen. Daher so viele neue Lehren im Glauben, in der Moral, und in der spekulativen Phi-losophie, deren Apostel entweder Betrüger oder Betrogene sind.20

Für die Entwicklung des Literatursystems von zentraler Bedeutung waren drei Resultate des Geheimbund-Wesens und der damit verbundenen Konjunktur des Scheins:

(1) Das von diskreten Organisationen bewußt eingesetzte und inszenierte „Arkanum“ avancierte zum faszinierenden Gegenstand für eine Publizistik, die sich mit ihrem „Eifer für die Wahrheit“ und ihrer „Liebe zur Verbreitung nütz-licher Aufklärung“ als Organ und Speerspitze einer kritischen Öffentlichkeit verstand und definierte.21 Die „scheinhafte Realität“ der Geheimen Gesell-schaften und ihr permanentes Changieren zwischen Simulation und Dissimula-tion, zwischen Verschweigen und Einweihung beförderte schon in den 1770er Jahren eine Fülle von Darstellungen; der Ausstoß von „Enthüllungen“ und „Verräterschriften“ steigerte sich in den 1780er Jahren. Nachdem seit 1778 ei-ne Bibliothek für Freymäurer erschien und die Flut von Veröffentlichungen permanent stieg, richtete die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1785 eine eigene Sparte zur Anzeige und Besprechung masonischer Schriften ein; Entlar-vungsschriften und Apologien – insbesondere nach dem Verbot des Illumina-tenordens 1784/85 in Bayern – fanden vermehrten Absatz. In der Berlinischen

20 Regensburger Zeitung Komitial-Nebenstunden, 5. Jg., 1785, 28. u. 29. Stück, hier zit. nach

dem Abdruck in der Berlinischen Monatschrift vom Oktober 1785, S. 357. 21 Zitate aus der Vorrede der Herausgeber Gedike und Biester zur ersten Nummer der Berlini-

schen Monatsschrift vom Januar 1783, S. 1.

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Monatsschrift, dem wichtigsten theoretischen Organ der deutschen Spätaufklä-rung, erschienen zwischen 1783 und 1796 über 50 Beiträge zum Wirken ge-heimer Gesellschaften, wobei die vermeintlichen Machinationen des 1773 auf-gehobenen Jesuitenordens innerhalb dieser Organisationen einen besonderen und später noch näher zu beleuchtenden Schwerpunkt bildeten.

(2) Die Präsenz von Betrügern, Magiern, Hochstaplern und falschen Prophe-ten, die innerhalb geheimer Gesellschaften agierten und deren Selbst-Inszenierung des eigenen Lebens und Wirkens latent ästhetische Züge trug, be-förderte die Entwicklung eines auf Neuheit und Sensation umstellenden Litera-tursystems nachhaltig. Zu erinnern ist hier an den Sizilianer Joseph Balsamo, der als Graf Cagliostro durch Europa zog, bis er – nach vorgeblicher Verstri-ckung in die Halsbandaffäre um den französischen Kardinal Rohan, Prozeß und Freispruch – 1789 in die Fänge der Inquisition geriet.22 In Rom zum Tode verurteilt, konnte er durch einen grandiosen Schwindel seinen Kopf retten: In seinem 1790 geführten Prozeß behauptete er, Freimaurer und Illuminaten hät-ten die Revolution in Frankreich geplant und bereiteten nun weitere Schläge „auf Italien und sonderheitlich auf Rom“ vor. Den Häuptern dieser Verschwö-rung ständen riesige Geldsummen zur Verfügung, denn 180.000 Maurer aus ganz Europa entrichteten jährlich 5 Louisd’or pro Kopf in eine gemeinsame Kasse. Diese Summen gebrauchte man „zur Unterhaltung der Ordenshäupter, zur Besoldung der Emissarien, die an allen Höfen sich befänden, zur Unterhal-tung der Schiffe und endlich zur Anschaffung alles dessen, was der Sekte be-nötiget wäre, und zur Belohnung derjenigen [...], welche irgend eine Unter-nehmung wider despotische Souverains wagten.“23 Diese „Enthüllungen“ boten eine kaum erwartete Unterstützung für die Gegner liberaler Arkangesellschaf-ten und der Französischen Revolution; Cagliostros Aussagen wurden noch 1790 von der päpstlichen Kammerdruckerei veröffentlicht und in zahlreichen Übersetzungen über den Kontinent verbreitet. In den verschwörungstheoreti-

22 Vgl. Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus,

München 1991. Goethes Interesse am Phänomen Cagliostro, das sich sowohl auf die faszi-nierende Persönlichkeit des charismatischen Hochstaplers und Menschenkenners als auch auf die Bedingungen seiner Wirksamkeit richtete, ist bis zum Jahr 1781 zurückdatierbar, in dem er der Weimarer Loge „Amalia“ beitrat und im berühmten Brief an Lavater vor den Gefahren der „unterirdischen Gänge“ warnte; vgl. Walter Müller-Seidel: Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Tü-bingen 1981, S. 136-163; zu Goethes Studium der Akten des Cagliostro-Prozesses in Rom und seinen Recherchen in Palermo jetzt Joachim Bauer, Gerhard Müller: Freimaurerische „Hochstapler“ und Arkanpolitik. Der Fall Cagliostro, erscheint in: Aufklärung. Interdiszi-plinäres Jb. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 15 (2003). Ähnliche Berühmtheit erlangte der Graf von Saint Germain, der angeblich 1000 Jahre alt und der Goldmacherei kundig war. Auch der Leipziger Kaffeehauswirt Schröpfer mit seinen Geisterzitationen und der Teufelsaustreiber Johann Joseph Gaßner riefen ausge-dehnte theologisch-naturwissenschaftliche Debatten hervor, an denen sich sogar Johann Sa-lomo Semler mit Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen (Halle 1776) beteiligte.

23 Leben und Thaten des Joseph Balsamo, sogenannten Grafen Cagliostro. Nebst einigen Nachrichten über die Beschaffenheit der Freymaurersekten. Aus den Akten des 1790 in Rom wider ihn geführten Prozesses gehoben, und aus dem in der päbstlichen Kammerdru-ckerey erschienenen italienischen Original übersetzt, Zürich 1791, S. 87f.

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schen Pamphleten der 1790er Jahre kehrten die Zahlen und Behauptungen wie-der und vermittelten mit dem Bild omnipräsenter und omnipotenter Konspira-teure jene Fiktionsstrukturen, wie sie in den Geheimbundromanen der 1790er Jahre und auch im literarischen Werk Ludwig Tiecks wieder auftauchen soll-ten.

(3) Mit dem Schwinden der realen Bedeutung geheimer Gesellschaften im Zuge interner Zwistigkeiten und dem Verbot des Illuminaten-Ordens 1784/85 setzte sich die Konjunktur ihres Imaginationspotentials weiter fort. Als Ge-genstand publizistischer Erörterungen und literarisch-fiktionaler Verarbeitung gewann diese „Imaginationsgeschichte“ weit größere Bedeutung als ihre „Re-algeschichte“. Der von Adam Weishaupt 1776 in Ingolstadt gegründete Illumi-naten-Orden wie auch die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer und die überall vermuteten Machinationen des von Papst Clemens XIV. 1773 aufgeho-benen Jesuitenordens gewannen eine weitgehend phantastische Realität, bei der die Grenzen zwischen publizistischer Berichterstattung und fiktionaler Gestal-tung zunehmend durchlässiger wurden. Aggregiert aus Ordensschriften, Ge-heimbundliteratur und Gerüchten, befruchtete diese fiktive Realität von Arkan-gesellschaften wie kaum ein anderes Thema die Publizistik der 1770er und 1780er Jahre. Nach Ausbruch der Französischen Revolution intensivierten sich die bereits früher virulenten konspirationstheoretischen Elemente: Der Rück-gang auf das personalistische Modell einer Verschwörung von Freimaurern und Illuminaten gegen „Thron und Altar“ bot ein probates Mittel zur Erklärung der sozialen Eruption, wie es sie in dieser Form noch nicht gegeben hatte.24 Was in den 1780er Jahren mit „Entlarvungsschriften“ nach Art der 1786 durch Ernst August von Göchhausen anonym publizierten Enthüllung des Systems der Weltbürgerrepublik begann und sich in den publizistischen Reaktionen auf die Französische Revolution (namentlich in der von Leopold Alois Hoffmann herausgegebenen Wiener Zeitschrift) fortsetzte, erreichte einen Höhepunkt im Werk des französischen Exjesuiten Augustin Barruel: Seine Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme, die zu wesentlichen Teilen auf dem Material deutscher Publizisten basierten und 1797/98 in London, drei Jahre später in Deutschland erschienen, markierten die Muster konspirationistischer Kombina-torik, wie sie noch in den verschwörungstheoretischen Projektionen des 20. Jahrhunderts erkennbar sind.25

24 Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776-1945. Phi-

losophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozial-ordnung, Frankfurt a.M. u.a. 21978; unter Einbeziehung der inzwischen erfolgten For-schungen ders.: Die These von der freimaurerisch-illuminatischen Verschwörung. In: J. Berger, K.-J. Grün (Hrsg.): Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, München, Wien 2002, S. 28-38.

25 Dem im englischen Exil lebenden und dort von Edmund Burke unterstützten Barruel – der nach der Aufhebung des Jesuitenorden lange Zeit in Böhmen und Wien gelebt und dort die deutsche Sprache erlernt hatte – war durch Johann August Starck und Adolf Christian von Grolman (den Herausgeber der Zeitschrift Eudämonia) nach Erscheinen des ersten Bandes seiner Mémoires eine Kollektion anti-illuminatischer und anti-masonischer Pamphlete ü-bermittelt worden. So wird der Umstand erklärbar, daß der dritte und vierte Band von Bar-ruels Werk eine umfängliche Kompilation illuminatischer und anti-illuminatischer Schrif-

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Die durch konsequente Personalisierung realisierten Komplexitätsreduktio-nen im Umgang mit geheimen Gesellschaften erwiesen sich jedoch als keines-wegs so einschichtig und einfältig, wie es das Label „Verschwörungstheorie“ nahelegt. Denn indem die konspirationistische Mentalität der „heimlichen“ bzw. der „unsichtbaren Hand“ alle Phänomene der sozialen Welt als Indiz und Bestätigung der eigenen Imagination identifizierte und einem Beziehungswahn verfiel, in dem alles Zeichen wurde, erweiterten sich die entwickelten Szena-rien zu vielgestaltigen Weltbildern mit gegliederten Strukturen und dichtge-sponnenen Verweisungszusammenhängen.26 Resultat der so vollzogenen Aus-gestaltung einer personalistischen Weltdeutung war ein Weltbild mit universalem Erklärungsanspruch und umfassendem Mißtrauen: In der Maxi-mierung der Diskrepanz zwischen scheinbarer und eigentlicher Bedeutung – Nichts ist, wie es scheint – avancierte jedes Phänomen zum Bestandteil und In-diz einer Verschwörung, deren omnipräsenten und omnipotenten Akteure die schlechten Geschicke nach einem genauen Plan lenkten oder den Umsturz der herrschenden Zustände vorbereiteten.27 Rettung konnte allein durch die Enthül-lung des bewußt produzierten „Scheins“, durch das „Herunterreißen der Mas-

ten darstellt; vgl. René Le Forestier: Les illuminées de Bavière et le Franc-Maconniere al-lemand, Paris 1914, S. 691. Über Barruel, dessen verschwörungstheoretische Deutung der Französischen Revolution in deutscher Übersetzung u.d.T. Denkwürdigkeiten zur Ge-schichte des Jakobinismus zwischen 1800 und 1803 in einer vierbändigen Ausgabe in Münster erschien, vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwö-rung, S. 110-118; Sylvia Schaeper-Wimmer: Augustin Barruel, S.J. (1741-1820): Studien zu Biographie und Werk, Frankfurt a.M. 1985; Amos Hofman: Anatomy of conspiracy. The origins of the theory of the philosophe conspiracy 1750-1789, Ann Arbor 1986; Michel Riquet: Augustin de Barruel: Un jésuite face aux Jacobins francs-maçons, 1741-1820, Paris 1989. Zum Einfluß von Barruels Konspirationstheorie auf die deutsche Romantik vgl. Jac-ques Droz: La Légende du complot illuministe et les origines du romanticisme politique en Allemagne. In: Revue historique 226 (1961), S. 313-338.

26 In der Welt von Konspirationstheoretikern gibt es nicht nur eine Gruppe von maskiert bzw. mit falscher Identität auftretenden Verschwörern, sondern zugleich auch die partiell einge-weihten Handlanger und Exekutoren der geheimen Pläne. Gleichzeitig ist stets auch eine „Gegenmacht“ präsent, die als Verteidiger der „Ordnung“ ein bestimmtes Wissen um die geheimen Machenschaften besitzt und deren Ziel in der Entlarvung des allumfassenden Komplotts besteht.

27 Die Erforschung der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Konspirationstheorien ist erst in den letzten drei Jahrzehnten zu einem verstärkt bearbeiteten Gegenstand der For-schung geworden. Vgl. C.F. Graumann, S. Moscovici (Hrsg.): Changing Conceptions of Conspiracy, New York 1987; Dieter Groh: Die verschwörungstheoretische Versuchung, oder: Why do bad things happen to good people?, in: ders.: Anthropologische Dimension der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 267-304; Kursbuch 124: Verschwörungstheorien, Berlin 1996, sowie die mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmende Monographie von Daniel Pipes: Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998. Perspektiven für die Sozialwissenschaften entwirft J. Parish (Hrsg.): The age of anxiety: conspiracy the-ory and the human sciences, Oxford 2001. Eine Verschränkung von theoretischer Erklärung und historischer Exploration des Verschwörungsdenkens bieten Léon Poliakov: La causali-té diabolique, Bd. 1, Paris 1980; Bd. 2, Paris 1985; U. Caumanns, M. Niendorf (Hrsg.): Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001. An historischen Fällen interessiert sind Darstellungen wie Jürgen Roth: Wer steckt dahinter? Die 99 wichtigsten Verschwörungstheorien, Köln 1998; ders., Kay Sokolowsky: Der Dolch im Gewande. Komplotte und Wahnvorstellungen aus zweitausend Jahren, Ham-burg 1999; Robert Anton Wilson, Miriam Joan Hill: Das Lexikon der Verschwörungstheo-rien: Verschwörungen, Intrigen, Geheimbünde, Frankfurt a.M. 2000.

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ke“ kommen. Die Komplementärbegriffe „Maske“ und „Demaskierung“, „Ge-heimnis“ und „Enthüllung“, „Schein“ und „Entschleierung“ bilden deshalb den Grundstock aller verschwörungstheoretischen Rhetorik – von der 1782 veröf-fentlichten „Ersten Warnung“ Über Freymaurer, besonders in Bayern des Jo-seph Marius Babo über Göchhausens Schrift Enthüllung des Systems der Welt-bürgerrepublik bis zum Pamphlet Les conspirateurs demasqué des Comte de Ferrand von 1790.28

Von entscheidender Bedeutung für Ludwig Tieck und sein literarisches Werk wurde freilich die „Umsetzung“ der Imaginationsgeschichte geheimer Gesellschaften in den Modus der literarischen Fiktion. Wie erwähnt, kam dem ambivalenten Wirklichkeitscharakter diskreter Assoziationen ein besonderer Status bei der Ausbildung des modernen Literatursystems zu: Die Unbe-stimmtheit des Arkanums mit seinem aus kollektiven Illusionen genährten Schein machte die Grenzen zwischen authentischem Handeln, Betrug und Selbstbetrug ebenso durchlässig wie die Differenzen zwischen Beobachtung, Täuschung und Einbildung. Roman und Erzählung, noch in der Aufklärung als pragmatische Zweckformen mit spezifischen Strukturmerkmalen der publizisti-schen Sachprosa gebraucht,29 nahmen die vom Geheimnis und dem Wunderba-ren beherrschte Sphäre diskreter Gesellschaften aus mehreren Gründen auf.

Erstens erweiterten figurale Elemente aus dem Bereich diskreter Assoziati-onen wie der Bundes-Emissär, der Magier, der Genius oder die Bundestochter den bislang begrenzten Raum des Romanpersonals. Die Einführung von Akteu-ren des Arkanums ermöglichte die Überwindung einer für den Barockroman typischen Abenteuerlichkeit, die als Abfolge von Trennungen und Wiederver-einigungen des liebenden Paares, von Entführungen, Überfällen, Gefangen-schaften und Fluchten, Schiffbrüchen und Verkleidungen bereits zu erzähl-technischer Routine herabgesunken war. Zweitens boten Elemente des

28 Nur hinzuweisen ist auf die Kontinuität dieser konspirationstheoretischen Rhetorik bis ins

20. Jahrhundert: Die erste deutsche Ausgabe der (frühzeitig als Quellenfiktion identifizier-ten) „zionistischen Protokolle“ erschien 1919 u.d.T. Die Geheimnisse der Weisen von Zion; Erich Ludendorff propagierte nach der Weltkriegsniederlage die Entmachtung der Frei-maurerei durch Entlarvung ihrer Geheimnisse. Joseph Goebbels veröffentlichte in der Wo-chenzeitung Das Reich Leitartikel wie Mimikry (20.7.1941) oder Der Schleier fällt (6.7.1941) und ‚enttarnte‘ mit aufschlußreichen Attributen die „internationale Verschwö-rung“ des Judentums gegen das deutsche Volk (Die Juden sind Schuld!, in: Das Reich v. 16.11.1941). Im englischen Regierungssystem erkannte Goebbels eine „als Demokratie ge-tarnte Plutokratie“ (England und seine Plutokraten, in: Das Reich v. 5.1.1941); nach dem Überfall auf die Sowjetunion deckte er das bislang geheim gehaltene „Konkubinat zwi-schen Plutokratie und Bolschewismus“ auf (Die alte Front, in: Das Reich v. 26.6.1941). Zur Verschmelzung unterschiedlicher verschwörungstheoretischer Komplexe und ihrer Maxi-mierung in der Medienkultur des NS-Staates vgl. Ralf Klausnitzer: „Überstaatliche Mäch-te“. Verschwörungsphantasien und -the-orien in Publizistik, Literatur, Film des Dritten Reiches. In: E. Schütz, G. Streim (Hrsg.): Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933-1945, Bern 2002, S. 125-172.

29 Zur moralisch-weltanschaulichen Wirkungsintention des Romans vgl. Martin Sommerfeld: Romantheorie und Romantypus der deutschen Aufklärung, in: DVjs 4 (1926), S. 459-490, hier die pointierte Formulierung des Romanprogramms: „Ein Mensch soll mit seinem Le-ben die Probe auf das Exempel der aufklärerischen Weltanschauung machen, soll ihre Grundthese durch sein Beispiel zur Evidenz erheben.“

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Geheimbund-Materials aufgrund der Eigenschaften ihrer imaginativen Vorbil-der eine Möglichkeit zur radikalen Erweiterung der Handlungsabläufe: Die au-ßergewöhnlichen, paranormalen und nicht selten übermenschlichen Fähigkei-ten von initiierten Geheimnisträgern boten eine Lizenz zur poetischen Gestaltung des Wunderbaren. Was in der poetologischen Reflexion der Zeit bislang dem Märchen vorbehalten war, konnte so in die Gattung des Romans und der Erzählung überführt werden. Drittens führte die Integration von Ge-heimbund-Elementen zu einer folgenschweren Modifikation traditionaler Er-zähltext-Konfigurationen: Die Darstellung von Protagonisten und Antagonisten aus dem Milieu geheimer Gesellschaften erlaubte die Gestaltung kollektiver Gruppen und mit ihr die Diskussion gesellschaftsbezogener Programme und Ideenkomplexe – ob sie als offen-gelegtes Assekuranz-Unternehmen wie die „Turmgesellschaft“ in Goethes Wilhelm Meister auftraten oder verdeckt als Werkzeuge der katholisch-restaurativen Unterwanderung wie in Schillers Geis-terseher agierten. Viertens gewann der Geheimnis-Charakter von konspirativen Akteuren strukturelle Funktionen für die Schaffung von Plots, die unmittelba-ren Einfluß auf die Unterhaltungsfunktion einer autonomen Literatur hatten: Die Asymmetrie in bezug auf das Wissen um das Geheimnis, in dessen Hori-zont Figuren wie Schillers Armenier, Grosses Karlos oder Tiecks William Lovell agierten, das sie repräsentierten oder zuweilen sogar personifizierten, ermöglichte eine Spannung, auf der ein verrätselndes und aufklärendes sowie ein initiatorisches Erzählen aufbauen konnte. In welcher Weise diese Asym-metrie des Wissens um das Geheimnis – die sich aus differierenden Graden der Informiertheit der handelnden Personen aber auch aus Unterschieden zwischen dem Wissen literarischer Figuren und dem Leser ergibt – durch Tieck genutzt wurde, soll nun am exemplarischen Beispiel des Briefromans William Lovell demonstriert werden.

Vorher aber ist noch knapp auf Vielfalt und – wörtlich zu nehmende – Viel-seitigkeit hinzuweisen, mit denen das Imaginationspotential aus dem Bereich diskreter Gesellschaften und ihrer Geheimnisse literarisch verarbeitet wurden. Die in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts signifikant ansteigen-de Produktion von Erzähltexten mit Bundes- und Verschwörungsmotiven ist als Bestandteil der intellektuellen Sozialisation von Ludwig Tiecks Generation nicht zu unterschätzen: Während zwischen 1769-1779 nur 11 Texte mit der Behandlung geheimer Assoziationen erschienen, waren es in den 1780er Jahre bereits 40 Texte. In den 1790er Jahren steigerte sich die Produktion auf 77 Texte, wobei in der hier zugrunde gelegten Bibliographie von Reinhold Taute auch Titel enthalten sind, die die Verschwörungs-Motivik travestierten bzw. in autobiographischer Form über das eigene Engagement in diskreten Gesell-schaften berichteten wie Weishaupts Pythagoras von 1790 oder die Schriften Adolf Freiherr von Knigges.30 Folgt man Michael Voges, der in seiner Disser-tation Aufklärung und Geheimnis die Vermittlung von Literatur- und Sozialge-schichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbund-Materials im Roman des

30 Reinhold Taute: Ordens- und Bundesromane. Ein Beitrag zur Bibliographie der Freimaure-

rei, Frankfurt a.M. 1907.

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späten 18. Jahrhunderts untersuchte, lassen sich innerhalb dieser vielseitigen Produktion drei Gruppen unterscheiden. Eine erste Gruppe bildete die sog. Or-densliteratur, die sich auch literarisch-fiktionaler Mittel bediente, um eine öf-fentliche Diskussion über Zweck und Mittel geheimer Gesellschaften voranzu-treiben. Das Spektrum reicht von Lessings Freimäurer-Gesprächen Ernst und Falk über Johann August Starcks Ueber den Zweck des Freymäurerordens bis zu Johann Christoph Wöllners Darstellung Die Pflichten der Gold- und Rosen-kreuzer alten Systems. Als eine zweite Gruppe trat nach Voges die „aufkläreri-sche Geheimbund-Publizistik“ in Erscheinung, die sich als nicht-fiktionale, pragmatische Sachprosa und in Form der „Fallstudie“ mit den geheimen Ge-sellschaften und ihren mysteriösen Begleiterscheinungen wie Geisterzitationen und Goldmacherei beschäftigte. In diese Rubrik gehören neben den Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwö-rungen des Theologen Johann Salomo Semler auch zahlreiche Beiträge in der Berlinischen Monatsschrift und in Karl Philip Moritz’ Magazin für Erfah-rungs-Seelenkunde – beide Organe hat Tieck zur Kenntnis genommen. Eine dritte Form der literarischen Verarbeitung des „realen“ und „imaginierten“ Ar-kanums ist schließlich der Geheimbundroman, der neben dem pseudo-historischen Ritterroman und dem pädagogisch-didaktischen Familien-Roman wesentlich zur Bedeutungssteigerung der erzählenden Literatur sowie zur Aus-bildung der Trivial-Literatur beitrug.31 Repräsentanten dieser Kategorie waren Friedrich Schillers musterbildender Fortsetzungsroman Der Geisterseher und Carl Grosses Roman Der Genius, dessen Lektüre Tieck selbst eindrucksvoll beschrieben hat.32

II. Geheimbundmaterial in Tiecks Briefroman ›William Lovell‹

Unter Berücksichtigung dieser strukturierenden Elemente des kulturellen Fel-des möchte ich die Einsatzpunkte und Differenzkriterien markieren, mit denen

31 Die erzählende Literatur steigerte ihren Anteil an der literarischen Gesamtproduktion im

letzten Drittel des 18. Jahrhunderts enorm: Betrug ihr Anteil im Jahre 1770 noch 4 %, wuchs er bis 1800 auf knapp 12 %, wobei die „Marktgängigkeit“ zur primären Motivation für die Roman-Verfertigung wurde; Albert Ward: Book Production, Fiction and the Ger-man Reading Public 1740-1800, Oxford 1974, S. 64. Dazu Michael Hadley: The German Novel in 1790. A descriptive account and critical bibliography, Frankfurt a.M. 1973, S. 231, 238.

32 Die genrebildende Wirkung von Schillers als Fortsetzungsroman veröffentlichtem Geister-seher markiert die Rezension von Carl Grosses Roman Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G** in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Allgemeinen Deutschen Bibliothek 112 (1792), S. 107: „Zuverlässig würden wir ohne Schillers Geisterseher und den großen Beyfall, den dieses vortreffliche Werk erhielt, weder diesen noch ähnliche Werke erhalten haben, die offenbar durch jene Schrift zuerst veranlaßt wurden.“ Zur Wir-kung Carl Grosses in vier Teilen zwischen 1791 und 1795 erschienenem Roman Der Geni-us. Aus den Papieren des Marquis C* von G** vgl. Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder. Brief v. 12.6.1792, abgedr. im Dokumententeil der Lovell-Ausgabe v. W. Münz, Stuttgart 1986, S. 690-696.

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sich der Autor Tieck mit seinem dreibändigen Briefroman William Lovell hier positionierte. Macht man sich die Mühe und liest den Roman in der Fassung, in der er zwischen 1795 und 1796 bei Carl August Nicolai in Berlin und Leipzig erschien, fallen zuerst einmal genaue Kenntnisse der literarischen Konventio-nen auf. Sowohl Anlage als auch personale Konfiguration und Handlungsstruk-turen entstammen bekannten und gut eingeführten Genres. Der empfindsame Briefroman, der auf die Rolle eines auktorialen Erzählers zugunsten der Poly-Perspektivität berichtender und reflektierender Figuren verzichtet, ist durch Samuel Richardsons Briefroman Pamela von 1741, vor allem jedoch durch dessen 1748 erschienenen und fünfmal ins Deutsche übersetzten Briefroman Clarissa vorgeprägt. Schon hier gibt es Briefe mehrerer Personen, die von kei-nem übergeordneten Erzähler überformt sind; die so erzeugte Form verlangt einen Leser, der sich sein kaleidoskopisches Bild selbst zusammenzusetzen vermag.33 Gleiches gilt für Personage und Handlungsführung: Der empfindsa-me Schwärmer, der zum Gewinn einer ‚realistischen‘ Welt-Sicht auf Bildungs-reise geschickt wird und den Lockungen der Libertinage unterliegt, ist ebenso ein Versatzstück der literarischen Tradition wie das empfindsame Mädchen, das der schwärmende Jüngling aufgrund eines Heiratsverbots durch den Vater nicht ehelichen darf.34 Auch die bereits auf der ersten Station der Reise zu ent-deckenden Hinweise auf die Aktionen einer verborgenen Macht, die alle Un-ternehmungen Lovells beobachtet und lenkt, sind keineswegs innovativ: So-wohl für die nach genauen Instruktionen handelnde Bundestochter Comtesse Blainville als auch für den als Bundes-Emissär mit undurchschaubaren Absich-ten agierenden Rosa gibt es literarische Vorbilder. Als Versatzstück zahlreicher Klischees über die Omnipotenz und Omnipräsenz sinistrer Magier und Ge-heimbund-Führer kann schließlich auch der „Genius“ Andrea Cosimo gelten.35 Die Fähigkeit zur Bilokation, d.h. zur gleichzeitigen Präsenz an zwei Orten, kannte der zeitgenössische Leser aus Texten über den Grafen Cagliostro und den ominösen Grafen von Saint Germain. Die Fähigkeit zur Geisterzitation galt als probate Übung von Initiierten und zugleich als die erzählstrategische Mög-

33 Vgl. Markus Heilmann: Die Krise der Aufklärung als Krise des Erzählens: Tiecks „William

Lovell“ und der europäische Briefroman, Stuttgart 1992. 34 Vgl. Karl Hassler: Ludwig Tiecks Jugendroman William Lovell und der Paysan perverti

des Restif de la Bretonne, Diss., Greifswald 1902. 35 Marianne Thalmann: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman.

Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik, Berlin 1923; dies.: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses „Genius“ bis Tiecks „William Lovell“, München 1970, S. 103. Aufgestellt wird die Diagnose einer Kontinuität zwischen Trivialroman und vorromantischem Werk Tiecks auf der Basis eines gesellschaftlichen Bedarfs nach dem „Wunderbaren“: „Andrea Cosimo ist noch der unverkennbare Nachkomme des Genius aus dem Bundesroman, der mehr als ein Leben in sich hat. Der Bedarf nach dem Seltsamen ist in diesen wunderlosen Zeiten doppelt vorhanden. Es gab, es mußte mehr geben als das simple ABC des Denkhaushalts. Es mußte noch etwas anderes geben als die Buchhaltung der gesellschaftlichen Norm. Dieses undefinierbare Mehr tritt uns in der Geniusgestalt von Andrea entgegen, die für seine Jünger der ‚Übergang alles Begreiflichen zum Unbegreifli-chen‘ ist.“ Ähnlich M. Voges (wie Anm. 9), S. 560: „Tieck inszeniert mit Andrea Cosimo die literarische Figur des Magiers, wie sie in Starcks Sarpelli, in Schillers Armenier, in Wielands Kerinthus und in zahllosen trivialen Varianten gestaltet worden war.“

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lichkeit, mit der rationalen Erklärung des scheinbar Übernatürlichen die Aura des Geheimen zu entzaubern. Der als Fortsetzungsroman in der Thalia veröf-fentlichte Prosatext Der Geisterseher von Friedrich Schiller hatte alle diese Pa-rameter bereits versammelt. Schillers Verzicht auf eine Beendigung des Fort-setzungsromans und eine rationale Auflösung der großangelegten Intrige offenbarte gleichzeitig aber auch ein deutliches Bewußtsein für die Grenzen des Stoffes: Ein aufgelöstes Geheimnis ist kein Geheimnis mehr; die Ambigui-tät des Armeniers und die rätselhafte Gestalt der „schönen Griechin“ blieben nur als ungelöstes Rätsel faszinierend.

Die von Tieck gelieferte Auflösung des Geheimbund-Geschehens vermoch-te dann auch so wenig zu überzeugen, daß selbst der wohlmeinende Friedrich Schlegel über den William Lovell in einem Athenäum-Fragment von 1798 be-merkte, „daß alles Nebenwerk und Gerüste darin gemein oder mißglückt ist, wie der große Machinist im Hintergrund“.36 Denn während die durch den Ar-menier in vielerlei Masken repräsentierte Verschwörung im Geisterseher noch sehr reale politische Ziele verfolgt – den Prinzen für die katholische Religion zu gewinnen und ihn zu einem skrupellosen Mörder werden zu lassen, der für den Thron über Leichen geht –, ist die Geheimbund-Intrige des Andrea Cosimo ohne weiterreichende Implikationen. Seine konspirativen Unternehmungen zur Zerstörung der Persönlichkeit Lovells sind, wie es die hinterlassenen Papiere zeigen, ausschließlich privat motiviert; seine Geheim-Gesellschaft bleibt ein rasch zerfallendes Werkzeug zur Befriedigung persönlicher Eitelkeit. Die für Lovell niedergeschriebene Rechenschaft schließt mit der Frage, ob er sich als „Haupt einer geheimen, unsichtbaren Räuberbande“ beim Versuch „die ganze Welt zum Narren zu haben ... nicht selber zum größten Narren genmacht ha-be“. So verwundert es nicht, wenn die Rezension in der Jenaischen Allgemei-nen Literatur-Zeitung über den „geheimen Lenker“ Andrea Cosimo vermerkte, er sei „Vorsteher einer mystischen Gesellschaft, dergleichen jetzt in so vielen Romanen paradiert. Noch in keinem aber ist diese Rolle so matt und kraftlos ausgeführt worden, als in diesem.“37

Diese Punkte betreffen die Elemente der literarischen Tradition, die Tieck übernahm. Was aber macht das Innovative und Bedeutende des Werkes aus, von dem Karl Rosenkranz behauptete, es sei „das Tiefste und Eigenthüm-lichste, was Tieck hervorgebracht hat“?38 Zum einen besteht das Verdienst des William Lovell darin – und darauf hat Friedrich Schlegel nachdrücklich auf-merksam gemacht –, daß in diesem Roman aus Briefen „ein durchaus neuer Charakter auf eine interessante Art dargestellt und ausgeführt wird“.39 Dieser

36 Friedrich Schlegel: Athenäum-Fragment 418 [1798]. In: KFSA, 1. Abt., Bd. 2, S. 244. 37 Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 337 v. 23.10.1797, Sp.

196f. 38 Karl Rosenkranz: Studien, Teil 1, Berlin 1839, S. 282f. 39 Friedrich Schlegel: Athenäum-Fragment 418 [1798]. In: KFSA, 1. Abt. Bd. 2, S. 244:

„Auch nach den gewöhnlichsten Ansichten ist es Verdienst genug, um einen Roman be-rühmt zu machen, wenn ein durchaus neuer Charakter darin auf eine interessante Art darge-stellt und ausgeführt wird. Dies Verdienst hat ‚William Lovell‘ unleugbar, und daß alles Nebenwerk und Gerüste darin gemein oder mißglückt ist, wie der große Machinist im Hin-tergrunde des Ganzen, daß das Ungewöhnliche darin oft nur ein umgekehrtes Gewöhnli-

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„durchaus neue Charakter“ ist der Typ des Problematikers, der die Konsequen-zen seines Denkens und Handelns rücksichtslos und rückhaltlos ausschreitet. Die Ausschreitung dieses Weges aber wird erzähllogisch ermöglicht durch jene „geheime Lenkung“, die manipulativ in Lovells Geschicke eingreift, Begeg-nungen arrangiert oder verhindert, vor allem aber eine solipsistische Ethik be-reitstellt, mit der sich alle moralischen Verfehlungen und Verbrechen als not-wendige Schritte eines egoistischen Glückseligkeitsstrebens rechtfertigen lassen.40

Das Besondere der Lovells Geschicke bestimmenden „geheimen Lenkung“ besteht nun darin, daß sie auf bemerkenswerten psychologischen und anthropo-logischen Wissensbeständen und Forderungen beruht. Einsichten wie die zwi-schen den Konspirateuren Rosa und Andrea Cosimo ausgetauschten Reflexio-nen über den „natürlichen Nachahmungstrieb“41 oder die Eitelkeit als das „Seil, an welchem die Menschen am leichtesten zu regieren sind“,42 scheinen im Zeitalter einer avancierten Erfahrungsseelenkunde nicht weiter verwunder-lich.43 Doch vergegenwärtigt man sich das Programm zur wechselseitigen Aus-forschung der Psyche, wie es im Illuminaten-Orden Adam Weishaupts projek-tiert und betrieben wurde, gewinnt die Forderung des Geheimbund-Emissärs Rosa nach „Teleskopen, um in das tiefe Firmament unserer Seelen zu schau-en“, eine neue Bedeutung. Der briefliche Ausruf „O, wenn wir doch Teleskope erfinden könnten, um in das tiefe Firmament unserer Seelen zu schauen“,44 er-innert dabei nicht nur an den bislang unbekannten und jetzt durch Walter Schmitz und Jochen Strobel zugänglich gemachten Brief, den Tieck am 16. Ja-nuar 1793 dem Freunde Wackenroder nach Berlin schrieb und in dem er hoffte, daß „Herrschel doch einen Tubus erfände, womit man von hier nach Berlin

ches ist, hätte ihm wohl nicht geschadet [...] So tief und ausführlich hat Tieck vieleicht noch keinen Charakter wieder dargestellt.“

40 Erstmals sichtbar in der Korrespondenz zwischen dem in Neapel befindlichen Rosa und dem in Rom wohnenden William Lovell im dritten Buch des ersten Bandes, insbes. in Brief 25 u. 26, in deren Rahmen auch das später u.d.T. Der Egoist veröffentlichte Gedicht von Lovell („Willkommen größester Gedanke,/ Der hoch zum Gotte mich erhebt!“) enthalten ist. Im Verbund mit den später unter den Titeln Melankolie und Der Ungetreue veröffent-lichten Gedichten gilt dieser lyrische Text als „Keimzelle des Romans“, vgl. William Lovell, hrsg. v. W. Münz, Stuttgart 1986, S. 658.

41 Vgl. Rosas bekennenden Brief an Andrea Cosimo im ersten Buch des zweiten Bandes; Wil-liam Lovell, S. 223: „Nichts ist dem Menschen so natürlich, als Nachahmungssucht. Lovell ward in einigen Monaten eine bloße Kopie nach mir. Jeder Ausspruch, jedes Wort, das wir für klug nehmen, rückt an der Form unsrer Seele, und so hat sich Lovell ganz von selbst die Philosophie erschaffen, die ich gern für ihn bilden wollte.“

42 Ebenda, S. 224: „Die Eitelkeit ist gewiß das Seil, an welchem die Menschen am leichtesten zu regieren sind; sobald man es nur dahin bringen kann, daß sie sich ihrer gestrigen Emp-findung schämen, handeln sie morgen gewiß anders; ein Freund oder Bekannter darf ihnen nur zu verstehen geben, was er für groß hält, und morgen suchen sie sich ihm in dieser Größe unvermerkt zu präsentieren. Die Sucht, sich auszubilden, ist im Grunde nur die Sucht zu gefallen, und zuerst denen, die uns umgeben; so formt sich der Mensch wider sei-nen Willen, und steht am Ende seiner Wanderschaft schwer behangen mit einem Trödel-kram erlogner Meinungen und Gefühle.“

43 Dazu Ellen Ostwald: Figuren der Melancholie: Ludwig Tiecks „William Lovell“ im Kon-text von Erfahrungsseelenkunde und Pädagogik, Bern u.a. 1992.

44 William Lovell, S. 325.

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sehn könnte“.45 Er korrespondiert zugleich den Imperativen von Weishaupts Arkangesellschaft, die in Adolf von Knigge und Christoph Meiners zwei aus-gewiesene „Anthropologen“ als theoretische Vordenker aufzuweisen hatte und in ihrer expliziten Aufforderung zur Selbst- und Fremdbeobachtung schon frühzeitig das Mißtrauen der Zeitgenossen herausgefordert hatte.46 Denn wie die vom Geheimbund-Emissär Rosa metaphorisch ausgesprochene Hoffnung, mit dem technischen Instrument einen privilegierten Zugriff auf die „Milch-straße der Ahndungen“ des anderen zu gewinnen, beruhte auch das illuminati-sche Projekt einer umfassenden „Menschenerkenntnis“ durch Spionage und Gedanken-Ausforschung auf jener „pessimistischen Anthropologie“, die sich in den nachgelassenen Papieren des Geheimbund-Gründers Andrea Cosimo ex-plizit artikulierte.47

45 Walter Schmitz, Jochen Strobel: Teleskop und Briefverkehr. Ein ungedruckter Brief Lud-

wig Tiecks an Wilhelm Heinrich Wackenroder. In: Aurora 62 (2002), S. 129. 46 Tieck, der mit seinen Jugendfreunden begeistert Joseph Marius von Babos historisches

Drama Otto von Wittelsbach, Pfalzgraf in Bayern aufgeführt hatte, kannte vermutlich auch Babos 1784 anonym erschienene Schrift Über Freymaurer. Erste Warnung, die großes Aufsehen erregt hatte – denn sie trug die Diskussion um den Illuminatenorden erstmals in die Öffentlichkeit und leitete die kurfürstliche Verfolgung des Geheimbundes ein. Neben massiver Kritik an der sektiererischen Wahrung eines Ordensgeheimnisses, das die Intole-ranz befördere und die Ordensangehörigen in „Ausspäher und Angeber“ verwandle, mo-nierte Babo vor allem den zersetzenden Skeptizismus: „Aus euren Logen strömt ein Haufen zerrütteter Phantasten, lachend über Religionsgebräuche und Religion, über Gesetze und Pflichten räsonieren sie dem gutmütigen Bürger seinen besten Trost weg, geben ihren El-tern Arroganz statt Dank zurück.“ (Joseph Marius von Babo: Über Freymaurer. Erste War-nung Sammt zwey Beylagen. o.O., 1784, S. 38.) Der Zusammenhang mit den in Tiecks Roman durch Rosa und Andrea Cosimo vermittelten Ideen ist offensichtlich.

47 Die Varianten des anthropologischen Diskurses (‚optimistisch’ vs. ‚pessimistisch’) be-leuchtet Friedrich Vollhardt: Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erzie-hung. Zur Anthropologie der moraltheoretischen und -praktischen Literatur der Aufklärung in Deutschland. In: Hans-Jürgen Schings: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, S. 112-129. Während Vollhardt sich v.a. den Moralischen Wochenschriften und verwandten Gattungen der moralisch-didaktischen Lite-ratur widmete, verwies die anschließende Diskussion seines Beitrags auf die Konsequenzen der anthropologischen Auffassungen für die Praxis innerhalb des Illuminatenordens: Wäh-rend aus der Perspektive der „Oberen“ (d.h. der bestimmenden Mitglieder des Ordens) Spi-onage und Gedankenausforschung ein Herrschaftsinstrument darstellte und mit der ‚pessi-mistischen Anthropologie‘ korrespondierte, erschien sie aus der Perspektive der „Unteren“ als „säkularisierte Beichte“, die aufgrund ihrer (vermeintlichen) Beseitigung von Vorurtei-len eher Züge einer ‚optimistischen Anthropologie’ trage. – Daß Tieck die programmati-schen Imperative des Illuminatenordens, die nach Veröffentlichung der Ordensdokumente 1785/86 allgemein bekannt und in der Berlinischen Monatsschrift diskutiert wurden, ge-kannt haben muß, legt der Bericht des Shakespeare-Forschers Hermann von Friesen über sein Gespräch mit dem Autor nahe: „Sie haben vollkommen recht, wenn Sie in der Rolle, welche Andrea Cosimo und Rosa zugeteilt ist, etwas bemerken, was sich dem Ganzen nicht organisch anschließt. […] Vielleicht aber gereicht es Ihnen zur Genugtuung, wenn ich Ih-nen mitteile, daß Tieck selbst diese Schwäche anerkannte, und mich, in einem Gespräche über diesen Gegenstand, an das gegen Ende des vorigen Jahrhunderts betriebsame Wesen geheimer Gesellschaften und Orden, wie Illuminaten und Rosenkreuzer, erinnerte. Das war es, was ihn zu diesem Nebenwerke verführt hatte, ohne daß es ihm doch gelungen wäre, dasselbe auf eine prägnante Weise dem Ganzen einzuverleiben.“ Hermann Freiherr von Friesen: Ludwig Tieck. Erinnerungen eines alten Freundes aus den Jahren 1825-1842, Wien 1871, Bd. 2, S. 60.

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Die psychologischen und anthropologischen Einsichten fundieren die narra-tive Verknüpfung von Geschehensmomenten aus der Tradition des empfind-samen Prüfungsromans und des Geheimbundromans zur Geschichte einer Pa-thogenese.48 Wie der Prinz in Friedrich Schillers Geisterseher agiert auch Lovell als problematisches Individuum, das nach seiner Identität sucht und da-zu philosophische Systeme probiert. Die ausgeprägte „Disposition zur Ver-führbarkeit“ (Michael Voges) ermöglicht eine folgenreiche Manipulation durch fremde Unterweisung: Gegen die Ernüchterung und die Leere einer radikali-sierten Aufklärung, die Lovell noch vor seiner Abreise aus England erwartet und in Paris unmittelbar erfährt,49 setzt der Bundes-Emissär Rosa einen radika-len Sensualismus und verspricht damit die Erhebung „zur größten, schönsten Freiheit, zur uneingeschränkten Willkür eines Gottes“.50 Doch bald zeigt sich die Kehrseite der Sinnlichkeitsphilosophie und ihrer vermeintlichen Omnipo-tenz. Die Erlangung des erstrebten Genusses führt zu neuen Bedürfnissen, was die permanente Überbietung des Erreichten notwendig macht und jede Form dauerhafter Zufriedenheit untergräbt. Selbst die leidenschaftliche Liebe zu Ro-saline, für deren Besitz Lovell den Tod ihres Verlobten in Kauf nimmt, vermag

48 Der pathologischen Fall-Geschichte des „Schwärmers“ Lovell widmeten sich mehrere Un-

tersuchungen, u.a. Fritz Brüggemann: Die Ironie als entwicklungsgeschichtliches Moment. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der deutschen Romantik, Jena 1909; Fritz Wüstling: Tiecks „William Lovell“. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Halle 1912; Werner Brans: Der Einzelne und die Gesellschaft in Ludwig Tiecks ersten selbständigen Schriften. Studien zur Entstehung des frühromantischen Individualismus, Diss., Frankfurt a.M. 1957; Dieter Arendt: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. Studien zum Ver-hältnis von Dichtung und Wahrheit in der Frühromantik, 2 Bde., Tübingen 1972; Walter Münz: Individuum und Symbol in Tiecks „William Lovell“, Bern, Frankfurt a.M. 1975.

49 So heißt es bereits in Lovells erstem Brief: „Ich ahne eine Zeit, in welcher mir meine jetzi-gen Empfindungen wie leere Träume vorschweben werden, wo ich mitleidig über diesen Drang des Herzens lächle, der itzt meine Qual und Seligkeit ist [...] Wenn dieses glühende Herz nach und nach erkaltet, dieser Funke der Gottheit in mir zur Asche ausbrennt und die Welt mich vielleicht verständiger nennt – was wird mir die innige Liebe ersetzen, mit der ich jetzt die Welt umfangen möchte? – Die Vernunft wird die Schönheiten anatomieren, de-ren holder Einklang mich itzt berauscht: ich werde die Welt und die Menschen mehr ken-nen, aber ich werde sie weniger lieben – sobald man die Auflösung zum sinnreichsten Rät-sel gefunden hat, erscheint es abgeschmackt.“ (S. 18) Im ersten Brief aus Paris noch deutlicher: „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten und die lieblichen Schattenphantome verjagen, die so sicher unter der gewölbten Laube wohnten. In unserm Zeitalter ist eine Art von Tag gewor-den, aber die romantische Nacht- und Morgenbeleuchtung war schöner, als dieses graue Licht des wolkigen Himmels; den Durchbruch der Sonne und das reine Ätherblau müssen wir erst von der Zukunft erwarten.“ (S. 50).

50 Ebenda, S. 166. Unmittelbar anschließend formuliert Rosa seine sensualistische Ethik: „Al-le unsre Gedanken und Vorstellungen haben einen gemeinschaftlichen Quell – die Erfah-rung. In den Wahrnehmungen der Sinnenwelt liegen zugleich die Regeln meines Verstan-des und die Gesetze des moralischen Menschen, die er sich durch die Vernunft gibt.“ Ähnlich explizit Andrea Cosimo, S. 363: „Nur in der Sinnlichkeit können wir uns begrei-fen, und sie regiert und ordnet das Gewebe, das wir immer von unserm Geiste getrieben glauben. Bloß hierauf können sich alle Plane und Entwürfe, Wünsche und stille Ahndungen gründen; in dieser Körperwelt bin ich mir selbst nur mein erstes und letztes Ziel, denn der Körper ordnet alles nur für seinen Körper an, er findet bloß Körper in seinem Wege, und eine Verbindung zwischen ihm und dem Geiste ist für unser Fassungsvermögen unbegreif-lich.“

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keine längerfristige Bindung zu garantieren, weil Wollust – für Lovell „das große Geheimnis unsers Wesens“ und zugleich „der einzige Genuß, in wel-chem wir die kalte, wüste Leere in unserm Innern nicht bemerken“ – immer neue Reize fordert. Die philosophische Erziehung zu einer libertinistischen Le-bensführung ist die Leistung jener Instruktionen, die Lovell durch Rosa erhält; die ihr korrespondierende metaphysische Obdachlosigkeit schafft die Basis für jenen „Hang zum Wunderbaren“, der Lovell nachfolgend mit dem Magier Andrea Cosimo in Täuschung und Ent-Täuschung verbinden soll.51 Durch ar-rangierte Begegnungen vorbereitet und durch abgestimmte Lektionen geprägt, gerät Lovell in immer tiefere Abhängigkeit vom „Genius“ eines numinosen Bundes: Zum einen benötigt er dessen lenkende Hand zum Gewinn einer dis-tanzierten Perspektive auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der ihm ande-re Menschen als willenlose Marionetten erscheinen und er selbst als kaltblüti-ger Spieler agiert.52 Zum anderen bedarf er des „wunderbaren Mannes“ zur Stabilisierung seines zunehmend gefährdeten Selbstbewußtseins und seiner Hoffnungen auf eine „höhere Welt“.53

Der erzähllogische Status der „unsichtbaren Hand“ in Tiecks frühem Ro-manwerk kann vor diesem Hintergrund also folgendermaßen bestimmt werden: Sowohl für die Inszenierung der psychologisch-philosophischen Fall-Geschichte des William Lovell als auch für die romaninterne Präsentation eines vielfältigen kulturellen Wissens hat das Textelement der geheimgesellschaftli-chen Intrige konstitutive und unverzichtbare Bedeutung. Um es mit den Meta-phern des Textes zu sagen: Erst die „unsichtbare Hand“ der geheimen Lenkung befreit die „gräßliche Hand“ in Lovells Inneren zu ihrer verhängnisvollen Ak-tivität.54 Die eminente Wichtigkeit der Bundes-Elemente wird nicht zuletzt

51 William Lovell, S. 350: „Andrea erscheint mir jetzt als ein Türhüter zu jenem unbekannten

Hause, als ein Übergang alles Begreiflichen zum Unbegreiflichen. Vielleicht löst ein Auf-schluß alle Rätsel in und außer uns, unser Gefühl und unsre Phantasie reichen vielleicht mit unendlichen Hebeln da hinein, wo unsre Vernunft scheu zurückzittert; am Ende verschwin-det alle Täuschung, wenn wir auf einen Gipfel gelangen, der der übrigen Welt die höchste und unsinnigste Täuschung scheint.“

52 Von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist der Umstand, daß der vermeintlich kaltblütig und zynisch agierende Lovell in zunehmendem Maße den Imperativen des Bundesgründers Andrea Cosimo folgt und daß dessen immer deutlicher ausgesprochene Ziele („daß ich mir aus Menschen ein Glücksspiel und ernsthaft lächerliches Lotto bilde, daß ich ihre Seelen gleichsam entkörpert vor mir spielen lasse, und ihre Vernunft und ihr Gefühl wie Affen an Ketten hinter mir führe“; S. 344) ohne die Diskussionen um die Illuminatenpapiere des A-dam Weishaupt kaum denkbar sind.

53 Ebenda, S. 559: „Andrea hat den Schlüssel zu meiner Existenz, und er wird mir wieder ein freieres Dasein aufschließen: er wird mich in eine höhere Welt hinüberziehn und ich werde dann die Harmonie in meinem Innern wieder antreffen.“ Ähnlich schon S. 417: „Ich danke dem Andrea unaufhörlich, daß ich jetzt in den widerwärtigsten Situationen mit einer großen Kälte in das Leben sehen kann. Die Verächtlichkeit der Welt liegt in ihrer größten Betrüb-nis vor mir; ich stoße sie nur um so geringschätzender von mir, je wunderbarer ich mir selbst erscheine. Durch meine Ahndungen und seltsamen Gefühle, hat er mich vom Dasein einer fremden Geisterwelt überzeugt, ich habe eigenmächtig meinen Zweifeln ein Ziel ge-setzt, und ich freue mich jetzt innig, daß ich auf irgendeine Art mit unbegreiflichen Wesen zusammenhänge, und künftig mit ihnen in eine noch vertrautere Bekanntschaft treten wer-de.“

54 Die „gräßliche Hand“ in seinem Inneren reflektiert Lovell selbst als enigmatisches Vermö-

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daraus ersichtlich, daß Tieck die Kürzungen in der zweiten Auflage des Ro-mans von 1813/14 – die mit 27 von insgesamt 65 gestrichenen Briefen vor al-lem die Geheimbundhandlung betrafen – in der Ausgabe der Schriften von 1828 wieder rückgängig machte.

Für den Gewinn von Distinktionmerkmalen zentral war freilich nicht die In-tegration von Geheimbund-Elementen, deren kompositionelle „Schwäche“ Tieck später selbst eingesehen und als „nicht organisch“ bezeichnet hat.55 In-novativ und folgenreich war vielmehr die Art und Weise, wie aus dem Imagi-nationspotential des Geheimen weitreichende Konsequenzen für die literari-sche Deskription gesellschaftlicher Verhältnisse und der Stellung des Einzelnen gezogen wurden. Die Beschreibung der sozialen Welt als einer The-aterbühne und der menschlichen Akteure als Marionetten an undurchschauba-ren Fäden ist nur einer der wiederkehrenden Metaphernkomplexe des Romans, der sich über Büchner bis ins 20. Jahrhundert vermittelte; die Motivik von „Maske“ und „Maskierung“ als Signatur umfassender Dissimulation und le-bensnotwendigen Mißtrauens sollte bis zu den neusachlichen „Verhaltensleh-ren der Kälte“ reichen.

III. ›Jesuitenverschwörung‹ und Magnetismus Kulturelles Wissen in der Novelle ›Die Wundersüchtigen‹

Damit komme ich zum dritten Abschnitt – zur Entfaltung und Klärung der Fra-ge, wie und mit welchen Folgen kulturelles Wissen über Geheimbund-Machinationen und Konspirationsszenarien in Tiecks literarische Texte ein-ging. Ohne der Frage nach dem Verhältnis von kulturellem Wissen und Litera-tur systematisch nachgehen zu können, möchte ich einige exemplarische An-merkungen machen. Das dazu gewählte Beispiel ist die Novelle Die Wundersüchtigen, deren Analyse es erlauben soll, die Aufnahme und literari-sche Gestaltung spezifizierter Wissensbestände über Arkangesellschaften in-nerhalb des Erzähltextes nachzuweisen. Diese Wissensbestände ergeben sich aus der Gesamtheit der dem Autor zur Verfügung stehenden Informationen und lassen sich als eingrenzbare Menge von thematisch gebundenen Beschreibun-

gen zur bösen Tat im Zusammenhang seiner Fragen nach der Spezifik des freien Willens, vgl. S. 328: „Wie mag es überhaupt wohl um unsre Willkür stehen? Wer weiß, was es ist, was uns regelt und regiert, welcher Geist, der außer uns wohnt, und nur allmächtig und un-widerstehlich in uns hineingreift. Aus meinen Kinderjahren fallen mir manche Tage ein, wo ich unaufhörlich etwas Greuliches und Entsetzliches denken mußte, wo ich statt meinem stillen Gebete Gott mit den gräßlichsten Flüchen lästerte und darüber weinte, und es doch nicht unterlassen konnte, wo es mich unwiderstehlich drängte, meine Gespielen zu ermor-den, und ich mich oft schlafen legte, bloß um es nicht zu tun – nun Rosa, damals war ich gewiß unschuldig und unverdorben, und doch war diese Entsetzlichkeit in mir einheimisch – was war es denn nun, das mich trieb, und mit gräßlicher Hand in meinem Herzen wühl-te?“ Bezeichnenderweise folgt diese Reflexion, möglicherweise durch den im Magazin für Erfahrungsseelenkunde (Bd. 3, 2. St., S. 61) abgedruckten Bericht Ueber meinen unwill-kührlichen Mordentschluß beeinflußt, unmittelbar auf Rosas Brief, in dem dieser das „Tele-skop“ zur psychologischen Inspektion gefordert hatte.

55 So im Bericht von Hermann Freiherr von Friesen: Ludwig Tieck, S. 60.

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gen und Erklärungen bestimmen, die in publizistischer, wissenschaftlicher oder literarischer Form vorlagen und dem Autor zu einem Zeitpunkt vor der Abfas-sung seines Textes zugänglich gewesen sein müssen. Um die Aufnahme dieser konkretisierten Wissensbestände in einen literarischen Text belegen und in nachprüfbarer Weise angeben zu können, sind nicht nur die Möglichkeiten ih-rer Rezeption durch den Autor nachzuweisen, sondern direkte Korresponden-zen zwischen Elementen des zugänglichen Wissenshorizonts und personalen Konstellationen sowie Handlungsverläufen des narrativen Textes zu rekon-struieren.

Als leitende Hypothese zur Feststellung direkter Korrespondenzen zwischen außerliterarischen Beschreibungs- und Erklärungselementen einerseits und Per-sonalkonstellationen und Handlungsverläufen des narrativen Textes anderer-seits gilt eine bereits angedeutete Annahme – daß die in der Novelle Die Wun-dersüchtigen imaginierten Vorgänge um die Geheimbund-Emissäre Sangerheim und Graf Feliciano in exakter Weise einem Diskurs korrespon-dierten, der seit 1785 in der von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike he-rausgegebenen Berlinischen Monatsschrift geführt wurde und als „Obscuran-tisten-Jagd“ und „Jesuiten-Riecherei“ in die Geschichte der deutschen Spätaufklärung eingegangen ist. Verbindende Idee dieses sozialneurotischen Diskurses war die von Aufklärern wie Johann Joachim Christoph Bode, Adolf von Knigge, Friedrich Nicolai, Biester und Gedike vertretene These, die 1773 offiziell aufgehobene Gesellschaft Jesu sei der Drahtzieher einer umfassenden Verschwörung gegen die Aufklärung.56 Durch Verbreitung von „Schwärmerei“ und „Aberglauben“, vor allem aber durch die Unterwanderung von Arkange-sellschaften und die massive Beeinflussung von Prinzen und Fürsten sollten die Selbstgesetzgebung der Vernunft eingeschränkt und die Macht der katholi-schen Kirche ausgeweitet werden. Als wichtigste Indizien für die umfassende und konspirativ agierende Oppositionsbewegung gegen die Aufklärung galten die Aktivitäten der geheimnisumwitterten Bruderschaft der Gold- und Rosen-kreuzer. Umtriebige Angehörige wie der Jesuitenpater Ignaz Frank (Beichtva-ter des bayrischen Königs Karl Theodor und zugleich Zirkelsekretär der Mün-chener Rosenkreuzer), der Offizier Johann Rudolf von Bischoffwerder (Ratgeber und späterer Generaladjutant von Friedrich Wilhelm II.) und der Pfarrer Johann Christoph Wöllner (Justizminister und Chef des geistlichen De-partments unter Friedrich Wilhelm II.) sicherten dieser Arkangesellschaft in der Tat politischen Einfluß und wurden – namentlich durch protestantische Aufklärer – als Speerspitze des „Kryptokatholizismus“ angesehen und be-kämpft.

Eine direkte Korrespondenz zwischen den Vorgängen in Tiecks Erzähltext und realhistorischen Vorgaben der Handlungszeit hatte Julian Schmidt schon 1854 festgestellt: Umstandslos identifizierte er den handlungstragenden Ge-heimbund-Emissär Sangerheim als den berüchtigten Wundertäter und Geister-beschwörer Schrepfer – der „gewöhnlich als Werkzeug der Jesuiten und einer

56 Dazu Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschich-

te 1765-1785, München 1968, S. 236-259; P. Weber (wie Anm. 15), S. 412-434.

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der ersten Apostel der Rosenkreuzer bezeichnet“57 wurde – und den sich als Messias ausgebenden Grafen Feliciano als den Arkanpolitiker Cagliostro.58 Ohne sich dieser direkten Dechiffrierung anzuschließen, sollen nachfolgend die Entsprechungen zwischen Elementen der literaturexternen Vorstellungswelt und den personalen bzw. Handlungskonfigurationen in Tiecks Novelle heraus-gearbeitet werden. Dazu müssen in einem ersten Schritt knappe Hinweise auf zentrale Punkte der – insbesondere durch die Berlinische Monatsschrift (BM) verbreiteten – „Obskurantistenjagd“ und „Jesuitenriecherei“ gegeben werden, die dem jungen Tieck nicht verborgen geblieben sein können.59 In einem zwei-ten Schritt ist die literarische Umsetzung dieser Vorstellungen über den angeb-lichen Zusammenhang zwischen geheimen Gesellschaften und Machinationen „unbekannter Oberer“ zur jesuitischen Unterwanderung der Aufklärung in spe-zifizierten Punkten zu belegen.

57 Georg Schuster: Die geheimen Gesellschaften, Verbindungen und Orden, Bd. 2, Leipzig

1906, S. 120. 58 Julian Schmidt: Neue Romane. Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. In: Die Grenzboten

1854, 4, S. 105, wo es über Die Wundersüchtigen heißt: „Eine der besten Novellen unseres Dichters. Die beiden Figuren des Cagliostro und Schrepfer sind sogar nicht ohne Genialität angelegt, und der Wunderglaube des gebildeten Pöbels ist mit einem köstlichen Humor dargestellt.“ Die Person des Johann Georg Schrepfer [Schröpfer] (1730-1774) weist in der Tat mehrere Parallelen zur literarischen Figur des Sangerheim in Tiecks Novelle auf: Der aus Nürnberg stammende, im siebenjährigen Krieg als Husar in preußischen Diensten ste-hende und danach als Kaufhauswirt auftretende Schrepfer hielt in Leipzig spiritistische Séancen ab, in deren Rahmen Geisterzitationen unternommen wurden, bevor er sich im Ok-tober 1774 in Gegenwart von Freunden – darunter auch Hans Rudolf von Bischoffwerder – im Rosenthal bei Leipzig erschoß. Vorher hatte er diesen Freunden ein Wunder verspro-chen. Von Schrepfer soll Bischoffwerder eine Laterna Magica zur Geisterbeschwörung ge-erbt haben, die angeblich durch den sächsischen Kaufmann Christian Emanuel Froehlich von Leipzig nach Berlin transportiert und hier zur manipulativen Beeinflussung Friedrich Wilhelm II. eingesetzt wurde; vgl. Johannes Schultze: Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Berlins 46 (1929), S. 42, wo zugleich die Gerüchte um den Transport von Schrepfers Laterna Magica als „Gerede“ dis-qualifiziert werden. Die Nutzung einer Laterna Magica durch Schrepfer bestätigten Zeitge-nossen, so Johann Salomo Semler: Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaß-nerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, S. 77; dazu K. R.H. Frick (wie Anm. 18), S. 448 f. Bei seinen Geisterzitationen setzte Schrepfer masonische Initiationsri-ten ein; vgl. Christian August Crusius: Bedencken eines bekannten Gelehrten über die Schröpferischen Geisterbeschwörungen, Berlin 1775, S. 11. Gegen die von Julian Schmidt vorgenommene Identifizierung der literarischen Akteure Sangerheim und Graf Feliciano mit Schrepfer und Cagliostro wandte R. Stamm (wie Anm. 3, S. 111) ein, daß Tiecks Text „keinerlei direkte Indizien dafür bietet“, gab jedoch keine nähere Begründungen. Dabei sind die Differenzpunkte zwischen der historischen Figur Schrepfer und der literarischen Figur Sangerheim unübersehbar, vor allem Herkunft und Bildungsgang betreffend: Wäh-rend Schrepfer bürgerlicher Herkunft, ungebildet und gewalttätig war, entstammte San-gerheim der illegitimen Verbindung eines französischen Prinzen und einer Bürgerlichen, erlangte auf ausgedehnten Reisen durch Europa umfassende Kenntnisse des esoterischen Schrifttums und überzeugte durch kultivierte Umgangsformen.

59 Der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift Friedrich Gedike war Rektor des Friedrichwerderschen Gymnasiums, das Tieck mit seinen Freunden Wilhelm von Burgs-dorff, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Wilhelm Hensler besuchte; vgl. A.C. Müller: Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin, Berlin 1881; Harald Scholtz: Friedrich Gedike (1754-1803). Ein Wegbereiter der preußischen Reform des Bil-dungswesens, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 13-14 (1965), S. 128-181.

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Urheber der Theorie, die 1773 offiziell aufgehobene Gesellschaft Jesu sei verantwortlich für eine immer stärker ins öffentliche Bewußtsein tretende Krise der aufklärerischen Bestrebungen, waren Adolf von Knigge, der die Loyoliten 1781 als Drahtzieher eines weitreichenden Komplotts entlarvte,60 und Johann Joachim Christoph Bode, der die Jesuiten bereits 1780 für Fehlentwicklungen in der Logen-Organisation verantwortlich gemacht hatte.61 Ihre Beobachtungen und Erklärungen schienen nicht ohne Plausibilität, denn die Formierung einer breiten Oppositionsbewegung gegen die Aufklärung war seit Beginn der 1770er Jahre unverkennbar. Im süddeutschen Raum, namentlich in Ellwangen und Regensburg, fand der katholische Pfarrer Johann Josef Gassner 1774/75 als Teufelsaustreiber sensationellen Zulauf und demonstrierte damit die Erfolg-losigkeit des aufklärerischen Kampfes gegen Teufels- und Wunderglauben. 1777 gelangte der von seinem jesuitischen Beichtvater Ignaz Frank abhängige Karl Theodor von der Pfalz auf den bayerischen Thron und machte sogleich ei-ne Reihe kirchlicher Reformen rückgängig. Lavaters Reise durch Bayern im Jahre 1778 mit den Besuchen beim Begründer der Deutschen Christentumsge-

60 [Adolf Freiherr von Knigge:] Über Jesuiten, Freymaurer und deutsche Rosenkreuzer, hrsg.

v. J.A. Maier, ehemaligem Mitgliede der Gesellschaft Jesu, Leipzig 1781; neu hrsg. v. A. Unger in: Neudrucke älterer freimaurerischer Literatur, I. Reihe, 5. St., Berlin 1929. Knig-ges Schrift, nach eigener Aussage auf Adam Weishaupts Anordnung geschrieben, ging da-von aus, daß der Jesuiten-Orden zwar aufgehoben, aber nicht erloschen sei; seine „boshaf-ten und geheimen Grundsätze“ würden „in anderen Kleidern nach dem alten Systeme“ nur um so sicherer praktiziert. Die wichtigsten Kampfmittel der im Geheimen wirkenden Jesui-ten wären die Verleumdung der Aufklärung als Freigeisterei, die Kooperation mit dem Gold- und Rosenkreuzerorden und die Verdummung des Volkes durch Unterstützung von Betrügern und Schwärmern. Das Ziel des Ordens bestehe in der Restauration despotischer und gegenreformatorischer Verhältnisse durch die Beeinflussung schwacher, wankelmüti-ger Fürsten; dieser Verschwörung aber könne nur durch eine „Gegenverschwörung“ begeg-net werden: „Wenn eine Gesellschaft der besten Menschen nach einem eben so vorsichti-gen Plane zusammenträte, ihre Zöglinge ebenso zur Tugend bildete, wie die Jesuiten die ihrigen zur Bosheit abrichteten, wenn sie dieselben statt des Fanatismus von ihrer ersten Jugend an mit Liebe zu dem Menschengeschlechte, mit Begierde edle große Grundsätze zu verbreiten und im Großen zum Wohle der Welt würksam zu sein erfüllte – was würde diese Gesellschaft nicht leisten können.“ (S. 33.)

61 Nur am Rande sei bemerkt, daß Knigge und Bode eine ältere, von Ausgsburger Jesuiten 1764 wieder in die Welt gesetzte Verschwörungstheorie umkehrten: Nach dieser Theorie hätten sich Jansenisten – Vertreter einer innerkatholischen Reformbewegung gegen Jesui-tismus und Scholastik – und Aufklärer konspirativ vereint, um den Einfluß der Societas Je-su zurückzudrängen. Das zentrale Dokument zum Beweis dieser „Verschwörung“ war die lat. Übersetzung der bereits 1755 in Paris erschienenen Schrift des Jesuiten H.M. Sauvage La realite du projet de Bourg-Fontaine, demontree par l’execution über einen angeblichen Kongreß von Jansenisten und Aufklärern in der Kartause von Bourgfontaine, auf dem ein Geheimplan zur Einführung der deistischen Vernunftreligion und zur Abschaffung der Kir-che verabredet worden sei. 1758 in Paris öffentlich von Henkershand zerrissen und ver-brannt, erschien sie 1764 in Augsburg u.d.T. Veritas Concilii Burgofonte initi ex ipsa huius executione demonstrata. Obwohl die Schrift in München beschlagnahmt wurde, wirkten ih-re Behauptungen von der „Freigeisterei“ der Jansenisten und ihrer unterschiedslosen Ein-heit mit Deisten, Atheisten und Materialisten weiter fort; als Bestätigung dieser angeblichen Allianz sahen die Jesuisten die 1773 von Papst Clemens XIV. verfügte Aufhebung des Or-dens, der zu diesem Zeitpunkt ca. 30.000 Mitglieder hatte. Eine Reaktion auf die konspira-tionistischen Projektionen der Jesuiten war die Schrift des Josephiners und nachmaligen Herausgebers der jansenistischen Wiener Kirchenzeitung Marc Anton Wittola: Der Janse-nismus, ein Schreckenbild für Kinder, Friedburg (München) 1776.

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sellschaft (Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit) Johann August Urlsperger in Augsburg und dem Stattler-Schüler Johann Mi-chael Sailer in Ingolstadt demonstrierte eine neue Einheit religiöser Kräfte und konnte als mögliche Wiedervereinigung von Protestanten mit der katholischen Kirche (im Zeichen einer von Benedikt Stattler geforderten „demütigen Unter-werfung unter das untrügliche Urteil der Kirche in jeder Glaubensfrage“) ver-standen werden. Der als Kampfinstrument gegen die Herrschaft von Adel und Klerus 1776 in Ingolstadt gegründete Geheimbund der Illuminaten, der die Un-terwanderung bestehender Institutionen durch aufklärerisch erzogene sowie dem Orden und seinen unbekannten Oberen absolut ergebene Adepten plante und dazu auch Organisationsprinzipien der Societas Jesu nutzte, geriet schließ-lich – nach ersten Anfangserfolgen und raschem Mitgliederzuwachs auch im norddeutschen Reichsgebiet, in dessen Rahmen u.a. Goethe und Herder Illumi-naten wurden – ins Visier obrigkeitlicher Verfolgungen. Der Versuch des Or-densgründers Weishaupt, sich illegal Kenntnisse von diplomatischen Korres-pondenzen zu verschaffen, wurde verraten. Im Juni 1784 erließ Karl Theodor – nicht zuletzt aufgrund der massiven anti-illuminatischen Propaganda und der Ratschläge seines Beichtvaters, der gleichzeitig Zirkelsekretär der Münchner Rosenkreuzer war – ein allgemeines Verbot aufklärerischer Geheimorganisati-onen. Im März und August 1785 folgten weitere, speziell gegen die Illuminaten gerichtete Dekrete. Es waren jedoch nicht nur die massiven Repressionen ge-gen den Illuminatenbund im bayerisch-pfälzischen Staat (mit Anklagen gegen 135 Mitglieder des Ordens), die den Berliner Aufklärern um Biester, Gedike und Nicolai als Indizien für eine großangelegte Konjuration der gegenaufkläre-rischen Kräfte galten. Schon in seiner umfassenden Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 berichtete Friedrich Nicolai über die Zustände und Ereignisse in Bayern und kolportierte hier die These von der „Fabrizierung“ geheimer Gesellschaften durch Jesuiten „in Federhüten und Ordensbändern, die den Thron umzingeln“.62 Durch persönliche Verbindungen über die Vorgänge in Bayern besonders gut informiert, hatte sich Nicolais Re-zensionsorgan Allgemeine Deutsche Bibliothek mit der Besprechung von 83 einschlägigen Schriften bereits an der publizistischen Debatte um den „Teu-felsbanner“ Gaßner beteiligt, zu dessen Verteidigung führende Jesuiten (wie Benedikt Stattler von der Jesuitenuniversität Ingolstadt) und Rosenkreuzer (wie Bernhard Joseph Schleiß zu Löwenfeld) aufgetreten waren. Der Fall Gaßner dokumentierte eine Allianz jesuitischer und dezidiert antiaufklärerischer Kir-chenmänner mit dem Orden der Gold- und Rosenkreuzer, die sich auch bei den späteren Illuminatenverfolgungen auswirken sollte: Wie der Jesuit Stattler, der

62 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre

1781, Bd. 6, Berlin, Stettin 1785, S. 729: „Die Jesuiten lassen ihre Brüder, die nichts als Werkzeuge sind, immer nach dem vorgeschriebenen Plan fortarbeiten, schmeicheln, dro-hen, Lärm machen, verdummen, Kompendien schreiben, Vereinigungsplane machen, Intri-gen ausspinnen, geheime Gesellschaften fabrizieren und was es sonst ist. [...] Ein Mann, der die katholische Welt sehr wohl zu kennen scheint, redet von Jesuiten in Federhüten und Ordensbändern, die den Thron umzingeln (siehe Winkopps Bibliothek für Denker, II. Bd., 5. St., S. 542), und diese sind gewiß in allen Ländern, auch in protestantischen vorhanden.“

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1788 einen zweibändigen Anti-Kant vorlegen sollte, propagierte der Sulzbacher Leibarzt Bernhard Joseph Schleiß zu Löwenfeld, der bei der Formierung des Gold- und Rosenkreuzerordens eine Hauptrolle spielte, die Heilungserfolge Gaßners als christliche Wunder. Die Umgestaltung der alten, auf Naturer-kenntnis und magische Naturbeherrschung zielenden Rosenkreuzertradition zu einer betont irrationalistisch-religiösen Bewegung berief sich auf den Gaßneri-anismus; in ihren Ordensgesetzen und hierarchischen Strukturen folgte die „Fraternität der goldenen Rosenkreuzer“ jesuitischen Prinzipien und zielte frühzeitig auf politische Einflußnahme.63

Vor dem Hintergrund dieser nur knapp und fragmentarisch umrissenen Entwicklungen gewinnen die in der Berlinischen Monatsschrift verbreiteten Beiträge zur Beschreibung und Erklärung aktueller Entwicklungen an Plastizi-tät. Die Vielzahl von Artikeln zum Wirken von Arkangesellschaften sowie die noch zahlreicheren Beiträge zu Manifestationen des Geisterglaubens, zu Geisterzitationen innerhalb esoterischer Geheimbünde und zu den Machinatio-nen des betrügerischen Geistersehers Cagliostro belegen nicht nur eine gestei-gerte Sensibilität für die zunehmenden Bedrohungen des Aufklärungsprojekts seit Beginn der 1780er Jahre, die zugleich auch die Formationsphase des Au-tors Ludwig Tieck bestimmten. Die spezifischen Deutungen dieser Bedrohung der Aufklärung werfen zugleich ein bezeichnendes Licht auf Beschreibungs- und Erklärungsmuster im Umgang mit der esoterischen Praxis von Geheimge-sellschaften und stehen damit in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Wissensbeständen in Tiecks Novelle Die Wundersüchtigen, als deren Zentrum die Imagination einer tiefgehenden Aufklärungskrise und deren Bewältigung gelten kann. Eine explizite Darstellung der Aufklärungskrise in den 1780er Jahren, wie sie von den damaligen Akteuren um die Berliner Aufklärer gege-ben wurde, liefern die Briefe des Philosophen Friedrich Victor Leberecht Ples-sing an seinen ehemaligen Lehrer Immanuel Kant, in denen jener – nach einer mit Friedrich Gedike unternommenen Reise auf den Blocksberg – berichtete:

Durch Schwärmerei und Aberglauben steht uns allerdings (: traurigen Wahrschein-lichkeiten zufolge:) wieder große Einschränkung der Denk=Freiheit, ia, wohl noch was schlimmers bevor; und alle Rechtschaffne, die die Wahrheit lieben, zittern. Ew. Wohlgeb. haben die eine Seite, von der Gefahr droht, gerathen: nur daß Sie sich dieselbe etwas zu gering vorstellen. Die Jesuiten sind vorzüglich diejenigen, welche, als Feinde der Vernunft und menschlichen Glückseeligkeit, itzt unter allen möglichen Gestalten und Konnexionen ihr Werk treiben. Dieser Orden ist mächti-ger als jemahls, und er würkt allenthalben unter M-r-n, unter Katholiken und Pro-testanten; ein protestantischer König soll selbst heimlicher J-s-t sein: diese hölli-schen Geister haben die Herzen der Prinzen und Fürsten vergiftet; der Schein von

63 Direkte Beziehungen zwischen Jesuitenorden und Rosenkreuzerbruderschaft sind aufgrund

der verworrenen Geschichte des Gold- und Rosenkreuzerordens nur schwer nachweisbar. Vgl. a. die von Samuel Richter verfaßte Schrift Die wahrhahfte und vollkommene Bereitung des philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Gülden- und Rosen-Creutzes von S.R. [Sincerus Renatus] (Breslau 1710 u. 1714), die auch Ordensgesetze mit unzweideutig jesuitischen Prinzipien enthält. Als „fraglos vorbildlich“ für die Statuten des 1777 in Sulzbach formierten Rosenkreuzerordens gelten diese Ordensgesetze in: G. Schus-ter (wie Anm. 57), S. 116.

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Toleranz bei den Katholiken ist ein Werk, das von ihnen herkommt, und wodurch sie sogar die Protestanten suchen endlich unter den Katholicismus zu bringen. Geister bannen und dergleichen Schwärmereien, auch wohl Gold machen u.d.g. sind Dinge, die von den angesehensten Personen geglaubt werden: ich selbst habe zu Berlin in Gesellschaften von vornehmen Personen dergleichen gehört. Auch hält sich ein ehmaliger Gefährt von Schröpfer bei einer sehr großen Person in Potsdam oder Berlin auf. Mit des Kaysers Toleranz hat es nicht viel zu bedeuten, und selbst hierunter hat Belial sein Spiel. – So wie die Menschen immer wüthend gegen ihr eigen Heil, gegen Vernunft und Aufklärung gewesen, so geschieht dies nun auch gegenwärtig: die Protestanten suchen durch Errichtung von Gesellschaften, der Aufklärung (: wie sie sagen der Atheisterei, dem Werk des Teufels:) entgegen zu arbeiten: eine dieser Gesellschaften hat ihre Äste durch die Schwetz, Holland, Teutschland und Preußen ausgebreitet; sie ist auch in Königsberg: hier an diesem Ort, wo gesunde Vernunft auch gänzlich Kontre-Bande ist und lauter Abderiten le-ben, ist auch eine Loge dieser Gesellschaft (: Urlsperger von Augspurg hat sie ge-stiftet, in Berlin sind Silberschlag und Apitsch die bekannten Mitglieder davon, welche man öffentlich nennen kann:), und hinter dergleichen Gesellschaften stek-ken sich auch die Jesuiten, um nur den Keim der Vernunft mehr zu erstikken, und den Saamen der Dummheit auszusäen.64

Wenn Plessing „Schwärmerei“ und „Aberglauben“ als die sichtbaren Anzei-chen einer restaurativen Wende gegen „Vernunft und menschliche Glückselig-keit“ benannte und den angeblich „mächtiger als jemals“ agierenden Jesuiten-Orden als deren heimlichen Urheber identifizierte, war ein Deutungsmuster ausgesprochen, das zahlreiche Artikel der Berlinischen Monatsschrift prägen sollte, auch wenn die direkte Benennung von Roß und Reiter um so schwieri-ger wurde, je mehr die Geister- und Wundergläubigkeit Friedrich Wilhelm II. zutage trat. Da die Verstrickungen des Kronprinzen und späteren Königs in das von Wöllner und Bischoffwerder gewebte Netz aus Suggestion und „magi-schen Operationen“ nicht explizit benannt werden konnten,65 konzentrierten sich die BM-Herausgeber auf andere Indizien der angeblichen „Jesuitenver-

64 Friedrich Victor Leberecht Plessing an Immanuel Kant. Briefe vom 15. März 1784. In:

Kant’s Briefwechsel (1747-1788), zweite Abth., Bd. 1, Berlin, Leipzig 1922, 371f. Ortho-graphie u. Zeichensetzung im Original. Am 15.10.1783 hatte Plessing kryptisch an Kant be-richtet: „Leider stehen uns vielleicht bald wieder traurige Zeiten der Schwärmerei und Un-wißenheit bevor; die Schwärmerei wandelt schon mit mächtigen Schritten heran; es ist nicht jedem bekannt, von welchen Seiten für den menschlichen Geist aufs neue solche Ge-fahren zu befürchten sind: allein es ist beinahe gefährlich, seine aufrichtigen Gedanken hierüber einem Briefe anzuvertrauen“ (S. 359), woraufhin der Königsberger nähere Erklä-rungen erbat und im zitierten Schreiben erhielt.

65 Zu diesen „magischen Operationen“ gehörte bereits das Aufnahmeritual des Kronprinzen am 8.8.1781, bei dem im Charlottenburger Schloß eine Loge hergerichtet und mit Hilfe von Schrepfers Apparaten unter Blitz und Donner die Geister Marc Aurels, Leibniz’ und des Großen Kurfürsten „zitiert“ wurden. Auf der Basis der hierbei gewonnenen Erfahrungen wurden im Verlauf der nächsten Jahre in der Wohnung Woellners (wo eine förmliche „Geisterbühne“ eingerichtet worden war) die Geister von Julius Cäsar, Leibniz und des früh verstorbenen Grafen von der Mark herbeigerufen; die Rolle der Geister soll ein mit Bi-schoffwerder befreundeter Sachse namens Steinert gespielt haben; vgl. G. Schuster (wie Anm. 57), Bd. 2, S. 127. Die dabei angewandte Fähigkeit des Bauchredens teilte der Mani-pulierer des preußischen Kronprinzen mit der literarischen Figur des Sangerheim in Tiecks Novelle Die Wundersüchtigen: Auch der von „unbekannten Oberen“ gelenkte Sangerheim nutzt das Bauchreden zur Suggestion der Geisterbeschwörung.

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Ziel der aufgeklärten Vernun

schwörung“: Zum einen auf vermeintlich „kryptokatholische“ Bestrebungen zur „Proselytenmacherei“, zum anderen auf die grassierende „Wundersucht“.66 Im Verbund mit Artikeln zur Praxis „magnetischer Gesellschaften“ versammel-ten diese Beiträge jene Vorstellungen, die in Tiecks Novelle Die Wundersüch-tigen wiederkehrten und zu deren literarischer Verarbeitung in Tiecks Erzähl-text aus dem Jahre 1829 nun drei Beobachtungen formuliert werden sollen.

Erstens: In personaler Konfiguration und Handlungsstrukturen, vor allem aber in der Anlage des „aufklärenden“ Erzählens im Sinne einer rationalen Er-klärung scheinbar übernatürlicher Phänomene griff Tieck in vielfältiger Weise auf Wissensbestände der Handlungszeit der Novelle zurück. Diese explizit be-stimmte Handlungszeit ist die Zeit der späten 1770er bzw. frühen 1780er Jah-re.67 Ein zusätzlicher Hinweis – und zugleich ein Indiz für die historische Situ-ierung im Kontext der Rosenkreuzer-Umtriebe um Friedrich Wilhelm II. – liefert eine Aussage des Geheimrats von Seebach zu Beginn, daß sich „abergläubische Menschen aus leicht zu errathenden Absichten an den Erbprinzen [...] drängen“.68 In diesem Horizont lassen sich die zentralen Protagonisten und ihre Beziehungen sowie die Konstellationen ihres Handelns verorten: Der Geheimrat von Seebach repräsentiert die Überzeugung, nach jugendlicher Suche nun im „offenen Geheimnis“ der „echten Maurerei“ das

ft gefunden zu haben, wird jedoch durch das 66 Eine der ersten expliziten Beiträge zur „Wundersucht“ war der Aufsatz von Johann August

Eberhard: Über den Ursprung der Fabel von der weißen Frau. In: Berlinische Monatsschrift vom Januar 1783 (fortan zit: BW), in dem die „Erforschung des Ursprungs der Legenden und Fabeln“ als sicheres Mittel gegen den Aberglauben bezeichnet wurde. In einem Nach-trag stellte -Herausgeber Gedike einen Bezug zu Vorgängen am preußischen Königshof her. Während Kurfürst Joachim II. „zwar aufgeklärt genug (war), das Joch des Papstes ab-zuschütteln, aber in mancher Rücksicht noch sehr schwach und leichtgläubig, daher er mit Projektmachern aller Art, mit Goldmachern, [...] Geisterbannern und Schwarzkünstlern sich einließ“ und Friedrich Wilhelm I. einen betrügerischen Simulanten des Gespenstes einsper-ren ließ, sei die Gegenwart wieder gefährdet: „Leider – mit Erröten schreib’ ich’s – ist der Glaube an die weiße Frau noch nicht ganz ausgestorben... Immer ist es indessen in unsern Zeiten nur dem Pöbel verzeihlich, an Märchen der Art, wie das von der weißen Frau zu glauben. Aber was soll man dazu sagen, wenn Leute, die durch Geburt, Erziehung, Stand über den Pöbel erzhaben sind, dennoch hierin mit dem Pöbel übereinstimmend denken?“ – Direktere Hinweise auf die Vorgänge am preußischen Hof gab es in der BM nicht mehr, da-für Beiträge zu religiösem Separatismus und Sektenwesen, Gespensterwahn, Schatzgräbe-rei, Lottospiel, Glauben an Universalmedizin und Goldmacherei; vgl. P. Weber (wie Anm. 15), S. 420; Y. Wübben (wie Anm. 15), S. 190, die für den Zeitraum zwischen 1783 und 1789 mehr als 44 Beiträge zu Manifestationen des Geisterglaubens angibt.

67 Markiert wird die Handlungszeit durch den bereits zitierten Satz: „So lange noch solche Geister in Deutschland regieren, wie hier uns nahe Friedrich der Zweite, und dort Joseph der Zweite, so lange noch ein Mann wie Lessing schreibt und wirkt, haben wir Nichts zu fürchten.“ Da Lessing 1781, Friedrich II. 1786 und Joseph II. 1790 starb, ist als Beginn des Handlungszeitraum die Zeit vor 1781 anzusetzen.

68 Die Wundersüchtigen, S. 163. Nach dem schmählichen Ende der Geheimbundaktivisten Sangerheim und Feliciano und der Auflösung der „Wundersucht“ erfolgt auf der vorletzten Seite noch ein weiterer Hinweis auf den inzwischen erfolgten Thronwechsel und die Regie-rung Friedrich Wilhelm II.: Der irregeführte, doch auf den Pfad der Vernunft zurückgekehr-te Geheimrat lacht nun über die „abgeschmackte Figur mit dem vielfältigen Abracadabra, die er damals an abergläubische Brüder nach der nahen Residenz gesendet hatte“ und „wurde plötzlich ernst, denn er bedachte, wie in jenem Lande dort der als Monarch herr-sche, der damals nur nächster Erbe gewesen war, und welche Thorheiten dort in der Nähe des Thrones getrieben wurden“ (S. 293).

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Vernunft gefunden zu haben, wird jedoch durch das Wirken des Geheimbund-Emissärs Sangerheim korrumpiert und erst durch die Selbstentlarvung des „Wundermannes“ von seiner Verblendung befreit. Der Bundes-Emissär San-gerheim vermag zwar durch scheinbar übernatürliche Kräfte zu beeindrucken – er findet mit „magischen“ Fähigkeiten ein von Seebach gesuchtes Dokument –, entpuppt sich aber als Katholik, der den Protestanten Seebach zur Konversion überreden will. Unter Sangerheims Einfluß beabsichtigt Schmaling, der Ver-lobte von Seebachs Tochter, den Übertritt zur katholischen Kirche, denn

um ganz der Einweihung in die Mysterien würdig zu werden, um die Grade emp-fangen zu können, und die Strahlen des Lichtes, nach denen ich mich sehne, ist es nothwendig, wie mir mein Lehrer sagt, daß ich meinen jetzigen Standpunkt in der Kirche aufgebe, die Ueberzeugung, die mir ja niemals eine war, weil sie mein brennendes Herz so leer ließ, daß ich zur ältern, eigentlichen christlichen Kirche zurückkehre, die mütterlich jedem Verirrten die Arme entgegenbreitet.69

Der imposant agierende Graf Feliciano suggeriert seine angebliche Unsterb-lichkeit und Einweihung in jahrtausendealte Mysterien mit souveränen Auftrit-ten, entlarvt sich jedoch selbst als zynischer Betrüger. Anton, Sohn des Ge-heimrats von Seebach, folgt dem vermeintlichen Magier und kehrt erst nach Jahren der Irre reumütig ins Vaterhaus zurück. Einzig beständiger Garant der aufgeklärten Vernunft bleibt die Tochter des Geheimrats von Seebach mit dem sprechenden Namen Clara, was sicher nicht zufällig an die Protagonistin in E.T.A. Hoffmanns „Nachtstück“ Der Sandmann erinnert.

Die Entdeckung der von Aufklärern wie Biester und Gedike, Knigge und Nicolai kolportierten Vorstellungen über eine angebliche „Jesuitenverschwö-rung“ in Tiecks Erzähltext scheint nicht schwerzufallen: Die literarische Figur des angeblich unsterblichen, von ägyptischen Priestern initiierten Feliciano versammelt die Eigenschaften jener Hochstapler und Betrüger des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die aus der Sucht nach dem Geheimnisvollen persönlichen Gewinn schlugen und als deren bekanntester Vertreter der Sizilianer Guiseppe Balsamo, genannt Alessandro Cagliostro in Erscheinung trat.70 Sangerheim fi-guriert als Typus jener von „unbekannten Oberen“ gelenkten „Proselytenma-cher“, vor denen die Berlinische Monatsschrift seit Biesters unter dem Pseudo-nym Akatholikus Tolerans veröffentlichten Beitrag Falsche Toleranz... vom Februar 1784 immer wieder gewarnt hatte. In den Spekulationen über den ge-heimnisvollen Wundertäter lassen sich sogar direkte Übernahmen von BM-Beiträgen identifizieren:

69 Die Wundersüchtigen, S. 238. 70 Vgl. den im Dezember 1784 in der Berlinischen Monatsschrift publizierten Beitrag Der

Pseudo-Graf Cagliostro (Aus dem Tagebuch eines Reisenden. Straßburg 1783), in dem ei-ne Personenbeschreibung des angeblichen Grafen gegeben wurde, die in mehreren Details („kleiner, höchst breitschultriger, breit- und hochbrüstiger, dick- und steifnackichter Kerl“) mit der Beschreibung des Grafen Feliciano in Tiecks Erzähltext („klein und stark, von brei-ten Schultern, und sein Kopf stand zwischen diesen etwas eingepreßt auf einem dicken Hal-se“) übereinstimmt.

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Man erzählte: dieser Sangerheim sei nichts anders als ein Spion, von einer großen Macht des südlichen Deutschlands ausgesendet, um in den nördlichen Provinzen Zwiespalt auszusäen, und Mißtrauen zwischen Volk und Regierung zu erregen. Der verhaßte Name der Jesuiten wurde nicht geschont, um ihn und seine Freunde zu bezeichnen und verdächtig zu machen. Man wollte in seiner Wohnung eine weiße Frau oder vielmehr ein entsetzliches Gespenst gesehn haben, und der neuerungs-süchtige Pöbel fügte hinzu, daß Kobolde und Teufel in seiner Wohnung freien Aus- und Eingang hätten.71

Die in den 1780er Jahren zirkulierenden Wissensbestände und Vorstellungen über Geheimgesellschaften und ihre mysteriösen Trabanten liefern jedoch nicht nur Elemente zur Konstruktion der handelnden Akteure und ihrer Motivations-struktur. Sie prägen zugleich auch die Muster, mit denen die Ziele und Mittel der geheimen Machinationen aufgedeckt werden. So wird die Persönlichkeit des Geheimbund-Emissärs Sangerheim auf die Sozialisation im Geheimbund-wesen des 18. Jahrhunderts zurückgeführt und ausführlich erläutert. Auch die anfänglich erfolgreiche Suggestion seiner paranormalen Fähigkeiten findet eine rationale Erklärung: Sangerheim beherrscht die Fähigkeit des „Magnetisierens“ und setzt seine Ehefrau als Medium zur Recherche im Unterbewußtsein ande-rer Personen ein. Die rationale Rückführung der geheimnisvollen Fähigkeiten des manipulierten Emissärs auf das Vermögen des Magnetisierens ist deshalb so aufschlußreich, weil es exakt einem in der Berlinischen Monatsschrift kol-portierten „Wissen“ über die Bedrohungen durch angeblich jesuitisch be-herrschte „magnetische Gesellschaften“ korrespondiert. Diese seit Beginn der 1780er entstandenen Gesellschaften wirkten als Behandlungszentren und Kommunikationsstätten in entscheidender Weise für die Weiterverbreitung des Heilmagnetismus in der von Mesmer entwickelten Form, ernteten jedoch – nicht zuletzt aufgrund ihres lokalen Ausgangsortes Straßburg, dem „maure-risch-esoterischen Strahlungszentrum sui generis“72 – das massive Mißtrauen der Berliner Aufklärer. Denn obwohl die magnetischen Gesellschaften keine Geheimbünde waren und die von französischen Mesmer-Schülern gegründete „Société de l’Harmonie“ ihre Behandlungsprotokolle sogar veröffentlichte,73

71 Die Wundersüchtigen, S. 201. Hier finden sich zum einen Vorstellungen aus dem BM-

Artikel Schreiben eines Schlesiers an den Akatholikus Tolerans vom Juni 1784, in dem nach Hinweisen auf Positionsgewinne der katholischen Kirche in Schlesien über Vorgänge in einer „ziemlich großen, freien Handelsstadt“, wahrscheinlich Augsburg, berichtet und der Kampf gegen den sog. Kryptokatholizismus eröffnet wurde. Zum anderen läßt sich im Gerücht von der „weißen Frau“ eine Anspielung auf die abergläubischen Vorstellungen entdecken, die Johann August Eberhard in seinem Beitrag Über den Ursprung der Fabel von der weißen Frau in der Berlinischen Monatsschrift vom Januar 1783 attackiert hatte.

72 Ludwig Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften, Heidelberg 1980, S. 16.

73 Nachdem Mesmer in Frankreich zahlreiche Schüler gefunden hatte – u.a. die Brüder de Puységur, von denen Amand-Marie-Jacques de Chastenet Marquis de Puységur als Entde-cker des „künstlichen Somnambulismus“ am bekanntesten wurde – gründeten seine An-hänger, den seinerzeit üblichen Organisationsformen diskreter Gesellschaften folgend, die „Société de l’Harmonie“. Die Sozietät bot den hier versammelten Magnetiseuren nicht nur Chancen zu Aktivität und Kommunikation sowie Schutz vor Repressionen, die von Seiten der Pariser Akademie der Wissenschaften, der Königlichen Medizinischen Gesellschaft und

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vermuteten die orthodoxen „Nicolaiten“ hinter dieser Organisation rasch das Wirken geheimer Orden und vorzüglich das Wirken der offiziell aufgehobenen Societas Jesu.74 In den „magnetischen Strichen“ wollte man eine geheime Bot-schaft in Form eines Druden- bzw. Alp-Fußes ermittelt haben; die von Cagli-ostro unternommenen „magnetischen Kuren“ hatte der Weimarer Illuminat Bode bereits in seiner 1781 erschienenen Schrift Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit. Ausgegossen vor dem neuen Thaumaturgen Caljostro als Täuschungsversuche mit bestochenen Medien zur Verführung „schwärme-rischer“ Gläubiger bloßgestellt. Seinen wohl deutlichsten Ausdruck fanden die Vorstellungen von einem Zusammenhang zwischen kryptokatholischer Unter-wanderung, magnetischen Gesellschaften und jesuitischer Konspiration in der Berlinischen Monatsschrift vom November 1788, in der eine Maskerade zur Visualisierung der von den magnetischen Gesellschaften ausgehenden Gefah-ren beschrieben wurde. Voran schritt die als Torheit personifizierte „Société Harmonique des Amis Réunis“, die sich insbesondere der Erforschung des von Puységur entdeckten „künstlichen Somnambulismus“ widmete. Ihr folgte der magnetisierende Arzt („ganz so gekleidet wie die Doktoren der Medizin zu Pa-ris, mit dem magnetischen Stabe in der Hand“), hinter dem ein Baquet – ein Gesundheitszuber zur Sammlung und Konzentration des mesmerischen „Flui-dums“ – getragen wurde. Dieser Spitze folgten ein Abbé, ein Pilger und eine Nonne (als Vertreter des Katholizismus); zwei Straßburgerinnen in National-tracht (als Hinweise auf die gelangweilten Damen der Gesellschaft, die dem Magnetiseur ihre Tugend opferten); eine Spanierin (stellvertretend für den spa-nischen Katholizismus und dessen Inquisition, möglicherweise für die Loyoli-ten), ein Prokurator und zum Schluß ein hinkender Jude. Der in der Nähe des „Kranken“ positionierte Prokurator sollte jedes Wort des magnetisierten und divinierenden Kranken aufzeichnen und publik machen. Ebenso wie der mag-netisierende und seine Protokolle veröffentlichende Arzt war er der sichtbare Vollstrecker des Willens der „unbekannten Oberen“ und ihrer verborgenen Ziele.75

der Medizinischen Fakultät bereits erfolgt und auch weiterhin zu erwarten waren. Zugleich eröffnete sie den Mesmer-Schülern die Möglichkeit, sich allmählich von ihrem Lehrer zu lösen; vgl. dazu Anneliese Ego: Magnetische Auftritte – ideologische Konflikte. Zur Problematik eines medizinischen Konzeptes im Zeitalter der Aufklärung. In: H.-J. Schings (wie Anm. 47), S. 206.

74 Eröffnet wurde die Kampagne durch Johann Erich Biester: Doktor Mesmer. In: Berlinische Monatsschrift 1785, 1, S. 15-31. In rascher Folge erschienen zahlreiche, z.T. anonyme Bei-träge, u.a. Magnetische Desorganisation in Paris, Straßburg und Zürich, nebst zwei Schrei-ben vom Herrn Diakonus Lavater und Herrn Hofmedikus Marcard, in: BM 1785, 2, S. 430-449; Magnetische Desorganisation, in: BM 1786, 1, S. 76-80; J.E. Biester: Magnetische Desorganisation und Somnambulism, in: BM 1785, 1, S. 126-160; E.G. Baldinger: Ueber die magnetische Desorganisation in Bremen, in: BM 1787, 1, S. 478-502; K.H. Freiherr von Sierstorpff, G.R. Lichtenstein [Bearb.]: Magnetische Versuche des Grafen von Satillieu zu Braunschweig, in: BM 1789, 1, S. 421-459; Neuere magnetische Geschichte in Paris, in: BM 1790, 2, S. 273-279.

75 [Anonnym:] Magnetische Gesellschaft auf der Maskerade. In: Berlinische Monatsschrift 1788, 1, S. 183. Die Dechiffrierung folgt Anneliese Ego: Magnetische Auftritte – ideologische Konflikte. In: H.-J. Schings (wie Anm. 47), S. 209.

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Diese besondere Qualität verschwörungstheoretischer Kombinatorik – die in „magnetischen Gesellschaften“ und der Erzeugung des künstlichen Somnam-bulismus ein Werkzeug des geheim agierenden Jesuitenordens erkannte – fin-det sich auch in Tiecks Erzähltext wieder: Der von Jesuiten manipulierte San-gerheim nutzt „magnetische Operationen“ an der eigenen Ehefrau zum Gewinn seines vorgeblich magischen Wissens, riskiert aber durch die Anwendung des künstlichen Somnambulismus die zunehmende Schwächung und schließlich den Tod seines Mediums. Der Anschluß des Autors Tieck an die konspiratio-nistische Fabel vom Zusammenhang zwischen angeblicher Magie, parapsycho-logischen Phänomenen und sinistren Absichten verschworener Dunkelmänner ermöglicht auf der Ebene der Erzähllogik die „natürliche“ Aufklärung der scheinbar übernatürlichen Vorgänge um den Bundes-Emissär Sangerheim.76 Dieser Anschluß bezeugt zugleich die Wirkungsmacht von Deutungsmustern, wie sie im literarischen Feld seit Schillers musterbildendem Romanfragment Der Geisterseher zu beobachten waren und als deren publizistisches Pendant die spätaufklärerischen Debatten um „Schwärmerei“ und „Wundersucht“ in der krisenhaft erschütterten Arkanwelt des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten kann.

Zweitens: Mit der „rationalen Erklärung“ der geheimbündlerischen Manipu-lationen griff Tieck nicht nur auf kulturelle Wissensbestände und Vorstellun-gen der Handlungszeit der Novelle zurück, sondern schloß sich zugleich einer von Moses Mendelssohn 1785 in der Berlinischen Monatsschrift gegebenen Empfehlung zum Umgang mit der durch Arkangesellschaften beförderten „Wundersucht“ an. Unter der Überschrift Soll man der einreißenden Schwär-merei durch Satire oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten? hatte Mendelssohn explizit erklärt, daß die „Quelle des Übels [...] nicht anders als durch Aufklärung verstopft werden“ könne. Wie Mendelssohn, der explizit die

76 Dabei verbindet sich die „natürliche“ Aufklärung der scheinbar paranormalen Fähigkeiten

des Bundes-Emissärs Sangerheim mit seiner moralischen Verurteilung: Sangerheim konnte das durch den Geheimrat von Seebach gesuchte Dokument auffinden, weil er seine som-nambule Ehefrau Theodora als Hellseherin benutzte. Durch die „magnetischen Experimen-te“ zunehmend geschwächt, entlarvt seine Agentin die angeblichen Wunder ihres Gatten als infame Manipulationen: „Brauche ich Dir zu sagen, daß alles, was Du bis jetzt errungen hast, Kunststücke sind, die nur darum den Menschen unbegreiflich und wundervoll er-scheinen, weil die Wissenschaft sie noch nicht gefunden hat? Jeder Gelehrte kann sie zufäl-lig entdecken, und diese donnernden Explosionen, die sich durch einen Wurf, ohne Spur entladen, werden dann vielleicht ein Spielwerk, mit dem sich die Kinder erschrecken. Und Deine Operationen, diese Blendwerke der Erscheinungen, diese Bilder, die Du zeigst, Dei-ne künstliche, innerliche Sprache, die, wie aus der Ferne, wie die eines Fremden klingt, und womit Du so Viele entsetzest, und sie zu Deinen Zwecken führst; daß ich selbst auch als Geist auftreten muß, – o Alexander, wohin sind wir gekommen? [...] Daß ich auf diese Weise in Deinen weltlichen Absichten Dir habe helfen müssen, ist vielleicht die größte Sünde, die Dir der Himmel nicht anrechnen, und mir meine Schwäche und Nachgiebigkeit verzeihen möge. [...] Dieser künstliche Schlaf, dieser unnatürliche, den Du mir anfangs er-regtest, und der sich jetzt immer mehr von selbst einstellt, hat mir Gesundheit und Kräfte aufgezehrt. [...] Ja wohl ist dies eine Zauberei zu nennen, die den Menschen aus seinem ei-genen Innersten entrückt; aber eine verderbliche. So Vieles habe ich Dir entdecken müssen, hier und in jener Stadt. Mir ist, ich habe nicht allein die Kräfte meines Körpers, sondern auch Theile meiner Seele dabei zugesetzt.“ (Die Wundersüchtigen, S. 265f.)

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Erforschung der Ursachen gefordert und eine verflachte Aufklärung als Grund für die Flucht in Aberglauben und Okkultphilosophie benannt hatte,77 lieferte Tieck eine Erklärung für die Annäherung an mystizistische Assoziationen:

Ihm [Sangerheim] war ein brennender Haß gegen die sogenannte Aufklärung, ge-gen jenen Indifferentismus, der seine Zeit charakterisierte, beigebracht worden. Er hielt es für nothwendig, daß jene Freimaurer, die sich der Rosenkreuzerei, dem Goldmachen und Geisterrufen widersetzten, als Schädliche und Verderbliche aus-gerottet werden müßten, weil sie hauptsächlich durch ihren Einfluß und ihre Logen jene lebentödtende Aufklärung verbreiteten. Er glaubte wohl, daß ein Werben für die katholische Kirche auch eine Aufgabe seiner Sendung sei, unterzog sich aber auch diesem gern, weil er in dieser Lehre auferzogen war, und sie, ohne sie zu prü-fen, oder die protestantische zu kennen, für die bessere hielt. [...] So hin und her geworfen von Leidenschaften und chimärischen Hoffnungen, wähend, ganz nahe an die Erfüllungen seiner höchsten Wünsche zu reichen, durch sophistische Ausre-den über sein trügerisches Thun beruhigt, sich als Lügner kennend, und sich den-noch für einen wahren Wunderthäter haltend, [...] war er in allen diesen tollen Wi-dersprüchen fast in ein gespenstisches Wesen verwandelt worden, das ohne innern Halt jeden Tag nur so hingaukelte, von Neuem täuschte und getäuscht wurde, und nie zur Besinnung kam.78

Die durchgängig bei aufgeklärtem Verstand gebliebene Tochter Clara formu-liert dagegen das Credo des Ausgleichs:

Der Mensch muß ja doch mit festem Charakter und unbezwinglichem Willen in der Mitte stehen bleiben, daß Glauben sich nicht in Aberglauben, Sinn in Thorheit, Tu-gend in Laster verwandle. [...] So ist es eben das Sicherste, dem Alltäglichen getreu zu bleiben, was vielen beflügelten Geistern als das Gemeine erscheint. Will sich der Mensch erheben, wird er, wie der fliegende Schmetterling, von Schwalben und Sperlingen weggehascht, und bleibt er unten am Boden, so wohnt er beim Ge-würm, aber nährt sich vom Thau, der in den Rosen und Lilien glänzt.79

(Schwer erträglich aber wird der Kampf für die Vernunft, wenn der vormals „wundersüchtige“ Verlobte Schmaling zu Clara zurückkehrt, wortreich die ge-wonnene Einsicht in die „Dummheit meiner erhabenen Meister“ gesteht und schließlich beteuert, „sich niemals wieder verführen zu lassen“.80 Denn das ist – zumindest für die Ehe, die Clara und der zum „gesunden Menschenverstand“ bekehrte Schmaling eingehen – keine gute Voraussetzung.)

Drittens: Die Gestaltung der Arkanwelten des späten 18. Jahrhunderts, die rationale Auflösung scheinbar übernatürlicher Phänomene und die sozialpsy-chologische Deutung der „Wundersucht“, wie sie Tiecks 1829 entstandener Er-zähltext Die Wundersüchtigen demonstrierte, läßt sich jedoch keineswegs nur als eine literarische Verarbeitung von historischen Vorstellungen lesen. Wenn ein zeitgenössischer Leser wie Joseph von Hormayr dem Autor mitteilte, die in

77 Moses Mendelssohn: Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satire oder durch äu-

ßerliche Verbindung entgegenarbeiten? In: Berlinische Monatsschrift 1785, 1, S. 135. 78 Die Wundersüchtigen, S. 276. 79 Ebenda, S. 233f. 80 Ebenda, S. 260.

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der Novelle gegeißelten „Thorheiten“ würden „in Berlin immer mehr an Bo-den“ gewinnen,81 belegt diese Aussage die aktuellen Dimensionen eines Tex-tes, der zum einen auf intensivierte Debatten um Somnambulismus und Mag-netismus, zum anderen auf Entwicklungen innerhalb des literarischen Feldes reagierte. Nachdem Justinus Kerners erste Veröffentlichungen zum Thema wie die 1824 veröffentlichte Geschichte zweier Somnambülen ein eher schwaches Echo fanden, erregte seine zweibändige Schrift Die Seherin von Prevorst. Er-öffnungen über das innere Leben der Menschen und über das Hereinragen ei-ner Geisterwelt in die unsere (Tübingen 1829) sensationelles Aufsehen und löste eine erregte Debatte aus. An der rasch polarisierten Diskussion beteiligten sich Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftler, Literaten und die interes-sierte Öffentlichkeit in einer Weise, daß Rezensionsorgane eine „neue Wunder-sucht“82 konstatierten, einen tief eingewurzelten Hang zum Wunderbaren fest-stellten,83 oder sich von einer Gegenwart distanzierten, in der sich Mystizismus und Frömmelei förmlich organisiert hätten, „um Proselyten zu machen“.84 Vor dem Hintergrund dieser erregten Dispute erklärt sich die Bemerkung in einer Rezension zu Tiecks Novelle, das hellsehende Medium Theodora Sangerheim sei „eine Seherin von Prevorst in poetischer Gestaltung“,85 was wiederum auf die mögliche Intention des Autors verweist, zu gegenwärtigen Zuständen und dem neu auflebenden Okkultismus Stellung zu nehmen. Denn neben Kerners kontrovers diskutierter Geisterlehre beunruhigte eine seit den 1820er Jahren signifikante Verbindung zwischen halbwissenschaftlicher Psychologie und re-ligiösem Obskurantismus die Gemüter. Diese Verbindung manifestierte sich insbesondere in Clemens Brentanos hierognostischen, mystizistischen und magnetischen Experimenten mit der schwer leidenden Nonne Anna Katharina Emmerick und trug dem ehemaligen romantischen Kollegen Tiecks (insbeson-dere nach dem Erscheinen des ersten Teils seiner Emmerick-Schriften) den Ruf ein, „korrespondierendes Mitglied der katholischen Propaganda“ zu sein.86

81 Joseph von Hormayr an Ludwig Tieck. Brief v. 15.10.1830. In: Karl von Holtei: Briefe an

Ludwig Tieck, Breslau 1864, Bd. II, S. 14. 82 Literaturblatt zum Morgenblatt für gebildete Stände 1834, Nr. 111, S. 221. 83 Blätter für literarische Unterhaltung, Juni 1830, S. 599. 84 Ebenda, Juli 1830, Nr. 185. 85 Ebenda, 1830, Nr. 326, S. 1303. 86 Das Diktum, Brentano sei „korrespondierendes Mitglied der katholischen Propaganda“ fin-

det sich in Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: H. Heine: Werke und Briefe in zehn Bdn., hrsg. v. H. Kaufmann, Berlin, Weimar 21972, Bd. 5, S. 152. Tatsächlich war der erste Teil von Brentanos Bericht über die stigmatisierte Nonne u.d.T. Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Em-merich 1833 in Sulzbach erschienen; damit in jenem Ort, der für die magisch-alchemistischen Traditionen des frühen 18. Jahrhunderts sowie für die Formierung des Or-dens der Gold- und Rosenkreuzer 1778 eine entscheidende Rolle gespielt hatte. – Auf-schlußreich ist, daß auch in Tiecks Novelle die Wendung von der „katholischen Propagan-da“ erscheint, die Heine in seiner Romantischen Schule mehrfach gebraucht. Als der Geheimrat von Seebach vom Wundertäter Sangerheim zur Konversion aufgefordert wird, sinniert der Protestant von Seebach: „Diese Emissäre gehören also einer Propaganda an, und es läßt sich nun wohl begreifen, wer und was diese geheimen Obern sind [...] Die Her-ren haben also doch ihre Herrschsucht und die alten Plane noch nicht aufgegeben.“ (Die Wundersüchtigen, S. 217.)

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Ruft man sich die Ausbrüche der schwarzen Romantik ins Gedächtnis, die Brentano seit September 1818 am Bett der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick zu bändigen suchte, kann die in Tiecks Novelle Die Wundersüchti-gen gestaltete Sterbeszene des Mediums Theodora Sangerheim nicht nur als fiktionalisierte Bearbeitung der historischen Spekulationen um „Magnetiseure“ und ihre zumeist weiblichen Opfer gelesen werden, sondern zugleich auch als versteckte Abrechnung mit den parapsychologischen „Erkundigungen“ des einstigen Mitstreiters aus Jenaer Zeiten.

Nicht zu unterschätzen bleibt jedoch auch im Falle dieser Novelle Tiecks die strategische Funktion der Positionierung innerhalb eines bereits gut einge-führten und attraktiven Themenfeldes. Daß insbesondere das Medium Literatur auch in den 1820er und 1830er Jahren von der Attraktivität des Themas „Wun-dersucht“ und der Phänomene „Magnetismus“ und „Somnambulismus“ profi-tierte, war schon zeitgenössischen Beobachtern nicht entgangen. Im Rückblick auf jüngere Entwicklungen stellte Wolfgang Menzel 1836 fest, eine Zeitlang habe es kein neues poetisches Taschenbuch gegeben, in dem nicht „eine mag-netische oder Geistergeschichte gestanden hätte“.87 Als zentrales Motiv zur Er-zeugung irrationaler Schauerwirkung fand sich der Magnetismus-Komplex be-reits in E.T.A. Hoffmanns „Phantasiestück“ Der Magnetiseur von 1813, in Carl Weisflogs Nachtstück Doktor Verber von 1827 oder in Lauritz Kruses Mesme-rischer Liebe von 1830. Ironisch gebrochen erschienen die vermeintlichen Wirkungen „magnetischer Operationen“ in Karl Immermanns Erzählung Der Carnaval und die Somnambüle von 1829 und in Tiecks späterer Novelle Lie-beswerben aus dem Jahre 1839.88

Somit dokumentiert die Restauration der Vernunft, wie sie in der Novelle Die Wundersüchtigen unter Rekurs auf die Imaginationsgeschichte der Ge-heimgesellschaften des 18. Jahrhunderts paradigmatisch vorgeführt wird, eine Konstante im Schaffen des Autors, die abschließend noch einmal zu würdigen ist. Zum einen belegt sie Ludwig Tiecks sichere Beobachtung eines vorstruktu-rierten literarischen Feldes und seine versierte Positionierung, zum anderen of-fenbart sie eine Fülle von Anspielungen und Verweisen, die weit über den Rahmen des historischen Stoffes hinausgehen. Nicht zuletzt vermittelt die Er-zählung, die mit der Appellation des Geheimrats von Seebach zum Gebrauch der glücklich wiederhergestellten Vernunft schließt („…laßt uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn“),89 einen Eindruck von der Pionierrolle, die Tieck selbst in den 1830er Jahre zu spielen vermochte. Denn zu vermuten bleibt, daß die Novelle ein Resultat und zugleich Anstoß zu jener verstärkten Kultur der Erinnerung war, von der neben anderen Karl Varnhagen von Ense mit seinen biographischen Essays profitieren sollte. (Auch Varnhagen von En-

87 Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur, zweite, verm. Aufl. in 4 Bdn., Stuttgart 1836,

Bd. IV, S. 237. 88 Als Nebenmotiv oder Stichwort erschien der Somnabulismus bereits in Achim von Arnims

Gräfin Dolores von 1810, in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Doppelgänger von 1819 und in Tiecks eigenen Novellen Das Zauberschloß (1829) und Die Ahnenprobe (1833). Noch Heinrich Zschokkes Vorbedeutungen von 1847 variieren das Thema.

89 Die Wundersüchtigen, S. 294.

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Klausnitzer: Unsichtbare Kirche, unsichtbare Hand, S. 37 se ging in seiner biographischen Darstellung von Franz Michael Leuchsenring in eindringlicher Weise den diskreten Assoziationen und dem kollektiven Ver-folgungswahn des 18. Jahrhunderts nach.) Auf welchen Gründen dieser Zu-sammenfall der Interessen und die Entstehung einer vielfältigen Erinnerungs-kultur jedoch beruht, ist schon eine andere Geschichte.