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Variationsrechnung Vorlesungsskript Wintersemester 2012/13 Bernd Schmidt * Version vom 26. Februar 2013 * Institut f¨ ur Mathematik, Universit¨ at Augsburg, Universit¨ atsstr. 14, 86135 Augs- burg, [email protected] 1

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Variationsrechnung

Vorlesungsskript

Wintersemester 2012/13

Bernd Schmidt∗

Version vom 26. Februar 2013

∗ Institut fur Mathematik, Universitat Augsburg, Universitatsstr. 14, 86135 Augs-burg, [email protected]

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

2 Klassische Theorie in einer Dimension 72.1 Erste Variation und Euler-Lagrange-Gleichungen . . . . . . . . . . 112.2 Zweite Variation und Jacobi-Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . 212.3 Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242.4 Innere Variation, Eckenbedingungen, Erhaltungssatze . . . . . . . 31

3 Sobolev-Raume 383.1 Definition und grundlegende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . 383.2 Fortsetzungen und der Spursatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493.3 Sobolev-Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543.4 Kompakte Einbettungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

4 Euler-Lagrange-Gleichungen 70

5 Vektorwertige Variationsprobleme 795.1 Die direkte Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795.2 Polykonvexitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835.3 Quasikonvexitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

6 Relaxation 976.1 Relaxation von Integralfunktionalen . . . . . . . . . . . . . . . . . 976.2 Young-Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

7 Γ-Konvergenz 1167.1 Allgemeine Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167.2 Zwei Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

A Analytische Hilfsmittel 132

B Mikrostrukturen und Laminate 136

Literaturverzeichnis 140

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Kapitel 1

Einleitung

In der Variationsrechnung geht es darum, “optimale Funktionen” zu finden undzu untersuchen. Etwas genauer gesagt besteht die Aufgabe darin, in einer ganzenKlasse von Funktionen, diejenigen herauszufinden, die einen bestimmten Wert(eine Funktionseigenschaft) minimieren oder maximieren. Noch genauer gesagtsind Funktionen u : Ω→ Rm, Ω ⊂ Rn, gesucht, die das Funktional

I(u) =

∫Ω

f(x, u(x), Du(x)) dx

(in einer bestimmten Klasse zulassiger Funktionen) minimieren (oder maximie-ren). Kurz schreibt man dieses Problem auch einfach als “I(u)→ min”. Allgemei-ner sucht man auch Sattelpunkte des Funktionals I. f ist hierbei eine gegebeneFunktion, definiert auf (einer geeigneten Teilmenge von) Ω × Rn × Rm×n. DasVariationsintegral I beschreibt den zu optimierenden Aspekt von u. Es werdenbisweilen auch Verallgemeinerungen dieser Fragestellung untersucht, insbesonde-re z.B. Funktionale, die auch von hoheren Ableitungen abhangen.

Die Suche nach optimalen Losungen ist schon in vielen alltaglichen Problemenvon Interesse: Wie komme ich am schnellsten von A nach B? Wie konnen Produk-tionsprozesse optimiert werden? Wie kann ich mit einem Maschendrahtzaun einmoglichst großes Stuck Weideland einzaunen? Wichtige Anwendungen hat dieVariationsrechnung aber vor allem in der Physik, den Ingenieurwissenschaftenund den Wirtschaftswissenschaften. Umgekehrt hat die Variationsrechnung ausdiesen Gebieten viele Impulse zu neuen Entwicklungen erfahren. In der Mathema-tik gibt es insbesondere wichtige Anwendungen in der Geometrie. Besonders engist die Variationsrechnung verknupft mit der Theorie der (elliptischen) partiellenDifferentialgleichungen (kurz PDG). Wie wir sehen werden fuhren Variationspro-bleme in naturlicher Weise zu solchen Gleichungen, so dass einerseits mit Hilfeder Theorie der elliptischen PDG Aussagen uber Variationsprobleme gewonnenwerden konnen, andererseits gewisse elliptische PDG mit Methoden der Varia-tionsrechnung behandelt werden konnen.

Die ersten Beispiele von Variationsproblemen gehen bis auf die Antike zuruck.

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So hat Heron von Alexandria (1. Jh. v. Chr.) die Lichtreflexion mit dem Prin-zip des kurzesten Lichtweges erklart. Ein besonders bekanntes Problem aus derAntike ist das Problem der Dido: Einer antiken Sage nach fluchtete Dido, einephonizische Konigstochter, nach der Ermordung ihres Mannes durch ihren BruderPygmalion an die afrikanische Kuste. Dort gewahrte ihr der nicht sehr freundlichgesinnte Konig Iarbas so viel Land, wie sie mit einer Ochsenhaut umspannenkonne. Didos Losung bestand nun darin, die Ochsenhaut zu einen langen dunnenRiemen zurechtzuschneiden und damit ein moglichst großes Gebiet zu umspan-nen. Man nennt dies das “isoperimetrische Problem” (griech.: ’ισoς = gleich,περιµετρoν = Umfang). Offensichtlich handelt es sich um die antike Version desoben angesprochenen Maschendrahtzaunproblems. Obwohl dieses Problem alsoschon sehr alt ist, gab es die ersten vollstandigen Beweise erst im 19. Jahrhun-dert.

Einen wesentlichen Anschub erfuhr die Variationsrechnung durch das soge-nannte Fermatsche Prinzip (Pierre de Fermat, 1662):

Licht nimmt immer den schnellsten Weg von einem Punkt zum ande-ren.

Beachte den Unterschied zum Heronschen Prinzip des kurzesten Weges. In einemhomogenen Medium, in dem die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, sind diesePrinzipien naturlich aquivalent. Das Fermatsche Prinzip gilt jedoch in beliebigenMedien und kann daher auch die Lichtbrechung beim Ubergang des Lichtes voneinem Medium zu einem anderen erklaren.

Als die eigentliche Geburtsstunde der Variationsrechnung wird oft der Mo-ment im Jahre 1696 bezeichnet, als Johann Bernoulli seine Mathematikerkollegenmit dem folgenden Problem herausforderte:

“Wenn in einer verticalen Ebene zwei Punkte A und B gegeben sind,soll man dem beweglichen Punkte M eine Bahn AMB anweisen,auf welcher er von A ausgehend vermoge seiner eigenen Schwere inkurzester Zeit nach B gelangt.”

Gesucht ist also die sogenannte “Brachistochrone” (griech.: βραχιστoς = kurzeste,χρoνoς = Zeit) oder auch:

Welche Form hat die schnellste Rutsche von A nach B?

Wie schon erwahnt hat die Variationsrechnung eine Fulle von Anwendun-gen in der Physik. In der Hamiltonschen Mechanik beispielsweise werden die

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Trajektorien von Massenpunkten als Minimalstellen (oder Maximalstellen oderSattelpunkte) eines Wirkungsfunktionals charakterisiert. In der Theorie des Elek-tromagnetismus wiederum werden elektrische und magnetische Felder durch einEnergieminimierungsprinzip beschrieben. Auch in der Quantenmechanik und derRelativitatstheorie findet die Variationsrechnung ihre Anwendungen. Von beson-derem Interesse aus mathematischer Sicht ist der Zusammenhang zwischen “rei-ner” Variationsrechnung und der (mathematischen) Elastizitatstheorie, von derseit Leonhard Euler bis heute wesentliche Impulse auf die Entwicklung neuer va-riationeller Methoden zuruckgehen. Aus mathematischer Sicht sind vor allem dieVerbindungen zur Differentialgeometrie hervorzuheben. Schließlich sind Geodatenauf Mannigfaltigkeiten ja gerade (lokal) kurzeste Verbindungen und die Theorieder Minimalflachen (am Rande eingespannte Membranen mit moglichst geringerOberflache) bilden ein großes Teilgebiet der Geometrie.

Variationsprobleme fur u : Ω ⊂ Rn → Rm lassen sich – sehr grob – mit zuneh-mender Schwierigkeit in Abhangigkeit der Raumdimensionen n und m einteilen:Die Falle n = 1 und m beliebig sowie n beliebig und m = 1 bezeichnet man als dieskalaren Falle. In der Hamiltonschen Punktmechanik etwa ist n = 1, die entspre-chenden Probleme in der Theorie der Differentialgleichungen sind gewohnlicheDifferentialgleichungen. Ein Problem mit n > 1 und m = 1 ergibt sich z.B. inder Elektrostatik bei der Beschreibung eines elektrischen Feldes. Dieses Problemlasst sich auch mit Hilfe einer partiellen Differentialgleichung formulieren. Sindnun m,n ≥ 2, so spricht man von vektorwertigen Problemen. Wir werden sehen,dass diese Probleme fundamental schwieriger als die skalaren Probleme sind. Dieentsprechenden Gleichungen sind hier nun Systeme von partiellen Differentialglei-chungen, ein notorisch schwieriges Gebiet. Die Probleme der Elastizitatstheorieaber sind typischerweise vektoriell. Einem grundlegenden physikalischen Prin-zip zufolge sind diese Probleme außerdem einem einfachen Losungsschema nichtzuganglich. Schlimmer noch: Manche besitzen nachweislich keine Losung.

Obgleich wir in dieser Vorlesung auch auf die oben angesprochenen klassischenFragen eingehen werden (Kapitel 2), liegt der Schwerpunkt doch auf den mo-dernen Aspekten der Variationsrechnung. Unser Hauptaugenmerk gilt den vek-torwertigen Variationsintegralen. Die erste Frage, die dabei beantwortet werdenmuss, ist die nach geeigneten Klassen von zulassigen Funktionen. Es wird sichherausstellen, dass dies gerade Teilmengen von Sobolevraumen sind, eine Funk-tionenklasse, deren Ableitung nicht mehr im ublichen (klassischen) sondern nurnoch in einem gewissen verallgemeinerten Sinne zu verstehen ist. Diesen Funk-tionen ist das Kapitel 3 gewidmet. Im darauffolgenden Kapitel 4 beleuchten wirden Zusammenhang zur Theorie der PDG und entwickeln dabei auch einen ge-eigneten Losungsbegriff fur diese Gleichungen. Informationen uber das Varia-tionsproblem aus dem Studium der assoziierten PDG zu gewinnen, bezeichnetman auch manchmal als die “indirekte Methode” der Variationsrechnung. ImGegensatz hierzu stellt das Kapitel 5 die direkte Methode zunachst in aller All-gemeinheit vor. Sie liegt allen folgenden Kapiteln zugrunde und bildet damit den

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Schwerpunkt dieser Vorlesung. Im Speziellen behandeln wir in diesem Kapiteldann hauptsachlich vektorwertige Variationsprobleme mit dieser Methode. Ei-ner besonders interessanten modernen Entwicklung gehen wir dann in Kapitel6 nach, wenn wir Variationsprobleme untersuchen, die gar keine Losung mehrhaben, obwohl sie doch physikalisch motivierte Fragestellungen sinnvoll beschrei-ben. Durch Relaxation wird es gelingen, Losungen in einem verallgemeinertenSinne zu konstruieren. Das letzte Kapitel 7 uber Gamma-Konvergenz schließlichwidmet sich nicht mehr einzelnen Variationsproblemen, sondern stellt vielmehrdie Frage, inwiefern eine Folge von Variationsproblemen auf sinnvolle Weise ge-gen ein Limesproblem konvergieren kann. Diese Art der Fragestellung hat erst inletzter Zeit eine Vielzahl von Untersuchungen uber sogenannte Mehrskalenpro-bleme angeregt. Ganz grob gesagt geht es dabei oft darum, aus sehr komplexenSystemen, in denen Effekte auf verschiedenen Großenordnungen wechselwirken,ein dominantes Verhalten herauszudestillieren, die wesentlichen Aspekte also ma-thematisch rigoros in den Griff zu bekommen.

Vorkenntnisse: Notige Vorkenntnisse sind der Stoff der Vorlesungen Analysis1,2,3, Lineare Algebra 1,2 und Funktionalanalysis. (Kenntnisse uber partielle Dif-ferentialgleichungen werden nicht vorausgesetzt.)

Literatur: Als allgemeine Einfuhrung gut geeignet ist das Buch [JJ], nach demsich auch Teile dieser Vorlesung richten werden. Sehr umfassend sind die bei-den Bande [GH, GH] von Giaquinta und Hildebrandt. Eine gut zugangliche undausfuhrliche Darstellung der klassischen eindimensionalen Theorie findet sich imBuch [Ki] von Kielhofer. Das Kapitel uber Sobolevraume baut im Wesentlichenauf Kapitel 5 aus dem PDG-Buch von Evans [Ev] auf. Die direkte Methode insbe-sondere fur vektorwertige Probleme findet man besonders detailiert beschriebenim Buch von Dacorogna [Dac]. Unsere Darstellung lehnt sich auch an die lecturenotes [Mu] von Muller an. Erwahnt sei hier auch die eher fortgeschrittene Mono-graphie [St] von Struwe, die sich vor allem indirekten Methoden widmet. GuteEinfuhrungen in die Theorie der Gamma-Konvergenz bieten die Monographien[Br] von Braides und [Dal] von Dal Maso.

Fehler: Bitte teilen Sie mir evtl. Tipp- oder auch andere Fehler in diesem Skriptper E-Mail mit.

Vielen Dank an Frau Moeller, die Teile diese Skripts in Latex gestetzt hat, undan alle, die mich auf Fehler in fruheren Versionen aufmerksam gemacht haben,insbesondere an die Herren Manuel Friedrich und Joseph Linden.

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Kapitel 2

Klassische Theorie in einerDimension

Grundproblem und Beispiele

In einer Dimension besteht das Grundproblem der Variationsrechnung darin, dasFunktional

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx

in einer Klasse zulassiger Funktionen A auf dem Intervall [a, b] zu minimieren,wobei der Bildbereich von u auch mehrdimensional sein darf. Hierbei ist

f : [a, b]× Rm × Rm → R, (x, y, z) 7→ f(x, y, z)

eine gegebene Funktion, von der wir zumindest voraussetzen wollen, dass f(·, y, z)fur alle y, z messbar und f(x, ·, ·) fur fast alle x stetig ist. In den meisten Fallenwird f aber einfach als stetig in (x, y, z) oder sogar noch glatter vorausgesetzt.Oft kann die Variable x als Zeit interpretiert werden, daher verwendet man stattx auch oft die Variable t und schreibt die Ableitung u′ als u:

I(u) =

∫ b

a

f(t, u(t), u(t)) dt.

Sinnvoll erklart ist I fur stetiges f sicherlich, wennA ⊂ C1([a, b];Rm) gilt. Furviele Anwendungen ist diese Klasse von Funktionen jedoch zu restriktiv. So kannja z.B. ein Lichtstrahl beim Ubergang zwischen zwei Medien brechen und dabeiseine Richtung abrupt andern. Fur viele praktische Zwecke genugt es, stuckweisedifferenzierbare Funktionen zu betrachten.

Zur Erinnerung: Eine Funktion u : [a, b]→ Rm heißt stuckweise stetig, wenn esPunkte a = x0 < x1 < . . . < xN = b derart gibt, dass u|(xi−1,xi) zu einer stetigenFunktion auf [xi−1, xi] fortgesetzt werden kann. Die Menge dieser Funktionen wirdmit D0([a, b];Rm) bezeichnet. Eine Funktion u : [a, b]→ R heißt stuckweise stetig

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differenzierbar, wenn u stetig ist und es Punkte a = x0 < x1 < . . . < xN = bderart gibt, dass u|[xi−1,xi] ∈ C1([xi−1, xi];Rm) gilt. Die Klasse dieser Funktionenbezeichnet man mit D1([a, b];Rm). Setzt man die außer bei x1, . . . , xN definierteAbleitung u′ in beliebiger Weise auf [a, b] fort, so ist u′ ∈ D0([a, b];Rm). DasVariationsintegral ist dann in offensichtlicher Weise erklart.

Aus theoretischer Sicht ist es bisweilen wunschenswert, die Klasse zulassigerFunktionen so allgemein wie moglich zu halten. Dazu betrachtet man die KlasseAC([a, b];Rm) der absolutstetigen Funktionen auf [a, b]. Zur Erinnerung: EineFunktion u : [a, b] → R heißt absolutstetig, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0derart gibt, dass fur alle a ≤ x1 < y1 ≤ x2 < y2 ≤ . . . ≤ xn < yn ≤ b, n ∈ N, dieImplikation

n∑i=1

yi − xi < δ =⇒n∑i=1

|f(yi)− f(xi)| < ε

erfullt ist. (Lipschitz-Funktionen z.B. sind absolutstetig.) Es lasst sich zeigen,dass die Ableitung u einer absolutstetigen Funktion u fast uberall existiert unddass u den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung erfullt:

u(x) = u(a) +

∫ x

a

u′(t) dx ∀x ∈ [a, b].

Insbesondere ist u also Lebesgue-integrierbar. Die Mindestvoraussetzungen an fgarantieren nun, dass fur u ∈ AC([a, b];Rm) der Integrand x 7→ f(x, u(x), u′(x))messbar ist. Ist zudem f nach unten (oder nach oben) beschrankt, so ist I(u) mitWerten in R ∪ +∞ (oder R ∪ −∞) wohldefiniert.

In vielen Fallen mussen die Funktionen aus A zudem geeignete Randbedin-gungen erfullen, z.B. am Start- und Endpunkt vorgegeben Werte u(a) = ua bzw.u(b) = ub annehmen.

Beispiele:

1. Der kurzeste Funktionsgraph, der (a, ua) ∈ R2 und (b, ub) ∈ R2 verbindet,lost das Problem ∫ b

a

√1 + u′2(x) dx→ min

fur A = C1([a, b]). (Hier ist also f(x, y, z) =√

1 + z2.)

2. Die kurzeste Kurve, die x1 und x2 aus Rm verbindet, lost das Variations-problem ∫ 1

0

|γ(t)| dt→ min

fur A = γ ∈ C1([0, 1];Rm) : γ(0) = x1, γ(1) = x2.

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3. Das Fermatsche Prinzip: Nach dem Fermatschen Prinzip wahlt ein Licht-strahl von (a, ua) ∈ R × Rm = Rm+1 nach (b, ub) ∈ Rm+1 den schnellstenWeg. Bewegt er sich auf dem Funktionsgraphen von u ∈ D1([0, b];Rm) mitu(a) = ua gemaß

[0, T ]→ [a, b]× Rm, t 7→ (x(t), y(t))

in der Zeit T von (a, ua) nach (b, ub), so hat er zur Zeit t die Strecke

s(t) =

∫ x(t)

a

√1 + u′2(ζ) dζ.

zuruckgelegt. Dabei ist die Lichtgeschwindigkeit vom Medium abhangig undgegeben durch c

n, wobei n den Brechungsindex bezeichnet. Im Allgemeinen

hangt dieser Brechungsindex vom aktuellen Ort (also der Position (x, u(x)))und der Richtung (und damit von u′(x)) des Lichtstrahls ab. Seine aktuelleGeschwindigkeit betragt zur Zeit t demnach

c

n(x(t), u(x(t)), u′(x(t))=ds

dt=√

1 + u′2(x(t))x(t).

Fur die Laufzeit T ergibt sich damit

T =

∫ T

0

dt = c−1

∫ T

0

n(x(t), u(x(t)), u′(x(t))√

1 + u′2(x(t))x(t) dt

= c−1

∫ b

a

n(x, u(x), u′(x))√

1 + u′2(x) dx.

Dieses Variationsintegral (mit f(x, y, z) = n(x, y, z)√

1 + z2) ist also uberA = u ∈ C1([a, b];Rm) : u(a) = ua, u(b) = ub zu minimieren.

Anmerkung: In einem isotropen Medium hangt die Geschwindigkeit nichtvon der Richtung des Lichtstrahls ab, so dass n unabhangig von z ist. Voneinem homogenen Medium spricht man, wenn die Geschwindigkeit nichtvom Ort abhangt, d.h. n unabhangig von (x, y) ist.

4. Die Brachistochrone: Gesucht ist eine “moglichst schnelle Rutsche” von(0, 0) ∈ R2 nach (b, ub) ∈ R2 mit ub < 0. Gleitet ein Massenteilchen aufdem Funktionsgraphen von u ∈ C1([0, b]) mit u(a) = 0 (und u(x) < 0 furx ∈ (0, b]) gemaß

[0, T ] 3 t 7→ (x(t), y(t))

vermoge seiner eigenen Schwere in der Zeit T von (0, 0) nach (b, ub), sobetragt wegen der Energieerhaltungsformel

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2Masse ·Geschwindigkeit2 = Masse · Erdbeschleunigung · Hohe

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seine Geschwindigkeit zur Zeit t gerade√−2gu(x(t)). Indem man nun ein-

fach n(x, y, z) = c√−2gy

setzt, lasst sich das Problem auf das in Beispiel 3behandelte zuruckfuhren, und es ergibt sich

T =

∫ b

a

√1 + u2(x)

−2gu(x)dx.

zu minimieren uberA = u ∈ AC([0, b];R) : u(0) = 0, u(b) = ub mit u(x) <0 fur x ∈ (0, b]. (Selbst D1([a, b];Rm) ist in diesem Fall zu restriktiv, da esdie Moglichkeit ausschließt, dass u bei 0 unendlich steil wird.)

5. Das isoperimetrische Problem. Gesucht ist eine Jordankurve im R2 vorgege-bener Lange, die eine moglichst große Flache einschließt. Wir beschrankenuns auf die Klasse

A = γ ∈ D1([a, b];R2) : γ(s) = γ(t) ⇐⇒ s, t ∈ a, b und |γ| > 0.

Die Nebenbedingung ist ∫ b

a

|γ(t)| dt = L

fur ein vorgegebenes L > 0. Ist Ω die von der Kurve eingeschlossene Flacheund bezeichnet ν die außere Normale an ∂Ω, so errechnet sich der Flachen-inhalt von Ω nach dem Satz von Gauß zu

|Ω| =∫

Ω

dx =

∫Ω

1

2div

(x1

x2

)dx

=1

2

∫∂Ω

x1ν1(x) + x2ν2(x) dS(x)

=1

2

∫ b

a

(γ1(t)ν1(γ(t)) + γ2(t)ν2(γ(t))

)|γ(t)| dt.

Bei positivem Umlaufsinn ist dabei ν(γ(t)) = 1|γ(t)|(γ2(t),−γ1(t)). Es folgt

|Ω| =∫ b

a

(γ1(t)γ2(t)− γ2(t)γ1(t)

)dt.

Die Aufgabe besteht also darin, dieses Funktional uber der Klasse

AL =

γ ∈ A :

∫ b

a

|γ(t)| dt = L und γ hat positiven Umlaufsinn

zu maximieren.

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6. Zwei Seglerprobleme. Ein Segler segelt auf einem Fluss [a, b] × [−1, 1] aufeinem Kurs (x, u(x)) : x ∈ [a, b] gegen den Wind, der mit konstanterGeschwindigkeit in Richtiung (−1, 0) weht. Am effektivsten wird die Wind-kraft dabei ausgenutzt, wenn er mit einem gewissen optimalen Winkel zurWindrichtung fahrt, d.h. wenn sein Kurs |u| = α fur ein gewisses α > 0erfullt. Vernachlassigt man die Stromung, so ist leicht zu sehen, dass je-der Zickzack-Kurs (Aufkreuzen) mit |u′(x)| = α fur fast alle x optimal ist.Mathematisch liesse sich dieses Problem als ein Maximierungsproblem uberD1([a, b]) ∫ b

a

W (u′(x)) dx→ max

mit einer Funktion W , die genau bei ±α ihr Maximum annimmt, formulie-ren.

Berucksichtigt man nun die Stromung, die in der Mitte des Flusses am stark-sten ist, so wird der Segler versuchen, immer moglichst nahe der Flussmittezu segeln. Mathematisch fuhrt dies zu einem Maximierungsproblem∫ b

a

W (u′(x)) + S(u(x)) dx→ max

mit einer Funktion W , die genau bei ±α ihr Maximum Wmax annimmt, undeiner Funktion S, die genau bei 0 ihr Maximum Smax annimmt. Indem manimmer feinere Zickzack-Kurse betrachtet, sieht man, dass das Supremumdieses Funktionals uber die Menge

u ∈ D1([a, b]) oder AC([a, b]) : −1 ≤ u ≤ 1

gegeben ist durch (Wmax +Smax)(b−a). Dieses Supremem wird jedoch nichtangenommen, denn eine Maximalstelle u musste u = 0 fast uberall erfullenund damit u′ = 0 6= ±α fast uberall.

2.1 Erste Variation und Euler-Lagrange-Gleichun-

gen

Wir betrachten nun das Funktional

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx

mit f ∈ C1([a, b]×Rm×Rm) und vorgegebenen Randwerten u(a) = ua, u(b) = ub.Die Klasse der zulassigen Funktionen sei also

A = v ∈ D1([a, b];Rm) : v(a) = ua, v(b) = ub.

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Bemerkung. Mit etwas mehr Aufwand kann man im Folgenden meistD1([a, b];Rm)durch AC([a, b];Rm) ersetzen. Wir gehen zwar gelegentlich darauf ein, lassen ei-nige Details jedoch auch aus.

Ist nun u ∈ A ein Minimierer von I, so hat fur jedes ϕ ∈ C1c (a, b);Rm) (d.h.

ϕ ∈ C1(a, b);Rm) mit suppϕ ⊂ (a, b) kompakt) die C1-Funktion

s 7→ I(u+ sϕ)

ein Minimum bei s = 0, weshalb

0 =d

ds

∣∣∣s=0

I(u+ sϕ)

=

∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x)) · ϕ(x) + fz(x, u(x), u′(x)) · ϕ′(x)

)dx

folgt. Hierbei bezeichnen fy und fz die partiellen Ableitungen Dyf bzw. Dzf von(x, y, z) 7→ f(x, y, z).

Definition 2.1. Es sei u ∈ D1([a, b];Rm).

(i) Fur ϕ ∈ D1([a, b];Rm) nennt man

δI(u, ϕ) :=

∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x)) · ϕ(x) + fz(x, u(x), u′(x)) · ϕ′(x)

)dx

die erste (außere) Variation von I bei u in Richtung ϕ.

(ii) Gilt δI(u, ϕ) = 0 fur alle ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm), so heißt u schwache Extremalevon I.

Minimierer sind demnach schwache Extremalen. Allgemeiner zeigen unsereUberlegungen von eben, dass auch lokale Minimierer schwache Extremalen sind,wobei eine Funktion u ∈ A lokaler Minimierer heißt, wenn es ein ε > 0 derartgibt, dass fur alle v ∈ A gilt

supx∈[a,b]

(|u(x)−v(x)|+|u′(x−)−v′(x−)|+|u′(x+)−v′(x+)|

)< ε =⇒ I(u) ≤ I(v).

Bemerkung. Dies gilt auch fur u ∈ AC([a, b];Rm), vorausgesetzt fy(x, u(x), u′(x))und fz(x, u(x), u′(x)) sind integrabel.

Sind nun zusatzlich fz als C1-glatt und u als C2-glatt vorausgesetzt, so konnenwir partiell integrieren, um∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x))− d

dxfz(x, u(x), u′(x))

)· ϕ(t) dx = 0

zu erhalten. Dies fuhrt zu folgender Beobachtung.

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Satz 2.2. Ist u ∈ C2 eine schwache Extremale von I mit f, fz ∈ C1, so gilt

d

dxfz(x, u(x), u′(x))− fy(x, u(x), u′(x)) = 0.

Definition 2.3. Diese m gewohnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnungheißen die Euler-Lagrange-Gleichungen von I.

Beweis von Satz 2.2. Dies folgt sofort aus unseren bisherigen Uberlegungen unddem folgenden Lemma.

Lemma 2.4. Erfullt v ∈ C((a, b);Rm)∫ b

a

v(x) · ϕ(x) dx = 0

fur alle ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm), so ist v = 0.

Beweis. Ware dies nicht der Fall, so gabe es ein x0 ∈ (a, b) und ein i ∈ 1, . . . ,mmit vi(x0) 6= 0 und damit aus Stetigkeitsgrunden vi(x) > 1

2vi(x0) > 0 oder

vi(x) < 12vi(x0) < 0 fur alle x ∈ (x0 − δ, t0 + δ) ⊂ (a, b) fur hinreichend kleines

δ > 0. Wahlt man nun ein ψ ≥ 0 aus C∞(a, b) mit suppψ ⊂ (x0 − δ, t0 + δ) undψ(x0) > 0, so ergibt sich der Widerspruch∫ b

a

v(x) · ϕ(x) dx =

∫ t0+δ

t0−δvi(x)ψ(x) dx 6= 0

fur ϕ(x) = ψ(x)ei, wobei ei den i-ten Einheitsvektor bezeichnet.

Bemerkung. Dieses Lemma wird auch als das Fundamentallemma der Varia-tionsrechnung bezeichnet. Es gilt auch allgemeiner fur Funktionen v ∈ L1

loc wiewir spater sehen werden.

Ausgeschrieben lauten die Euler-Lagrange-Gleichungen

fzz(x, u(x), u′(x))u′′(x) + fzy(x, u(x), u′(x))u′(x)

+ fzx(x, u(x), u′(x))− fy(x, u(x), u′(x)) = 0.

An dieser Darstellung erkennt man, dass die Gleichungen linear von den hochstenAbleitungen u′′ abhangen. Ist fzz invertierbar, so kann man sogar nach u′′ auflosen.

Beispiele:

1. Fur f(x, y, z) = g(x, y)√

1 + z2, wie in den Beispielen 1, 4 und 3 fur isotropeMedien von oben mit m = 1 ist

fy(x, y, z) = gy(x, y)√

1 + z2, fzx(x, y, z) = gx(x, y)z√

1 + z2

fzy(x, y, z) = gy(x, y)z√

1 + z2, fzz(x, y, z) = g(x, y)

1

(1 + z2)3/2.

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Die Euler-Lagrange-Gleichungen sind also

g(·, u)1

(1 + u′2)3/2u′′ + gy(·, u)

u′2√1 + u′2

+ gx(·, u)u′√

1 + u′2− gy(·, u)

√1 + u′2 = 0

und damit

0 = g(·, u)u′′ + gy(·, u)(1 + u′2)u′2 + gx(·, u)(1 + u′2)u′ − gy(·, u)(1 + u′2)2

= g(·, u)u′′ − gy(·, u)(1 + u′2) + gx(·, u)(1 + u′2)u′

Fur g 6= 0 ist also (Argumente von g unterdruckt)

u′′ − gyg

(1 + u′2) +gxg

(1 + u′2)u′ = 0.

(a) Speziell fur g ≡ 1 wie im Beispiel 1 ergibt sich

u′′ = 0

mit der einzigen Losung u(x) = ua + ub−uab−a (x− a).

(b) Fur die Brachistochrone ergibt sich mit g(x, y) = 1√−2gy

(und damitgyg

= − 12y

)

u′′ +(1 + u′2)

2u= 0.

2. Hangt f : [a, b]× Rm × Rm nicht explizit von x ab, so gilt

d

dx

(f(u, u′)− u′ · fz(u, u′)

)= fy(u, u

′) · u′ + fz(u, u′) · u′′ − u′′ · fz(u, u′)− u′ ·

d

dxfz(u, u

′)

= u′ ·(fy(u, u

′)− d

dxfz(u, u

′)).

Der zweite Faktor aber verschwindet, wenn u die Euler-Lagrange-Gleichungenlost. Es gibt dann also eine Konstante c mit

f(u, u′)− u′ · fz(u, u′) = c.

Im Fall der Brachistochrone etwa ergibt sich ein c ∈ R, so dass√

1 + u′2√−2gu

− u′ 1√−2gu

u′√1 + u′2

= c,

also

u(1 + u′2) = − 1

2gc2

gilt.

14

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Wir untersuchen die Euler-Lagrange-Gleichungen nun unter schwacheren Re-gularitatsannahmen.

Satz 2.5. Es sei (x, y, z) 7→ f(x, y, z) stetig in x und C1 in y und z. Gilt furu ∈ D1([a, b];Rm)

δI(u, ϕ) = 0

fur alle ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm), so ist fz(x, u(x), u′(x)) stuckweise stetig differenzier-bar und es gilt

d

dxfz(x, u(x), u′(x))− fy(x, u(x), u′(x)) = 0.

Dem Beweis schicken wir das folgende Lemma von Du Bois-Reymond voraus.

Lemma 2.6. Es sei v ∈ D0([a, b];Rm) mit∫v(x) · ϕ′(x) dx = 0

fur alle ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm). Dann gibt es ein c ∈ Rm mit v ≡ c.

Beweis. Sei also v ∈ D0([a, b];Rm). Wir bemerken zunachst, dass sogar∫v(x) · ψ′(x) = 0

fur alle ψ ∈ D1([a, b];Rm) mit ψ(a) = ψ(b) = 0 gilt. Denn zu jedem solchen ψgibt es eine Folge ϕn ∈ C∞c mit ϕ′n → ψ′ in L1.

Ubung. Uberlegen Sie sich das.Tipp: Approximiere ψ zunachst mit einer D1-Funktion ψ, die in Umgebungen von a und b

verschwindet, und definiere die ϕn dann durch Faltung von ψ mit Glattungskernen.

Setze nun

c =1

b− a

∫ b

a

v(x) dx und ψ(x) =

∫ x

a

v(t)− c dt.

Dann ist ψ ∈ D1([a, b];Rm) mit ψ(a) = ψ(b) = 0 und somit

0 =

∫ b

a

v(x) · ψ′(x) dx =

∫ b

a

v(x) · (v(x)− c) dx =

∫ b

a

(v(x)− c) · (v(x)− c) dx

also v ≡ c.

15

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Beweis von Satz 2.5. Wegen∫ b

a

fy(x, u(x), u′(x)) · ϕ(x) =

∫ b

a

d

dx

∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds · ϕ(x) dx

= −∫ b

a

∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds · ϕ′(x) dx

gilt nach Voraussetzung∫ b

a

(−∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds+ fz(x, u(x), u′(x))

)· ϕ′(x) = 0

fur alle ϕ ∈ C∞c ([a, b];Rm). Das Lemma von Du Bois-Reymond impliziert daher

fz(x, u(x), u′(x)) =

∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds+ c

fur ein c ∈ Rm. Damit aber ist fz(x, u(x), u′(x)) stuckweise stetig differenzierbarund Ableiten ergibt die Behauptung.

Bemerkung. (i) Man nennt die Gleichungen

fz(x, u(x), u′(x)) =

∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds+ c

auch die integrierte Form der Euler-Lagrange-Gleichungen oder die DuBois-Reymond-Gleichungen.

(ii) Achtung! Unter diesen allgemeinen Regularitatsannahmen kann der Aus-druck d

dxfz(x, u(x), u′(x)) nicht mit der Kettenregel ausgerechnet werden.

(iii) Wir werden spater sehen, dass das Lemma von Du Bois-Reymond ganzallgemein fur L1

loc-Funktionen v gultig ist. Damit erhalt man dann ganzanalog, dass Satz 2.5 auch noch fur u ∈ AC([a, b];Rm) richtig ist.

Randbedingungen

Die bisher betrachteten Randwerte u(a) = ua, u(b) = ub fur vorgegebene Werteua, ub ∈ Rm bezeichnet man auch als Dirichlet-Randwerte. Diese beiden Wer-te komplettieren die Euler-Lagrange-Gleichungen, die ja Gleichungen von zweiterOrdnung sind, in dem Sinne, dass die Losungsmenge in vielen Fallen keinen (kon-tinuierlichen) freien Parameter mehr besitzt. (Es gibt Ausnahmen!) Stellt mannun an einem oder beiden Randern keine Bedingung von dieser Form, so sprichtman auch von freien Randwerten. Wir diskutieren hier nur den Fall, dass beideRander frei sind. Es ist dann offensichtlich, wie im Fall, dass nur ein Randpunktfrei und der andere durch eine Dirichletbedingung festgelegt ist, zu verfahren ist.

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Ist insbesondere u ∈ D1([a, b];Rm) ein Minimum (uber ganz D1([a, b];Rm))von I, so erhalten wir ganz analog

δI(u, ϕ) = 0

fur alle ϕ ∈ D1([a, b];Rm) und nicht nur solche mit Nullrandwerten. Allgemeinergilt:

Satz 2.7. Es sei (x, y, z) 7→ f(x, y, z) stetig in x und C1 in y und z. Gilt furu ∈ D1([a, b];Rm)

δI(u, ϕ) = 0

fur alle ϕ ∈ C∞((a, b);Rm), so erfullt u die Randbedingungen

fz(b, u(b), u′(b)) = fz(a, u(a), u′(a)) = 0.

Man nennt diese Randbedingungen die naturlichen Randbedingungen. Be-achte, dass u unter diesen Voraussetzungen nach Satz 2.5 die Euler-Lagrange-Gleichungen erfullt.

Beweis. Nach Voraussetzung ist∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x)) · ϕ(x) + fz(x, u(x), u′(x)) · ϕ′(x)

)dx = 0.

Da nun nach Satz 2.5 fz(x, u(x), u′(x)) ∈ D1 gilt, erhalten wir mit partiellerIntegration

0 = fz(x, u(x), u′(x)) · ϕ(x)∣∣∣ba

−∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x)) +

d

dxfz(x, u(x), u′(x))︸ ︷︷ ︸

=0, da u die Euler-Lagrange-Gleichung erfullt

)· ϕ(x) dx

= fz(b, u(b), u′(b)) · ϕ(b)− fz(a, u(a), u′(a)) · ϕ(a).

Wahlt man speziell ϕ(x) = x−ab−a fz(b, u(b), u′(b)) bzw. ϕ(x) = x−b

a−bfz(a, u(a), u′(a)),so folgt tatsachlich

|fz(b, u(b), u′(b))|2 = |fz(a, u(a), u′(a))|2 = 0.

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Regularitat

Wir werden nun zeigen, dass unter geeigneten Bedingungen an f schwache Extre-malen automatisch C2-glatt und damit Losungen der Euler-Lagrange-Gleichungensind. Besser noch: Sie sind so glatt, “wie es die Euler-Lagrange-Gleichungen er-lauben.”

Zunachst betrachten wir den Fall, dass u schon als C1-glatt vorausgesetzt ist.

Satz 2.8. Es seien u ∈ C1([a, b];Rm) eine schwache Extremale von I und f, fzC1-glatt auf einer Umgebung von (x, u(x), u′(x)) : x ∈ [a, b] ⊂ R2m+1. Gilt

det fzz(x, u(x), u′(x)) = det(fzizj(x, u(x), u′(x))

)6= 0 ∀x ∈ [a, b],

so ist sogar u ∈ C2([a, b];Rm).

Beweis. Setze

p(x) =

∫ x

a

fy(s, u(s), u′(s)) ds+ c,

wobei c die Konstante aus der integrierten Form der Euler-Lagrange-Gleichungsei und betrachte die C1-Funktion

Φ : Rm × Ω→ R, Φ(w, x, y, z) = fz(x, y, z)− w.

Setzt man y0 = u(x0), z0 = u′(x0) und w0 = p(x0) fur x0 ∈ [a, b], so gilt dannΦ(w0, x0, y0, z0) = 0. Da nach Voraussetzung det Φz(w0, x0, y0, z0) 6= 0 ist, gibt esnach dem Satz uber implizite Funktionen Umgebungen U von (w0, x0, y0) und Vvon z0 und eine C1-Funktion ϕ : U → V , so dass fur alle (w, x, y, z) ∈ U × V gilt

Φ(w, x, y, z) = 0 ⇐⇒ z = ϕ(w, x, y).

Da aber insbesondere Φ(x, u(x), u′(x), p(x)) = 0 fur alle x ∈ [a, b] gilt, wobei(p(x), x, u(x), u′(x)) fur x nahe x0 aus Stetigkeitsgrunden in U ×V verlauft, folgtdamit

u′(x) = ϕ(p(x), x, u(x)),

also u′ stetig differenzierbar bei x0. Da x0 beliebig war, folgt die Behauptung.

Fur “gebrochene Extremalen” u ∈ D1([a, b];Rm) benotigen wir etwas speziel-lere Voraussetzungen.

Satz 2.9. Es seien f, fz C1-glatt und u ∈ D1([a, b];Rm) eine schwache Extremale

von I. Des Weiteren sei auf einer Umgebung von (x, u(x)) : x ∈ [a, b] ⊂ R2m+1

fzz(x, u(x), u′(x)) =(fzizj(x, u(x), u′(x))

)positiv (oder negativ) definit.

Dann ist sogar u ∈ C2([a, b];Rm).

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Beweis. Der erste Teil des Beweises verlauft wortlich genauso wie der Beginndes vorigen Beweises. Da nun aber u′ nicht stetig zu sein braucht, konnen wirallerdings nicht mehr ebenso begrunden, dass (p(x), x, u(x), u′(x)) fur x nahe x0

in U × V verlauft. Um den Beweis wie zuvor abzuschließen, mussen wir nun aufandere Weise zeigen, dass u′(x) = ϕ(p(x), x, u(x)) gilt:

Sei also x ∈ [a, b] mit (p(x), x, u(x)) ∈ U . Wegen

Φ(p(x), x, u(x), ϕ(p(x), x, u(x))

)= 0 = Φ

(p(x), x, u(x), u′(x)

)ist dann

0 = fz(x, u(x), ϕ(p(x), x, u(x))

)− fz

(x, u(x), u′(x)

)=

∫ 1

0

d

dtfz(x, u(x), u′(x) + t[ϕ(p(x), x, u(x))− u′(x)]

)dt

=

∫ 1

0

fzz(x, u(x), u′(x) + t[ϕ(p(x), x, u(x))− u′(x)]

)dt

· [ϕ(p(x), x, u(x))− u′(x)],

wobei das Integral positiv (oder negativ) definiter Matrizen wieder positiv (bzw.negativ) definit, insbesondere also invertierbar ist. Dann aber muss u′(x) =ϕ(p(x), x, u(x)) gelten. u′ ist also stuckweise stetig differenzierbar und damit uinsbesondere C1. Nach dem vorigen Satz ist dann aber sogar u C2-glatt.

Bemerkung. Das gilt auch allgemeiner fur u ∈ AC([a, b];Rm) vorausgesetztfy(·, u, u′) und fz(·, u, u′) sind integrabel.

Unter den Voraussetzungen von Satz 2.8 oder Satz 2.9 gelten sogar nochstarkere Regularitatsresultate, wenn f hinreichend glatt ist.

Satz 2.10. Es seien die Voraussetzungen von Satz 2.8 oder Satz 2.9 erfullt.Daruber hinaus seien f und fz C

k-glatt, k ∈ N. Dann gilt u ∈ Ck+1([a, b];Rm).

Beweis. Nach Satz 2.8 bzw. 2.9 und Satz 2.2 erfullt u die Euler-Lagrange-Gleichungenin ausgeschriebener Form

fzz(·, u, u′)u′′ + fzy(·, u, u′)u′ + fzx(·, u, u′)− fy(·, u, u′) = 0.

Da nach Voraussetzung fzz(x, u(x), u′(x) invertierbar ist, konnen wir dies auchin der Form

u′′ =(fzz(·, u, u′)

)−1(− fzy(·, u, u′)u′ − fzx(·, u, u′) + fy(·, u, u′)).

Hieraus ergibt sich nun induktiv, dass u ∈ Cm+1 fur alle 1 ≤ m ≤ k gilt: Istu ∈ Cm, so ist wegen f, fz ∈ Cm die rechte Seite dieser Gleichung und damit u′′

in Cm−1, also u in Cm+1. Nach Satz 2.8 bzw. 2.9 ist außerdem u ∈ C2.

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Bemerkung. Die Bedingung det fzz 6= 0, die es gestattet in der Euler-Lagrange-Gleichung nach u′′ aufzulosen, impliziert, dass diese Gleichung “elliptisch” ist.(Spater mehr dazu.) Gegenbeispiele zeigen, dass die angegebenen Regularitatsre-sultate ohne diese Bedingung nicht gelten mussen (vgl. die Hausaufgaben).

Ein Beispiel ist durch das erste Seglerproblem (Segeln gegen den Wind ohneStromung) gegeben, das etwa durch

I(u) =

∫ b

a

(u′2(x)− 1

)2dx→ min

uber A = u ∈ D1([a, b]) : u(a) = u(b) = 0 modelliert sei. Jeder Minimierer(Zickzack-Kurs) u erfullt u′(x) = ±1 f.u. und kann daher nicht glatt sein. DieEuler-Lagrange-Gleichung

d

dx

(4(u′2 − 1

)u′)

= 0

ist dabei (bis auf die Unstetigkeitsstellen von u′) erfullt.

Zur Existenz von Minimierern

Achtung!! Wir haben in diesem ganzen Abschnitt nur notwendige Bedingungenfur (lokale) Minimierer diskutiert, ohne auf die Frage einzugehen, ob Minimiereruberhaupt existieren. Ein Beispiel, dass dies nicht sein muss, ist durch das zweiteSeglerproblem (Segeln gegen den Wind mit der Stromung) gegeben, dass etwadurch

I(u) =

∫ b

a

(u′2(x)− 1

)2+ u2(x) dx→ min

uber A = u ∈ D1([a, b]) : u(a) = u(b) = 0 (oder A = u ∈ AC([a, b]) : u(a) =u(b) = 0) modelliert werden kann. (Hier ist also f(x, y, z) = (z2 − 1)2 + y2.)Durch das Einsetzen immer feinerer “Zickzackgraphen” u mit u′ = ±1 f.u. siehtman, dass infA I = 0 ist. Dieses Infimum wird aber nicht angenommen, da I(u) =0 =⇒ u = 0 =⇒ u′ = 0 =⇒ I(u) = b− a > 0 gilt.

In Kapitel 5 werden wir ein allgemeines Verfahren kennenlernen, unter ge-eigneten Voraussetzungen die Existenz von Minimierern zu beweisen. Es handeltsich dabei im Wesentlichen um einen Kompaktheitsschluss auf der Menge derzulassigen Funktionen A. An dieser Stelle wird es dann wichtig werden, absolutstetige Funktionen zuzulassen, da C1 und D1 die geforderten Kompaktheitseigen-schaften leider nicht besitzen. Eine wesentliche Voraussetzung wird hierbei auchdie Konvexitat von f(x, y, ·) fur feste x, y sein, im Beispiel von eben nicht erfulltist.

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2.2 Zweite Variation und Jacobi-Felder

Zweite Variation und Legendre-Bedingung

Ahnlich wie man bei Minimierungsproblemen im Rn kritische Punkte durch diezweite Ableitung (also die Hesse-Matrix) uberpruft, wollen wir nun die zweiteVariation bei schwachen Extremalen untersuchen.

Wie im vorigen Abschnitt seien

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx

und A = u ∈ D1([a, b];Rm) : u(a) = ua, u(b) = ub fur feste ua, ub ∈ Rm, wobeiwir nun generell f ∈ C2([a, b]×Rm×Rm) voraussetzen wollen. Ist u ein (lokaler)Minimierer von I uber A, d.h. gilt

supx∈[a,b]

(|u(x)−v(x)|+ |u′(x−)+v′(x−)|+ |u′(x+)−v′(x+)|

)< ε =⇒ I(u) ≤ I(v)

fur ein ε > 0, und ϕ ∈ D10([a, b];Rm) = v ∈ D1

0([a, b];Rm) : v(a) = v(b) = 0, soverschwindet die erste Ableitung der Funktion

(−s0, s0)→ R, s 7→ I(u+ sϕ)

(wie im vorigen Abschnitt gesehen) bei s = 0, wahrend die zweite Ableitung beis = 0 nicht negativ ist, so dass

0 ≤ d2

ds2

∣∣∣∣s=0

∫ b

a

f(·, u+ sϕ, u′ + sϕ′) dx

=d

ds

∣∣∣∣s=0

∫ b

a

fy(·, u+ sϕ, u′ + sϕ′) · ϕ+ fz(·, u+ sϕ, u′ + sϕ′) · ϕ′ dx

=

∫ b

a

fyy(·, u, u′)[ϕ, ϕ] + 2fyz(·, u, u′)[ϕ, ϕ′] + fzz(·, u, u′)[ϕ′, ϕ′] dx

gilt. (Hierbei steht fyy(x, y, z)[ζ, ξ] abkurzend fur∑n

i,j=1 fyiyj(x, y, z)ζiξj u.s.w.)

Definition 2.11. Fur u, ϕ ∈ D1([a, b];Rm) nennt man

δ2I(u, ϕ) =

∫ b

a

fyy(·, u, u′)[ϕ, ϕ] + 2fyz(·, u, u′)[ϕ, ϕ′] + fzz(·, u, u′)[ϕ′, ϕ′] dx

die zweite Variation von I bei u in Richtung ϕ.

Zusammenfassend erhalten wir nun

Satz 2.12. Ist u ein lokaler Minimierer von I, so gilt

δ2I(u, ϕ) ≥ 0 ∀ϕ ∈ D10((a, b);Rm).

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Wir konnen nun die notwendige Legendre-Bedingung fur Minimierer herleiten.

Satz 2.13. Ist u ein lokaler Minimierer von I, so ist fzz(x, u(x), u′(x±)) positivsemidefinit fur alle x ∈ [a, b].

Beweis. Es sei x0 ∈ (a, b) und u′ stetig bei x0. Fur ξ ∈ Rm beliebig und ε > 0 soklein, dass [x0−ε, x0 +ε] ⊂ (a, b) gilt, liegt die stuckweise lineare Funktion ϕ mit

ϕ(a) = ϕ(x0 − ε) = 0, ϕ(x0) = εξ, ϕ(x0 + ε) = ϕ(b) = 0

und affin dazwischen in D10. Gemaß Satz 2.12 gilt also

0 ≤ δ2I(u, ϕ)

2ε=

1

∫ x0+ε

x0−εfzz(·, u, u′)[ξ, ξ] +O(ε) dx

=1

∫ x0+ε

x0−εfzz(·, u, u′)[ξ, ξ] dx+O(ε)

→ fzz(x0, u(x0), u′(x0))

mit ε→ 0, also tatsachlich fzz(x0, u(x0), u′(x0))[ξ, ξ] ≥ 0.Mit (a, b) 3 x x0 oder (a, b) 3 x x0 ergibt sich, dass dann auch

fzz(x0, u(x0), u′(x0±))[ξ, ξ] ≥ 0 fur x0 = a oder u′ unstetig bei x0 bzw. x0 = boder u′ unstetig bei x0 gilt.

Jacobi-Felder

Zur weiteren Untersuchung von Extremalen u definieren wir die Funktion

φ(x, η, ζ) = fzz(x, u(x), u′(x)

)[ζ, ζ] + 2fyz

(x, u(x), u′(x)

)[η, ζ]

+ fyy(x, u(x), u′(x)

)[η, η]

und betrachten das Exzess-Funktional

Q(v) =

∫ b

a

φ(x, v(x), v′(x)) dx

auf D10([a, b];Rm) := v ∈ D1([a, b];Rm) : v(a) = v(b) = 0. Wegen δ2I(u, v) =

Q(v) beschreibt dieses Funktional dann gerade die zweite Variation von u inRichtung v. Gilt δI(u, v) = 0, so ist nach der Taylorschen Formel

I(u+ sv) = I(u) +s2

2Q(v) + o(s2),

so dass Q die quadratische Approximation von I bei u darstellt. (Allerdings kannder Term o(s2) von v abhangen.)

Die Euler-Lagrange-Gleichungen von Q sind

d

dx

(fzz(·, u, u′) · v′ + fyz(·, u, u′) · v

)= fyz(·, u, u′) · v′ + fyy(·, u, u′) · v.

Dies ist ein lineares System von m Differentialgleichungen fur v.

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Definition 2.14. Die Euler-Lagrange-Gleichungen von Q bei gegebenem u nenntman die Jacobi-Gleichungen fur I bei u. Eine C2-Losung dieser Gleichungen heißtein Jacobi-Feld entlang u.

Beachte, dass fur u ∈ C2 und f ∈ C3 mit det fzz(·, u, u′) 6= 0 auf [a, b]nach Satz 2.9 jede D1-Losung (sogar jede absolut stetige Losung) der Jacobi-Gleichungen zweimal stetig differenzierbar und damit ein Jacobi-Feld ist.

Bemerkung. Die Jacobi-Gleichungen sind die bei u linearisierten Euler-Lagrange-Gleichungen von I (s. die Ubungen).

Wichtig sind nun solche Jacobi-Felder v, die Nullstellen von v verbinden.

Lemma 2.15. Es seien a ≤ a′ < b′ ≤ b, f und fz C2-glatt auf [a′, b′] und v ein

Jacobi-Feld auf [a′, b′] mit v(a′) = v(b′) = 0. Dann ist∫ b′

a′φ(x, v(x), v′(x)) dx = 0.

Beweis. Es gilt φ(x, η, ζ) = 12

(φη(x, η, ζ) · η + φζ(x, η, ζ) · ζ

), wie man einfach

nachrechnet (oder daraus ableitet, dass φ quadratisch in (η, ζ) ist). Mit partiellerIntegration folgt daraus∫ b′

a′φ(x, v(x), v′(x)) dx

=1

2

∫ b′

a′φη(x, v(x), v′(x)) · v(x) + φζ(x, v(x), v′(x)) · v′(x) dx

=1

2

∫ b′

a′

(φη(x, v(x), v′(x)) +

d

dxφζ(x, v(x), v′(x))︸ ︷︷ ︸

= 0, da v Jacobi-Feld

)· v(x) dx = 0.

Definition 2.16. Es sei a ≤ a′ < b′ ≤ b. Man sagt, der Punkt b′ sei konjugiertzu a′, wenn es ein Jacobi-Feld v auf [a′, b′] mit v 6≡ 0 und v(a′) = v(b′) = 0 gibt.

Satz 2.17. Es seien f ∈ C3, u ∈ C2 und fzz(·, u, u′) positiv definit auf [a, b]. Istu ein lokales Minimum von I, so ist keiner der Punkte in (a, b) konjugiert zu a.

Folglich ist also eine Extremale nach dem ersten zu a konjugierten Punkt keinMinimierer.

Beweis. Es seien b′ mit a < b′ < b konjugiert zu a und v ein nicht trivialesJacobi-Feld auf [a, b′], das wir durch 0 fortsetzen zu v ∈ D1

0([a, b];Rm). Es giltdann

Q(v) =

∫ b

a

φ(x, v(x), v′(x)) dx =

∫ b′

a

φ(x, v(x), v′(x)) dx = 0

23

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nach Lemma 2.15. Ware nun u eine lokale Minimalstelle, so ware andererseits

Q(ϕ) = δ2I(u, ϕ) ≥ 0 ∀ϕ ∈ D10,

so dass v ein (globaler) Minimierer von Q ist. Damit aber ist v ∈ C2, denn nachVoraussetzung ist φ ∈ C1. Insbesondere folgt daraus v′(b′) = 0. Da auch v(b′) = 0gilt und die Jacobi-Gleichungen lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnungsind, ergibt sich, im Widerspruch zur Annahme, als eindeutige Losung v ≡ 0 auf[a, b′].

Beispiel: Wir betrachten das skalarwertige Variationsproblem

1

2

∫ b

a

u′2 − u2 dx→ min .

Die Euler-Lagrange-Gleichung fur u und die Jacobi-Gleichung fur v entlang usind

u′′ + u = 0 bzw. v′′ + v = 0.

Die allgemeine Losung u ist gegeben durch

u(x) = α sinx+ β cosx,

α, β ∈ R, wahrend alle Losungen v mit v(a) = 0 gegeben sind durch

v(x) = α′ sin(x− a),

α′ ∈ R. Der erste zu a konjugierte Punkt ist daher a+ π und keine der Losungenu kann ein lokales Minimum von I in der Klasse A = u ∈ D1(]a, b]) : u(a) =ua, u(b) = ub fur gegebene ua, ub ∈ R sein. Da wir andererseits bereits wissen,dass lokale Minimierer Extremalen sind, folgt hieraus, dass das I fur b − a > πkeine lokalen (und damit erst recht keine globalen) Minimalstellen besitzt.

Ubung. Zeigen Sie, dass fur b− a > π gilt infu∈A

I(u) = −∞.

2.3 Nebenbedingungen

Oft ist die Klasse D1([a, b];Rm), auf der ein Variationsproblem zu untersuchenist, durch weitere Nebenbedingungen eingeschrankt. Man unterscheidet dabei ver-schiedene Arten, wobei wir uns hier zunachst auf die sogenannten isoperime-trischen Nebenbedingungen konzentrieren wollen, deren Name naturlich daherkommt, dass das isoperimetrische Problem der Dido in diese Klasse fallt. Wirgehen dann auch noch die sogenannten holonomen Nebenbedingungen und Un-gleichungsnebenbedingungen, wie sie in Hindernisproblemen auftreten, ein.

24

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Isoperimetrische Nebenbedingungen

Eine isoperimetrische Nebenbedingung fur das Variationsproblem

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x))→ min

ist dadurch gegeben, dass ein Funktional der Form

J(u) =

∫ b

a

g(x, u(x), u′(x))

auf der Menge der zulassigen Funktionen konstant sein soll:

Ac = u ∈ A : J(u) = c

wobei A ⊂ D1 (oder C1 oder AC) typischerweise auch noch Randbedingungenfestlegt.

Beispiel: Beschranken wir uns auf geschlossene C1-Kurven, so besteht das iso-perimetrische Problem der Dido (s. Beispiel 5 von Seite 10) darin, das Funktional

I(γ) =

∫ b

a

γ1(t)γ2(t)− γ1(t)γ2(t) dt

fur gegebenes L > 0 auf AL = γ ∈ A : J(γ) = L zu minimieren, wobei

A =γ ∈ C1([a, b];R2) : γ(a) = γ(b), γ(a) = γ(b),

γ|[a,b) injektiv, |γ| > 0 und γ hat positiven Umlaufsinn

und

J(γ) =

∫ b

a

|γ(t)| dt

ist.Tatsachlich sind hier neben den Randbedingungen γ(a) = γ(b) und γ(a) =

γ(b) und der isoperimetrischen Nebenbedingung J(γ) = L noch weitere Ne-benbedingungen im Spiel, die jedoch in Umgebungen von Funktionen aus ALautomatisch erfullt sind, so dass sie bei der Suche nach lokalen Minimalstel-len vernachlassigt werden durfen. Ist namlich u ∈ AL und ε > 0 hinreichendklein, so gilt fur alle ϕ ∈ C1([a, b],R2) mit ϕ(a) = ϕ(b), ϕ′(a) = ϕ′(b) undsupt∈[a,b] |ϕ(t)|+|ϕ(t)| < ε, dass auch γ+ϕ die Randbedingungen efullt, |γ+ϕ| > 0ist und γ+ϕ positiven Umlaufsinn hat (klar) sowie γ+ϕ|[a,b) injektiv ist. (Waredies nicht der Fall, so gabe es eine die Randbedingungen erfullende Folge (ϕn)mit supt∈[a,b] |ϕn(t)|+ |ϕn(t)| → 0 und tn 6= sn ∈ [a, b) mit

γ(sn) + ϕn(sn) = γ(tn) + ϕn(tn) ∀n ∈ N.

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Evtl. nach Ubergang zu Teilfolgen darf man annehmen, dass sn und tn in [a, b]konvergieren, etwa gegen s bzw. t. Geht man nun in dieser Gleichung zum Limesn → ∞ uber, ergibt sich dabei γ(s) = γ(t), so dass s = t oder (o.B.d.A) s = aund t = b folgt. Im letzten Fall setzen wir γ und ϕn periodisch auf R fort undersetzen tn durch tn−b+a. In jedem Fall ergibt sich dann tn−sn → 0 und wegen∣∣∣∣γ(sn)− γ(tn)

sn − tn

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ϕn(tn)− ϕn(sn)

sn − tn

∣∣∣∣ ≤ supt∈[a,b]

|ϕn(t)| → 0

im Limes n→∞ der Widerspruch γ(t) = 0.)

Wie fur Extremalprobleme im Endlichdimensionalen gilt fur lokale Minimiererunter einer solchen Nebenbedingung eine Lagrange-Multiplikator-Regel.

Satz 2.18. Es seien f, g C1-glatt und u ∈ D1([a, b];Rm) ein lokaler Minimierervon I in der Klasse

Ac := v ∈ u+ C∞c ((a, b);Rm) : J(v) = c,

wobei c ∈ R gegeben sei. Des Weiteren existiere ein χ ∈ C∞c ((a, b);Rm) mitδJ(u, χ) 6= 0.

Dann gibt es einen Lagrange-Multiplikator λ ∈ R, so dass u eine schwacheExtremale von I + λJ ist:

δI(u, ϕ) + λδJ(u, ϕ) = 0 ∀ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm).

Daruberhinaus gilt

d

dx

(fz(·, u, u′) + λgz(·, u, u′)

)−(fy(·, u, u′) + λgy(·, u, u′)

)= 0

auf [a, b].

Bemerkung. 1. Dies gilt auch fur nur absolutstetige u.

2. Die Voraussetzungen sind insbesondere fur lokale Minimierer in der Klasse

Ac = v ∈ D1([a, b];Rm) : v(a) = ua, v(b) = ub, J(v) = c,

ua, ub ∈ Rm gegeben, erfullt.

3. Gilt δJ(u, χ) = 0 fur alle χ ∈ C∞c ((a, b);Rm), so sagt man, die Nebenbe-dingung sei kritisch bei u.

Beweis. Fur gegebenes ϕ ∈ C∞c ((a, b);Rm) definieren wir

Φ(s, t) = I(u+ sϕ+ tχ), Γ(s, t) = J(u+ sϕ+ tχ).

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Mit Hilfe des impliziten Funktionssatzes konnen wir nun diejenigen t in Abhangig-keit von s finden, fur die sϕ + tχ eine zulassige Variation, also u + sϕ + tχ ∈ Aist.

Wegen Γ(0, 0) = J(u) = c und ∂Γ∂t

(0, 0) = δJ(u, χ) 6= 0, existiert ein s0 > 0,und eine C1-Funktion τ : (−s0, s0)→ R mit τ(0) = 0, so dass

Γ(s, τ(s)) = c ∀s ∈ (−s0, s0)

ist und dτds

(0) = −∂Γ/∂s∂Γ/∂t

(0, 0) = − δJ(u,ϕ)δJ(u,χ)

.

Fur diese s ist dann u + sϕ + τ(s)χ ∈ AL. Ist s0 hinreichend klein, so giltaußerdem

supx∈[a,b]

(|sϕ(x) + τ(s)χ(x)|+ |sϕ′(x) + τ(s)χ′|

)< ε

fur vorgelegtes ε. Da nun u lokale Minimalstelle ist, folgt

0 =d

ds

∣∣∣s=0

Φ(s, τ(s))

=∂Φ

∂s(0, 0) +

∂Φ

∂t(0, 0)

ds(0)

= δI(u, ϕ) + δI(u, χ)

(−δJ(u, ϕ)

δJ(u, χ)

).

Die erste Behauptung ergibt sich daraus mit λ = − δI(u,χ)δJ(u,χ)

. Die zweite Behauptungfolgt dann sofort aus Satz 2.5.

Beispiel. Wir analysieren nun das isoperimetrische Problem (mit den Bezeich-nungen von oben) mit Satz 2.18. Es sei γ ein lokaler Minimierer von I in AL. Dieisoperimetrische Nebenbedingung ist

J(γ) =

∫ b

a

g(t, γ(t), γ(t)) dt = L, g(x, y, z) =√z2

1 + z22 ,

wobei g bei z = 0 zwar nicht differenzierbar ist. Fur alle γ′ ∈ A hinreichendnahe an γ ∈ A ist aber γ′ 6= 0 auf [a, b], so dass (nach irrelevanter Abanderungvon g nahe z = 0) Satz 2.18 anwendbar ist. Die Nebenbedingung ist zudem nichtkritisch bei γ. Anderenfalls ware fur alle χ ∈ C∞c ((a, b);R2)

δJ(γ, χ) =

∫ b

a

γ(t)

|γ(t)|· χ(t) = 0,

nach dem Lemma von Du Bois-Reymond also γ ≡ c fur ein c ∈ R2. Dann aberware γ /∈ A.

Nach Satz 2.18 gibt es ein λ ∈ R, so dass γ

0 =d

dt

((γ2,−γ1) + λ

γ

|γ|

)− (−γ2, γ1) =

d

dt

(2γ2 + λ

γ1

|γ|,−2γ1 + λ

γ2

|γ|

)27

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erfullt. Daher gibt es ein c ∈ R2 mit

2γ2 + λγ1

|γ|= c1, 2γ1 − λ

γ2

|γ|= c2.

Multiplikation mit γ2 bzw. γ1 und Addition ergibt

d

dt(γ2

2 + γ21) = 2γ1γ1 + 2γ2γ2 = c2γ1 + c1γ2,

also (γ1 −

c2

2

)2

+(γ2 −

c1

2

)2

− c21 + c2

2

4= γ2

1 + γ22 − c2γ1 − c1γ2 = c

fur ein c ∈ R. Mit R =

√c+

c21+c224

ergibt sich(γ1 −

c2

2

)2

+(γ2 −

c1

2

)2

= R2,

was zeigt, dass γ einen Kreis um ( c22, c1

2) mit Radius R beschreibt. Die Nebenbe-

dingung legt nun R fest als R = L2π

. Der Mittelpunkt bleibt unbestimmt, da allediese Kreise die gleiche Flache und den gleichen Umfang haben.

Zusammengefasst: Die einzig mogliche Losung des isoperimetrischen Problemsin der Ebene ist ein Kreis vom Radius L

2π(mit Flache L2

4π).

Holonome Nebenbedingungen

Diese Bedingungen schranken den Wertebereich von u(x) fur jedes x ∈ [a, b] ein.Genauer: Ist M ⊂ Rm eine Untermannigfaltigkeit des Rm, so ist eine holonomeNebenbedingung fur das Variationsproblem

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx→ min

gegeben durch u(x) ∈ M fur alle x ∈ [a, b]. Da Mannigfaltigkeiten lokal alsNullstellengebilde glatter Funktionen dargestellt werden konnen, treten diese Be-dingungen auch oft in der Form G(u(x)) = 0 ∀x ∈ [a, b] fur eine geeigneteFunktionen G auf.

Beispiel. Die kurzeste Verbindung (Geodate) zwischen Punkten γa, γb ∈ M aufeiner Mannigfaltigkeit M ⊂ Rm lost das Variationsproblem∫ b

a

|γ(t)| dt→ min

auf der zulassigen Menge

A = γ ∈ D1([a, b];Rm) : γ(a) = γa, γ(b) = γb, γ(t) ∈M ∀ t ∈ [a, b].

28

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Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass nur sehr spezielle Variationen mitder Nebenbedingung kompatibel sind. Die wichtige Beobachtung, die es ermoglichtdiese Probleme wie zuvor anzugehen, ist nun, dass man das Funktional I mittelsKarten fur M auf den euklidischen Raum zuruckspielen kann. Wir nehmen imFolgenden zunachst an, dass M durch eine einzige Karte parametrisiert sei. Derallgemeine Fall lasst sich dann hierauf zuruckfuhren.

Sei also dimM = k und M = Φ(V ) fur eine Cα-Karte Φ : V ⊂ Rk → Rm derCα-Mannigfaltigkeit M . Das durch Φ “zuruckgeholte” Funktional ist

JΦ(v) = I(Φ v) =

∫ b

a

gΦ(x, v(x), v′(x)) dx

mit gΦ(x, y, z) = f(x,Φ(y), DΦ(y)z), definiert fur v ∈ D1([a, b];V ).Fur einen lokalen Minimierer u von I setzen wir v = Φ−1 u. Ist ϕ ∈

D10([a, b];Rk), so verlauft wegen

‖u− Φ v‖C1 ≤ ‖Φ‖C1‖v − v‖C1

fur ‖v − v‖C1 hinreichend klein die Kurve v ganz in V und v ist ein lokalerMinimierer von JΦ. Dieses Funktional lasst sich nun aber wie zuvor mit denschon besprochenen Methoden behandeln. Inbesondere erhalt man, dass v dieEuler-Lagrange-Gleichungen lost.

Im allgemeinen Fall kann man, da u([a, b]) kompakt ist, uberlappende Inter-valle Ii, i = 1, . . . , N , wahlen, so dass u(Ii) ⊂ Ui gilt fur Kartenbereiche Ui mitKarte Φi ∈ Cα(Rk;Ui). Indem man nun Variationen ϕ ∈ D1

0(Ii;Rk) betrachtet,erhalt man wie oben, dass vi = Φ−1

i (u|Ii) ein lokaler Minimierer von

JΦi(v) =

∫Ii

gΦi(x, v(x), v′(x)) dx

ist und die entsprechenden Euler-Lagrange-Gleichungen lost. Die zusatzlichenfreien Parameter der Losungen, die durch diese “Stuckelung” entstehen, werdendadurch eliminiert, dass Φi(vj) und Φj(vj) auf Ii ∩ Ij ubereinstimmen mussen.

Beispiel. Betrachte ∫ b

a

|γ|2 dx→ min

auf

A = u ∈ D1([a, b];R2) : u(a) = ua, u(b) = ub, |u(x)| = 1 ∀x ∈ [a, b],

ua, ub ∈ S1 gegeben. Die Mannigfaltigkeit S1 wird durch Φ(1) = Φ|(−π,π) undΦ(2) = Φ|(0,2π), wobei Φ(t) = (cos t, sin t) ist, parametrisiert.

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Fur die Intervalle Ii, i = 1, . . . , N , ergibt sich nun

JΦi(v) =

∫Ii

|(− sin v(x), cos v(x))v′(x)|2 dx =

∫Ii

v′2(x) dx.

Die Euler-Lagrange-Gleichung hierfur ist v′′ = 0, so dass vi(x) = cix + di furgeeignete ci, di ∈ R ist. Es folgt u|Ii(x) = (cos(cix + di), sin(cix + di)). Da die Iiaber uberlappen, muss ci = c1 und di ∈ d1 + 2πZ gelten, also

u(x) = (cos(c1x+ d1), sin(c1x+ d1)).

Die Randbedingungen legen c1 und d1 dahingehend fest, dass sich als allgemeineLosung der Euler-Lagrange-Gleichungen u eine Kurve ergibt, die sich mit kon-stanter Geschwindigkeit auf S1 von ua nach ub bewegt, wobei sie sich beliebig oftum den Ursprung winden darf. Sind ua und ub nicht gegenuberliegende Pole, so istder kurzeste Weg der einzig mogliche globale Minimierer. Fur gegenuberliegendePole sind die beiden kurzesten Wege die einzig moglichen globalen Minimierer.

Bemerkung. 1. Allgemeiner bezeichnet man auch Bedingungen von der Form(x, u(x)) ∈M ⊂ Rm+1, die lokal durch eine Gleichung der FormG(x, u(x)) =0 mit geeignetem G gegeben sind, als holonome Nebenbedingungen. Auchdiese Probleme lassen sich durch lokale Karten auf den euklidischen Fallzuruckfuhren.

2. Ist G zudem von u′ abhangig, so nennt man eine Nebenbedingung der FormG(x, u(x), u′(x)) = 0 eine nicht-holonome Nebenbedingung. Auf diese Bedin-gungen wollen wir hier nicht weiter eingehen.

Hindernisprobleme

Allgemeiner als holonome und nicht-holonome Systeme betrachtet man auch Un-gleichungsnebenbedingungen der Form

G(x, u(x), u′(x)) ≥ 0.

Ein wichtiges Beispiel hierfur sind die sogenannten Hindernisprobleme mitG(x, y, z) =G(x, y). Die Nebenbedingung verlangt dann, dass der Graph von u ganz im Be-reich G−1([0,∞)) liegt.

Beispiel. Es sei

I(u) =

∫ b

a

√1 + u2(x) dx.

Zu minimieren uber

A = u ∈ D1([a, b];R) : u(x) ≥ h(x) ∀x ∈ [a, b],

30

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wobei h ∈ D1([a, b];R) eine gegebene Funktion sei. (Dann ist G(x, y) = y−h(x).)Gesucht ist also die Funktion mit minimaler Lange des Funktionsgraphen, dieoberhalb der Funktion h verlauft.

Allgemeiner als im Beispiel betrachten wir nun Hindernisprobleme von derForm

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx→ min

uber A = u ∈ D1([a, b];R) : u(x) ≥ h(x) ∀x ∈ [a, b], h ∈ D1([a, b];R) gegeben.Ist u ein lokaler Minimierer, so lassen sich auf der offenen Menge x : u(x) >

h(x) wie zuvor Variationen betrachten, die zeigen, dass u dort die Euler-Lagrange-Gleichung erfullt.

Auf ganz [a, b] durfen wir aber i.A. keine Variationen ϕ betrachten, die nega-tive Werte annehmen. Es sei also ϕ ∈ C∞c (a, b) mit ϕ ≥ 0. Wie zuvor folgt dannδI(u, ϕ) = 0 und damit∫ b

a

(fy(x, u(x), u′(x))− d

dxfz(x, u(x), u′(x)

)· ϕ(x) dx ≥ 0

fur all diese ϕ. Dies zeigt, dass

− d

dxfz(x, u(x), u′(x)) + fy(x, u(x), u′(x)) ≥ 0

ist. (Gabe es ein x, das diese Gleichung nicht erfullt, so ergibt sich fur ϕ mitsuppϕ in einer kleinen Umgebung von ϕ ein Widerspruch.)

Zusammengefasst ergibt sich fur u eine Differentialungleichung

− d

dxfz(·, u, u′) + fy(·, u, u′) ≥ 0 auf [a, b],

wobei in Bereichen, in denen die Nebenbedingung “nicht aktiv” ist, sogar dieDifferentialgleichung

− d

dxfz(·, u, u′) + fy(·, u, u′) = 0 auf bu > h

gilt.

2.4 Innere Variation, Eckenbedingungen, Erhal-

tungssatze

Innere Variation und Eckenbedingungen

Wahrend wir im vorigen Abschnitt Variationen der Form u + sϕ mit |s| 1,also Variationen der abhangigen Variablen u, untersucht haben, betrachten wirnun Variationen der unabhangigen Variable x. Genauer: Fur ein s0 > 0 sei

ψ ∈ C2([a, b]× (−s0, s0); [a, b]),

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so dass ψ(·, s) : [a, b]→ [a, b] eine durch s parametrisierte Familie von Diffeomor-phismen mit

ψ(a, s) = a, und ψ(b, s) = b ∀ s ∈ (−s0, s0) sowie

ψ(x, 0) = x ∀x ∈ [a, b]

bildet. Wir setzen außerdem λ(x) = ddsψ(x, s)|s=0.

Ist nun u ∈ A = D1([a, b];Rm : u(a) = ua, u(b) = ub fur gegebene ua, ub ∈Rm, so ist fur jedes s ∈ (−s0, s0) auch v(·, s) = u(ψ(·, s)) ∈ A. Es ist daherinteressant, die Ableitung von I(v(·, s)) nach s bei s = 0 zu berechnen, die jadann insbesondere verschwinden muss, wenn u eine Minimalstelle war.

Bezeichnen wir die Inverse von ψ(·, s) mit τ(·, s) := ψ−1(·, s), so liefert wegen

∂x(u ψ)(x, s) = u′(ψ(x, s))

∂xψ(x, s) = u′(ψ(x, s))

1∂τ∂x

(ψ(x, s))

eine Variablensubstitution

I(v(·, s)) =

∫ b

a

f(x, v(x, s),

∂xv(x, s)

)dx

=

∫ b

a

f(τ(x, s), u(x),

u′(x)∂τ∂x

(x, s)

)∂τ∂x

(x, s) dx.

Damit folgt

d

ds

∣∣∣s=0

I(v(·, s)) =

∫ b

a

fx

(τ(x, 0), u(x),

u′(x)∂τ∂x

(x, 0)

)∂τ∂s

(x, 0)∂τ

∂x(x, 0)

+ fz

(τ(x, 0), u(x),

u′(x)∂τ∂x

(x, 0)

)· u′(x)

− ∂2τ∂s∂x(

∂τ∂x

(x, 0))2

∂τ

∂x(x, 0)

+ f(τ(x, 0), u(x),

u′(x)∂τ∂x

(x, 0)

) ∂2τ

∂s∂x(x, s) dx.

Nun ist offenbar τ(x, 0) = x und ∂τ∂x

(x, 0) = 1. Leitet man die Gleichung τ(ψ(x, s), s) =x nach s ab, so sieht man, dass außerdem

0 =∂τ

∂x(ψ(x, 0), 0)

∂ψ

∂s(x, 0) +

∂τ

∂s(ψ(x, 0), 0) = λ(x) +

∂τ

∂s(x, 0),

also ∂τ∂s

(x, 0) = −λ(x) und damit auch ∂2τ∂x∂s

(x, 0) = −λ′(x) gilt. Eingesetzt ergibtsich

d

ds

∣∣∣s=0

I(v(·, s)) =

∫ b

a

−fx(x, u(x), u′(x))λ(x)

+(fz(x, u(x), u′(x)) · u′(x)− f(x, u(x), u′(x))

)λ′(x) dx.

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Definition 2.19. Es sei u ∈ D1([a, b];Rm).

(i) Fur λ ∈ D1([a, b];R) nennt man

∂I(u, λ) :=

∫ b

a

−fx(·, u, u′)λ(x) +(fz(·, u, u′) · u′ − f(·, u, u′)

)λ′ dx

die erste innere Variation von I bei u in Richtung λ.

(ii) Eine Familie von Diffeomorphismen wie oben beschrieben nennt man aucheine zulassige Parametervariation.

Die folgende Beobachtung zeigt, dass es viele Richtungen gibt, in die maninnere Variationen betrachten kann:

Lemma 2.20. Zu jedem λ ∈ C∞c (a, b) gibt es eine zulassige Parametervariationψ(·, s), s ∈ (−s0, s0), mit λ(x) = d

dsψ(x, s)|s=0.

Beweis. Setze einfach ψ(x, s) = x + sλ(x). Offenbar ist ψ C∞-glatt, ψ(x, 0) = xfur alle x, ψ(a, s) = a und ψ(b, s) = b fur alle s. Fur hinreichend kleines s0 istzudem ∂ψ

∂x(x, s) > 0, so dass die ψ(·, s) tatsachlich Diffeomorphismen sind.

Korollar 2.21. Es sei f ∈ C1([a, b]× Rm × Rm). Ist u ∈ A ein Minimierer vonI, so gilt

∂I(u, λ) = 0 ∀λ ∈ C∞c (a, b).

Als Anwendung dieses Korollars erhalten wir die Erdmann-Gleichung fur Mi-nimierer u:

Satz 2.22. Es seien f ∈ C1([a, b]×Rm×Rm), u ∈ D1([a, b];Rm) mit ∂I(u, λ) = 0fur alle λ ∈ C∞c (a, b). Dann gibt es eine Konstante c ∈ R, so dass die Gleichung

f(x, u(x), u′(x))− u′(x) · fz(x, u(x), u′(x)) = c+

∫ x

a

fx(t, u(t), u′(t)) dt

gilt.

Man nennt diese Gleichung die Erdmann-Gleichung. Sie ist also insbesonderefur Minimierer von I erfullt.

Beweis. Nach Voraussetzung gilt

0 =

∫ b

a

−fx(·, u, u′)λ(x) +(fz(·, u, u′) · u′ − f(·, u, u′)

)λ′ dx

=

∫ b

a

(∫ ·a

fx(t, u(t), u′(t)) ds+ fz(·, u, u′) · u′ − f(·, u, u′))λ′ dx

(partielle Integration) fur alle λ ∈ C∞c (a, b), so dass die Behauptung aus demLemma von Du Bois-Reymond folgt.

33

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Als Konsequenz ergeben sich die sogenannten Erdmann-Weierstraßschen Ecken-bedingungen fur Minimierer:

Korollar 2.23. Es seien f ∈ C1([a, b] × Rm × Rm) und u ∈ A ein Minimierervon I. Dann sind die Funktionen

fz(·, u, u′) und f(·, u, u′)− u′ · fz(·, u, u′)

stetig.

Ist u eine D1-Funktion, so machen diese Stetigkeitsergebnisse gerade ubersolche Stellen x ein Aussage, an denen die Ableitung springt, also u(x−) 6= u(x+)ist, so dass der Graph von u dort eine “Ecke” hat. (Daher die Bezeichnung.) FurMinimierer mussen dann namlich

fz(x, u(x), u′(x−)) = fz(x, u(x), u′(x+))

und

f(x, u(x), u′(x−))− u′(x−) · fz(x, u(x), u′(x−))

= f(x, u(x), u′(x+))− u′(x+) · fz(x, u(x), u′(x+))

gelten.

Beweis von Korollar 2.23. Die Stetigkeit (sogar die stuckweise Differenzierbar-keit) von fz(·, u, u′) haben wir schon im Satz 2.5 gezeigt.

Die Stetigkeit (sogar die stuckweise Differenzierbarkeit) von fx(·, u, u′) − u′ ·fz(·, u, u′) folgt aus der Erdmann-Gleichung, deren rechte Seite ja stetig (sogarstuckweise differenzierbar) ist.

Erhaltungssatze

Wir betrachten wieder

I(u) =

∫ b

a

f(x, u(x), u′(x)) dx

mit f ∈ C2. Unser Ziel ist es, den Satz von Noether zu beweisen, der Invariantenvon I mit Erhaltungssatzen fur die Losungen der Euler-Lagrange-Gleichungen inVerbindung bringt.

Es sei h ∈ C2 ((−s0, s0)× Rm;Rm) , s0 > 0, wobei wir h(s, y) = hs(y) schrei-ben, so dass (hs) eine (Ein-Parameter-) Familie differenzierbarer Abbildungen ist.Dabei sei h0(y) = y fur alle y ∈ Rm.

34

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Satz 2.24. Giltf(x, hs(y), Dhs(y)z) = f(x, y, z)

fur alle x ∈ [a, b] und y, z ∈ Rm, so ist fur jede Losung u der Euler-Lagrange-Gleichungen von I der Ausdruck

fz(x, u(x), u′(x)) · dds

∣∣∣s=0

hs(u(x))

konstant in x ∈ [a, b].

Die Voraussetzungen besagen gerade, dass I (auf jedem Teilintervall [a′, b′] ⊂[a, b]) invariant unter (hs) ist:∫ b′

a′f(x, hs(u(x)),

d

dxhs(u(x))

)dx =

∫ b′

a′f(x, hs(u(x)), Dhs(u(x))u′(x)

)dx

=

∫ b′

a′f(x, u(x), u′(x))dx

fur alle u ∈ D1([a′, b′];Rm).

Beweis. Beweis: Nach Voraussetzung gilt fur alle x ∈ [a, b]

0 =d

ds

∣∣∣s=0

f(x, hs(u(x)),

d

dxhs(u(x))

)= fy

(x, h0(u(x)),

d

dxh0(u(x))

)· dds

∣∣∣s=0

hs(u(x))

+ fz

(x, h0(u(x)),

d

dxh0(u(x))

)· dds

∣∣∣s=0

d

dxhs(u(x))

=d

dxfz(x, u(x), u′(x)

)· dds

∣∣∣s=0

hs(u(x))

+ fz(x, u(x), u′(x)

)· ddx

d

ds

∣∣∣s=0

hs(u(x))

=d

dx

[fz(x, u(x), u′(x)

)· dds

∣∣∣s=0

hs(u(x))]

wobei wir im vorletzten Schritt die Euler-Lagrange-Gleichung ausgenutzt haben.Fur jedes x0 ∈ [a, b] folgt nun durch Integration uber [a, x0]

fz(x0, u(x0), u′(x0)

) dds

∣∣∣s=0

hs(u(x0)) = fz(x, u(x), u′(a)

) dds

∣∣∣s=0

hs(u(a)).

Beispiel. N Teilchen mit Massen m1, . . . ,mN bewegen sich in einem PotentialV : [a, b]× (R3)N → R gemaß der Hamiltonschen Mechanik entlang Extremalendes Wirkungsfunktionals

I(u) =

∫ b

a

f(t, u(t), u(t)) dt

35

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mit u = (u1, . . . , un), ui = (ui1, ui2, u

i3), und

f(t, y, z) =N∑i=1

mi

2|zi|2 − V (t, y).

(Man nennt f hier die Lagrange-Funktion.)Ist V invariant unter Translationen in e2-Richtung, d.h. V (t, y) = V (t, y +

(e2, . . . , e2)), so gilt fur hs(y) = (y1 + se2, . . . , yN + se2) wegen Dhs = Id fur alle

y, s

f(t, hs(y), Dhs(y)z) =N∑i=1

mi

2|zi|2 − V (t, y) = f(t, y, z).

Nach dem Noetherschen Satz ist also die zweite Komponente des Gesamtimpulses

N∑i=1

miui(t) · e2 = fz(z, u(t), u(t)) · dds

∣∣∣s=0

hs(u(t))

konstant in t und damit eine Erhaltungsgroße.

Der verallgemeinerte Satz von Noether behandelt auch Variationen der un-abhangigen Variable x. Wir wollen auf die allgemeinste Form hier nicht eingehen,den Spezialfall, dass f nicht explizit von x abhangt aber noch direkt betrachten.

Satz 2.25. Es sei f ∈ C2(Rm × Rm) unabhangig von x und u ∈ C2([a, b];Rm)eine Losung der Euler-Lagrange-Gleichungen

− d

dxfz(x, u(x), u′(x)) + fy(x, u(x), u′(x)) dx = 0.

Dann istfz(u(x), u′(x)) · u′(x)− f(u(x), u′(x))

konstant in x ∈ [a, b].

Beweis. Nachrechnen ergibt

d

dx

(fz(u(x), u′(x)) · u′(x)− f(u(x), u′(x))

)=

d

dxfz(u(x), u′(x)) · u′(x) + fz(u(x), u′(x)) · u′′(x)

− fy(u(x), u′(x)) · u′(x)− fz(u(x), u′(x)) · u′′(x)

=( d

dxfz(u(x), u′(x))− fy(u(x), u′(x))︸ ︷︷ ︸

=0

)· u′(x) = 0,

da u die Euler-Lagrange-Gleichungen erfullt.

36

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Beispiel: Ist V und damit f im Beispiel von Seite 35 unabhangig, so erfullenLosungen der Euler-Lagrange-Gleichung die Energieerhaltungsgleichung

Energie(u(t)) :=N∑i=1

mi

2|ui(t)|2︸ ︷︷ ︸

kinetische Energie

+ V (u(t))︸ ︷︷ ︸potentielle Energie

= const.,

denn

fz(u, u) · u− f(u, u) = (m1u1, . . .mN uN) · (u1, . . . , uN)− f(u, u)

=N∑i=1

mi|ui|2 −N∑i=1

mi

2|ui|2 + V (u) = Energie(u(t)).

37

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Kapitel 3

Sobolev-Raume

3.1 Definition und grundlegende Eigenschaften

Schwache Ableitungen

Sei U ⊂ Rn offen. Mit C∞c (U) (manchmal auch mit D(U)) bezeichnet man denRaum der Testfunktionen

C∞c (U) := ϕ ∈ C∞(U) : suppϕ ⊂ U ist kompakt.

Ist u ∈ Ck(U), so gilt (partielle Integration) fur |α| ≤ k∫U

u ∂αϕ = (−1)|α|∫U

∂αuϕ ∀ϕ ∈ C∞c (U). (3.1)

Diese Formel ist der Ausgangspunkt zur Definition der schwachen Ableitung. Nachdem Fundamentallemma 3.1 der Variationsrechnung ist namlich ∂αu durch dieIntegrale

∫∂αuϕ eindeutig festgelegt:

Lemma 3.1. Es sei f ∈ L1loc(U). Gilt∫

U

f(x)ϕ(x) dx = 0 fur alle ϕ ∈ C∞c (U),

so ist f = 0 fast uberall.

Beweis. Es sei ηε der skalierte Standardglattungskern (vgl. Anhang A), so dassηε ∗ f → f punktweise fast uberall mit ε → 0 nach Satz A.1 folgt.1 Nun istaber ηε ∗ f(x) =

∫Uηε(x − y)f(y) dy = 0 fur x mit dist(x, ∂U) > ε, da dann

ηε(x− ·) ∈ C∞c (U) ist.

1Wenn Sie Punkt (ii) des Satzes A.1 nicht verwenden mochten, beachten Sie, dass nachSatz A.1(iv) ηε ∗ f → f in L1

loc konvergiert, so dass Sie eine fast uberall konvergente Teilfolgeerhalten.

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Definition 3.2. Es seien u, v ∈ L1loc(U), α ein Multiindex mit |α| ≤ k. v heißt

die α-te schwache Ableitung von u, geschrieben v = ∂αu, wenn gilt∫U

u ∂αϕ = (−1)|α|∫U

v ϕ ∀ϕ ∈ C∞c (U).

(Gebrauchlich sind auch die Schreibweisen Dαu, uα oder u,α fur ∂αu. Speziell furα = ei schreibt man auch ∂iu. Der schwache Gradient (∂1u, . . . , ∂nu) wird meistmit ∇u oder Du bezeichnet.)

Lemma 3.3. (i) Die schwache Ableitung ist – wenn sie existiert – eindeutigbis auf Nullmengen definiert.

(ii) Ist u ∈ Ck(U), so ist die schwache auch die starke (= gewohnliche) Ablei-tung.

Beweis. (i) Sind v, v α-te schwache Ableitungen von u, so ist

(−1)|α|∫U

v ϕ =

∫U

u ∂αϕ = (−1)|α|∫U

v ϕ ∀ϕ ∈ C∞c (U)

und daher ∫U

(v − v)ϕ = 0 ∀ϕ ∈ C∞c (U).

Dann aber ist v = v fast uberall nach Lemma 3.1.(ii) ist klar nach (3.1).

Beispiel: Sei U = (−1, 1).

1. u(x) = |x|. Dann ist u schwach differenzierbar mit Ableitung

u′(x) = v(x) =

−1, x < 0,1, x > 0.

In der Tat: Ist ϕ ∈ C∞c (U), so gilt∫ 1

−1

u(x)ϕ′(x) dx =

∫ 0

−1

(−x)ϕ′(x) dx+

∫ 1

0

xϕ′(x) dx

=

∫ 0

−1

ϕ(x) dx−∫ 1

0

ϕ(x) dx = −∫ 1

−1

v(x)ϕ(x) dx,

wobei bei der partiellen Integration keine Randterme auftraten, da ϕ bei−1 und 1 und x bei 0 verschwindet.

39

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2. u(x) =

0, x < 0,1, x > 0.

Dann ist u nicht schwach differenzierbar: Ware v =

u′, so ware fur alle ϕ ∈ C∞c (U)∫ 1

−1

v(x)ϕ(x) dx = −∫ 1

−1

u(x)ϕ′(x) dx = −∫ 1

0

ϕ′(x) dx = ϕ(0).

Wahlt man nun ϕk mit limk→∞ ϕk = 0 fast uberall und ‖ϕk‖∞ ≤ 1,suppϕk ⊂ (−1

2, 1

2), ϕk(0) = 1, so ergibt sich

0 = limk

∫U

vϕk = limkϕk(0) = 1.

Widerspruch.

Definition 3.4. Sei U ⊂ Rn, k ∈ N, p ∈ [1,∞].

(i) Der Sobolev-Raum W k,p und dessen lokale Variante W k,ploc sind definiert

durch

W k,p(U) := u ∈ L1loc(U) : ∂αu existiert und liegt in Lp(U) ∀ |α| ≤ k,

W k,ploc (U) := u ∈ L1

loc(U) : ∂αu existiert und liegt in Lploc(U) ∀ |α| ≤ k.

Fur p = 2 schreibt man auch Hk(U) = W k,p(U) bzw. Hkloc(U) = W k,p

loc (U).

(ii) Fur u ∈ W k,p(U) setze

‖u‖Wk,p(U) :=

(∑

|α|≤k ‖∂αu‖pLp(U)

) 1p, 1 ≤ p <∞,∑

|α|≤k ‖∂αu‖L∞(U), p =∞.

(iii) Wir sagen um → u in W k,p(U), wenn limm→∞ ‖um−u‖Wk,p(U) = 0 gilt (alsogenau dann, wenn ∂αum → ∂αu in Lp konvergiert fur alle |α| ≤ k). Wirsagen um → u in W k,p

loc (U), wenn um → u in W k,p(V ) fur alle V ⊂⊂ U .2

Bemerkung. Aquivalente Normen auf W k,p(U) sind gegeben durch∑|α|≤k

‖∂αu‖Lp(U) und sup|α|≤k‖∂αu‖Lp(U).

Wichtiges Beispiel: U = B1(0) ⊂ Rn, u(x) = |x|−γ.Wenn die schwache Ableitung ∂iu existiert, dann muss sie durch

∂iu =−γxi|x|γ+2

:= vi

2Man schreibt V ⊂⊂ U fur offene Mengen U und V , wenn V kompakt ist und V ⊂ U gilt.

40

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gegeben sein. (Betrachte Testfunktionen, die in einer Nullumgebung verschwin-den.) Nun ist vi ∈ L1

loc genau dann, wenn |x|−γ−1 integrierbar ist, also genaudann, wenn γ + 1 < n ist (Polarkoordinaten). In der Tat ist umgekehrt unterdieser Voraussetzung fur alle ϕ ∈ C∞c (U)∫

U

u ∂iϕ =

∫Bε(0)

u ∂iϕ+

∫∂Bε(0)

uϕ νi −∫U\Bε(0)

∂iuϕ =: I1(ε) + I2(ε)− I3(ε),

ν die innere Normale an ∂Bε(0), 0 < ε < 1. Da wegen γ + 1 < n sowohl u alsauch vi integrierbar sind, folgt mit majorisierter Konvergenz

I1(ε)→ 0, I3(ε)→∫U

viϕ mit ε→ 0.

Außerdem ist u(x) = ε−γ auf ∂Bε(0), so dass

|I2(ε)| ≤ ‖ϕ‖∞|∂B1(0)|εn−1ε−γ → 0 mit ε→ 0

gilt. Das zeigt, dass wirklich vi = ∂iu im schwachen Sinne gilt.Nun ist ∇u = (∂1u, . . . , ∂nu) ∈ (Lp(U))n genau dann, wenn (γ + 1)p < n gilt

und somit

u ∈ W 1,p(U) ⇐⇒ γ <n− pp

.

Satz 3.5. Seien u, v ∈ W k,p(U), |α| ≤ k. Dann gilt

(i) ∂αu ∈ W k−|α|,p(U),

∂β∂αu = ∂α∂βu = ∂α+βu ∀ |α|+ |β| ≤ k.

(ii) W k,p(U) ist ein Vektorraum und ∂α : W k,p(U) → W k−|α|,p(U) eine stetigelineare Abbildung.

(iii) Ist V ⊂ U offen, so ist u ∈ W k,p(V ) (genauer: u|V ∈ W k,p(V )).

(iv) Ist ζ ∈ C∞c (U), so ist ζu ∈ W k,p(U) und es gilt die Leibnizformel

∂α(ζu) =∑β≤α

β

)∂βζ∂α−βu,

wobei(αβ

)= α!

β!(α−β)!ist.

Beweis. (i) Sei ϕ ∈ C∞c (U). Dann ist fur β mit |β| ≤ k − |α|∫U

∂αu ∂βϕ = (−1)|α|∫U

u ∂α+βϕ = (−1)|α|(−1)|α+β|∫U

∂α+βuϕ

= (−1)|β|∫U

∂α+βuϕ,

41

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wobei wir im ersten Schritt ∂βϕ ∈ C∞c (U) ausgenutzt haben. Das zeigt ∂β(∂αu) =∂α+βu ∈ Lp.

(ii) Fur λ, µ ∈ R gilt∫U

(λu+ µv)∂αϕ = λ

∫U

u ∂αϕ+ µ

∫U

v ∂αϕ

= λ(−1)|α|∫U

∂αuϕ+ µ(−1)|α|∫U

∂αv ϕ

= (−1)|α|∫U

(λ∂αu+ µ∂αv)ϕ.

Die Stetigkeit ergibt sich nach (i) aus

‖∂αu‖Wk−|α|,p(U) =

(∑

|β|≤k−|α| ‖∂α+βu‖pLp(U)

) 1p ≤ ‖u‖Wk,p(U), 1 ≤ p <∞,∑

|β|≤k−|α| ‖∂α+βu‖L∞(U) ≤ ‖u‖Wk,p(U), p =∞.

(iii) Klar, da C∞c (V ) ⊂ C∞c (U) und Lp(V ) ⊃ Lp(U).(iv) Ubungsaufgabe.

Satz 3.6. W k,p(U) ist ein Banachraum.

Beweis. Die Normeigenschaften von ‖ · ‖Wk,p(U) sind klar bis auf die Dreiecksun-gleichung fur p <∞. Die sieht man so:

‖u+ v‖Wk,p(U) =

∑|α|≤k

‖∂α(u+ v)‖pLp(U)

1p

∑|α|≤k

(‖∂αu‖Lp(U) + ‖∂αu‖Lp(U)

)p 1p

nach der Minkowski-Ungleichung, d.h. der Dreiecksungleichung fur die Lp-Norm.Mit der diskreten Minkowski-Ungleichung, d.h. der Dreiecksungleichung fur diep-Norm auf Rm (hier mit m = #α : |α| ≤ k) angewandt auf (‖∂αu‖Lp)|α|≤kund (‖∂αv‖Lp)|α|≤k ergibt sich

‖u+ v‖Wk,p(U) ≤

∑|α|≤k

(‖∂αu‖Lp(U)

)p 1p

+

∑|α|≤k

(‖∂αv‖Lp(U)

)p 1p

= ‖u‖Wk,p(U) + ‖v‖Wk,p(U).

Wir mussen noch zeigen, dass W k,p vollstandig ist. Sei dazu (um) eine Cauchy-Folge. Dann ist fur jedes α mit |α| ≤ k die Folge (∂αum) eine Cauchy-Folge inLp, und also existieren die Limites

∂αum → uα in Lp. (3.2)

42

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Setze u = u(0,...,0). Es bleibt zu zeigen, dass um → u gilt in W k,p.Nach (3.2) ist dazu nur noch ∂αu = uα zu zeigen. Sei also ϕ ∈ C∞c (U). Dann

ist ∫U

u∂αϕ = limm→∞

∫U

um∂αϕ = lim

m→∞(−1)|α|

∫U

∂αumϕ = (−1)|α|∫U

uαϕ,

was beweist, dass ∂αu existiert und gleich uα ist. Dass man Limes und Integralvertauschen darf sieht man mit der Holderschen Ungleichung3: Gilt fm → f ∈ Lpund ψ ∈ Lq mit 1

p+ 1

q= 1, so ist∣∣∣∣∫ fmψ −

∫fψ

∣∣∣∣ ≤ ∫ |(fm − f)ψ| ≤ ‖fm − f‖Lp‖ψ‖Lq → 0.

Approximation durch glatte Funtionen

Eine wichtige Methode, Sobolev-Funktionen zu untersuchen, ist die Approxima-tion durch glatte Funktionen. Fur ε > 0 und U ⊂ Rn definieren wir die (offene)Menge Uε durch Uε = x ∈ U : dist(x, ∂U) > ε.Satz 3.7. Sei U ⊂ Rn offen, u ∈ W k,p

loc (U), p ∈ [1,∞), k ∈ N0. Setze

uε := ηε ∗ u in Uε,

wobei ηε der skalierte Standardglattungskern ist (vgl. Satz A.1). Dann gilt

uε → u in W k,ploc (U) mit ε→ 0.

Insbesondere sind also die C∞-glatten Funktionen dicht in W k,ploc .

Beweis. Es genugt zu zeigen, dass fur alle Multiindizes α mit |α| ≤ k gilt

∂αuε = ηε ∗ ∂αu in Uε.

Nach Satz A.1 folgt dann namlich ∂αuε → ∂αu in Lploc.Diese Gleichung sieht man wie folgt:

∂αuε(x) = ∂α∫U

ηε(x− y)u(y) dy

=

∫U

∂αx ηε(x− y)u(y) dy

= (−1)|α|∫U

∂αy ηε(x− y)u(y) dy

= (−1)|α|(−1)|α|∫U

ηε(x− y)∂αy u(y) dy

= (ηε ∗ ∂αu) (x).

3Funktionalanalytisch: Starke Konvergenz impliziert schwache Konvergenz.

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Wir benotigen auch die folgende nicht-lokale Variante dieses Ergebnisses:

Satz 3.8. Sei U ⊂ Rn offen und p ∈ [1,∞). Dann liegt C∞(U) ∩W k,p(U) dichtin W k,p(U).

Beweis. Setze

Ui :=

x ∈ U : dist(x, ∂U) >

1

i, |x| < i

fur i = 1, 2, . . . ,

Vi := Ui+3 \ U i+1 fur i = 1, 2, . . . , V0 := U3.

Dann ist (Vi) eine offene Uberdeckung von U und wir konnen eine zugehorigeZerlegung der Eins (ζi) wahlen, d.h. Funktionen ζi ∈ C∞c (Vi) mit 0 ≤ ζi ≤ 1 und∑∞

i=0 ζi = 1 auf U .Ist nun u ∈ W k,p(U), so ist nach Satz 3.5(iv) ζiu ∈ W k,p(U) mit supp(ζiu) ⊂

Vi ⊂⊂ U . Zu δ > 0 gegeben existiert dann nach Satz 3.7 ui = ηεi ∗ (ζiu) mit

‖ui − ζiu‖Wk,p(U) ≤δ

2i+1und supp(ui) ⊂ Ui+4 \ Ui, i ≥ 1, bzw. supp(u0) ⊂ U4.

Setze nun v :=∑∞

i=0 ui und beachte, dass fur alle V mit V ⊂⊂ U diese Summeendlich ist, insbesondere also v C∞-glatt ist. Fur V ⊂⊂ U gilt nun

‖v − u‖Wk,p(V ) ≤∞∑i=0

‖ui − ζiu‖Wk,p(U) ≤∞∑i=0

δ

2i+1= δ.

Geht man nun zum Supremum uber alle V ⊂⊂ U uber, erhalt man die Behaup-tung.

Unter zusatzlichen Glattheitsannahmen an ∂U konnen die Approximationensogar glatt auf U gewahlt werden.

Definition 3.9. Man sagt, die Menge U ⊂ Rn habe einen Lipschitz-Rand (oderkurz ∂U sei Lipschitz), wenn es zu jedem Randpunkt x0 ∈ ∂U nach geeigne-ter Umnummerierung und Umorientierung der Koordinaten ein r > 0 und eineLipschitz-Funktion γ : Rn−1 → R gibt, so dass

U ∩Br(x0) = x ∈ Br(x0) : xn > γ(x1, . . . , xn−1)

ist.

Satz 3.10. Sei U ⊂ Rn offen und beschrankt mit Lipschitz-Rand, 1 ≤ p < ∞.Dann liegt C∞(U) dicht in W k,p(U).

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Beweis. Wir konstruieren zunachst Approximationen in der Nahe eines Rand-punktes x0 ∈ ∂U . Nach eventueller Umnummerierung und Umorientierung derKoordinaten gibt es ein r > 0 und eine Lipschitz-Funktion γ : Rn−1 → R, so dass

U ∩Br(x0) = x ∈ Br(x0) : xn > γ(x1, . . . , xn−1)

ist. Setze V = U ∩B r2(x0).

Zu ε > 0 und x ∈ Rn definieren wir den verschobenen Punkt xε = x + λεen.Da γ Lipschitz-stetig ist, kann man ein festes λ > 0 wahlen, so dass

B2ε(xε) ⊂ U ∩Br(x0)

ist fur alle x ∈ V und hinreichend kleinen ε.

Abbildung 3.1: Konstruktion des verschobenen Punktes xε.

Definiere nun eine Approximation uε : V[2ε] → R durch

uε(x) := u(xε),

wobei V[2ε] := x ∈ Rn : dist(x, V ) < 2ε ist. Dann gilt in der Tat uε → u inW k,p(V ): Ist |α| ≤ k, so ist

‖∂αuε − ∂αu‖Lp(V ) = ‖∂αu(·+ ελen)− ∂αu‖Lp(V ) → 0 mit ε→ 0.

Es bleibt, uε durch eine glatte Funktion auf V zu approximieren. Dazu setzenwir vε := ηε ∗ uε auf V[ε]. Dann ist vε ∈ C∞(V[ε] und damit in C∞(V ). Es giltdann ‖vε − uε‖Wk,p(V ) → 0 mit ε → 0, was man etwa wie folgt sieht: Bezeichnet

w(α) ∈ Lp(Rn) die durch 0 auf ganz Rn fortgesetzte Funktion ∂αu, so ist

∂αvε = ηε ∗ ∂αuε = ηε ∗(w(α)(·+ ελen)

)=(ηε ∗ w(α)

)(·+ ελen).

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auf V[ε]. Hier haben wir die leicht nachzuprufenden Tatsachen ausgenutzt, dassdie Ableitung der translatierten Funktion uε die translatierte Ableitung der ur-sprunglichen Funktion u ist und dass die Faltung mit ηε und die Translation einerFunktion kommutieren. Damit folgt nun

‖∂αvε − ∂αu‖Lp(V ) ≤ ‖(ηε ∗ w(α))(·+ ελen)− w(α)‖Lp(Rn)

≤ ‖(ηε ∗ w(α))(·+ ελen)− w(α)(·+ ελen)‖Lp(Rn)

+ ‖w(α)(·+ ελen)− w(α)‖Lp(Rn)

= ‖(ηε ∗ w(α))− w(α)‖Lp(Rn) + ‖w(α)(·+ ελen)− w(α)‖Lp(Rn),

wobei beider Terme gegen 0 konvergieren. Fur den zweiten Term folgt dies ausdem aus der Maßtheorie bekannten Ergebnis, dass fur f ∈ Lp, an → 0 giltf(·+ an)→ f in Lp.4

Der Rest des Beweises folgt nun wieder durch eine Zerlegung der Eins. Wirkonnen endlich viele Kugeln B1, . . . , BN vom Radius r

2wie oben untersucht ange-

ben deren Vereinigung ∂U enthalt. Ist δ > 0 beliebig vorgegeben, so erhalten wirauf den entsprechenden Mengen Vi Approximationen vi mit ‖vi − u‖Wk,p(Vi) ≤ δ.

Wahle nun V0 ⊂⊂ U , so dass U ⊂⋃Ni=0 Vi gilt, und eine zugehorige Zerlegung

der Eins (ζi). Nach Satz 3.7 gibt es ein v0 ∈ C∞(U) mit ‖v0 − u‖Wk,p(V0) ≤ δ.

Dann ist ζivi ∈ C∞c (Vi) und daher v :=∑N

i=0 ζivi ∈ C∞(U). Nach Satz 3.5(iv) istnun fur |α| ≤ k

‖∂αv − ∂αu‖Lp(U) ≤N∑i=0

‖∂α(ζivi)− ∂α(ζiu)‖Lp(U)

≤ CN∑i=0

‖vi − u‖Wk,p(Vi) ≤ C(N + 1)δ.

Als erste Anwendung geben wir hier eine nutzliche Charakterisierung desRaumes W 1,∞

loc (U) an. Zur Erinnerung: Eine Funktion f : U → R, U ⊂ Rn

ist lokal Lipschitz, wenn die Einschrankung f |V auf jedes Kompaktum V ⊂ ULipschitz-stetig ist.

Proposition 3.11. Es sei U ⊂ Rn offen. Dann ist u ∈ W 1,∞loc (U) genau dann,

wenn u lokal Lipschitz ist.

W 1,∞loc (U)-Funktionen sind nur fast uberall definiert sind, bestehen also streng

genommen eigentlich aus Aquivalenzklassen von Funktionen. Mit u ∈ W 1,∞loc (U)⇒

u lokal Lipschitz ist hier gemeint, dass u einen (dann eindeutigen) Reprasentantenbesitzt, der lokal Lipschitz ist.

4Fur stetige Funktionen mit kompaktem Trager folgt das direkt aus der gleichmaßigen Ste-tigkeit. Fur allgemeine Lp-Funktionen erhalt man das Resultat dann durch Approximation.

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Bemerkung. Die Raume W k,2(U), U ⊂ Rn offen, sind sogar Hilbertaume5, wes-halb sie auch mit Hk(U) bezeichnet werden. Das Skalarprodukt ist durch

〈u, v〉Hk(U) =∑|α|≤k

∫U

∂αu ∂αv

gegeben. Im wichtigen Spezialfall U = Rn lassen sich diese Raume mit der Fou-riertransformation beschreiben:

Ubung. Fur eine Funktion u ∈ L2(Rn) gilt u ∈ Hk(Rn) genau dann, wennξ 7→ (1 + |ξ|2)k/2u(ξ) in L2(Rn) liegt. Daruberhinaus gibt es positive Konstantenc, C > 0, so dass

c‖u‖Hk(Rn) ≤ ‖(1 + |ξ|2)k/2u‖L2(Rn) ≤ C‖u‖Hk(Rn)

fur alle u ∈ Hk(Rn) gilt.

Diese Charakterisierung erlaubt es, die Sobolev-Raume Hs(Rn) auch fur all-gemeine reelle s ≥ 0 mit s /∈ N zu erklaren: Man setzt einfach

Hs(Rn) := u ∈ L2(Rn) : (1 + |ξ|2)k/2u ∈ L2(Rn),‖u‖H2(Rn) := ‖(1 + |ξ|2)k/2u‖L2(Rn).

Produkt- und Kettenregel

Durch Approximation mit glatten Funktionen lassen sich die folgenden Rechen-regeln fur Ableitungen auf Sobolev-Funktionen verallgemeinern.

Satz 3.12 (Produktregel). Es seien U ⊂ Rn offen und u, v ∈ W 1,p(loc)(U)∩L∞(loc)(U),

1 ≤ p ≤ ∞. Dann ist auch uv ∈ W 1,p(loc)(U) ∩ L∞(loc)(U) und es gilt

∂i(uv) = (∂iu)v + u ∂iv

fur i = 1, . . . , n.

Beweis. Es sei zunachst p < ∞ vorausgesetzt. Weiter seien ηε der skalierteStandard-Glattungskern und uε = ηε ∗ u, vε = ηε ∗ v auf Uε. Des Weiterensei ϕ ∈ C∞c (U). Fur ε hinreichend klein ist dann suppϕ ⊂ V ⊂⊂ Uε fur eingeeignetes V und∫

U

u v ∂iϕ =

∫V

u v ∂iϕ = limε→0

∫V

uεvε ∂iϕ = limε→0−∫V

((∂iuε)vε + uε ∂ivε

= −∫V

((∂iu)v + u ∂iv

)ϕ = −

∫U

((∂iu)v + u ∂iv

)ϕ.

5Ein Hilbertraum ist ein (reeller oder komplexer) Vektorraum mit Skalarprodukt, derbezuglich der induzierten Norm vollstandig ist.

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Hierbei haben wir ausgenutzt, dass mit fk → f in Lp(V ) und gk → g in Lq(V ),1p

+ 1q

= 1, auch fkgk → fg in L1(V ) gilt: Nach der Holderschen Ungleichung istnamlich

‖fkgk − fg‖L1 ≤ ‖fk(gk − g)‖L1 + ‖(fk − f)g‖L1

≤ ‖fk‖Lp‖gk − g‖Lq + ‖fk − f‖Lp‖g‖Lq → 0.

Ist nun p = ∞, so ist wegen W 1,∞loc ⊂ W 1,1

loc nach dem eben gezeigten uvschwach differenzierbar mit ∂i(uv) = (∂iu)v + u ∂iv, was als Linearkombinationvon L∞(loc)-Funktionen, genauso wie uv selbst, wieder in L∞(loc) liegt.

Satz 3.13 (Kettenregel). Es seien U ⊂ Rn offen und u ∈ W 1,p(loc)(U), 1 ≤ p ≤

∞, und f ∈ C1(R) mit f ′ ∈ L∞(U). Ist |U | = ∞, so sei zusatzlich f(0) = 0vorausgesetzt. Dann ist auch f u ∈ W 1,p

(loc)(U) und es gilt

∂i(f u) = (f ′ u)∂iu

fur i = 1, . . . , n.

Beweis. Indem wir f(0) von f subtrahieren, durfen wir annehmen, dass f(0) = 0ist. Wieder seien ηε der skalierte Standard-Glattungskern, ϕ ∈ C∞c (U), suppϕ ⊂V ⊂⊂ Uε und uε = ηε ∗ u. Es folgt∫

U

f u ∂iϕ =

∫V

f u ∂iϕ = limε→0

∫V

f uε ∂iϕ

= limε→0−∫V

f ′ uε ∂iuε ϕ = −∫V

f ′ u ∂iuϕ = −∫U

f ′ u ∂iuϕ.

Der erste Grenzubergang folgt hier daraus, dass wegen uε → u in L1loc(U)∫

V

|f(uε(x))− f(u(x))| dx ≤ ‖f ′‖L∞∫V

|uε(x)− u(x)| dx→ 0

gilt. Der zweite Grenzubergang ergibt sich aus∣∣∣ ∫V

f ′ uε ∂iuε ϕ− f ′ u ∂iuϕ∣∣∣

≤∫V

|f ′ uε ϕ(∂iuε − ∂iu)|+∫V

|(f ′ uε − f ′ u)ϕ∂iu|,

wobei der erste Summand durch

‖f ′ uε ϕ‖L∞‖∂iuε − ∂iu‖Lp ≤ ‖f ′‖L∞‖ϕ‖L∞‖∂iuε − ∂iu‖Lp → 0

abgeschatzt werden kann und der zweite wegen f ′ uεϕ∂iu → f ′ uϕ∂iu f.u.und |f ′ uεϕ∂iu| ≤ ‖f ′‖L∞‖ϕ‖L∞|∂iu| ∈ Lp(V ) ⊂ L1(V ) nach majorisierterKonvergenz ebenfalls gegen 0 konvergiert.

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Hieraus ergeben sich die folgenden nutzlichen Ableitungsregeln fur Positiv-und Negativteil einer Funktion :

Proposition 3.14. Ist u ∈ W 1,p(U), so ist auch u+, u−, |u| ∈ W 1,p(U) und esgelten:

∇u+ =

∇u f.u. auf u > 0,0 f.u. auf u ≤ 0,

∇u− =

−∇u f.u. auf u < 0,

0 f.u. auf u ≥ 0,

∇|u| =

∇u f.u. auf u > 0,0 f.u. auf u = 0,−∇u f.u. auf u < 0.

Des Weiteren ist ∇u = 0 f.u. auf u = 0.

Beweis. Die Behauptung fur u+ ergibt sich aus der Kettenregel mit

fε(t) =

√ε2 + t2 − ε, t ≥ 0,

0, t < 0,

im Limes ε 0. (Ubung!)Die ubrigen Aussagen ergeben sich hieraus der Reihe nach mit Hilfe von

u− = (−u)+, |u| = u+ + u−, u = u+ − u−.

3.2 Fortsetzungen und der Spursatz

Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Untersuchung von Sobolev-Funktionen ist derFortsetzungssatz. Unter geeigneten Voraussetzungen an das Gebiet U sind dieW k,p(U)-Funktionen gerade die W k,p(Rn)-Funktionen eingeschrankt auf U . Wirkonnen unsere Analyse also oft auf den Fall beschranken, dass die Funktionenauf ganz Rn definiert sind. Dieses Ergebnis ist nicht trivial, da man fur k ≥ 1die Funktionen nicht einfach durch 0 außerhalb von U fortsetzen darf: W 1,p-Funktionen durfen nicht auf einer (n − 1)-dimensionalen Menge springen. Diesspiegelt sich auch im darauf folgenden Spursatz wider. Wir werden sehen, dassobwohl ∂U eine Lebesgue-Nullmenge ist, W 1,p-Funktionen wohldefinierte Rand-werte auf ∂U annehmen.

Satz 3.15 (Fortsetzungssatz). Sei U ⊂ Rn offen und beschrankt mit C1-Rand,1 ≤ p ≤ ∞. Sei weiter V ⊂ Rn offen und beschrankt mit U ⊂⊂ V . Dann existiertein beschrankter linearer Fortsetzungsoperator

E : W 1,p(U)→ W 1,p(V ),

so dass Eu = u fast uberall auf U und supp(Eu) ⊂ V .

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Die Beschranktheit (aquivalent die Stetigkeit) von E heißt, dass fur eine Kon-stante C > 0 gilt

‖Eu‖W 1,p(V ) ≤ C‖u‖W 1,p(U) ∀u ∈ W 1,p(U).

Beweis. Es sei x0 ∈ ∂U . Wir nehmen zunachst an, dass ∂U in der Nahe vonx0 flach ist und in xn = 0 enthalten ist. Genauer: Fur eine hinreichend kleineKugel B = Br(x0) sei

B+ = B ∩ xn ≥ 0 ⊂ U, B− = B ∩ xn ≤ 0 ⊂ Rn \ U.

Sei nun u ∈ C1(U). Wir definieren eine Fortsetzung u durch

u(x) =

u(x), x ∈ B+,−3u(x′,−xn) + 4u(x′,−xn

2), x ∈ B−,

wobei wir x′ = (x1, . . . , xn−1) abgekurzt haben. Dann ist u ∈ C1(B), denn mitu± = u|B± gilt

u+ = u− auf xn = 0

und damit auch

∂iu+ = ∂iu− auf xn = 0 fur i = 1, . . . , n− 1.

Außerdem ist

∂nu−(x) = 3∂nu+(x′,−xn)− 2∂nu+(x′,−xn2

) = ∂nu+(x) auf xn = 0.

Aus dieser Rechnung ergibt sich auch, dass

‖u‖W 1,p(B) ≤ C‖u‖W 1,p(B+)

fur eine geeignete Konstante C ist.Ist nun ∂U nicht flach bei x0, nach eventueller Umorientierung und Umnum-

merierung der Koordinaten etwa gegeben durch

B ∩ U = (x′, xn) ∈ B : xn > γ(x′), B ∩ ∂U = (x′, xn) ∈ B : xn = γ(x′),

so wird durch die folgende Koordinatentransformation ∂U “gerade gemacht”:Setze

yi := Φi(x) := xi, i = 1, . . . , n− 1,

yn := Φn(x) := xn − γ(x′).

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Dann ist Φ glatt mit Umkehrfunktion Ψ = Φ−1 gegeben durch

xi = Ψi(y) = yi, i = 1, . . . , n− 1,

xn = Ψn(y) := yn + γ(y′)

und es gilt detDΦ = 1.Konstruiere dann eine Fortsetzung u′ von u′(y) = u(Φ−1(y)) wie oben auf einer

Kugel B′ ⊂ Φ(B) um y0 = Φ(x0). Dann ist x 7→ u′(Φ(x)) eine C1-Fortsetzung uvon u auf W = Φ−1(B′) mit

‖u‖W 1,p(W ) ≤ C‖u‖W 1,p(U) (3.3)

fur eine geeignete Konstante C. (Beachte, dass |∇Φ| beschrankt ist.)Da nun ∂U kompakt ist, gibt es endlich viele solcher Mengen W1, . . . ,WN , die

∂U uberdecken, mit entsprechenden Fortsetzungen ui. Wahle nun W0 ⊂⊂ U , sodass U ⊂

⋃Ni=0Wi und eine zugehorige Zerlegung der Eins (ζi). Setzt man dann

u :=N∑i=0

ζiui,

wobei u0 = u sei, so ist u ∈ C1c (⋃Ni=0Wi), da ja ζiui ∈ C1

c (Wi) ist, und u = u aufU . Indem wir die Wi klein genug wahlen (oder u mit einer glatten Abschneide-funktion multiplizieren), konnen wir außerdem annehmen, dass supp(u) ⊂ V furein U ⊂ V ⊂⊂ V ist.

Fur u ∈ C1(U) definieren wir nun Eu := u und bemerken, dass nach unsererKonstruktion E linear ist. Nach (3.3) gilt ferner

‖Eu‖W 1,p(V ) ≤ C‖u‖W 1,p(U) ∀ u ∈ C1(U). (3.4)

Nun ist nach Satz 3.10 C1(U) dicht in W 1,p(U) fur 1 ≤ p < ∞. Wegen (3.4)konnen wir E daher zu einem stetigen Operator E : W 1,p(U)→ W 1,p(V ) fortset-zen.6 Offensichtlich ist dann Eu|U = u fur alle u ∈ W 1,p(U).

Fur p = ∞ beachte, dass W 1,∞(U) ⊂ W 1,p(U) fur p < ∞, da U beschranktist. Wir definieren Eu zunachst wie im Fall p < ∞ als Element von W 1,p(V ),indem wir fur u ∈ W 1,∞(U) Approximationen um wie in Satz 3.10 wahlen unddann Eu := W 1,p(V )-limmEum setzen. Nun zeigt der Beweis von Satz 3.10 aber,dass

‖um‖W 1,∞ ≤ C‖u‖W 1,∞

6Dieser Schluss gilt allgemein auf metrischen Raumen: Sind X,Y metrische Raume, D ⊂ Xdicht in X und Y vollstandig, so kann man eine gleichmaßig stetige Funktion f : D → Yeindeutig zu einer stetigen Funktion f : X → Y fortsetzen: Zu x ∈ X wahle xn ∈ D mitxn → x. Da f gleichmaßig stetig ist, ist f(xn) eine Cauchyfolge. Setze f(x) := limn f(xn).Da sich fur jede Wahl von (xn) eine konvergente Folge f(xn) ergibt, hangt diese Definitionnicht von der Wahl der Folge (xn) ab. Die Stetigkeit von f ergibt sich unmittelbar aus dieserBeobachtung. Die Eindeutigkeit ist klar.

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gilt und damit auch‖um‖W 1,∞ ≤ C‖u‖W 1,∞ .

Da nun fur eine geeignete Teilfolge (umk) und (∇umk) punktweise gegen Eu bzw.∇Eu konvergieren, folgt in der Tat

‖Eu‖W 1,∞ ≤ C‖u‖W 1,∞ .

Bemerkung. Satz 3.15 gilt auch noch, wenn U nur einen Lipschitz-Rand hat.Ein Beweis hierfur findet man etwa in [EG]. Tatsachlich lassen sich auch W k,p-Funktionen fur k > 1 fortsetzen. Der Beweis dafur wird allerdings wesentlichschwieriger.

Als erste Anwendung erhalten wir die folgende nicht-lokale Variante von Pro-position 3.11:

Proposition 3.16. Es sei U ⊂ Rn offen. Dann ist u ∈ W 1,∞(U) genau dann,wenn u Lipschitz-stetig ist.

Beweis. Ubung!

Wir kommen nun zum eingangs erwahnten Problem, Randwerte von Sobolev-Funktionen prazise zu fassen.

Satz 3.17 (Spursatz). Es sei 1 ≤ p ≤ ∞, U ⊂ Rn offen und beschrankt mitC1-Rand. Dann existiert ein beschrankter linearer Operator

T : W 1,p(U)→ Lp(∂U)

mit Tu = u|∂U , wenn u ∈ W 1,p(U) ∩ C(U).

Beweis. Der Fall p = ∞ ergibt sich direkt aus Proposition 3.16. Wir nehmenim Folgenden daher 1 ≤ p < ∞ an. Sei u ∈ C1(U). Wie im Beweis von Satz3.15 betrachten wir einen Randpunkt x0 ∈ ∂U und nehmen zunachst an, dass∂U ⊂ xn = 0 nahe x0 und dass fur eine hinreichend kleine Kugel B = Br(x0)gilt

B+ = B ∩ xn ≥ 0 ⊂ U, B− = B ∩ xn ≤ 0 ⊂ Rn \ U.

Setze B = B r2(x0) und wahle ein ζ ∈ C∞c (B) mit ζ ≥ 0 und ζ = 1 auf B. Dann

gilt fur das Randstuck Γ = ∂U ∩ B (mit x′ := (x1, . . . , xn−1))∫Γ

|u|p dx′ ≤∫xn=0

ζ|u|p dx′ = −∫B+

∂n(ζ|u|p) dx

= −∫B+

|u|pζxn + p|u|p−1(sign(u))uxnζ dx ≤ C

∫B+

|u|p + |∇u|p dx.

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Hierbei folgt der zweite Schritt mit partieller Integration. Die letzte Abschatzungergibt sich aus der Youngschen Ungleichung ab ≤ ap

p+ bq

qfur alle a, b > 0 und

1 < p, q <∞ mit 1p

+ 1q

= 1. (Beachte, dass diese Rechnung auch fur p = 1 richtig

ist, obwohl |u|p dann nicht mehr C1 sein muss. Alternativ ergibt sich der Fallp = 1 aus der Ungleichung fur p > 1 durch Grenzubergang mit Hilfe des Satzesvon der majorisierten Konvergenz.)

Ist nun ∂U nicht notwendig flach nahe x0, so erhalten wir die Abschatzung∫Γ

|u|p dS ≤ C

∫U

|u|p + |∇u|p dx, (3.5)

Γ = B ∩ ∂U , durch Koordinatentransformation genau wie im Beweis von Satz3.15.

Wir definieren nunTu := u|∂U ∀u ∈ C1(U).

Offensichtlich ist T linear. Da ∂U kompakt ist, wird ∂U durch endlich viele KugelnB, fur die (3.5) gilt, uberdeckt, und wir erhalten somit

‖Tu‖Lp(∂U) ≤ C‖u‖W 1,p(U) ∀u ∈ C1(U).

Nach Satz 3.10 ist aber C1(U) dicht in W 1,p(U), so dass wir T stetig auf ganzW 1,p(U) fortsetzen konnen.

Es bleibt zu zeigen, dass Tu = u|∂U fur u ∈ C(U) ∩W 1,p(U) ist. Ahnlich wieam Ende des Beweises von Satz 3.15 uberlegen wir uns dazu, dass Tu = limm Tumin Lp(∂U) gilt fur eine Folge um → u ∈ W 1,p(U) mit um ∈ C∞(U) wie im Beweisvon Satz 3.10 konstruiert. Wenn nun u stetig auf U ist, so sieht man, dass dieseApproximationen sogar gleichmaßig gegen u konvergieren. Damit folgt aber inder Tat

Tu = limmTum = lim

mum|∂U = u|∂U .

Bemerkung. Auch Satz 3.17 gilt allgemeiner fur Gebiete mit Lipschitz-Rand.

Wir fassen die Aussage u = g auf ∂U fur Sobolev-Funktionen im Folgendenalso prazise auf als Tu = g fast uberall7 auf ∂U . Besonders wichtig ist es, Null-Randbedingungen zu untersuchen.

Definition 3.18. Wir definieren W 1,p0 (U) := C∞c (U)

W 1,p(U), d.h. W 1,p

0 (U) ist derAbschluss des Raumes der Testfunktionen C∞c (U) in W 1,p(U).

7Dieses “fast uberall” bedeutet hier naturlich “bis auf eine (n−1)-dimensionale Nullmenge”.

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Diesen Raum interpretieren wir als den Raum der W 1,p-Funktionen auf Umit Null-Randbedingungen. In der Tat sieht man leicht, dass Tu = 0 ist fur alleu ∈ W 1,p

0 (U): Wahle C∞c (U) 3 um → u in W 1,p(U). Dann gilt

Tu = limmTum = 0 in Lp(∂U),

da Tum = 0 fur alle m ist. Dass dieser Raum – unter geeigneten Glattheitsannah-men an ∂U – wirklich alle Funktionen enthalt, die gleich 0 sind auf ∂U , besagtder folgende Satz, dessen Beweis wir allerdings auslassen.

Satz 3.19. Es sei 1 ≤ p <∞, U ⊂ Rn offen und beschrankt mit Lipschitz-Rand.Sei u ∈ W 1,p(U). Dann gilt

u ∈ W 1,p0 (U) ⇐⇒ Tu = 0.

Ein Beweis dieses Satzes, der allgemeiner auch wieder fur Gebiete mit Lipschitz-Rand richtig bleibt, findet sich etwa in [Ev].

3.3 Sobolev-Ungleichungen

Die allgemeine Frage, die wir in diesem Abschnitt beantworten wollen, lautet:Welche Aussagen uber die Guteeigenschaften einer Funktion u lassen sich ausder Tatsache, dass u im Sobolev-Raum W 1,p liegt, gewinnen?

Die Gagliardo-Nirenberg-Sobolev-Ungleichung

Es sei p < n. Unser Ziel ist es, eine Ungleichung der Form

‖u‖Lq(Rn) ≤ C‖∇u‖Lp(Rn) (3.6)

zumindest fur alle Testfunktionen u ∈ C∞c (Rn) zu beweisen.Ein Skalierungsargument zeigt, fur welche q wir eine solche Ungleichung erwar-

ten durfen (bzw. fur welche q so eine Ungleichung auf jeden Fall nicht gelten kann).Dazu nehmen wir an, (3.6) gelte fur alle u ∈ C∞c (Rn). Ist nun u ∈ C∞c (Rn) \ 0,so definiere die mit λ > 0 skalierte Funktion uλ durch

uλ(x) := u(λx).

Dann ist

‖uλ‖Lq =

(∫|u(λx)|q dx

) 1q

=

(λ−n

∫|u(x)|q dx

) 1q

= λ−nq ‖u‖Lq ,

‖∇uλ‖Lp =

(∫|λ∇u(λx)|p dx

) 1p

=

(λp−n

∫|∇u(x)|p dx

) 1p

= λ1−np ‖∇u‖Lp .

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Da auch uλ ∈ C∞c (Rn) fur alle λ > 0 ist, folgt aus (3.6)

λ−nq ‖u‖Lq ≤ Cλ1−n

p ‖∇u‖Lp ∀λ > 0,

d.h.‖u‖Lq ≤ Cλ1−n

p+nq ‖∇u‖Lp ∀λ > 0.

Das aber ergibt einen Widerspruch, wenn man in diesem Ausdruck λ → 0 oderλ → ∞ gehen lasst, wenn nicht der Exponent 1 − n

p+ n

q= 0 ist. Mit anderen

Worten: (3.6) kann nur gelten fur

q = p∗ :=np

n− p.

Das Hauptergebnis dieses Abschnitts, aus dem die Sobolev-Ungleichungen im Fallp < n folgen werden, ist, dass (3.6) fur q = p∗ tatsachlich erfullt ist.

Satz 3.20 (Die Ungleichung von Gagliardo, Nirenberg und Sobolev). Es sei 1 ≤p < n. Dann existiert eine Konstante C > 0, so dass

‖u‖Lp∗ (Rn) ≤ C‖∇u‖Lp(Rn) ∀u ∈ C1c (Rn).

Beweis. Wir betrachten zunachst den Fall p = 1 und beweisen die Formel∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|u(x1, . . . , xn)|

nn−1 dx1 · · · dxk

≤(∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|∇u(x1, . . . , xn)| dx1 · · · dxk

) kn−1

×

×n∏

i=k+1

(∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|∇u(x1, . . . , xi−1, yi, xi+1, . . . , xn)| dx1 · · · dxk dyi

) 1n−1

(3.7)

durch vollstandige Induktion nach k.k = 1: Da u kompakten Trager hat, ist

u(x) =

∫ xi

−∞∂iu(x1, . . . , xi−1, yi, xi+1, . . . , xn) dyi

fur i = 1, . . . , n und damit

|u(x)|nn−1 ≤

n∏i=1

(∫ ∞−∞|∇u(x1, . . . , xi−1, yi, xi+1, . . . , xn)| dyi

) 1n−1

. (3.8)

Integration bezuglich x1 liefert∫ ∞−∞|u|

nn−1 dx1 ≤

(∫ ∞−∞|∇u| dx1

) 1n−1∫ ∞−∞

n∏i=2

(∫ ∞−∞|∇u| dyi

) 1n−1

dx1.

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(Der erste Faktor im Produkt auf der rechten Seite von (3.8) hangt nicht von x1

ab.) Das Integral des Produktes konnen wir nun mit der allgemeinen HolderschenUngleichung∫

|f1 · . . . · fm| ≤m∏j=1

‖fj‖Lpj , wenn1

p1

+ . . .+1

pm= 1,

abschatzen (hier mit m = n− 1 und p1 = . . . = pn−1 = n− 1):∫ ∞−∞|u|

nn−1 dx1 ≤

(∫ ∞−∞|∇u| dx1

) 1n−1

n∏i=2

(∫ ∞−∞

∫ ∞−∞|∇u| dx1 dyi

) 1n−1

.

Das war zu zeigen.Sei nun (3.7) fur k < n gezeigt. Die Behauptung fur k+1 ergibt sich durch Inte-

gration von (3.7) nach xk+1. Beachte, dass der erste Term im Produkt∏n

i=k+1[· · · ]auf der rechten Seite von (3.7) gar nicht von xk+1 abhangt. Nach Anwendender allgemeinen Holderschen Ungleichung auf die ubrigen Faktoren (hier mitp1 = n−1

k, p2 = . . . pn−k = n− 1) fur k < n− 1 erhalten wir∫ ∞

−∞· · ·∫ ∞−∞|u|

nn−1 dx1 · · · dxk+1

≤(∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|∇u| dx1 · · · dxk+1

) kn−1(∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|∇u| dx1 · · · dxk+1

) 1n−1

×

×n∏

i=k+2

(∫ ∞−∞· · ·∫ ∞−∞|∇u| dx1 · · · dxk+1 dyi

) 1n−1

,

wie zu zeigen war. Der Fall k = n − 1 ist klar: Das Produkt∏n

i=k+1[· · · ] hangtdann uberhaupt nicht von x ab und die Formel fur k + 1 = n ergibt sich direktdurch Integration nach xn. (Das leere Produkt ist dann als 1 zu verstehen.)

Da 1∗ = nn−1

ist, ergibt sich nun direkt aus (3.7) fur k = n

‖u‖L

nn−1 (Rn)

≤ ‖∇u‖L1(Rn).

Der allgemeine Fall lasst sich darauf zuruckfuhren: Fur γ > 1 ist |u|γ ∈ C1c (Rn)

und daher (Holdern!)(∫|u|γ

nn−1

)n−1n

≤∫|∇(|u|γ)| = γ

∫|u|γ−1|∇u|

≤ γ

(∫|u|(γ−1) p

p−1

) p−1p(∫|∇u|p

) 1p

.

Wahle nun

γ :=pn− pn− p

(> 1).

56

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Dann ist (γ − 1) pp−1

= γnn−1

= p∗ und damit

(∫|u|p∗

)n−1n

≤ γ

(∫|u|p∗

) p−1p(∫|∇u|p

) 1p

.

Mit n−1n− p−1

p= 1

p∗folgt

‖u‖Lp∗ (Rn) ≤ C‖∇u‖Lp(Rn).

Aus diesem Ergebnis lasst sich nun unmittelbar eine wichtige Ungleichung furSobolev-Funktionen gewinnen.

Satz 3.21 (Die Sobolev-Ungleichung fur p < n). Es sei U ⊂ Rn offen und be-schrankt mit C1-Rand, 1 ≤ p < n. Dann gilt W 1,p(U) → Lp

∗(U), d.h. W 1,p(U) ⊂

Lp∗(U) und es existiert eine Konstante C, so dass

‖u‖Lp∗ (U) ≤ C‖u‖W 1,p(U) ∀u ∈ W 1,p(U).

Beweis. Nach Satz 3.15 existiert eine Fortsetzung Eu = u, so dass supp(u) kom-pakt ist und

‖u‖W 1,p(Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(U).

Da u kompakten Trager hat, konnen wir nach Satz 3.7 um ∈ C∞c (Rn) wahlen, sodass

um → u in W 1,p(Rn).

Nach Satz 3.20 gilt dann aber auch um → u in Lp∗. ((um) ist eine Cauchy-Folge

in Lp∗

und damit konvergent. Wegen um → u in Lp ist dann auch um → u inLp∗.) Wieder nach Satz 3.20 ist somit

‖um‖Lp∗ (Rn) ≤ C‖∇um‖Lp(Rn) ≤ C‖um‖W 1,p(Rn)

fur alle m. Lasst man nun m→∞ gehen, so sieht man, dass

‖u‖Lp∗ (U) ≤ ‖u‖Lp∗ (Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(U)

ist.

Bemerkung. Lasst man in Satz 3.21 p→ n gehen, so liegt es nahe zu vermuten,dass W 1,n ⊂ L∞ ist. Das ist jedoch falsch fur alle n ≥ 2! (Gegenbeispiel: u(x) =log log(1 + 1

|x|) auf U = B1(0).8)

Beachte jedoch, dass W 1,n(U) ⊂ W 1,p(U) fur alle p < n gilt, wenn U be-schrankt ist, so dass man W 1,n(U) ⊂

⋂p<∞ L

p(U) erhalt.

8Tipp zum Nachrechnen:∫

1r logn r dr = 1

(1−n) logn−1 r

57

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Die Ungleichung von Morrey

Wir untersuchen nun den Fall p > n.

Definition 3.22. (i) Eine Funktion u : U → R, U ⊂ Rn, heißt Holder-stetigzum Exponenten γ ∈ (0, 1], wenn eine Konstante C > 0 existiert, so dass

|u(x)− u(y)| ≤ C|x− y|γ

gilt fur alle x, y ∈ U .

(ii) Setze

[u]C0,γ(U) := supx,y∈Ux 6=y

|u(x)− u(y)||x− y|γ

.

Die Holderraume Ck,γ(U), γ ∈ (0, 1], k = 0, 1, . . ., sind definiert als

Ck,γ(U) := u ∈ Ck(U) : ‖u‖Ck,γ(U) <∞,

‖u‖Ck,γ(U) :=∑|α|≤k

‖∂αu‖∞ +∑|α|=k

[∂αu]C0,γ(U).

Satz 3.23. (Ck,γ(U), ‖ · ‖Ck,γ(U)) ist ein Banachraum.

Beweis. Ubungsaufgabe.

Satz 3.24 (Die Ungleichung von Morrey). Es sei n < p ≤ ∞, γ := 1− np. Dann

gibt es eine Konstante C > 0, so dass

‖u‖C0,γ(Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(Rn)

gilt fur alle u ∈ C1(Rn).

Beweis. Wir zeigen zunachst, dass eine Konstante C existiert, so dass

−∫Br(x)

|u(y)− u(x)| dy ≤ C

∫Br(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy (3.9)

gilt fur alle x ∈ Rn, r > 0:Ist ξ ∈ ∂B1(0), 0 < s < r, so ist

|u(x+ sξ)− u(x)| =∣∣∣∣∫ s

0

d

dtu(x+ tξ) dt

∣∣∣∣≤∫ s

0

|∇u(x+ tξ) · ξ| dt ≤∫ s

0

|∇u(x+ tξ)| dt

und damit

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∫∂B1(0)

|u(x+ sξ)− u(x)| dS(ξ) ≤∫ s

0

∫∂B1(0)

|∇u(x+ tξ)| tn−1

tn−1dS(ξ) dt.

Mit der Substitution y := x+ tξ (insbesondere also t = |y − x|) ergibt sich∫∂B1(0)

|u(x+ sξ)− u(x)| dS(ξ) ≤∫ s

0

∫∂Bt(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dS(y) dt

=

∫Bs(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy ≤∫Br(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy.

Es folgt ∫Br(x)

|u(y)− u(x)| dy

=

∫ r

0

sn−1

∫∂B1(0)

|u(x+ sξ)− u(x)| dS(ξ) ds

≤∫ r

0

sn−1

∫Br(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy ds =rn

n

∫Br(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy.

Division durch |Br(x)| = |B1(0)|rn gibt (3.9).Wir untersuchen nun den Term auf der rechten Seite von (3.9) genauer. Nach

der Holderschen Ungleichung ist∫Br(x)

|∇u(y)||y − x|n−1

dy ≤(∫

Rn|∇u(y)|p dy

) 1p(∫

Br(x)

|y − x|−(n−1) pp−1 dy

) p−1p

= C‖∇u‖Lp(Rn)

(∫ r

0

s−(n−1) pp−1 sn−1 ds

) p−1p

= C‖∇u‖Lp(Rn)

(rn−(n−1) p

p−1

) p−1p

= Cr1−np ‖∇u‖Lp(Rn),

so dass aus (3.9) folgt

−∫Br(x)

|u(y)− u(x)| dy ≤ Crγ‖∇u‖Lp(Rn). (3.10)

Dies zeigt nun einerseits, dass W 1,p in L∞ einbettet: Fur x ∈ Rn beliebig gilt

|u(x)| ≤ −∫B1(x)

|u(y)− u(x)| dy +−∫B1(x)

|u(y)| dy

≤ C‖∇u‖Lp(Rn) + C‖u‖Lp(B1(x)) ≤ C‖u‖W 1,p(Rn).

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Andererseits ergibt sich sogar fur x, y ∈ Rn beliebig, |y − x| =: r, W := Br(x) ∩Br(y):

|u(x)− u(y)| ≤ −∫W

|u(x)− u(z)| dz +−∫W

|u(y)− u(z)| dz,

wobei nach (3.10)

−∫W

|u(x)− u(z)| dz ≤ C−∫Br(x)

|u(x)− u(z)| dz ≤ Crγ‖∇u‖Lp(Rn),

−∫W

|u(y)− u(z)| dz ≤ C−∫Br(y)

|u(y)− u(z)| dz ≤ Crγ‖∇u‖Lp(Rn).

Das aber zeigt, dass

|u(x)− u(y)| ≤ C|x− y|γ‖∇u‖Lp(Rn)

ist. Zusammenfassend folgt

‖u‖C0,γ(Rn) = ‖u‖∞ + [u]C0,γ(Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(Rn).

Satz 3.25 (Die Sobolev-Ungleichung fur p > n). Es sei U ⊂ Rn offen undbeschrankt mit C1-Rand, n < p ≤ ∞. Ist u ∈ W 1,p(U), so ist u fast uberall gleicheiner stetigen Funktion u∗ und es gilt

‖u∗‖C0,γ(U) ≤ C‖u‖W 1,p(U) ∀ u ∈ W 1,p(U)

fur γ = 1− np

und eine Konstante C = C(p, n, U) unabhangig von u.

Diese Formulierung mit u∗ auf der linken Seite der Ungleichung ist deshalbnotig, weil Sobolev-Funktionen u ja nur bis auf eine Nullmenge eindeutig definiertsind. Gibt es allerdings wie im vorliegenden Fall eine stetige Version von u, d.h.ein stetiges u∗ mit u = u∗ fast uberall auf U , so ist diese eindeutig bestimmt, undwir konnen u mit u∗ identifizieren. Satz 3.25 besagt dann gerade, dass

W 1,p(U) → C0,1−np (U) falls p > n.

Beweis. Nach dem Fortsetzungssatz 3.15 existiert u ∈ W 1,p(Rn) mit kompaktemTrager, so dass u = u fast uberall auf U und

‖u‖W 1,p(Rn) ≤ C‖u‖W 1,p(U)

gilt. Es sei zunachst p <∞ vorausgesetzt. Da u kompakten Trager hat, existierennach Satz 3.7 Approximationen um ∈ C∞c (Rn) mit

um → u in W 1,p(Rn).

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Nach Satz 3.24 ist nun

‖um − uk‖C0,γ(U) ≤ C‖um − uk‖W 1,p(Rn)

fur alle m, k ∈ N und γ = 1− np, d.h. (um) ist eine Cauchy-Folge in C0,γ(U). Es

existiert also nach Satz 3.23

u∗ = limm→∞

um in C0,γ(U).

Da fur eine Teilfolge umk(x) → u(x) fur fast alle x und umk(x) → u∗(x) fur allex konvergiert, ist u∗ = u fast uberall auf U . Nach Satz 3.24 gilt außerdem

‖u∗‖C0,γ(U) ≤ limm‖um‖C0,γ(Rn) ≤ C lim

m‖um‖W 1,p(Rn) = C‖u‖W 1,p(Rn)

und damit

‖u∗‖C0,γ(U) ≤ C‖u‖W 1,p(U).

Um den Fall p = ∞ zu behandeln, geben wir fur den letzten Beweisteil vonp < ∞ ein alternatives Argument (das auch Satz 3.23 vermeidet): Es genugt zubemerken, dass (um) eine gegen ein u∗ ∈ Cb(Rn) konvergente Cauchy-Folge inCb(Rn) ist, so dass wieder u∗ = u f.u. gilt. Dies gilt auch fur p =∞, da ja u auchin W 1,p fur jedes p < ∞ liegt. Offenbar ist dann ‖u∗‖∞ = limm→∞ ‖um‖∞. Da(um) dann auch punktweise konvergiert, erhalt man die notigen Abschatzungenan [u∗]C0,γ(U) durch

|u∗(x)− u∗(y)||x− y|γ

= limm→∞

|um(x)− um(y)||x− y|γ

≤ C‖u‖W 1,p(Rn).

Hieraus folgt die gefragte Abschatzung fur ‖u∗‖C0,γ(U).

Die allgemeine Sobolev-Ungleichung

Satz 3.26 (Die allgemeine Sobolev-Ungleichung). Es sei U ⊂ Rn offen undbeschrankt mit C1-Rand, u ∈ W k,p(U).

(i) Ist kp < n, so ist

u ∈ Lq(U) fur1

q=

1

p− k

n.

Es existiert eine Konstante C = C(k, p, n, U), so dass

‖u‖Lq(U) ≤ C‖u‖Wk,p(U).

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(ii) Ist kp > n, so ist

u ∈ Ck−bnpc−1,γ(U) fur γ :=

bnpc+ 1− n

p, falls n

p/∈ N,

beliebig < 1, falls np∈ N.

Es existiert eine Konstante C = C(k, p, γ, n, U), so dass

‖u‖Ck−bnp c−1,γ

(U)≤ C‖u‖Wk,p(U).

Als Ergebnis uber Einbettungen von Funktionenraumen lautet dieser Satzalso:

(i) Fur kp < n ist

W k,p(U) → Lq(U) fur1

q=

1

p− k

n,

(ii) Fur kp > n ist

W k,p(U) → Ck−bnpc−1,γ(U) fur γ :=

bnpc+ 1− n

p, falls n

p/∈ N,

beliebig < 1, falls np∈ N.

Beweis. (i) Es sei u ∈ W k,p(U). Nach Satz 3.21 gilt dann fur alle Multiindizes αmit |α| ≤ k − 1

∂αu ∈ Lp∗(U) mit ‖∂αu‖Lp∗ (U) ≤ C‖u‖Wk,p(U),

d.h. W k,p(U) → W k−1,p∗(U). Induktiv ergibt sich

W k,p(U) → W k−1,p∗(U) → W k−2,p∗∗(U) → . . . → W 0,q(U)

mit1

p∗=

1

p− 1

n,

1

p∗∗=

1

p∗− 1

n=

1

p− 2

n, . . . ,

1

q=

1

p− k

n.

(ii) Sei zunachst np/∈ N. Wahle l = bn

pc. Dann ist lp < n und wie in (i)

erhalten wir

W k,p(U) → W k−l,r(U) mit1

r=

1

p− l

n.

Nun ist r = pnn−pl > n. Satz 3.25 impliziert daher, dass fur jedes u ∈ W k−l,r(U)

∂αu ∈ C0,1−nr (U) mit ‖∂αu‖

C0,1−nr (U)≤ C‖u‖Wk−l,r(U)

fur Multiindizes α mit |α| ≤ k − l − 1 gilt, d.h. (s. Lemma 3.27)

W k−l,r(U) → Ck−l−1,1−nr (U).

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Wegen 1− nr

= 1− np

+ l = bnpc+ 1− n

pbekommen wir insgesamt

W k,p(U) → W k−l,r(U) → Ck−bnpc−1,γ(U).

Sei nun np∈ N. Wie eben ergibt sich fur l := n

p− 1

W k,p(U) → W k−l,r(U) mit r =np

n− pl= n.

Aus Bemerkung 3.3 ergibt sich nun (durch Betrachten der ∂αu mit |α| ≤ k−l−1)

W k−l,r(U) → W k−l−1,q(U) fur alle q <∞

und aus Satz 3.25 fur q > n

W k−l−1,q(U) → Ck−l−2,1−nq (U).

Zusammenfassend erhalten wir (beachte k − l − 2 = k − bnpc − 1)

W k,p(U) → Ck−bnpc−1,γ(U) ∀ γ < 1.

Wir beschließen diesen Abschnitt mit einem Lemma, das zeigt, dass Sobolev-Funktionen, deren Ableitungen durch stetige Funktionen gegeben sind, tatsachlichstarke Ableitungen besitzen.9 (Diese sind dann nach Lemma 3.3(ii) gleich derschwachen Ableitung.)

Lemma 3.27. Sei U ⊂ Rn offen, u ∈ W 1,1loc (U) mit ∇u stetig. Dann ist u ∈

C1(U).

Beweis. Wie im Beweis von Satz 3.7 gesehen gilt fur die stetig differenzierbarenFunktionen uε := ηε∗u, die auf der verkleinerten Menge Uε mit Hilfe der skaliertenStandardglattungskerne ηε definiert sind,

∂iuε = ηε ∗ ∂iu.

Da nun ∂iu stetig ist, folgt aus Satz A.1(iii), dass die ∂iuε gleichmaßig auf kom-pakten Teilmengen von U gegen ∂iu konvergieren mit ε→ 0. Daruberhinaus giltuε → u punktweise nach Satz A.1(ii) (bzw. punktweise fur eine Teilfolge nachSatz A.1(iv)). Ein bekannter Satz aus der Analysis ergibt nun, dass dann auch ustetig differenzierbar ist.

9Dieses Lemma wurde in der VL weggelassen.

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3.4 Kompakte Einbettungen

Der Satz von Rellich-Kondrachov

Ziel dieses Paragraphen ist es, kompakte Mengen in gewissen Funktionenraumenzu verstehen. Wir erinnern zunachst an ein allgemeines Kompaktheitskriteriumin metrischen Raumen.

Satz 3.28. Es sei M ein vollstandiger metrischer Raum, K ⊂ M . Dann ist Krelativkompakt (also K kompakt) genau dann, wenn K totalbeschrankt ist, d.h.wenn gilt

∀ ε > 0 ∃x1, . . . , xN ∈ K : K ⊂N⋃i=1

Bε(xi).

Das Hauptresultat uber Kompaktheit in Raumen stetiger Funktionen ist derSatz von Arzela-Ascoli. Auch fur unsere Untersuchungen in Sobolevraumen ist erdas wesentliche Hilfsresultat.

Satz 3.29 (Satz von Arzela-Ascoli). Es sei (M,d) ein kompakter metrischerRaum. K ⊂ C(M), wobei C(M) mit der sup-Norm versehen sei. Dann ist Krelativkompakt genau dann, wenn K

• beschrankt ist: ∃C > 0 : ‖f‖∞ ≤ C ∀ f ∈ K und

• gleichgradig stetig10 ist:

∀x ∈M ∀ ε > 0∃ δ > 0 : |f(x)− f(y)| < ε ∀ y mit d(y, x) < δ ∀ f ∈ K.

Wir werden diesen Satz im Folgenden als bekannt voraussetzen.In Anwendungen ist auch die folgende nicht-lokale Variante des Satzes von

Arzela-Ascoli nutzlich. Sie folgt sofort aus Satz 3.29 angewandt auf die Ku-geln Bk(0) ⊂ Rn, k = 1, 2, . . . mit einem Diagonalfolgenargument: Ist die Folge(fk) ⊂ C(Rn) gleichmaßig beschrankt (in der sup-Norm) und gleichgradig stetig,so existiert eine Teilfolge (fkm) und ein f ∈ C(Rn), so dass

fkm → f gleichmaßig auf Kompakta.

Wir kommen nun zu einem zentralen Ergebnis in der Theorie der Sobolev-raume. Dazu benotigen wir zuerst eine weitere funktionalanalytische Vorberei-tung:

10Kurz gesagt: In der ε-δ-Formulierung der Stetigkeit von f kann das δ unabhangig vonf ∈ K gewahlt werden. In dieser Definition benotigt man nicht, dass M kompakt ist. Ist Mjedoch kompakt so kann man zeigen, dass jede gleichgradig stetige Teilmenge von C(M) sogargleichmaßig gleichgradig stetig ist, δ also auch unabhangig von x gewahlt werden kann (Ubung!).

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Definition 3.30. Es seien X, Y Banachraume, L : X → Y ein linearer Opera-tor11.

(i) L heißt kompakt, wenn beschrankte Mengen unter L auf relativ kompakte

Mengen abgebildet werden. (Aquivalent: Ist (xn) ⊂ X eine beschrankte Folgein X, so hat die Folge (Lxn) ⊂ Y eine in Y konvergente Teilfolge.)

(ii) Ist X ⊂ Y , so heißt die Einbettung X → Y kompakt, wenn die Einbet-tungsabbildung X 3 x 7→ x ∈ Y ein kompakter Operator ist. (Mit anderenWorten: Wenn jede in X beschrankte Folge eine in Y konvergente Teilfolgeenthalt.)

Beachte, dass kompakte Operatoren automatisch stetig sind.12

Satz 3.31 (Satz von Rellich-Kondrachov). Es seien U ⊂ Rn offen und beschranktmit C1-Rand, 1 ≤ p < n. Dann ist die Einbettung W 1,p(U) → Lq(U) kompaktfur alle 1 ≤ q < p∗.

Beweis. 1. Nach Satz 3.21 bettet W 1,p(U) stetig in Lq(U) ein fur alle 1 ≤ q ≤ p∗.Es sei nun A ⊂ W 1,p(U) beschrankt. Wir mussen zeigen, dass A als Teilmengevon Lq(U), q < p∗ relativkompakt ist.

Indem wir mit Hilfe von Satz 3.15 die Elemente von A zu Funktionen inW 1,p(Rn) fortsetzen, konnen wir A als eine beschrankte Teilmenge in W 1,p(Rn)auffassen, so dass außerdem suppu ⊂ V fur alle u ∈ A und eine geeignete be-schrankte und offene Menge V gilt. Wahle nun die Approximationen

uε := ηε ∗ u, u ∈ A, Aε := uε : u ∈ A

mit dem skalierten Standardglattungskern ηε wie in Satz 3.7. Indem wir V ggf.etwas vergroßern, durfen wir annehmen, dass sogar

supp(uε) ⊂ V ∀u ∈ A ∀ 0 < ε < 1.

2. Wir zeigen nun, dass Aε totalbeschrankt in C(V ) ist: Da fur alle x ∈ V

|uε(x)| =∣∣∣∣∫ ηε(x− y)u(y) dy

∣∣∣∣ ≤ Cε−n‖u‖L1

und

|∇uε(x)| =∣∣∣∣∫ ∇ηε(x− y)u(y) dy

∣∣∣∣ ≤ Cε−n−1‖u‖L1

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gilt, ist – fur festes ε – Aε beschrankt und gleichgradig stetig in C(V ). (Da ∇uεgleichmaßig beschrankt ist, gibt es eine gemeinsame Lipschitz-Abschatzung furalle uε ∈ Aε.) Die Behauptung ergibt sich also aus den Satzen 3.29 und 3.28.

3. Als nachstes beweisen wir, dass A im L1-Sinne gut durch Aε approximiertwird: Es gilt

‖uε − u‖L1 ≤ Cε (3.11)

fur eine Konstante C unabhangig von u ∈ A.Sei zunachst u ∈ W 1,p(Rn)∩C1(Rn) beliebig mit suppu, supp ηε ∗u ⊂ V . Die

Substitution z = yε

ergibt

ηε ∗ u(x)− u(x) =

∫Bε(0)

ηε(y) (u(x− y)− u(x)) dy

=

∫B1(0)

η(z) (u(x− εz)− u(x)) dz

=

∫B1(0)

η(z)

∫ 1

0

d

dt(u(x− εtz)) dt dz

= −ε∫B1(0)

η(z)

∫ 1

0

∇u(x− εtz) · z dt dz.

Nach Integration uber V , konnen wir wie folgt abschatzen.∫V

|ηε ∗ u(x)− u(x)| dx ≤ ε

∫B1(0)

η(z)

∫ 1

0

∫Rn|∇u(x− εtz)| dx dt dz ≤ ε

∫V

|∇u| dx.

Zusammengefasst: ‖ηε∗u−u‖L1 ≤ ε‖∇u‖L1 . Ein Standard-Approximationsargumentzeigt nun, dass diese Abschatzung fur alle u ∈ A richtig ist, so dass tatsachlich

‖uε − u‖L1 ≤ ε‖∇u‖L1 ≤ Cε‖∇u‖Lp ≤ Cε

folgt.4. Aus 2. und 3. folgt nun, dass A totalbeschrankt in L1 ist: Zu ε > 0 wahle

u1, . . . , uN ∈ A, so dass

Aε ⊂N⋃j=1

B∞ε (ujε)

gilt. (B∞ε (ujε) bezeichnet die Kugel vom Radius ε um ujε bezuglich der sup-Norm.)

11L : X → Y ist also schlicht eine lineare Abbildung. (Abbildungen zwischen Banachraumennennt man gerne Operatoren.)

12Erinnerung: Eine linearer Operator L : X → Y zwischen normierten Raumen X und Yist genau dann stetig, wenn L beschrankt ist, d.h. wenn es eine Konstante C > 0 gibt, so dass‖Lx‖Y ≤ C‖x‖X fur alle x ∈ X gilt. (M.a.W.: L ist stetig, wenn beschrankte Mengen aufbeschrankte Mengen abgebildet werden.)

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Ist nun u ∈ A gegeben, so konnen wir j wahlen, so dass ‖uε − ujε‖L1 ≤C‖uε − ujε‖∞ ≤ Cε gilt und damit nach (3.11)

‖u− uj‖L1 ≤ ‖u− uε‖L1 + ‖uε − ujε‖L1 + ‖ujε − uj‖L1 ≤ Cε.

Somit ist A als totalbeschrankt und damit nach Satz 3.28 als relativkompakt inL1 nachgewiesen.

5. Um den Beweis abzuschließen, d.h. um A als relativkompakt in Lq nachzu-weisen, betrachten wir eine Folge (un) in A und benutzen das Interpolationslemma3.32 (s.u.). Demnach ist

‖un − um‖Lq ≤ ‖un − um‖θL1‖un − um‖1−θLp∗

,

wenn 1q

= θ + (1 − θ) 1p∗

(und also 0 < θ ≤ 1) ist. Da nach dem Sobolevschen

Einbettungssatz 3.21 (un) beschrankt in Lp∗

ist und nach 4. eine L1-konvergenteTeilfolge von (un) existiert, erhalten wir aus dieser Ungleichung, dass dieselbeTeilfolge auch in Lq konvergiert. Das beendet den Beweis.

Die folgende Interpolationsungleichung gilt fur allgemeine Lp-Raume:

Lemma 3.32 (Interpolationsungleichung). Ist f ∈ Lp ∩ Lq, 1 ≤ p ≤ q ≤ ∞, sogilt f ∈ Lr fur alle r ∈ [p, q] und

‖f‖Lr ≤ ‖f‖1−θLp ‖f‖

θLq ,

wobei θ durch 1r

= 1−θp

+ θq

definiert ist.

Beweis. Die Behauptung ist klar fur r = p (mit θ = 0) und fur r = q (mit θ = 1).Sei also r ∈ (p, q) und folglich θ ∈ (0, 1). Definiere t ∈ (0, 1) durch pt

r= 1 − θ.

Dann ist θ = qr− (1−θ)q

p= q

r− qt

r= (1−t)q

rund damit

r = (1− θ)r + θr = tp+ (1− t)q.

Nach der Holderschen Ungleichung folgt nun∫|f |r =

∫|f |pt|f |q(1−t) ≤

(∫|f |p)t(∫

|f |q)1−t

= ‖f‖ptLp‖f‖q(1−t)Lq

und also

‖f‖Lr ≤ ‖f‖ptrLp‖f‖

q(1−t)r

Lq = ‖f‖1−θLp ‖f‖

θLq .

Bemerkung. 1. Fur p = n ergibt sich wegen W 1,p(U) → W 1,r(U) fur alle r <n aus dem Satz von Rellich-Kondrachov, dass die Einbettung W 1,p(U) →Lq(U) fur jedes q <∞ kompakt ist.

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2. Fur p > n folgt aus der Sobolev-Ungleichung und der Tatsache, dass dieEinbettung C0,γ(U) → C(U) kompakt ist (Ubung!), dass W 1,p(U) kompaktin C(U) und somit in alle Lq(U), 1 ≤ q ≤ ∞, einbettet.

Insbesondere erhalten wir das folgende Korollar aus Satz 3.31:

Korollar 3.33. Es seien U ⊂ Rn offen und beschrankt mit C1-Rand, 1 ≤ p ≤ ∞.Dann ist die Einbettung W 1,p(U) → Lp(U) kompakt.

Die Poincaresche Ungleichung

Als Anwendung beweisen wir eine allgemeine Form der Poincareschen Unglei-chung, durch die Funktionen durch ihre Ableitungen kontrolliert werden. ZurVorbereitung gehen wir zunachst aber noch etwas ausfuhrlicher auf die schwacheKonvergenz in Sobolevraumen ein.

Sei U ⊂ Rn messbar. Bekanntlich sind die Raume Lp(U), 1 ≤ p ≤ ∞, Ba-nachraume. Fur 1 ≤ p < ∞ ist der Dualraum von Lp(U) gerade Lq(U), wobei1q

+ 1p

= 1 ist. Dabei wirkt eine Funktion g ∈ Lq(U) als Funktional auf Lp(U)gemaß

f 7→∫U

gf.

(Dass dies ein stetiges Funktional auf Lp(U) definiert, ergibt sich direkt aus derHolderschen Ungleichung. Dass tatsachlich alle stetigen Funktionale auf Lp(U)von dieser Form sind, ist nicht so einfach zu sehen.) Bekanntlich konvergiert eineFolge (un) ⊂ Lp(U) schwach gegen u ∈ Lp(U) (Notation: un u), wenn fur allev ∈ Lq(U) (1

p+ 1

q= 1) gilt ∫

U

un v →∫U

u v.

Diese Definition ist auch fur den Fall p = ∞ (und q = 1) sinnvoll. Man spricht

dann allerdings von schwach*-Konvergenz (Notation: un∗ u). Der funktional-

analytische Grund ist, dass der Raum L1 pradual zu L∞ ist ((L1)′ ∼= L∞), nichtaber der Dualraum von L∞ ist.

Ohne die Dualraume von Sobolevraumen explizit zu beschreiben (was auchmoglich ist), definieren wir hieran angelehnt:

Definition 3.34. Es seien U ⊂ Rn offen, k ∈ N und 1 ≤ p < ∞ oder p =∞. Eine Folge (un) ⊂ W k,p(U) konvergiert schwach bzw. schwach* gegen u ∈W k,p(U) (Notation: un u bzw. un

∗ u), wenn fur alle |α| ≤ k gilt

∂αun ∂αu in Lp(U) bzw. ∂αun∗ ∂αu in L∞(U).

Es ist leicht zu sehen, dass schwache Limites eindeutig definiert sind und dassstarke Konvergenz schwache Konvergenz impliziert: un → u =⇒ un u. Die

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Umkehrung gilt jedoch nicht. Inhaltlich bedeutet die schwache Konvergenz in Lp,dass (beliebig gewichtete) Mittel konvergieren.

Von zentraler Bedeutung ist nun das Kompaktheitsresultat in Punkt (ii) desfolgenden Satzes.

Satz 3.35. Es seien U ⊂ Rn offen, 1 ≤ p ≤ ∞, k ∈ N0.

(i) Sei (un) ⊂ W k,p(U) eine schwach(*) gegen u ∈ W k,p(U) konvergente Folge.Dann ist die reelle Folge (‖un‖Wk,p(U)) der Normen beschrankt und es gilt‖u‖Wk,p(U) ≤ lim infn→∞ ‖un‖Wk,p(U).

(ii) Sei nun 1 < p <∞. Jede beschrankte Folge in ‖un‖Wk,p(U) hat eine schwachkonvergente Teilfolge.

Außerdem erinnern wir daran, dass die Bilder einer schwach(*) konvergen-ten Folge unter einem kompakten Operator stark gegen das Bild des schwachenGrenzwerts konvergieren.

Fur Beweise zu den vorgestellten Ergebnissen und weitere Details mussen wirauf die Vorlesung Funktionalanalysis verweisen.

Satz 3.36 (Die Poincare-Ungleichung). Es sei U ⊂ Rn offen und beschrankt mitC1-Rand. Des Weiteren sei X ⊂ W 1,p(U) ein abgeschlossener Unterraum mit

u ∈ X, ∇u = 0 =⇒ u = 0.

Dann existiert eine Konstante C, so dass

‖u‖Lp(U) ≤ C‖∇u‖Lp(U) ∀ u ∈ Xgilt.

Beweis. Ware dies nicht der Fall, so gabe es zu jedem k ∈ N ein uk ∈ X mit

‖uk‖Lp(U) > k‖∇uk‖Lp(U),

wobei wir nach Multiplikation mit geeigneten Skalaren o.B.d.A. annehmen durfen,dass ‖uk‖Lp(U) = 1 fur alle k ist und somit ‖∇uk‖Lp(U) = k−1 → 0 gilt. NachKorollar 3.33 gibt es nun eine Teilfolge (ukm) mit ukm → u fur ein u ∈ Lp(U) mit‖u‖Lp(U) = limm→∞ ‖ukm‖Lp(U) = 1. Damit gilt ukm → u in W 1,p(U) (und somitu ∈ X) und ∇u = 0 im Widerspruch zu ‖u‖Lp(U) = 1.

(Beachte: um → u, ∂ium → f =⇒ ∂iu = f , denn∫Uu ∂iϕ = lim

∫Uum ∂iϕ =

− lim∫U∂ium ϕ = −

∫Uf ϕ.)

Beispiele: Die Voraussetzungen der Poincareschen Ungleichung sind insbeson-dere in den folgenden beiden wichtigen Spezialfallen erfullt.

1. X = W 1,p0 (U).

2. X =u ∈ W 1,p(U) :

∫Uu = 0

, falls U zusammenhangend ist.

Denn offensichtlich sind diese Raume abgeschlossen und ∇u = 0 impliziert, dassu auf jeder Zusammenhangskomponente von U konstant ist (s. Ubungen) und inbeiden Fallen muss dann u = 0 sein.

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Kapitel 4

Euler-Lagrange-Gleichungen

In diesem kurzen Kapitel setzen wir unser Studium der Variationsrechnung fortund knupfen zunachst an die in Kapitel 2 entwickelten “indirekten Methoden”an. Wir untersuchen Variationen von Funktionalen zunachst in einem recht ab-strakten Rahmen und wenden diese Ergebnisse dann auf Variationsintegrale an,die nun aber auf mehrdimensionalen Mengen definiert sind. Hierdurch wird dieBrucke zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen geschlagen. Da unserHauptaugenmerk auf der im nachsten Kapitel zu besprechenden “direkten Me-thode” liegt, zeigt dieser Zusammenhang an dieser Stelle im Wesentlichen auf,wie man durch variationelle Methoden Losungen gewisser partieller Differential-gleichungen finden kann. (Mehr zu indirekten Methoden gibt es, wenn es die Zeiterlaubt, am Ende der VL.)

Abstrakte Variationsprobleme

Im Folgenden seien X ein (reeller) normierter Raum, U ⊂ X und F : U → Reine Abbildung.1

Definition 4.1. Ist u ∈ U , v ∈ X mit u+ tv ∈ U fur t ∈ (−t0, t0) fur ein t0 > 0und n ∈ N, so heißt

δnF (u; v) :=dn

dtn

∣∣∣t=0F (u+ tv),

falls diese Ableitung existiert, die n-te Variation von F bei u in Richtung v.

n-te Variationen sind also gerade Richtungsableitungen von F . Starker als dieerste Variation sind die folgenden Ableitungsbegriffe.

Definition 4.2. Es sei u ∈ U ein innerer Punkt von U .

(i) Das Funktional F heißt Gateaux-differenzierbar bei u, wenn δF (u; v) furalle v ∈ X existiert und es ein stetiges lineares Funktional F ′(u) ∈ X ′

1Skalarwertige Abbildungen auf normierten Raumen nennt man auch oft Funktionale.

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gibt2, so dassδF (u; v) = F ′(u)v ∀ v ∈ X

gilt. Man nennt F ′(u) die Gateaux-Ableitung von F bei u.

Ist F auf ganz U Gateaux-differenzierbar, so heißt F Gateaux-differenzierbarund die Abbildung F ′ : X → X ′, u 7→ F ′(u) die Gateaux-Ableitung von F .

(ii) F heißt Frechet-differenzierbar bei u, wenn es ein stetiges lineares Funktio-nal F ′(u) ∈ X ′ gibt, so dass

F (u+ v) = F (u) + F ′(u)v + o(‖v‖)

fur alle v in einer Umgebung von 0 gibt. Man nennt F ′(u) die Frechet-Ableitung von F bei u.

Ist F auf ganz U Frechet-differenzierbar, so heißt F Frechet-differenzierbarund die Abbildung F ′ : X → X ′, u 7→ F ′(u) die Frechet-Ableitung von F . IstF Frechet-differenzierbar und F ′ stetig, so schreiben wir auch F ∈ C1(U).

Per definitionem existiert die erste Variation in alle Richtungen fur Gateaux-differenzierbare Funktionale. Es ist außerdem leicht zu sehen, dass Frechet-diffe-renzierbare Funktionale Gateaux-differenzierbar sind und die Gateaux-Ableitungin diesem Falle gerade die Frechet-Ableitung ist, was die gleiche Bezeichnungrechtfertigt.

Bemerkung. 1. Selbst wenn die erste Variation in jede Richtung existiert,muss ein Funktional F nicht Gateaux-differenzierbar sein. Wesentlich isthierzu die Bedingung, dass δF (u; v) linear und stetig von v abhangt.

2. Gateaux-differenzierbare Funktionale mussen nicht Frechet-differenzierbarsein. Sie mussen noch nicht einmal stetig sein. (Uberlegen Sie sich ein Ge-genbeispiel!)

3. Frechet-differenzierbare Funktionale sind total differenzierbar oder differen-zierbar schlechthin in dem Sinne, dass das Funktional F ′(u) die Linearisie-rung von F bei u angibt. (Frechet-differenzierbare Funktionale sind insbe-sondere stetig.)

Genau wie in Kapitel 2 erhalten wir nun:

Satz 4.3. (i) Ist u ein lokales Minimum von F , so gilt

δF (u, v) = 0

fur alle v, fur die diese erste Variation in Richtung v existiert.

2Den Dualraum des normierten Raumes X bezeichnen wir mit X ′. Er wird oft auch als X∗

geschrieben.

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(ii) Ist zudem u ein innerer Punkt von U und F Gateax-differenzierbar bei u,so gilt

F ′(u) = 0.

Beweis. (i) Das folgt genauso wie in Kapitel 2.(ii) Klar nach (i).

Die Gleichung F ′(u) = 0 heißt wieder die Euler-Lagrange-Gleichung.Ein hinreichendes Kriterium fur lokale Minimierer erhalt man wieder mit der

zweiten Variation.

Satz 4.4. Ein innerer Punkt u von U ist ein lokales Minimum von F , wenn gilt:

(i) δF (u, v) = 0 fur alle v ∈ X.

(ii) Fur alle w in einer (hinreichend kleinen) Umgebung von u existieren diezweite Variationen δ2F (w, v) fur alle v ∈ X und erfullen

δ2F (u, v) ≥ c‖v‖2

fur alle v ∈ X mit einer (von u und v unabhangigen) Konstante c > 0.

Beweis. Setze f(t) := F (u + th). Ist ε > 0 hinreichend klein, so gibt es fur alleh ∈ Bε(u) ein τ ∈ (−1, 1) mit

F (u+ h)− F (u) = f(1)− f(0) = f ′(0)︸ ︷︷ ︸=0

+1

2f ′′(τ) =

1

2δ2F (u+ τh) ≥ 0.

Variationsintegrale – klassisch

Es sei U ⊂ Rn offen und beschrankt und

f : U × R× Rn → R, (x, y, z) = (x1, . . . , xn, y, z1, . . . , zn) 7→ f(x, y, z)

eine glatte Funktion. Eine Hauptaufgabe der Variationsrechnung besteht in derUntersuchung des Funktionals

I(u) =

∫U

f(x, u(x),∇u(x)) dx.

Wir betrachten dieses Funktional zunachst klassisch definiert auf (Teilmengenvon) C1(U). Da wir auch Randwertprobleme betrachten wollen, setzen wir

A := u ∈ C1(U) : u = g auf ∂U,

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wobei g ∈ C1(U) eine gegebene Funktion sei. (A ist dann ein affiner Unterraumvon C1(U). Indem man zu I(· + g), definiert auf C1

0(U) = u ∈ C1(U) : u =0 auf ∂U ubergeht, erhalt man ein aquivalentes Problem auf dem linearen Un-terraum C1

0(U).)Wir bestimmen nun die erste Variation von I bei u, die ja, wenn u eine lokale

Minimalstelle von I ist, verschwinden muss. Ist v ∈ C10(U), so ist auch u+ tv ∈ A

und

δI(u; v) =d

dt

∣∣∣t=0

∫U

f(x, u(x) + tv(x),∇u(x) + t∇v(x)) dx

=

∫U

∂yf(x, u(x),∇u(x))v(x) +n∑i=1

∂zif(x, u(x),∇u(x))∂iv(x) dx.

Insbesondere hangt, da f als glatt vorausgesetzt war, δI(u; v) linear und stetigvon v ∈ C1

0(U) ab, d.h. es gilt F ′(u) = 0 fur F ′(u)v = δI(u; v), wenn u lokalerMinimierer ist.

Fur u ∈ C2 ergibt sich wie in Kapitel 2:

Satz 4.5. Gilt δI(u; v) = 0 fur u ∈ C2(U) ∩ A und alle v ∈ C∞c (U), so folgt

− div(∇zf(x, u(x),∇u(x))) + ∂yf(x, u(x),∇u(x)) = 0 in U,

u = g auf ∂U.

Beweis. Das folgt unmittelbar aus δF (u; v) = 0 fur alle v ∈ C∞c (U) mit partiellerIntegration und dem Fundamentallemma der Variationsrechnung.

Bemerkung. Tatsachlich ist I Gateaux-differenzierbar (Ubung!). Im Unterschiedzum Eindimensionalen ist die Euler-Lagrange-Gleichung nun eine partielle Diffe-renzialgleichung. Sie ist insbesondere fur lokale Minimierer erfullt.

Beispiele.

1. Das wohl wichtigste Beispiel ist

f(x, y, z) =1

2|z|2.

Die Euler-Lagrange-Gleichung des Funktionals

I(u) =1

2

∫U

|∇u|2

ist die Laplace-Gleichung∆u = 0.

Diesen Zusammenhang bezeichnet man als das Dirichlet-Prinzip.

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2. Allgemeiner kann man

f(x, y, z) =1

2zTAz + y c(x)

betrachten, wobei o.B.d.A. A symmetrisch sei. Das Funktional

I(u) =

∫U

f(x, u(x),∇u(x)) =

∫U

(1

2

∑i,j

aij ∂iu ∂ju+ c u

)

fuhrt auf die Euler-Lagrange-Gleichung

− div(A∇u) + c = 0.

(Man spricht hier auch vom verallgemeinerten Dirichlet-Prinzip.)

3. Als nichtlineares Beispiel betrachte

f(x, y, z) =1

2|z|2 +H(y),

wobei H ′ = h sei. Die Euler-Lagrange-Gleichung des Funktionals I(u) =12

∫U|∇u|2 +H(u) ist die nichtlineare Poisson-Gleichung

−∆u+ h(u) = 0.

4. Istf(x, y, z) =

√1 + |z|2,

so beschreibt das Funktional

I(u) =

∫U

√1 + |∇u|2

gerade die Flache des Funktionsgraphen von u. Die zugehorige Euler-Lagrange-Gleichung ist die nichtlineare Minmalflachengleichung

div

(∇u√

1 + |∇u|2

)= 0.

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Variationsintegrale auf Sobolevraumen

Es sei wieder U ⊂ Rn offen und beschrankt,

f : U × R× Rn → R, (x, y, z) = (x1, . . . , xn, y, z1, . . . , zn) 7→ f(x, y, z)

eine glatte Funktion und I das Funktional

I(u) =

∫U

f(x, u(x),∇u(x)) dx.

Erfullt f die Wachstumsbedingung

|f(x, y, z)| ≤ C (1 + |y|p + |z|p)

fur ein 1 ≤ p < ∞, so ist es naturlich, den Sobolevraum W 1,p(U) (oder einenTeilraum davon) als Definitionsbereich von I anzunehmen. Da wir auch hierRandwertprobleme betrachten wollen, nehmen wir an, dass ∂U C1-glatt ist undbetrachten I auf

A := u ∈ W 1,p(U) : u = g auf ∂U im Spursinne= u ∈ W 1,p(U) : u− g ∈ W 1,p

0 (U)

(vgl. Satz 3.19), wobei g eine gegebene Funktion in W 1,p(U) sei.Um die erste Variation bestimmen zu konnen, nehmen wir zusatzlich an, dass

f die Wachstumsbedingungen

|∂yf(x, y, z)|, |∇zf(x, y, z)| ≤ C(1 + |y|p−1 + |z|p−1

)fur x ∈ U, y ∈ R, z ∈ Rn erfullt. Dann ist nach der Youngschen Ungleichung (alsoab ≤ ap

p+ bq

qfur a, b ≥ 0, 1

p+ 1

q= 1)∣∣∣∣ ddtf(x, u(x) + tv(x),∇u(x) + t∇v(x))

∣∣∣∣= |∂yf(x, u(x) + tv(x),∇u(x) + t∇v(x)) v(x)

+ ∇zf(x, u(x) + tv(x),∇u(x) + t∇v(x)) · ∇v(x)|≤ C(1 + |u(x) + tv(x)|p−1 + |∇u(x) + t∇v(x)|p−1)(|v(x)|+ |∇v(x)|)≤ C(1 + |u(x) + tv(x)|p + |∇u(x) + t∇v(x)|p) + C(|v(x)|p + |∇v(x)|p)≤ C(1 + |u(x)|p + |∇u(x)|p) + C(|v(x)|p + |∇v(x)|p)

fur |t| ≤ 1. Die letzte Funktion ist unabhangig von t ∈ (−1, 1) und integrierbar.Wir durfen also unter dem Integral differenzieren und erhalten (wieder)

δI(u; v) =

∫U

d

dt

∣∣∣∣t=0

f(x, u(x) + tv(x),∇u(x) + t∇v(x)) dx

=

∫U

∂yf(x, u(x),∇u(x))v(x) +n∑i=1

∂zif(x, u(x),∇u(x))∂iv(x) dx.

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Durch die gewonnene Formel fur δI(u; v) und partielle Integration motiviertdefinieren wir:

Definition 4.6. Wir sagen u ∈ A ist eine schwache Losung des Randwertpro-blems

− div(∇zf(x, u(x),∇u(x))) + ∂yf(x, u(x),∇u(x)) = 0 in U, u = g auf ∂U.

wenn ∫U

∂yf(x, u(x),∇u(x))v(x) +∇zf(x, u(x),∇u(x)) · ∇v(x) dx = 0

fur alle v ∈ W 1,p0 (U) gilt.

Unsere Rechnung von oben zeigt dann:

Satz 4.7. Es sei f : U ×R×Rn → R eine glatte Funktion, die den Wachstums-bedingungen

|f(x, y, z)| ≤ C (1 + |y|p + |z|p) ,|∂yf(x, y, z)|, |∇zf(x, y, z)| ≤ C

(1 + |y|p−1 + |z|p−1

)fur alle x ∈ U, y ∈ R, z ∈ Rn genugt. Ist dann I(u) = minv∈A I(v), so ist u eineschwache Losung des Randwertproblems

− div(∇zf(x, u(x),∇u(x))) + ∂yf(x, u(x),∇u(x)) = 0 in U, u = g auf ∂U.

Bemerkung. 1. Wieder lasst sich zeigen, dass I Gateaux-differenzierbar ist(Ubung!), so dass schwache Losungen dieses Randwertproblems gerade dieLosungen der Euler-Lagrange-Gleichung sind.

2. Wie oben gesehen, sind schwache C2-glatte Losungen auch Losungen dieserGleichung im gewohnlichen Sinne (zur Unterscheidung spricht man dannauch von ‘starken’ oder ‘klassischen’ Losungen.)

3. Bemerkenswert ist, dass der schwache Losungsbegriff fur diese Gleichungzweiter Ordnung nur voraussetzt, dass die ersten schwachen Ableitungenexistieren. Fur mehr zu schwachen Losungen fur partielle Differentialglei-chungen mussen wir auf eine entsprechende Vorlesung verweisen.

Ganz analog lassen sich die Euler-Lagrange-Gleichungen fur vektorwertigeIntegralfunktionale herleiten. Hier ist U ⊂ Rn offen und beschrankt,

f : U × Rm × Rm×n → R ∪ ∞,(x, y, z) = (x1, . . . , xn, y1, . . . , ym, z11, z12, . . . , zmn) 7→ f(x, y, z)

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eine glatte Funktion und das Funktional I gegeben durch

I(u) =

∫U

f(x, u(x), Du(x)) dx.

Sind die Wachstumsbedingungen

|f(x, y, z)| ≤ C (1 + |y|p + |z|p)

und

|Dyf(x, y, z)|, |Dzf(x, y, z)| ≤ C(1 + |y|p−1 + |z|p−1

)fur alle x ∈ U, y ∈ Rm, z ∈ Rm×n und ein 1 ≤ p <∞ erfullt, ∂U C1-glatt,

A = Ag := u ∈ W 1,p(U ;Rm) : u = g auf ∂U im Spursinne= u ∈ W 1,p(U ;Rm) : u− g ∈ W 1,p

0 (U ;Rm),

g eine gegebene Funktion in W 1,p(U ;Rm), so sieht man ganz analog, dass dieerste Variation δI(u; v) fur u ∈ A, v ∈ W 1,p

0 (U ;Rm) gegeben ist durch

δI(u; v)

=

∫U

m∑i=1

∂yif(x, u(x), Du(x))vi(x) +m∑i=1

n∑j=1

∂zijf(x, u(x), Du(x))∂jvi(x) dx.

(Rm-wertige Sobolevfunktionen sind einfach dadurch charakterisiert, dass ihreKomponenten in den entsprechenden Sobolevraumen liegen.)

Durch diese Rechnung und partielle Integration motiviert definieren wir auchhier:

Definition 4.8. Wir sagen u ∈ A ist eine schwache Losung des Randwertpro-blems

− div(Dzf(x, u(x), Du(x)) +Dyf(x, u(x), Du(x)) = 0 in U, u = g auf ∂U.

wenn ∫U

Dyf(x, u(x), Du(x)) · v(x) +Dzf(x, u(x), Du(x)) : Dv(x) dx = 0

fur alle v ∈ W 1,p0 (U ;Rm).

Hier ist Dzf als m × n Matrix mit den Eintragen ∂zijf zu verstehen. (DasSkalarprodukt im Matrizenraum wird oft mit einem Doppelpunkt bezeichnet. FurA = (aij), B = (bij) ∈ Rm×n ist A : B :=

∑mi=1

∑nj=1 aij bij = Spur(ATB).) In

Indexschreibweise entspricht das den m Gleichungen

−∑j

∂j∂zijf(x, u(x), Du(x)) + ∂yif(x, u(x), Du(x)) = 0 fur i = 1, . . . ,m.

Unsere Rechnung von oben zeigt dann:

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Satz 4.9. Es sei f : U × Rm × Rm×n → R eine glatte Funktion, die den Wachs-tumsbedingungen

|f(x, y, z)| ≤ C (1 + |y|p + |z|p) ,|Dyf(x, y, z)|, |Dzf(x, y, z)| ≤ C

(1 + |y|p−1 + |z|p−1

)fur alle x ∈ U, y ∈ Rm, z ∈ Rm×n genugt. Ist dann I(u) = minv∈A I(v), so ist ueine schwache Losung des Randwertproblems

− div(Dzf(x, u(x), Du(x)) +Dyf(x, u(x), Du(x)) = 0 in U, u = g auf ∂U.

Die Euler-Lagrange-Gleichung ist in diesem Fall also ein System von partiellenDifferentialgleichungen.

Beispiel: Ein genuin vektorwertiges variationelles Problem ist das Auffinden vonDeformationen kleiner Energie in der dreidimensionalen Elastizitatstheorie. Es seiU ⊂ R3 ein elastischer Korper, U ⊂ R3 offen und beschrankt. Ordnet man jedemPunkt x aus U einen Punkt y(x) ∈ R3 zu, so wird dadurch eine Deformation ydefiniert. Die zur Deformation y notige Energie, die aus den lokalen Verzerrungenherruhrt, ist fur sogenannte hyperelastische Materialien durch ein Integralfunk-tional von der Form

E(y) =

∫U

W (x,Dy(x)) dx

gegeben. Hierbei ist W die gespeicherte Energiedichte, die im Falle homogenerMaterialien nicht explizit von x abhangt. Die Abhangigkeit von y durch den De-formationsgradienten Dy erklart sich dadurch, dass Dy gerade die lokalen Ver-zerrungen des Korpers misst, die die elastische Energie speichern. Ein Minimierervon E in der Klasse A beschreibt dann die energetisch gunstigste Konfiguration,die die vorgegebenen Randwerte realisiert.

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Kapitel 5

VektorwertigeVariationsprobleme

Wir untersuchen nun Funktionale auf (Teilmengen von) Funktionenraumen aufdie Existenz von Minimierern, wobei wir insbesondere vektorwertige Problemebetrachten, d.h. Funktionale auf (Teilmengen von) W 1,p(U ;Rm). Unser Hauptzielist es, Minimierer mit der sogenannten direkten Methode finden.

5.1 Die direkte Methode

Mit der direkten Methode der Variationsrechnung lasst sich unter geeigneten Vor-aussetzungen die Existenz von Minimierern bestimmter Funktionale ‘direkt’ zei-gen, ohne die zugehorigen Euler-Lagrange-Gleichungen zu untersuchen.

Es sei I : X → R ein Funktional auf einem metrischen (oder auch nur topolo-gischen) Raum X. Ist I nach unten beschrankt, so kann man eine Minimalfolge(un) betrachten, d.h. eine Folge (un) mit

limn→∞

I(un) = infv∈X

I(v).

Nun wurde man gerne folgern, dass (un) (oder auch nur eine Teilfolge) gegenein u ∈ X konvergiert. Im Allgemeinen ist jedoch die Annahme, dass etwa Xkompakt ist, viel zu stark. Da auf Minimalfolgen die Werte I(un) beschranktsind, genugt es vielmehr zu fordern, dass die Niveaumengen v : I(v) ≤ c,c ∈ R, relativ kompakt (bzw. relativ folgenkompakt) sind. Ist dies gewahrleistet,konnen wir in der Tat un → u annehmen.

Nun mochten wir noch u als Minimierer von I identifizieren. Ohne jede Vor-aussetzung an I ist das sicher falsch. Ist aber I unterhalbstetig (bzw. unterhalb-folgenstetig), so ist

infv∈X

I(v) = limnI(un) = lim inf

nI(un) ≥ I(u) ≥ inf

v∈XI(v)

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und damit tatsachlich I(u) = infv∈X I(v).

Sei wieder f : U × Rm × Rm×n → R glatt, U ⊂ Rn offen und beschrankt mitC1- (oder Lipschitz-)Rand, und I das Funktional

I(u) =

∫U

f(x, u(x), Du(x)) dx

auf dem Raum A = Ag = u ∈ W 1,p(U) : u = g im Spursinne der zulassigenFunktionen. Die notigen Kompaktheitseigenschaften der Niveaumengen ergebensich aus Koerzivitatsannahmen an f .

Lemma 5.1. Erfullt f die Wachstumsbedingung

f(x, y, z) ≥ c1|z|p − c2

fur geeignete Konstanten c1 > 0, c2 ∈ R, p ∈ (1,∞), so ist v ∈ A : I(v) ≤ c(W 1,p-)schwach relativ folgenkompakt in A fur jedes c ∈ R.

M.a.W.: Ist (uk) eine Folge in v ∈ A : I(u) ≤ c, so gibt es eine Teilfolge(ukj) und ein u ∈ A mit ukj u in W 1,p(U).

Beachte, dass unter dieser Wachstumsbedingung I auf A wohldefiniert ist,wenn man den Wert I(u) = +∞ zulasst.

Beweis. Ist v ∈ A mit I(v) ≤ c, so gilt

c1

∫U

|Dv(x)|p dx ≤∫U

f(x, v(x), Dv(x)) + c2 dx = I(v) + c2|U | ≤ c+ c2|U |.

Nach der Poincareschen Ungleichung fur W 1,p0 (U) ist dann auch

‖v‖Lp ≤ ‖v − g‖Lp + ‖g‖Lp ≤ C‖D(v − g)‖Lp + ‖g‖Lp≤ C(‖Dv‖Lp + ‖Dg‖Lp) + ‖g‖Lp .

beschrankt.Ist daher (uk) eine Folge in v ∈ A : I(u) ≤ c, so ist (uk) beschrankt

in W 1,p(U). Nach Satz 3.35 gilt fur eine Teilfolge ukj u in W 1,p(U) fur einu ∈ W 1,p(U). Weil nun die Spurabbildung stetig ist, ist auch u = g auf ∂U , sodass tatsachlich auch u ∈ A gilt.

Die Unterhalbstetigkeit kann man folgern, wenn f konvex ist. Wir werdenjedoch gleich sehen, dass im vektorwertigen Fall die Annahme f sei konvex furwichtige Anwendungen zu restriktiv ist.

Lemma 5.2. Es sei f : U×Rm×Rm×n → R eine glatte, nach unten beschrankteFunktion, so dass

z 7→ f(x, y, z)

konvex ist fur alle x ∈ U, y ∈ Rm. Dann ist I schwach unterhalbfolgenstetig aufW 1,p(U ;Rm).

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Beweis. Es sei (uk) eine Folge mit uk u in W 1,p(U ;Rm), d.h. uk u inLp(U ;Rm) undDuk Du in Lp(U ;Rm×n). Es ist zu zeigen, dassm := lim infk→∞I(uk) ≥ I(u). Nach Ubergang zu einer Teilfolge (wieder mit (uk) bezeichnet)konnen wir annehmen, dass m = limk→∞ I(uk) ist.

Aus dem Satz von Rellich-Kondrachov folgt uk → u stark in Lp. Indem wirzu einer Teilfolge (wieder mit (uk) bezeichnet) ubergehen, konnen wir außerdemuk → u fast uberall annehmen.

Nach dem Satz von Egorov1 existiert nun zu jedem j ∈ N eine Menge Aj, sodass

uk → u gleichmaßig auf Aj und |U \ Aj| ≤ j−1.

Dabei konnen wir naturlich Aj so wahlen, dass Aj+1 ⊃ Aj. Wahle nun nochMengen Bj := x ∈ U : |u(x)|+|Du(x)| ≤ j und beachte, dass limj→∞ |U \Bj| =0, da |u|+ |Du| integrierbar ist. Dann aber ist auch limj→∞ |U \ (Aj ∩Bj)| = 0.

Da f nach unten beschrankt ist, konnen wir nach Addition mit einer geeigne-ten Konstante annehmen, dass f ≥ 0 gilt. Aus der Konvexitat von f in z erhaltenwir fur jedes j:

I(uk) =

∫U

f(x, uk, Duk) dx ≥∫Aj∩Bj

f(x, uk, Duk) dx

≥∫Aj∩Bj

f(x, uk, Du) +Dzf(x, uk, Du) · (Duk −Du) dx.

Auf Aj∩Bj konvergieren nun f(x, uk, Du) und Dzf(x, uk, Du) gleichmaßig gegenf(x, u,Du) bzw. Dzf(x, u,Du). Da zudem Duk schwach gegen Du konvergiert,ergibt sich

m = limk→∞

I(uk) ≥∫Aj∩Bj

f(x, u,Du) dx.

Da f ≥ 0 vorausgesetzt ist, folgt nun mit monotoner Konvergenz (wegenAj+1 ∩Bj+1 ⊃ Aj ∩Bj)

m ≥ limj→∞

∫Aj∩Bj

f(x, u,Du) dx = I(u).

Korollar 5.3. Es sei f : U × Rm × Rm×n → R eine glatte Funktion, die dieWachstumsbedingung

f(x, y, z) ≥ c1|z|p − c2

1Der Satz von Egorov besagt: Ist U ⊂ Rn messbar mit |U | <∞ und fk eine Funktionenfolgemit fk → f fast uberall, so gibt es zu jedem ε > 0 eine Menge Aε mit |U \ Aε| ≤ ε, so dassfk → f gleichmaßig auf Aε konvergiert. (Dieser Satz wird in der Maßtheorie bewiesen.)

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fur geeignete Konstanten c1 > 0, c2 ∈ R, p ∈ (1,∞) erfulle, so dass

z 7→ f(x, y, z)

konvex ist fur alle x ∈ U, y ∈ Rm. Dann existiert ein u ∈ A mit

I(u) = infv∈A

I(v).

Beweis. Das folgt mit der direkten Methode aus Lemma 5.1 und Lemma 5.2.

Insbesondere ist der Minimierer nach Satz 4.7 eine schwache Losung derEuler-Lagrange-Gleichungen unter geeigneten Wachstumsbedingungen an f undD(y,z)f .

Man uberzeugt sich leicht davon, dass (selbst strikte) Konvexitat in z alleinnicht garantiert, dass es nur einen einzigen Minimierer von I geben kann. EinKriterium fur die Eindeutigkeit von Minimierern ist jedoch die strikte Konvexitatvon f in (y, z). Zur Erinnerung: Eine Funktion g : V → R, V eine konvexe Menge,heißt strikt konvex, wenn

g(λv1 + (1− λ)v2) < λg(v1) + (1− λ)g(v2) fur v1, v2 ∈ V mit v1 6= v2, λ ∈ (0, 1).

Ist insbesondere V ⊂ Rm offen und f zweimal differenzierbar mit D2f(v) positivdefinit fur alle v ∈ V , so ist f strikt konvex.

Satz 5.4. Es sei f strikt konvex in (y, z) fur alle x. Dann gibt es hochstens einu ∈ A mit I(u) = infv∈A I(v).

Beweis. Es seien u1, u2 ∈ A, λ ∈ (0, 1). Setze

ε(x) := f(x, λu1 + (1− λ)u2, λ∇u1 + (1− λ)∇u2)

− λf(x, u1,∇u1)− (1− λ)f(x, u2,∇u2).

Dann ist ε(x) ≥ 0 fur alle x und ε(x) > 0 fur alle x ∈ U mit u1(x) 6= u2(x).Daher ist

I(λu1 + (1− λ)u2)− λI(u1)− (1− λ)I(u2) =

∫U

ε(x) dx ≥ 0

mit strikter Ungleichung, wenn nicht u1 = u2 ist (fast uberall). Dies zeigt, dassauch I strikt konvex ist.

Daraus aber ergibt sich leicht, dass Minimierer eindeutig sind: Waren u1, u2

Minimierer von I mit u1 6= u2, so ware

infAI ≤ I

(u1 + u2

2

)<I(u1) + I(u2)

2= infAI.

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Beispiel: Um einzusehen, dass Konvexitat i.A. eine zu starke Annahme ist, be-trachten wir wieder das Energiefunktional

E(y) =

∫U

W (Dy)

aus dem vorigen Beispiel. Liegen in der Ausgangslage (der sogenannten Referenz-konfiguration) keine internen Verspannungen vor, so wird man nach geeigneterNormierung annehmen durfen, dass W ≥ 0 ist und W (F ) = 0 ist, wenn F dieEinheitsmatrix F = Id ist. Da reine Drehungen keine elastische Energie kostensollten, sollte W sogar auf ganz SO(3) verschwinden. Ware nun W konvex, soware

0 ≤ W

0 0 00 0 00 0 1

≤ 1

2W

−1 0 00 −1 00 0 1

+1

2W

1 0 00 1 00 0 1

≤ 0.

Das ist aber unphysikalisch: Man kann einen dreidimensionalen elastischen Korpernicht auf einen eindimensionalen Strich zusammenpressen, ohne dem SystemEnergie zuzufuhren. (Im Gegenteil: Eine solche Deformation sollte sogar unend-lich viel Energie kosten.)

5.2 Polykonvexitat

In diesem Abschnitt werden wir das eben angesprochene Dilemma losen, indemwir Integranden zulassen, die nicht mehr konvex sein mussen. Um die direkteMethode zur Auffindung von Minimierern anwenden zu konnen, mussen wir je-doch sicherstellen, dass die betrachteten Funktionale noch unterhalbstetig sind.Als geeignete Klasse von Integranden werden sich die sogenannten polykonvexenFunktionen herausstellen. Diese Funktionen fuhren einerseits zu unterhalbstetigenFunktionalen, andererseits lassen sich mit ihnen Energiefunktionale modellieren,die auch physikalisch sinnvoll sind.

Im folgenden Abschnitt werden wir sehen, dass diese Klasse der guten Inte-granden noch erweitert werden kann. Im Allgemeinen kann es jedoch sehr schwie-rig sein zu entscheiden, ob die direkte Methode anwendbar ist. Polykonvexitat(gemeinsam mit geeigneten Wachstumsbedingungen) liefert hier ein wichtiges hin-reichendes Kriterium.

Wir erinnern zunachst an den Begriff der Kofaktormatrix aus der linearenAlgebra. Ist A eine r×r Matrix und bezeichnet man mit A(i, j) die (r−1)×(r−1)Matrix, die dadurch entsteht, dass man die i-te Zeile und die j-te Spalte in Astreicht, so ist die Kofaktormatrix cof A definiert als die r × r Matrix mit denEintragen

(cof A)ij = (−1)i+j detA(i, j).

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In der linearen Algebra zeigt man, dass

detA Id = AT cof A = A(cof A)T (5.1)

gilt. Beachte, dass cof A gerade die Ableitung von detA nach den Eintragen vonA ist: Nach (5.1) gilt

detAδij =n∑k=1

aki(cof A)kj (5.2)

fur alle i, j ∈ 1, . . . r. Setzt man i = j = m in (5.2), so ergibt sich

∂ detA

∂alm=

∂alm

n∑k=1

akm(cof A)km = (cof A)lm. (5.3)

Das wesentliche Hilfsresultat ist nun, dass die Kofaktormatrix einer Jakobi-matrix divergenzfrei ist:

Lemma 5.5. Es sei u : U → Rn, U ⊂ Rn offen, glatt. Dann gilt

div(cof Du) = 0,

wobei die Divergenz zeilenweise zu nehmen ist, also

n∑j=1

∂j((cof Du)ij) = 0 fur i = 1, . . . , n.

Beweis. Wendet man (5.2) auf A = Du an und bildet die Divergenz, so ergibtsich ∑

j

∂j (detDuδij) =∑j

∂j

(n∑k=1

∂iuk(cof Du)kj

)

Mit Hilfe von (5.3) folgt daraus∑j,l,m

δij(cof Du)lm∂j∂mul =∑j,k

∂i∂juk(cof Du)kj +∑j,k

∂iuk∂j((cof Du)kj)

Fuhrt man hier auf der linken Seite die Summation uber j aus, so erhalt mangerade die erste Summe auf der rechten Seite. Damit ist∑

j,k

∂iuk∂j((cof Du)kj) = 0,

d.h.

Du div(cof Du)) = 0

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gezeigt. Fur alle x0, fur die Du(x0) nicht singular ist, folgt nun div(cof Du))(x0) =0.

Ist detDu(x0) = 0, so betrachte die Abbildung uε(x) := u(x)+εx. Hinreichendklein gewahlt ist ε > 0 kein Eigenwert von Du(x0), so dass Duε(x0) = Du(x0) +ε Id nicht singular ist. Wie oben gezeigt folgt daher div(cof Duε)(x0)) = 0. ImGrenzwert ε→ 0 ergibt sich daraus div(cof Du)(x0)) = 0.

Ein analoges Resultat gilt fur die Minoren von Jakobimatrizen. Zur Erinne-rung: Ist F eine m×n Matrix, so wird die Determinante einer quadratischen Teil-matrix von F ein Minor von F genannt. Im Folgenden bezeichnen wir fur festesr ≤ minm,n und feste 1 ≤ i1 < i2 < . . . < ir ≤ m, 1 ≤ j1 < j2 < . . . < jr ≤ nmit S(F ) = S i1,...,ir

j1,...,jr

(F ) die r × r Submatrix

S(F ) =

fi1j1 · · · fi1jr...

...firj1 · · · firjr

fur Matrizen F = (fij) ∈ Rm×n sowie mit M(F ) = M i1,...,ir

j1,...,jr

(F ) den r-Minor

M(F ) = detS(F ).

Korollar 5.6. Es seien u : U → Rm, U ⊂ Rn offen, glatt und 1 ≤ i1 < i2 <. . . < ir ≤ m, 1 ≤ j1 < j2 < . . . < jr ≤ n. Dann gilt

r∑t=1

∂jt((cof S i1,...,irj1,...,jr

(Du))isjt) = 0 fur s = 1, . . . , r.

Beweis. Dies folgt indem man Lemma 5.5 lokal auf die Abbildung anwendet, diesich dadurch ergibt dass man

(ui1(x), . . . , uir(x))

als Funktion von (xj1 , . . . , xjr) auffasst, wobei die ubrigen Koordinaten fix sind.

Eine wichtige Konsequenz dieser Beobachtung ist, dass die Minoren von Ja-kobimatrizen schwach stetig sind.

Satz 5.7. Es sei r < p < ∞, r ∈ 1, . . . ,minm,n. Ist (u(k)) eine Folge ausW 1,p(U ;Rm) mit

u(k) u in W 1,p(U ;Rm),

dann gilt fur alle r-Minoren M

M(Du(k)) M(Du) in Lpr (U ;Rm).

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Beweis. Der Beweis erfolgt durch Induktion uber r. Dabei ist der Fall r = 1 klar,da die 1-Minoren einer Matrix gerade deren Eintrage sind.

Betrachte nun den r-Minor M(F ) = M i1,...,irj1,...,jr

(F ). Ist w ∈ C∞(U ;Rm), so gilt

nach (5.1)

M(Dw) =r∑s=1

∂jswit(cof S(Dw))itjs fur t = 1, . . . , r.

Nach Korollar 5.6 istr∑s=1

wit∂js(cof S(Dw))itjs = 0,

so dass M(Dw) als Ableitung geschrieben werden kann:

M(Dw) =r∑s=1

∂js (wit(cof S(Dw))itjs) fur t = 1, . . . , r. (5.4)

Fur ϕ ∈ C∞c (U) ergibt sich daraus∫U

M(Dw)ϕ = −∫U

r∑s=1

wit(cof S(Dw))itjs∂jsϕ fur t = 1, . . . , r. (5.5)

Da die Terme M(Dw) und wit(cof S(Dw))itjs aus r-fachen Produkten von Ein-tragen in w und Dw bestehen, zeigt ein Standard-Approximationsargument (be-nutze die allgemeine Holder-Ungleichung), dass (5.5) fur alle w ∈ W 1,p, p ≥ r,gilt.

Nun konvergiert u(k) u schwach in W 1,p(U ;Rm) und damit wegen p ≥ rauch in W 1,r(U ;Rm). Nach dem Satz von Rellich-Kondrachov konvergiert u(k) →u (stark) in Lq(U) fur 1 ≤ q < r∗ = nr

n−r . Außerdem gilt nach Induktionsannahme

cof S(Du(k)) cof S(Du) in Lpr−1 (U) und damit auch in L

rr−1 (U), da die Eintrage

von cof S(F ) ja gerade (r − 1)-Minoren von F sind. Dann aber konvergiert

u(k)it

(cof S(Du(k)))itjs uit(cof S(Du))itjs

schwach in Lq fur 1 ≤ q < nn−1

fur alle it, js, denn es ist r−1r

+ n−rrn

= n−1n

. Mit

Hilfe von (5.5) fur w = u(k) bzw. w = u folgt nun2

limk

∫U

M(Du(k))ϕ = − limk

∫U

r∑s=1

u(k)it

(cof S(Du(k)))itjs∂jsϕ

= −∫U

r∑s=1

uit(cof S(Du))itjs∂jsϕ =

∫U

M(Du)ϕ.

(5.6)

2Dies zeigt, dass M(Du(k)) gegen M(Du) im “Distributionensinne” konvergiert, sogar wennnur p ≥ r vorausgesetzt ist.

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Da nun Du(k) eine beschrankte Folge in W 1,p ist, ist M(Du(k)) beschrankt inLpr . Ist nun p > r, so ergibt sich aus der Reflexivitat von L

pr , dass jede Teilfolge

von M(Du(k)) eine in Lpr schwach konvergente Teilfolge besitzt. Nach (5.6) muss

dieser Limes M(Du) sein. Dann aber konvergiert die gesamte Folge M(Du(k))gegen M(Du).

Bemerkung. Dieser Satz gilt auch fur p = ∞, wenn man die schwache durchschwach*-Konvergenz ersetzt. Das folgt unmittelbar aus der Version fur p < ∞und der Beobachtung, dass M(Du(k)) in L∞ beschrankt ist, wenn u(k) schwach*-konvergiert in W 1,∞.

Korollar 5.8. Sind u, v ∈ W 1,p(U ;Rm) mit u− v ∈ W 1,p0 (U ;Rm) fur ein p ≥ r,

so gilt ∫U

M(Du) =

∫U

M(Dv)

fur alle r-Minoren M .

Beweis. Nach Approximation von u und u − v durfen wir o.B.d.A. u ∈ C∞(U)und u− v ∈ C∞c (U) annehmen. Wie im Beweis von Satz 5.7 gezeigt gilt

M(Dw) =r∑s=1

∂js (wit(cof S(Dw))itjs) fur t = 1, . . . , r

(s. Gleichung (5.4)) fur glatte Funktionen w. Insbesondere fur w = u und w = vergibt sich damit aus dem Satz von Gauß∫

U

M(Du) =

∫∂U

uit(cof S(Du))itjsνjs

=

∫∂U

vit(cof S(Dv))itjsνjs =

∫U

M(Dv),

wenn ν die außere Normale an ∂U bezeichnet.

Bemerkung. Eine Funktion f : Rm×n → R mit dieser Eigenschaft, dass∫Uf(Du)

nur von den Werten von u auf dem Rand ∂U abhangt, nennt man Null-Lagrange-funktion.

Definition 5.9. (i) Ist F ∈ Rm×n, so bezeichne M(F ) den aus allen Minoren

von F bestehenden Vektor der Dimension d(m,n) =∑minm,n

r=1

(mr

)(nr

).

(ii) Eine Funktion f : Rm×n → R∪∞ heißt polykonvex, wenn es eine konvexe

Funktion g : Rd(m,n) → R ∪ ∞ gibt, so dass

f(F ) = g(M(F )) ∀F ∈ Rm×n

gilt.

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Insbesondere ist jede konvexe Funktion polykonvex. Die Umkehrung davongilt nicht, wenn m,n ≥ 2 ist wie das Beispiel des Minors

F = (fij) 7→ f11f22 − f12f21

zeigt. Diese Funktion ist sogar affin im ersten 2-Minor, aber sicherlich nicht konvexauf f11 = f22 = 0, f12 = f21.Beispiel: Eine Energiedichte W in der Elastizitatstheorie, die zu starke Kompres-sionen energetisch bestraft ist z.B.

W (F ) = |F |2 + ψ(detF ), mit ψ(t) =

1t, t > 0,

∞, t ≤ 0.

Dieses W ist polykonvex.

Wir kommen nun zum wesentlichen Unterhalbstetigkeitsresultat fur Integran-den, die polykonvex in Du sind:

Satz 5.10. Es sei f : U × Rm × Rm×n → R eine glatte, nach unten beschrankteFunktion, so dass fur fast alle x ∈ U und alle y ∈ Rm, z ∈ Rm×n

f(x, y, z) = g(x, y,M(z))

fur eine geeignete (glatte) Funktion g gilt, die konvex in z sei. Dann ist I schwachunterhalbfolgenstetig auf W 1,p(U ;Rm) fur p > n.

Der Beweis verlauft ahnlich wie der Beweis von Lemma 5.2.

Beweis. Es sei (uk) eine Folge mit uk u in W 1,p(U ;Rm). Es ist zu zeigen,dass lim infk→∞ I(uk) ≥ I(u) gilt. Genau wie im Beweis von Lemma 5.2 siehtman, dass wir annehmen durfen, dass lim infk→∞ I(uk) = limk→∞ I(uk) gilt, dassuk → u stark in Lp und fast uberall konvergiert und dass f ≥ 0 ist.

Wir definieren die Mengen Aj und Bj genau wie im Beweis von Lemma 5.2.Aus der Polykonvexitat von f in z erhalten wir fur jedes j:

I(uk) =

∫U

f(x, uk, Duk) dx ≥∫Aj∩Bj

f(x, uk, Duk) dx

=

∫Aj∩Bj

g(x, uk,M(Duk)) dx

≥∫Aj∩Bj

g(x, uk,M(Du))

+DM(z)g(x, uk,M(Du)) · (M(Duk)−M(Du)) dx.

Wie im Beweis von Lemma 5.2 ergibt sich daraus nun

limk→∞

I(uk) ≥∫Aj∩Bj

g(x, u,M(Du)) dx =

∫Aj∩Bj

f(x, u,Du) dx

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und mit monotoner Konvergenz schließlich

limk→∞

I(uk) ≥ limj→∞

∫Aj∩Bj

f(x, u,Du) dx = I(u).

Korollar 5.11. Erfullt f : U×Rm×Rm×n → R zusatzlich zu den Voraussetzungenvon Satz 5.10 die die Wachstumsbedingung

f(x, y, z) ≥ c1|z|p − c2

fur geeignete Konstanten c1 > 0, c2 ∈ R, p > n, so existiert ein u ∈ A mit

I(u) = infv∈A

I(v).

Beweis. Das folgt mit der direkten Methode aus Lemma 5.1 und Satz 5.10.

Als Anwendung der Tatsache, dass Determinanten Null-Lagrangefunktionensind (vgl. Korollar 5.8), geben wir hier einen Beweis des Brouwerschen Fixpunkt-satzes.

Satz 5.12 (Brouwerscher Fixpunktsatz). Jede stetige Abbildung der abgeschlos-senen Einheitskugel B1(0) in sich hat einen Fixpunkt.

Der Beweis ergibt sich leicht aus dem folgenden Lemma.

Lemma 5.13. Es gibt keine stetige Abbildung w : B1(0)→ ∂B1(0) mit w(x) = xfur alle x ∈ ∂B1(0).

Beweis von Satz 5.12. Es sei u : B1(0)→ B1(0) eine stetige Funktion ohne Fix-punkt. Fur x ∈ B1(0) definiere w(x) als den Schnittpunkt des Strahles, der vonu(x) ausgeht und durch den Punkt x fuhrt, mit ∂B1(0). Dies definiert eine stetigeAbbildung w : B1(0)→ ∂B1(0) mit w(x) = x fur alle x ∈ ∂B1(0) im Widerspruchzu Lemma 5.13.

Beweis von Lemma 5.13. Wir fuhren die Annahme, es gabe ein solches w zumWiderspruch.

Sei zunachst w als glatt angenommen. Ist v die identische Abbildung v(x) = x,so folgt aus Korollar 5.8∫

B1(0)

detDw =

∫B1(0)

detDv = |B1(0)| 6= 0, (5.7)

denn es gilt w = v auf ∂B1(0). Andererseits ist |w|2 ≡ 1, so dass ∂iw · w = 0 furalle i gilt und damit (Dw)Tw = 0. Wegen w 6= 0 ist Null also ein Eigenwert vonDw und somit detDw ≡ 0 auf B1(0), im Widerspruch zu (5.7).

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Ist nun w nur als stetig vorausgesetzt, so setzen wir w gemaß w(x) = x aufRn \ B1(0) fort. Ist ηε der skalierte Standard-Glattungskern, so ist w := ηε ∗ wglatt und 6= 0 fur ε hinreichend klein. (Beachte uε → u gleichmaßig fur ε→ 0.)

Fur ε < 1 gilt auf ∂B2(0) außerdem

w(x) =

∫ηε(y)(x− y) dy = x−

∫y ηε(y) dy = x,

da ηε symmetrisch ist. Damit erfullt nun die Abbildung

˜w : B1(0)→ B1(0), ˜w(x) :=w(2x)

|w(2x)|,

erstens ˜w ∈ C∞(B1(0)), zweitens ˜w(B1(0)) = ∂B1(0) und drittens ˜w(x) = x furx ∈ ∂B1(0) im Widerspruch zum schon behandelten Fall.

5.3 Quasikonvexitat

Obgleich polykonvexe Integranden viele interessante Beispiele von Funktionalenliefern, ist es aus theoretischen Grunden sehr nutzlich einen weiteren, allgemei-neren Konvexitatsbegriff fur Funktionen, die auf Matrizen definiert sind, zu un-tersuchen: Die Quasikonvexitat. Wir lassen uns dabei von der Frage leiten, furwelche Funktionen f das Integralfunktional

I(u) =

∫U

f(Du)

unterhalbfolgenstetig auf W 1,p(U ;Rm) ist. Der Einfachheit halber betrachten wirin diesem Abschnitt nur solche Integranden f , die nicht explizit von x oder uabhangen.

Definition 5.14. Eine Funktion f : Rm×n → R heißt quasikonvex, wenn fur einebeschrankte offene Menge U ⊂ Rn mit |∂U | = 0 gilt

−∫U

f(F +Dϕ(x)) dx ≥ f(F ) ∀ϕ ∈ W 1,∞0 (U ;Rm).

Bemerkung. 1. Wir betrachten hier nur R-wertige Funktionen. Will manauch +∞ als Wert von f zulassen, so muss man im Folgenden ein paarzusatzliche technische Details beachten.

2. Im R-wertigen Fall kann man sogar auf die Voraussetzung |∂U | = 0 ver-zichten. (Ubung.)

3. Gilt die definierende Ungleichung fur eine beschrankte offene Menge U mit|∂U | = 0, so gilt sie automatisch fur alle solchen Teilmengen von Rn. Diesergibt sich direkt aus dem folgenden Lemma.

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Im Hinblick auf spatere Anwendungen beweisen wir die Unabhangigkeit vonU in einer etwas allgemeineren Fassung.

Lemma 5.15. Fur f ∈ L1loc(Rm×n) und U ⊂ Rn offen und beschrankt mit |∂U | =

0 setze

Qf(F,U) := infϕ∈W 1,∞(U ;Rm)

−∫U

f(F +Dϕ).

Dann ist Qf(F,U) unabhangig von U .

Beachte, dass Qf(·, U) = f ist, wenn f quasikonvex ist.

Beweis. Es seien U, V ⊂ Rn offen und beschrankt mit |∂U | = |∂V | = 0. Nachdem Uberdeckungssatz von Vitali3 gibt es eine hochstens abzahlbare Familie vonpaarweise disjunkten Mengen ajV + bj ⊂ U , aj > 0 und bj ∈ Rn, so dass∣∣∣∣∣U \⋃

j

(ajV + bj)

∣∣∣∣∣ = 0

ist.Ist nun ϕ ∈ W 1,∞

0 (V ;Rm), so definiert

ψ(x) :=

ajϕ

(x−bjaj

)fur x ∈ ajV + bj,

0 fur x /∈⋃j ajV + bj

ein Element vonW 1,∞0 (U ;Rm). Da |∂V | = 0 vorausgesetzt ist, konnen wir abschatzen

|U |Qf(F,U) ≤∫U

f(F +Dψ) =∑j

∫ajV+bj

f

(F +Dϕ

(x− bjaj

))=∑j

∫ajV+bj

f

(F +Dϕ

(x− bjaj

))=∑j

anj

∫V

f (F +Dϕ (x)) = |U |−∫V

f (F +Dϕ (x)) .

Dies zeigt Qf(F,U) ≤ Qf(F, V ); die Umkehrung ergibt sich analog.

Wir benotigen noch einen weiteren Konvexitatsbegriff:

3Der Uberdeckungssatz von Vitali: Es sei U ⊂ Rn beschrankt und offen sowie C eine Familievon abgeschlossenen Teilmengen von U . Es gebe 1. eine Konstante M > 1, so dass zu jedemC ∈ C ein x ∈ U und ein r > 0 existiert mit Br(x) ⊂ C ⊂ BMr(x). 2. sei fur fast alle x ∈ UinfdiamC : C ∈ C mit x ∈ C = 0. Dann gibt es eine hochstens abzahlbare Familie (Cj) von

paarweise disjunkten Mengen aus C mit∣∣∣U \⋃j Cj

∣∣∣ = 0.

Diese Version des Vitalischen Uberdeckungssatzes findet man z.B. in [BD]. In unserer Situa-tion ist dieser Satz fur C = aV + b : a > 0, b ∈ Rn, aV + b ⊂ U zu verwenden.

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Definition 5.16. Eine Funktion f : Rm×n → R heißt Rang-1-konvex, wenn fentlang jeder ‘Rang-1-Geraden’ konvex ist, d.h. wenn die Abbildung

R 3 t 7→ f(tA+ (1− t)B)

konvex ist, wann immer Rang(A−B) = 1 ist.

Der folgende Satz klart die Zusammenhange der verschiedenen Konvexitats-begriffe.

Satz 5.17. Es sei f : Rm×n → R eine Abbildung. Dann gilt

f konvex =⇒ f polykonvex =⇒ f quasikonvex =⇒ f Rang-1-konvex.

Bemerkung. 1. Da eine Rang-1-konvexe Funktion insbesondere separat kon-vex ist, d.h. konvex in jedem Eintrag, wenn die ubrigen Argumente festge-halten sind, ist f in jedem Falle stetig. (Ubung: Uberlegen Sie sich, dassseparat konvexe Funktionen lokal Lipschitz-stetig sind!)

2. Ist m = 1 oder n = 1, so fallen all diese Konvexitatsbegriffe zusammen.(Klar, dass in diesem Fall f konvex ist genau dann, wenn f Rang-1-konvexist.) Im Allgemeinen sind die Umkehrungen in Satz 5.17 jedoch falsch; dazuspater mehr.

Beweis. Dass Konvexitat Polykonvexitat impliziert, haben wir bereits im vorigenAbschnitt bemerkt.

Sei nun f als polykonvex vorausgesetzt, so dass es eine konvexe Funktiong : Rd(m,n) → R gibt mit f(F ) = g(M(F )) fur alle F ∈ Rm×n. Mit Hilfe derJensenschen Ungleichung4 ergibt sich fur F ∈ Rm×n, ϕ ∈ W 1,∞

0 (U ;Rm), U ⊂ Rn

offen,

−∫U

f(F +Dϕ) = −∫U

g(M(F +Dϕ))

≥ g

(−∫U

M(F +Dϕ)

)= g(M(F )) = f(F ),

wobei wir im vorletzten Schritt Korollar 5.8 ausgenutzt haben.

4Die Jensensche Ungleichung: Es sei ϕ : U → Rd eine integrierbare Abbildung, U ⊂ Rn, undg : V → R, V ⊂ Rd offen, eine konvexe Funktion mit ϕ(U) ⊂ V , so dass auch g ϕ integrierbarsei. Dann gilt

−∫U

g(ϕ(x)) dx ≥ g(−∫U

ϕ(x) dx

).

Beweis: Schreibe g = supi∈I gi als Supremum uber affine Funktionen gi. Dann ist −∫g ϕ ≥

−∫gi ϕ = gi(−

∫ϕ) fur alle i. Nun bilde das Supremum uber i ∈ I.

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Um die letzte Implikation zu zeigen, mussen wir begrunden, dass fur A,B, F ∈Rm×n mit Rang(A−B) = 1 und F = λA+ (1− λ)B, λ ∈ (0, 1), die Ungleichung

f(F ) ≤ λf(A) + (1− λ)f(B)

erfullt ist, wenn f quasikonvex ist. Da Rang(A − B) = 1 ist, gibt es Vektorena ∈ Rm, e ∈ Rn mit |e| = 1, so dass5 A−B = a⊗ e und damit

A = F + (1− λ)a⊗ e und B = F − λa⊗ e

gilt. Nach einer Drehung des Koordinatensystem konnen wir o.B.d.A. annehmen,dass e = e1 ist.

Es sei z ∈ W 1,∞(R;R) die 1-periodische Sagezahnfunktion mit

z(0) = 0, z′(t) =

1− λ fur t ∈ (0, λ),

−λ fur t ∈ (λ, 1).

Auf dem Quader Q = (0, 1)n betrachten wir die Funktionen

uk(x) = Fx+ az(kx1)

k, vk(x) = Fx+ amin

z(kx1)

k, dist(x, ∂Q)

.

Dann liegt die Funktion x 7→ vk(x)− Fx in W 1,∞0 , so dass

f(F ) ≤ −∫Q

f(Dvk) ∀ k

gilt. Nun ist aber vk = uk bis auf eine im Limes k → ∞ verschwindende Rand-schicht, auf der Dvk neben A und B auch den Wert F annimmt. (Uberlegen Siesich das!). Daher ist

limk−∫Q

f(Dvk) = limk−∫Q

f(Duk) = λf(A) + (1− λ)f(B).

Um die letzte Gleichung einzusehen, beachte, dass (fur jedes k) Duk = A aufeiner Menge vom Maße λ und Duk = B auf einer Menge vom Maße 1−λ ist.

Bemerkung. Die Umkehrungen der ersten beiden Implikationen in Satz 5.17sind falsch wann immerm,n ≥ 2 ist. Die Umkehrung der dritten ist falsch furm ≥3, n ≥ 2 (s. Kapitel B im Anhang). Die Frage, ob moglicherweise Quaiskonvexitataus Rang-1-Konvexitat folgt fur m = 2, n ≥ 2 ist offen. Das folgende Beispielvon Alibert, Dacorogna und Marcellini zeigt, dass man selbst explizit gegenenenFunktionen nicht so einfach ansehen kann, ob sie quasikonvex sind.

5Fur a ∈ Rm, b ∈ Rn bezeichnet a⊗ b die m× n Matrix abT = (aibj)ij .

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Beispiel: Es sei m = n = 2,

f(F ) = |F |4 − γ|F |2 detF.

Dann gibt es ein ε > 0, so dass gilt

f konvex ⇐⇒ |γ| ≤ 4

3

√2,

f polykonvex ⇐⇒ |γ| ≤ 2,

f quasikonvex ⇐⇒ |γ| ≤ 2 + ε,

f Rang-1-konvex ⇐⇒ |γ| ≤ 4√3.

Es ist offen, ob ε = 4√3− 2 ist. (Mehr dazu findet man etwa [Dac].)

Der wesentliche Zusammenhang zwischen der Unterhalbstetigkeit des Funk-tionals I(u) =

∫f(Du) und der Quasikonvexitat von f ist Inhalt des folgenden

Satzes.

Satz 5.18. Es sei f : Rm×n → R stetig.

(i) I ist schwach*-unterhalbfolgenstetig (s*uhfs) auf W 1,∞(U ;Rm) genau dann,wenn f quasikonvex ist.

(ii) Gilt im Falle p ∈ (1,∞) zudem

0 ≤ f(F ) ≤ C(1 + |F |p) ∀F ∈ Rm×n,

so ist I schwach-unterhalbfolgenstetig (suhfs) auf W 1,p(U ;Rm) genau dann,wenn f quasikonvex ist.

Wir werden hier nur (i) beweisen.

Beweis. Sei Q = (0, 1)n und ϕ ∈ W 1,∞0 (Q;Rm). Setze ϕ periodisch zu einer auf

ganz Rn definierten Funktion fort und definiere uk ∈ W 1,∞(U ;Rm) durch

uk(x) := Fx+1

kϕ(kx).

Es ist nicht schwer zu sehen, dass dann uk∗ u in W 1,∞(U ;Rm) fur u(x) = Fx

gilt und ∫U

f(Duk)→ |U |∫Q

f(F +Dϕ)

konvergiert. (Ubung.) Ist nun I unterhalbstetig, so folgt

f(F ) =1

|U |I(u) ≤ lim inf

k→∞

1

|U |I(uk) = lim inf

k→∞

1

|U |

∫U

f(Duk) ≤∫Q

f(F +Dϕ).

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Dies zeigt aber, dass f quasikonvex ist.Sei nun umgekehrt f als quasikonvex vorausgesetzt und uk

∗ u inW 1,∞(U ;Rm).

1. Fall: u(x) = Fx + c ist affin. Wahle U ′ ⊂⊂ U und eine Abschneidefunktionθ ∈ C∞c (U) mit θ ≡ 1 auf U ′ und setze

vk = u+ θ(uk − u).

Da uk gleichmaßig gegen u konvergiert, gibt es eine von U ′ unabhangige KonstanteC > 0, so dass neben |Duk| ≤ C auch

|Dvk| ≤ |Du|+ |Dθ| · |uk − u|+ |θ| · |Duk −Du| ≤ C

ist fur hinreichend große k ≥ k0, wobei k0 von U ′ abhangt. Da f stetig ist, ergibtsich nun mit M = sup|f(F )| : |F | ≤ 2C

lim infk→∞

I(uk) ≥ lim infk→∞

(∫U

f(Dvk) +

∫U\U ′

f(Duk)− f(Dvk)

)≥ |U |f(F )− 2M |U \ U ′|,

wobei wir vk − u ∈ W 1,∞0 (U ;Rm) und die Quasikonvexitat von f ausgenutzt

haben. Da U ′ ⊂⊂ U beliebig war, folgt daraus nun die Behauptung.

2. Fall: u ist stuckweise affin. lim inf I(uk) ≥ I(u) folgt hier unmittelbar aus Fall1 angewandt auf die Mengen, auf denen u affin ist.

3. Fall: u ist eine allgemeine W 1,∞-Funktion. Es sei U ′′ ⊂⊂ U ′ ⊂⊂ U . Indemwir u zunachst durch Faltung mit Glattungkernen durch eine glatte Funktion vapproximieren, dann fur eine Abschneidefunktion θ ∈ C∞c (U ′) mit θ ≡ 1 auf U ′′

die Funktionθv + (1− θ)u

konstruieren und diese schließlich auf U ′′ mit Hilfe einer feinen Triangulisierungdurch ihre stuckweise affine Interpolation ersetzen, erhalten wir eine Folge vj vonApproximationen an u, so dass 1. vj stuckweise affin in U ′′ ist, 2. vj ≡ u aufU \ U ′ und 3. Dvj → Du konvergiert mit j →∞ stark in Lp fur alle p <∞ undschwach* in L∞.

Setzeuj,k := uk + vj − u.

Dann ist |Duj,k| ≤ C und uj,k∗ vj in W 1,∞ mit k →∞. Es folgt

limj→∞

lim infk→∞

∫U ′′f(Duj,k) ≥ lim

j→∞

∫U ′′f(Dvj) (nach Fall 2)

=

∫U ′′f(Du) (majorisierte Konvergenz)

≥∫U

f(Du)− C|U \ U ′′|.

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(Beachte, dass o.B.d.A. Dvj → Du fast uberall.) Da außerdem (majorisierteKonvergenz)

limj→∞

supk

∫U

|f(Duj,k)− f(Duk)| ≤ limj→∞

supk

∫U

ω(|Duj,k −Duk|)

= limj→∞

∫U

ω(|Dvj −Du|) = 0

gilt, wenn ω den Stetigkeitsmodul von f bezeichnet, folgt nun

lim infk→∞

∫U

f(Duk) ≥ limj→∞

lim infk→∞

∫U ′′f(Duj,k)− C|U \ U ′′|

≥∫U

f(Du)− 2C|U \ U ′′|.

Da U ′′ ⊂⊂ U beliebig war, ergibt sich daraus die Behauptung.

Korollar 5.19. Sei p ∈ (1,∞), g ∈ W 1,p(U), U ⊂ Rn offen und beschrankt.f : Rm×n → R sei quasikonvex und erfulle die Wachstumsbedingung

c1|F |p − c2 ≤ f(F ) ≤ c2 + c2|F |p ∀F ∈ Rm×n

fur geeignete Konstanten c1, c2 > 0. Dann nimmt I auf Ag = v ∈ W 1,p(U ;Rm) :u− g ∈ W 1,p

0 (U ;Rm) sein Minimum an.

Beweis. Das folgt mit der direkten Methode aus Lemma 5.1 und Satz 5.18, wennman o.B.d.A. f ≥ 0 annimmt.

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Kapitel 6

Relaxation

Eine wesentliche Voraussetzung, um mit Hilfe der direkten Methode Minimierereines Funktionals I zu finden, ist – wie wir gesehen haben – die Unterhalbstetig-keit von I. Nun gibt es jedoch eine ganze Reihe physikalisch motivierter Funk-tionale, die diese Eigenschaft nicht besitzen und tatsachlich gar keine Minimiererbesitzen. Eine Moglichkeit, diesen Missstand zu beheben, besteht darin, das ur-sprungliche Funktional I durch ein ‘relaxiertes’ Funktional Irel zu ersetzen, dasunterhalbstetig ist und I moglichst gut approximiert. Irel besitzt dann Minimie-rer und es stellt sich die Frage, inwiefern diese Minimierer Aussagen uber dasursprungliche (nicht losbare) Minimierungsproblem fur I zulassen. Wir werdendieser Frage im Abschnitt 6.1 fur Integralfunktionale nachgehen. Abstrakt lasstsich Irel als ‘unterhalbstetige Einhullende’ von I definieren. (Mehr dazu in denHausaufgaben.) Eine andere Moglichkeit, die Existenz von Losungen des Minimie-rungsproblems fur I wiederherzustellen besteht darin, das Konzept einer Losungzu verallgmeinern und I nicht nur auf Funktionen, sondern gewissen ‘parametri-sierten Maßen’ zu definieren. Diesem Ansatz, der zur Definition der Young-Maßefuhrt, gehen wir im Abschnitt 6.2 nach.

6.1 Relaxation von Integralfunktionalen

Wir untersuchen nun Integralfunktionale, deren Integranden nicht einmal quasi-konvex sind. Im Allgemeinen nehmen diese Funktionale ihr Minimum nicht an.Obgleich das auf den ersten Blick pathologisch erscheint, werden wir sehen, dassgerade die Nicht-Existenz von Minimierern ein Indikator fur interessante physi-kalische Phanomene wie etwa die Ausbildung von Mikrostrukturen in Materialiendarstellen kann.

Beispiel: Betrachte das eindimensionale Variationsproblem

Minimiere I(w) =

∫ 1

0

f(w(x)) dx unter der Nebenbedingung

∫ 1

0

w(x) dx = α.

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Ist f ≥ 0 eine Funktion mit mehr als einem Minimierer, etwa f(z1) = f(z2) = 0,so kann ein solches Funktional als Modell fur ein physikalisches System dienen,dass sich bevorzugt (also mit geringer Energie) in den ‘Phasen’ w = z1 oder

w = z2 aufhalt, wobei der Mittelwert∫ 1

0w = α festgelegt ist, so dass sich das

System i.A. nicht ausschließlich in ‘Phase z1’ bzw. ‘Phase z2’ aufhalten kann.Mit Hilfe der Jensenschen Ungleichung sieht man, dass∫

f(w) ≥∫f ∗∗(w) ≥ f ∗∗

(∫w

)= f ∗∗(α)

nach unten abgeschatzt werden kann, wobei f ∗∗ die konvexe Einhullende von fbezeichne. Diese Abschatzung ist in der Tat scharf, denn zu ε > 0 kann manw1, w2 ∈ R und λ ∈ [0, 1] wahlen mit

α = λw1 + (1− λ)w2, f ∗∗(α) ≥ λf(w1) + (1− λ)f(w2)− ε,

so dass fur

w(x) =

w1, x ∈ (0, λ),

w2, x ∈ (λ, 1),

gilt ∫f(w) = λf(w1) + (1− λ)f(w2) ≤ f ∗∗(α) + ε.

Ist man also nur am Minimalwert des Problems interessiert, so kann man dasFunktional I(w) =

∫f(w) durch das analytisch gutartigere ‘relaxierte’ Funktio-

nal Irel(w) :=∫f ∗∗(w) ersetzen.

Fur w = y′ beschreibt dieses Funktional nichts anderes als das uns gut be-kannte Seglerproblem. Es lasst sich auch als ein elastisches EnergiefunktionalI(y) =

∫ 1

0f(y′) fur einen (eindimensionalen) elastischen Stab interpretieren. ‘Be-

vorzugte Phasen’ von f sind dann Deformationen minimaler Energie. Beachtedass hier die Nebenbedingung

∫y′ = α gerade die Randbedingung y(1)−y(0) = α

ist. Es wird also die Frage untersucht, welche Energie notig ist, um den Stab aus-einanderzuziehen bzw. zusammenzudrucken.

Ziel dieses Abschnitts ist es, die in diesem Beispiel beschriebene Vorgehens-weise auf vektorwertige Probleme zu verallgemeinern.

Definition 6.1. Zu f : Rm×n → R definieren wir die quasikonvexe Einhullende

fqk : Rm×n → [−∞,∞) als die großte quasikonvexe Funktion, die kleiner odergleich f ist.

Es ist leicht zu sehen, dass das Supremum quasikonvexer Funktionen wiederquasikonvex ist, so dass fqk wohldefiniert ist und

fqk = supg ≤ f : g ist quasikonvex

gilt. Beachte, dass fqk R-wertig oder identisch −∞ ist.

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Satz 6.2. Ist f ∈ L1loc(Rm×n), so gilt fur jede beschrankte offene Menge U ⊂ Rn

mit |∂U | = 0

fqk(F ) = infϕ∈W 1,∞

0 (U ;Rm)−∫U

f(F +Dϕ).

Beweis. Mit der Notation aus Lemma 5.15 ist fqk = Qf(·, U) zu zeigen, wobeiwir nach Lemma 5.15 schon wissen, dass Qf(·, U) nicht von U abhangt. Nun isteinerseits

Qf(·, U) ≥ Qfqk(·, U) = fqk.

Um andererseits Qf(·, U) ≤ fqk nachzuweisen, genugt es wegen Qf(·, U) ≤ f zuzeigen, dass Qf(·, U) quasikonvex ist.

Dazu durfen wir o.B.d.A. Qf(·, U) > −∞ annehmen, denn gibt es ein G ∈Rm×n mit Qf(G,U) = −∞, dann ist Qf(·, U) ≡ −∞: Zu F ∈ Rm×n wahleψ ∈ W 1,∞

0 (U,Rm) mit F +Dψ ≡ G auf einer Teilmenge U ′ ⊂⊂ U . Dann aber ist|U |Qf(F,U) ≤

∫U\U ′ f(F +Dψ) + infϕ∈W 1,∞

0 (U ;Rm)

∫U ′f(G+Dϕ) = −∞.

Sei nun ψ ∈ W 1,∞0 stuckweise affin: Es gebe endlich viele paarweise disjunkte

offene Mengen Ui, auf denen ψ affin sei, mit∣∣∣∣∣U \⋃i

Ui

∣∣∣∣∣ = 0.

Zu ε > 0 wahle ϕi ∈ W 1,∞0 (Ui;Rm), so dass

Qf(F +Dψ,Ui) ≥ −∫Ui

f(F +Dψ +Dϕi)− ε.

Fur ϕ := ψ+∑

i ϕi ∈ W1,∞0 (U,Rm), wobei die ϕ durch Null auf ganz U fortgesetzt

wurden, ist∫U

Qf(F +Dψ,U) =∑i

|Ui|Qf(F +Dψ,Ui)

≥∫U

f(F +Dϕ)− ε|U | ≥ (Qf(F,U)− ε) |U |.

Da ε beliebig war, ergibt sich

−∫U

Qf(F +Dψ,U) ≥ Qf(F,U). (6.1)

Da diese Ungleichung nur fur alle stuckweise affinen ψ gezeigt ist, konnen wirnoch nicht unmittelbar folgern, dass Qf(·, U) quasikonvex ist. Eine Inspektiondes Beweises von Satz 5.17 (insbesondere der Implikation ‘quasikonvex =⇒Rang-1-konvex’) zeigt jedoch, dass die Gultigkeit von (6.1) fur alle stuckweiseaffinen ψ schon ausreicht, um zu schließen, dass Qf(·, U) Rang-1-konvex ist.

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Damit aber ist Qf(·, U) separat konvex und insbesondere stetig. Nun erhaltman, dass (6.1) tatsachlich fur alle ψ ∈ W 1,∞

0 (U ;Rm) gilt durch ein Standard-Approximationsargument.

Wir konnen nun das Hauptergebnis dieses Paragraphen uber die Relaxierungvon Integralfunktionalen I(u) =

∫Uf(Du(x)) dx formulieren.

Satz 6.3. Es seien U ⊂ Rn offen und beschrankt mit C1-Rand und 1 < p <∞.f erfulle eine p-Wachstumsbedingung der Form

c1|F | − c2 ≤ f(F ) ≤ c2(1 + |F |p).

Dann gilt fur das relaxierte Funktional Irel(u) :=∫Ufqk(Du(x)) dx:

infAgI = min

AgIrel.

Des Weiteren ist u ein Minimierer von Irel genau dann, wenn u (W 1,p-schwacher)Haufungspunkt einer minimierenden Folge fur I ist.

Dreh- und Angelpunkt zum Beweis dieses Satzes ist das folgende Lemma, dasin Verbindung mit Satz 5.18 zeigt, dass Irel die (W 1,p-schwach-) unterhalbstetigeEinhullende von I ist.

Lemma 6.4. Unter den Voraussetzungen von Satz 6.3 gilt: Ist u ∈ W 1,p, so gibtes eine Folge (uk) mit uk − u ∈ W 1,p

0 und

uk u in W 1,p sowie I(uk)→ Irel(u).

Beweis. Wahle U ′′j ⊂⊂ U ′j ⊂⊂ U mit |U \ U ′′j | → 0 fur j → ∞. Ahnlich wie imBeweis von Satz 5.18 konstruieren wir vj, so dass vj stuckweise affin auf U ′′j undgleich u auf U \ U ′j ist. Wir durfen zudem annehmen, dass Dvj → Du in Lp(U)konvergiert.

Es seien Uj,i ⊂ U ′′j disjunkte offene Mengen mit |U ′′j \⋃i Uj,i| = 0, auf denen

vj affin ist. Wahle εj → 0, ϕj,i ∈ W 1,∞0 (Ui) (durch 0 auf U fortgesetzt), so dass

auf Uj,i gilt

fqk(Dvj) ≥ −∫Uj,i

f(Dvj +Dϕj,i)− εj

(vgl. Satz 6.2). Dann ist ϕj :=∑

i ϕj,i ∈ W1,∞0 (U) und∫

U ′′j

fqk(Dvj) =∑i

|Uj,i|−∫Uj,i

fqk(Dvj) ≥∫U ′′j

f(Dvj +Dϕj)− εj|U |. (6.2)

Setze nun uj := vj + ϕj. Offensichtlich ist uj − u ∈ W 1,p0 . Des Weiteren ist

wegen Dvj → Du in Lp

limj→∞

∫U ′′j

fqk(Dvj) = limj→∞

∫U

fqk(Dvj) =

∫U

fqk(Du) = Irel(u). (6.3)

100

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Wegen (6.2) und da ϕj auf U \ U ′′j verschwindet, folgt nun aus der Wachstums-bedingung an f , dass

c1‖Duj‖pLp(U) − c2|U | ≤ I(uj) =

∫U ′′j

f(Duj) +

∫U\U ′′j

f(Dvj) ≤ C

ist. Mit Hilfe der Poincare-Ungleichung ergibt sich, dass dann auch ‖uj‖Lp(U) ≤‖u‖Lp(U)+‖uj−u‖Lp(U) ≤ ‖u‖Lp(U)+C‖Duj−Du‖Lp(U) ≤ ‖u‖Lp(U)+‖Du‖Lp(U)+C‖Duj‖Lp(U) unabhangig von j beschrankt ist. Nach Ubergang zu einer Teilfolgefolgt daher uj w fur ein w ∈ W 1,p. Nun gilt nach (6.2) und (6.3)

lim supj→∞

I(uj) = lim supj→∞

∫U ′′j

f(Duj) +

∫U\U ′′j

f(Dvj) ≤ Irel(u).

Andererseits ist nach Satz 5.18 auch

lim infj→∞

I(uj) ≥ lim infj→∞

Irel(uj) ≥ Irel(w).

Es bleibt also nur noch u = w zu zeigen.Dazu genugt es, limj

∫χDuj = limj

∫χDvj fur χ in einer dichten Teilmen-

ge von Lp′, 1p

+ 1p′

= 1, nachzuweisen. Indem wir die Mengen Uj,i gegebenen-falls in mehrere Mengen zerteilen, durfen wir o.B.d.A. annehmen, dass jedes Uj,ihochstens einen Durchmesser vom Betrag 1

jhat und dass (Uj+1,i)i eine Verfeine-

rung von (Uj,i)i ist fur alle j. Eine geeignete dichte Teilmenge von Lp ist dann z.B.durch die Menge derjenigen Funktionen χ gegeben, fur die ein j = j(χ) existiert,so dass χ konstant auf den Uj,i ist. Fur ein solches χ ist namlich∫

χDuj =

∫χDvj +

∑i

∫Uj,i

χDϕj,i =

∫χDvj ∀ j ≥ j(χ).

Beweis von Satz 6.3. Offensichtlich ist infAg I ≥ infAg Irel und nach Lemma 6.4

auch umgekehrt infAg I ≤ infAg Irel. Nach Korollar 5.19 ist außerdem infAg I

rel =minAg I

rel, so dass infAg I = minAg Irel gezeigt ist.

Ist nun u Haufungspunkt einer I-minimierenden Folge (uk), so gilt nach Satz5.18

Irel(u) ≤ lim infk→∞

Irel(uk) ≤ lim infk→∞

I(uk) = infAgI = min

AgIrel.

Ist umgekehrt u als Minimierer von Irel vorausgesetzt, so konnen wir nach Lemma6.4 eine Folge (uk) ⊂ Ag wahlen, so dass

uk u in W 1,p sowie I(uk)→ Irel(u) = minAg

Irel = infAgI

gilt, so dass u Haufungspunkt der I-minimierenden Folge (uk) ist.

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Bemerkung. 1. Man nenn Irel die Relaxierung von I. Analoge Ergebnissegelten auch fur Funktionale der Form

I(u) =

∫U

f(x, u(x), Du(x)) dx.

Hier wird das relaxierte Funktional durch

Irel(u) =

∫U

fqk(x, u(x), Du(x)) dx

definiert, wobei fqk als die Quasikonvexifizierung der Funktion F 7→ f(x, u, F )fur feste x ∈ U und u ∈ Rm definiert wird.

2. Der wichtige Punkt ist, dass Irel – im Gegensatz zu I – sein Minimum immerannimmt. Minimierern von Irel entsprechen schwache Haufungspunkte vonI-minimierenden Folgen. In diesen Folgen stecken jedoch unter Umstandenwesentliche Informationen uber das zugrunde liegende physikalische Pro-blem, die durch den Ubergang zu Irel verlorengehen, s. das folgende Bei-spiel.

Beispiel: Betrachte das Funktional

I(u) =

∫ 1

0

((u′)2 − 1)2 + u2

aufW 1,40 , das das zweite Seglerproblem (Segeln gegen den Wind mit der Stromung)

beschreibt, vgl. Besipiel 6 von Seite 11. Das relaxierte Funktional ist gegebendurch

Irel =

∫ 1

0

f ∗∗(u′) + u2,

wobei f ∗∗ die Konvexifizierung von f(v) = (v2 − 1)2 ist, also

f ∗∗(v) =

(v2 − 1)2 fur |v| ≥ 1,

0 fur |v| ≤ 1.

Nun ist u ≡ 0 ein Minimierer von Irel mit Irel(u) = 0, das Minimum von Iwird jedoch nicht angenommen. (I(u) = 0 =⇒

∫u2 = 0 =⇒ u ≡ 0 =⇒∫

((u′)2 − 1)2 = 1 > 0.)Physikalisch von Interesse sind nun solche u mit moglichst geringem I(u), also

gerade die minimierenden Folgen. Ein Beispiel einer minimierenden Folge ist

uk(x) =φ(kx)

kmit φ(x) =

1

2−∣∣∣∣x− bxc − 1

2

∣∣∣∣ .Die Wahl einer minimierenden Folge ist jedoch nicht eindeutig. Trotzdem aberkann man hoffen, universelle Eigenschaften dieser Folgen zu identifizieren. In un-serem Beispiel etwa gilt fur jede minimierende Folge uk → 0 in L2. Daruberhinauswurden wir erwarten, dass

102

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• u′k ≈ ±1 sein muss,

• der Wechsel zwischen u′k ≈ −1 und u′k ≈ +1 mit großerem k immer schnellerwird und

• im Mittel genauso oft u′k ≈ −1 wie u′k ≈ +1 gilt.

Wie man diese Aussagen prazise fassen kann, darauf werden wir im nachstenAbschnitt eingehen.

6.2 Young-Maße

Bei Young-Maßen handelt es sich eigentlich um eine Familie von Maßen ν =(νx)x∈Ω, Ω ⊂ Rn eine messbare Menge. Ist wk : Ω → Rd eine Folge messbarerFunktionen, so erzeugt (wk) das Young-Maß ν = (νx), wobei jedes νx ein (Sub-)Wahrscheinlichkeitsmaß auf Rd ist, wenn fur alle x0 ∈ Ω gilt:

νx0(dy) ist ‘die Wahrscheinlichkeit fur wk(x) ∈ dy im Limes k → ∞fur x nahe x0’.

Young-Maße liefern also eine Werte-Satistik von wk(x) fur spate Folgenglieder.Wir werden dies im Folgenden prazisieren. Mit dieser Interpretation lassen sichdie Vermutungen uber das universelle Verhalten von u′k aus dem letzten Beispieldes vorigen Abschnitts umformulieren zu der Aussage:

Fur große k ist u′k(x) mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe ±1. Dabeisollte u′k ≈ −1 genauso wahrscheinlich wie u′k ≈ +1 sein und zwarunabhangig vom betrachteten Punkt x.

Zur Konstruktion von Young-Maßen benotigen wir einige technische Vorbe-reitungen. Es sei

C0(Rd) := f ∈ C(Rd) : lim|x|→∞

f(x) = 0 = Cc(Rd)

der – mit der sup-Norm versehene – Raum der im Unendlichen verschwindendenstetigen Funktionen. (Allgemeiner definiert man C0(U) auch fur Teilmengen Uvon Rd als den Abschluss der stetigen Funktionen mit kompaktem Trager in Ubezuglich der sup-Norm.) Wir bezeichnen den Raum der signierten Borelmaßeendlicher Masse auf Rd mit M(Rd). Nach dem Rieszschen Darstellungssatz istM(Rd) isometrisch isomorph zum Dualraum von C0(Rd), wobei ein Maß µ gemaß

C0(Rd) 3 f 7→ 〈µ, f〉 :=

∫Rdf(x)µ(dx)

als Funktional auf C0(Rd) wirkt.

103

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Ist Ω ⊂ Rn messbar, so lassen sich mit Hilfe des sogenannten Bochner-Integrals auch Lp-Raume Banachraumwertiger Funktionen definieren. Da C0(Rd)separabel ist, lasst sich zeigen, dass der Raum L1(Ω;C0(Rd)) aus Funktionenu : Ω → C0(Rd) besteht, die die folgende schwache Messbarkeitseigenschaft undIntegrabilitatsbedingung erfullen:

(i) Fur alle µ ∈ M(Rd) sind die (R-wertigen) Abbildungen x 7→ 〈µ, u(x)〉messbar und

(ii) die (R-wertige) Abbildung x 7→ ‖u(x)‖∞ ist uber Ω integrierbar.

L1(Ω;C0(Rd)) ist dann selbst separabel. Tatsachlich erfullen die Elemente diesesRaumes sogar eine ‘starke Messbarkeitsbedingung’. All dies findet man z.B. imAbschnitt 2.1.1 von [Sch-PDG2] genauer erklart. Der Dualraum von L1(Ω;C0(Rd))ist gerade durch den Raum L∞w∗(Ω;M(Rd)) der schwach*-messbaren wesentlichbeschrankten Funktionen mit Werten in M(Rd) gegeben, der aus Funktionenν : Ω→M(Rd) besteht mit

(i) x 7→ 〈ν(x), f〉 ist messbar fur alle f ∈ C0(Rd) und

(ii) x 7→ ‖ν(x)‖M(Rd) ist wesentlich beschrankt.

(In der Tat sind Funktionale auf L1(Ω;C0(Rd)) i.A. nicht stark messbar.) Istν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)), so schreiben wir meist νx fur ν(x) ∈ M(Rd). Ein ν ∈L∞w∗(Ω;M(Rd)) wirkt dann als Funktional auf Elemente u ∈ L1(Ω;C0(Rd)) gemaß

u 7→∫

Ω

〈νx, u(x)〉 dx.

Einen Beweis hierfur findet man etwa in [Ed, S. 588f].

Satz 6.5 (Haupsatz fur Young-Maße). Es sei Ω ⊂ Rn messbar mit |Ω| <∞ undwk : Ω→ Rd eine Folge messbarer Funktionen. Dann gibt es eine Teilfolge (wkj)und ein ν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)), so dass

(i) νx ≥ 0 und ‖νx‖M(Rd) =∫Rd dνx ≤ 1 fur fast alle x ist.

(ii) Fur alle f ∈ C0(Rd) gilt

f(wkj)∗ f in L∞(Ω),

wobei f gegeben ist durch

f(x) := 〈νx, f〉 =

∫Rdf(y) dνx(y).

Definition 6.6. Die Abbildung ν : Ω → M(Rd) ist das von (wkj) erzeugteYoung-Maß.

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Der folgende Satz gibt wichtige Eigenschaften von Young-Maßen an und klartinsbesondere die Frage, wann die νx wirklich Wahrscheinlichkeitsmaße sind.

Satz 6.7. Es sei Ω ⊂ Rn messbar mit |Ω| <∞, wk : Ω→ Rd eine Folge messbarerFunktionen und ν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)) das von der Teilfolge (wkj) erzeugte Young-Maß.

(i) Es sei K ⊂ Rd kompakt. Dann gilt

dist(wkj , K)→ 0 d.M.n. =⇒ supp νx ⊂ K f.f.a. x.

Hierbei steht ‘d.M.n.’ fur Konvergenz ‘dem Maße nach’.1

(ii) Es ist ‖νx‖ = 1 f.f.a. x genau dann, wenn

limM→∞

supj||wkj | ≥M| = 0

gilt, wenn also keine Masse nach ∞ entkommt.

(iii) Sei ‖νx‖ = 1 f.f.a. x, f ∈ C(Rd) und A ⊂ Ω messbar. Ist dann

(f(wkj)) relativ schwach folgenkompakt in L1(A),

so folgtf(wkj) f in L1(A).

(iv) Gilt ‖νx‖ = 1 f.f.a. x, so stimmt in (i) auch die umgekehrte Implikation‘⇐=’.

Bemerkung. 1. Der zentrale Punkt ist die Aussage in Satz 6.5(ii): Das Young-Maß verschlusselt die schwach*-Limites aller nicht-linearer Funktionen derwkj . Zur Erinnerung: In einer Hausaufgabe wurde gezeigt, dass schwacheLimites nicht mit nicht-linearen Operationen kommutieren. Selbst wenn derschwach*-Limes der Folge (wkj) existiert und bekannt ist, so kann man dar-aus allein also keine Ruckschlusse auf die Werte der schwach*-Grenzwertevon f(wkj) gewinnen.

2. Eine (technisch etwas kompliziertere) Version dieser Satze gilt auch fur|Ω| =∞.

1Seien v, v1, v2, . . . : Ω → R messbar, Ω ⊂ Rn messbar mit |Ω| < ∞. Man sagt die Folge vkkonvergiert dem Maße nach gegen v, wenn limk→∞ |x : |vk(x)−v(x)| ≥ ε| = 0 gilt fur alle ε >0. (Das entspricht dem Begriff der stochastischen Konvergenz in der Wahrscheinlichkeitstheorie.)

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3. Gilt∫

ΩΦ(|wk|) ≤ C fur ein Φ : [0,∞) → R mit Φ(t) → ∞ fur t → ∞, so

ist limM→∞ supk ||wk| ≥M| = 0: Zu ε > 0 wahle Mε, so dass Φ(t) ≥ ε−1

fur t > Mε gilt. Dann ist

supk||wk| ≥M| ≤ sup

∫|wk|≥M

Φ(|wk|) ≤ Cε ∀M ≥Mε.

Speziell fur Φ(t) = tp, 1 ≤ p < ∞, ist diese Bedingung fur Lp-beschranktewk erfullt.

4. Aus Satz 6.7(iii) ergibt sich: Ist (wk) beschrankt in Lp und f ∈ C(Rd) mit|f(y)| ≤ C(1 + |y|q), q < p, dann gilt

f(wkj) f in Lpq .

Beachte zunachst, dass nach der vorigen Bemerkung und Satz 6.7(ii) ‖νx‖ =1 f.f.a. x gilt. Die Behauptung folgt nun aus der Tatsache, dass f(wkj) be-

schrankt in Lpq ist: Erstens impliziert dies, dass f(wkj) eine in L

pq schwach

konvergente Teilfolge besitzt, so dass f(wkj) erst recht relativ schwach fol-genkompakt in L1 ist und somit nach Satz 6.7(iii) f(wkj) f in L1 gilt.

Zweitens erhalt man daraus, dass auch jede Teilfolge eine in Lpq konvergente

Teilfolge besitzt, deren Limes dann f sein muss. Zusammen ergibt sich dieBehauptung.

Fur p > 1, f = id zeigt dies

wkj w in Lp, w(x) = 〈νx, id〉.

Beweis von Satz 6.5. Setze Wk(x) := δwk(x). Dann ist ‖Wk(x)‖M = 1 fur allex und x 7→ 〈Wk(x), f〉 = f(wk(x)) messbar fur alle f ∈ C0. Damit ist (Wk)als Folge in L∞w∗(Ω;M(Rd)) = (L1(Ω;C0(Rd)))′ erkannt mit ‖Wk‖L∞

w∗ (Ω;M) = 1.

Da nun L1(Ω;C0(Rd)) separabel ist, ist die schwach*-Topologie auf beschranktenTeilmengen von L∞w∗(Ω;M(Rd)) metrisierbar und wir erhalten aus dem Satz von

Alaoglu eine konvergente Teilfolge Wkj∗ ν mit ‖ν‖L∞

w∗ (Ω;M) ≤ 1.

Fur ϕ ∈ L1(Ω), f ∈ C0(Rd) betrachte die Funktion ϕ ⊗ f ∈ L1(Ω;C0(Rd)),definiert durch ϕ⊗ f(x) = ϕ(x)f ∈ C0(Rd). Es gilt∫

Ω

ϕ(x)f(wkj(x)) dx =

∫Ω

ϕ(x)〈Wkj(x), f〉 dx =

∫Ω

〈Wkj(x), ϕ⊗ f(x)〉 dx

→∫

Ω

〈νx, ϕ⊗ f(x)〉 dx =

∫Ω

ϕ(x)〈νx, f〉 dx

fur j →∞, was (ii) zeigt.Des Weiteren zeigt diese Rechnung∫

Ω

ϕ(x)〈νx, f〉 dx ≥ 0 ∀ϕ ≥ 0 ∀ f ≥ 0.

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Dann aber gilt 〈νx, f〉 ≥ 0 f.f.a. x fur alle f ≥ 0. Da C0 separabel ist, lasst sichdie Ausnahmenullmenge von Punkten x, die diese Ungleichung nicht erfullen,unabhangig von f wahlen, d.h. es gilt sogar 〈νx, f〉 ≥ 0 fur alle f ≥ 0 f.f.a. x unddamit auch νx ≥ 0 f.f.a. x, was den Beweis von (i) beendet.

Beweis von Satz 6.7.2 (i) Wir mussen 〈νx, f〉 = 0 fur alle f ∈ C0(Rd \K) nach-weisen. Zu f ∈ C0(Rd \K) und ε > 0 wahle Cε > 0, so dass

|f(y)| ≤ ε+ Cεdist(y,K)

ist. (Das ist moglich, da f(y)→ 0 geht fur |y| → ∞.) Dann aber folgt

(|f | − ε)+(wkj) ≤ Cεdist(wkj , K)→ 0 d.M.n.

und (|f | − ε)+(wkj)∗ (|f | − ε)+, so dass

〈νx, (|f | − ε)+〉 = (|f | − ε)+(x) = 0 f.f.a. x

gilt. Da ε > 0 beliebig war, folgt daraus nun mit monotoner Konvergenz 〈νx, |f |〉 =0 und somit 〈νx, f〉 = 0 f.f.a. x.

(ii) Es gilt ‖νx‖M ≤ 1 fast uberall. Daher ist ‖νx‖M = 1 f.f.a. x genau dann,wenn

∫Ω‖νx‖M = |Ω| ist.

Definiere θm ∈ C0(Rd), m ∈ N, durch

θm(y) :=

1, |y| ≤ m,

1 +m− |y|, m ≤ |y| ≤ m+ 1,

0, |y| ≥ m+ 1.

(6.4)

Dann ist einerseits

limj→∞

∫Ω

θm(wkj) =

∫Ω

〈νx, θm〉 und limm→∞

∫Ω

〈νx, θm〉 =

∫Ω

‖νx‖M,

wobei letzteres aus θm 1 und einer zweimaligen Anwendung des Satzes vonder monotonen Konvergenz folgt. Andererseits ist∫

Ω

θm(wkj)

≥ ||wkj | ≤ m| = |Ω| − ||wkj | > m|,≤ ||wkj | ≤ m+ 1| = |Ω| − ||wkj | > m+ 1|,

so dass sich

|Ω| − supj||wkj | > m| ≤ lim

j→∞

∫Ω

θm(wkj) ≤ |Ω| − lim infj→∞

||wkj | > m+ 1|

2Dieser Beweis wurde in der VL weggelassen.

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ergibt.Ist also limm→∞ supj ||wkj | > m| = 0, so erhalten wir tatsachlich

|Ω| ≤ limm→∞

limj→∞

∫Ω

θm(wkj) =

∫Ω

‖νx‖M.

Ist nun umgekehrt∫

Ω‖νx‖M = |Ω|, dann schließen wir

limm→∞

lim infj→∞

||wkj | > m+ 1| = 0. (6.5)

Da auch jede Telfolge von (wkj) das Young-Maß ν generiert, bleibt diese Aussageauch fur alle Teilfolgen von (wkj) richtig. Das zeigt, dass sogar

limm→∞

supj||wkj | > m+ 1| = 0

gilt: Ware dies nicht der Fall, so gabe es ein ε > 0, naturliche Zahlen m1 < m2 <. . . und Indizes j(m1), j(m2), . . . mit

||wkj(mi)| > mi + 1| ≥ ε ∀ i.

Da fur endlich viele Folgenglieder wk1 , wk2 , . . . , wkN stets

limm→∞

supj=1,...,N

||wkj | > m+ 1| = 0

ist, gilt j(mi)→∞ mit mi →∞. Ggf. nach Ubergang zu einer weiteren Teilfolgeist dann i 7→ j(mi) streng monoton in i und wir erhalten eine Teilfolge (wkj(mi))ivon (wkj)j mit

lim infi→∞

||wkj(mi)| > m+ 1| ≥ ε ∀ m > 0

im Widerspruch zu (6.5).(iii) Sei f(wkj) relativ schwach folgenkompakt in L1(A). Mit Hilfe des Satzes

von Dunford-Pettis3 sieht man leicht, dass dies genau dann der Fall ist, wennsowohl f+(wkj) als auch f−(wkj) relativ schwach folgenkompakt in L1(A) sind.Wir konnen also o.B.d.A. f ≥ 0 voraussetzen. Setze fm := θmf ∈ Cc(Rd), wobeiθm wie in (6.4) definiert ist.

Wir zeigen zunachst, dass fur alle ϕ ∈ L∞(A)

limm→∞

∫A

ϕfm(wkj) =

∫A

ϕf(wkj) (6.6)

3Der Satz von Dunford-Pettis besagt, dass eine beschrankte Familie F ⊂ L1(µ), µ einendliches Maß, genau dann relativ schwach folgenkompakt in L1(µ) ist, wenn F gleichgradigintegrierbar ist.

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gleichmaßig in j gilt: Da f ≥ 0 ist, gilt∣∣∣∣∫A

ϕ(fm(wkj)− f(wkj)

)∣∣∣∣ ≤ C

∫|wkj |≥m

f(wkj)

≤ C

∫f(wkj )≥M

f(wkj) + C

∫|wkj |≥m,f(wkj )<M

f(wkj)

≤ C supj

∫f(wkj )≥M

f(wkj) + CM supj||wkj | ≥ m|

fur M > 0. Nun ist (f(wkj)) nach dem Satz von Dunford-Pettis gleichgradig inte-grierbar auf A, so dass zu ε > 0 ein M existiert mit C supj

∫f(wkj )≥M f(wkj) <

ε2.

Wahlt man nun m – unabhangig von j – hinreichend groß, so wird nach der schonbewiesenen Aussage (ii) auch CM supj ||wkj | ≥ m| < ε

2. Dies zeigt die Behaup-

tung.Nun gilt fur fm ∈ Cc(Rd) nach Satz 6.5(ii)

limj→∞

∫A

ϕfm(wkj) =

∫A

ϕ〈νx, fm〉.

Mit Hilfe der gleichmaßigen Konvergenz in (6.6) folgt daraus dann

limj→∞

∫A

ϕf(wkj) = limm→∞

∫A

ϕ〈νx, fm〉 =

∫A

ϕ〈νx, f〉,

wobei sich die letzte Gleichheit aus dem Satz von der monotonen Konvergenzergibt, indem man

∫Aϕ〈νx, fm〉 =

∫ϕ<0 ϕ〈νx, fm〉 +

∫ϕ≥0 ϕ〈νx, fm〉 schreibt.

Das war zu zeigen.(iv) Betrachte

f = mindist(·, K), 1 ∈ L∞ ∩ C.

Ist supp νx ⊂ K f.f.a. x, so ist auch 〈νx, f〉 = 0 f.f.a. x. Mit f ∈ L∞ ∩ C folgtandererseits aus (iii), dass f(wkj) f in L1 konvergiert, so dass insbesondere∫f(wkj)→ 0 gilt. Dann aber ist fur alle ε > 0

|dist(wkj , K) ≥ ε| ≤ 1

ε

∫dist(wkj ,K)≥ε

f(wkj)→ 0.

Beispiele:

1. Sei h : R→ R 1-periodisch mit

h(x) =

a, 0 ≤ x < λ,

b, λ ≤ x < 1,a, b ∈ R, λ ∈ [0, 1].

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Definiere wk : [0, 1] → R durch wk(x) := h(kx). Dann gilt wk∗ w in

L∞(0, 1) mit w ≡ λa + (1 − λ)b (Ubung) und genauso konvergiert f(wk)schwach* gegen die konstante Funktion λf(a) + (1− λ)f(b) in L∞(0, 1) furalle f : R→ R. Dies zeigt, dass (wk) das Young-Maß (νx) mit

νx = λδa + (1− λ)δb ∀x

generiert. Beachte, dass νx hier nicht von x abhangt. Man sagt in diesemFall, das Young-Maß ν ist homogen.

2. Allgemeiner sei h ∈ L1loc(Rn) periodisch mit Einheitszelle [0, 1]n, d.h. f(x+

z) = f(x) fur alle z ∈ Z. Definiere wk : [0, 1]n → R durch wk(x) := h(kx).Dann gilt fur alle f ∈ C0(R) (Ubung)

f(wk)∗ const. =

∫[0,1]n

f(h(z)) dz in L∞([0, 1]n).

(wk) generiert also das homogene Young-Maß ν, wobei νx das Bildmaß desLebesgue-Maßes auf [0, 1]n unter der Abbildung h ist:

νx(A) = |(h|[0,1]n)−1(A)| = |[0, 1]n ∩ h−1(A)| ∀x.

3. Wir konnen nun insbesondere die eingangs gestellten Fragen nach univer-sellen Eigenschaften von minimierenden Folgen des Funktionals

I(u) =

∫ 1

0

((u′)2 − 1)2 + u2, u ∈ W 1,40

rigoros beantworten. Sei (uk) eine solche minimierende Folge, wk := u′k.Dann gibt es eine Teilfolge (wkj) die ein Young-Maß ν induziert. Da (wk)beschrankt in L4 ist, gilt ‖νx‖M = 1 f.f.a. x (s. Bemerkung 3 von Seite 105mit Φ(t) = t4).

Zu ε > 0 wahle nun δ > 0, so dass (x2−1)2 < δ =⇒ min|x−1|, |x+1| <ε. Dann gilt

|dist(wkj , −1, 1) ≥ ε| ≤ |(w2kj− 1)2 ≥ δ|

≤ 1

δ

∫ 1

0

(w2kj− 1)2 ≤ 1

δI(ukj)→ 0

mit j → ∞. Dann aber folgt aus Satz 6.7(i) supp νx ⊂ −1, 1 f.f.a. x.Zusammenfassend konnen wir festhalten, dass es λ(x) ∈ [0, 1] gibt, so dass

νx = λ(x)δ−1 + (1− λ(x))δ1

ist.

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Aus Bemerkung 4 von Seite 105 folgt nun

u′kj = wkj w in L4

mit

w(x) = 〈νx, id〉 =

∫Ry dνx(y) = −λ(x) + (1− λ(x)) = 1− 2λ(x).

Andererseits gilt wegen I(uk)→ 0 auch ukj → 0 in L2 und somit∫wϕ = lim

j→∞

∫wkjϕ = lim

j→∞

∫u′kjϕ = − lim

j→∞

∫ukjϕ

′ = 0

fur ϕ ∈ C∞c (0, 1). Es muss also w ≡ 0 sein, d.h. λ(x) = 12

f.f.a. x.

(wkj) generiert also das homogene Young-Maß

νx =1

2(δ−1 + δ1) f.f.a. x.

Da ν dadurch eindeutig gegeben ist, wird ν sogar von der ganzen Folge (u′k)erzeugt.

Bevor wir uns weiteren Anwendungen zuwenden, wollen wir noch prazisieren,in welchem Sinne ein von (wk) erzeugtes Young-Maß als Werte-Statistik von wk(x)fur große k aufzufassen ist. Sei Ω ⊂ Rn offen, so dass Bδ(x) ⊂ Ω fur hinreichendkleine δ > 0 ist. Durch

〈ν(k)x,δ , f〉 = −

∫Bδ(x)

f(wk(z)) dz

wird dann ein lineares Funktional auf C0(Rd), also ein Maß ν(k)x,δ auf Rd definiert,

wobei ν(k)x,δ (A) “die Wahrscheinlichkeit misst, dass wk(z) in der Borelmenge A ⊂

Rd liegt fur z ∈ Bδ(x)”:

ν(k)x,δ (A) = −

∫Bδ(x)

χA(wk(z)) dz =1

|Bδ(x)||z ∈ Bδ(x) : wk(z) ∈ A|,

d.h. ν(k)x,δ ist das Bildmaß der Gleichverteilung auf Bδ(x) unter wk.

Korollar 6.8. Es giltlimδ0

limk→∞

ν(k)x,δ = νx

in der schwach*-Topologie auf M(Rd) fur fast alle x ∈ Ω.

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Beweis. Fur f ∈ C0(Rd) gilt f(wk)∗ f mit f(z) = 〈νz, f〉, so dass

limk→∞〈ν(k)x,δ , f〉 = lim

k→∞−∫Bδ(x)

f(wk(z)) dz = −∫Bδ(x)

〈νz, f〉 dz.

Dies zeigt

ν(k)x,δ

∗ νx,δ fur 〈νx,δ, f〉 = −

∫Bδ(x)

〈νz, f〉 dz.

Fur festes f ∈ C0(Rd) ist nun fast jedes x ∈ Ω ein Lebesgue-Punkt von f , sodass

limδ0〈νx,δ, f〉 = lim

δ0−∫Bδ(x)

〈νz, f〉 dz = 〈νx, f〉

fur fast alle x folgt. Damit gilt aber auch

limδ0〈νx,δ, f〉 = 〈νx, f〉

auf einer abzahlbar dichten Teilmenge von C0(Rd) fur alle x ∈ Ω \ N , N einegeeignete Nullmenge. Da nun ‖νx,δ‖M ≤ 1 ist fur alle δ und x, zeigt dies, dassfur x /∈ N tatsachlich

νx,δ∗ νx mit δ 0

gilt.

Bemerkung. Gemaß dieser Interpretation des Young-Maßes als Werte-Statistikkann man erwarten, dass starke Konvergenz vorliegt, wenn jedes νx bei einemeinzigen Wert konzentriert ist. Tatsachlich gilt:

wk → w d.M.n. ⇐⇒ νx = δw(x) f.f.a. x.

Beweis: Ubung.

Zur Anwendung von Young-Maßen auf Integralfunktionale geben wir zunachstdie folgenden beiden Satze (ohne Beweis) an.

Satz 6.9. wk : Ω → Rd generiere das Young-Maß ν. Es sei f : Ω × Rd → Rstetig und nach unten beschrankt. Dann gilt

lim infk→∞

∫Ω

f(x,wk(x)) dx ≥∫

Ω

∫Rdf(x, y) dνx(y) dx.

Ist (f(·, wk(·)))k schwach relativ folgenkompakt in L1(Ω), so gilt sogar

f(·, wk(·)) f in L1(Ω), f(x) =

∫Rdf(x, y) dνx(y).

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Satz 6.10. Es seien uk : Ω → Rd, vk : Ω → Rd′ Funktionenfolgen, so dassuk → u fast uberall konvergiere und (vk) das Young-Maß ν generiere. Dannerzeugt (uk, vk) : Ω→ Rd+d′ das Young-Maß x 7→ δu(x) ⊗ νx.

Wir untersuchen nun die Unterhalbstetigkeit des Funktionals

I(u) =

∫Ω

f(x, u(x), Du(x)) dx

auf W 1,p(Ω;Rm), p > 1. Gilt uk u in W 1,p, so gibt es eine Teilfolge (wieder mituk bezeichnet), so dass uk → u fast uberall konvergiert und (Duk) ein Young-Maßν erzeugt. Nach Satz 6.10 erzeugt dann (uk, Duk) das Young-Maß δu(x) ⊗ νx.

Nach Satz 6.9 wiederum gilt dann fur stetiges nach unten beschranktes f

lim infk→∞

∫Ω

f(x, uk(x), Duk(x)) dx ≥∫

Ω

∫Rm

∫Rm×n

f(x, y, z) d(δu(x) ⊗ νx)(y, z) dx

=

∫Ω

∫Rm×n

f(x, u(x), z) dνx(z) dx.

Unterhalbstetigkeit fur I ergabe sich also, wenn wir∫Rm×n

g(z) dνx(z) ≥ g(〈νx, id〉) (6.7)

mit g = f(x, u(x), ·) abschatzen konnten. (Beachte 〈νx, id〉 = Du(x).) Im Fol-genden werden wir sehen, dass das gerade fur quasikonvexe Funktionen richtigist.

Dazu mussen wir die von Gradienten induzierten Young-Maße genauer unter-suchen. Wir setzen im Folgenden voraus, dass Ω ⊂ Rn offen und beschrankt mitC1-Rand (oder auch nur Lipschitz-Rand) ist.

Definition 6.11. ν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)) heißt W 1,p-Gradienten-Young-Maß (oderkurz W 1,p-GYM), wenn es eine Folge (uk) ⊂ W 1,p(Ω;Rm) gibt, so dass

uk u in W 1,p(Ω;Rm) (bzw. “∗” falls p =∞)

undδDuk

∗ ν in L∞w∗(Ω;M(Rd))

gelten.

Die folgenden Satze, die wir wieder ohne Beweis angeben, liefern eine vollstandi-ge Charakterisierung der GYMs:

Satz 6.12. ν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)) ist ein W 1,∞-GYM genau dann, wenn νx ≥ 0f.u. ist und es eine kompakte Menge K und ein u ∈ W 1,∞(Ω;Rm) gibt, so dassgilt:

113

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(i) supp νx ⊂ K f.f.a. x,

(ii) 〈νx, id〉 = Du(x) f.f.a. x und

(iii) 〈νx, f〉 ≥ f(〈νx, id〉) f.f.a. x fur alle quasikonvexen Funktionen f : Rm×n →R.

Die Version fur p <∞ dieses Satzes lautet

Satz 6.13. ν ∈ L∞w∗(Ω;M(Rd)) ist ein W 1,p-GYM, p < ∞, genau dann, wennνx ≥ 0 f.u. ist und es ein u ∈ W 1,p(Ω;Rm) gibt, so dass gilt:

(i)∫

Ω

∫Rm×n |F |

p dνx(F ) dx <∞,

(ii) 〈νx, id〉 = Du(x) f.f.a. x und

(iii) 〈νx, f〉 ≥ f(〈νx, id〉) f.f.a. x fur alle quasikonvexen Funktionen f : Rm×n →R, die einer Wachstumsbedingung der Form |f(F )| ≤ C(1 + |F |p) genugen.

Dieser Satz zeigt insbesondere, dass (6.7) tatsachlich fur alle quasikonvexenFunktionen g unter geeigneten Wachstumsvoraussetzungen gilt.

GYMs verhalten sich also in gewisser Hinsicht ‘dual’ zu den quasikonvexenFunktionen: Wahrend quasikonvexe Funktionen die Jensensche Ungleichung furalle Gradientenfelder erfullen, erfullen die Gradienten-Young-Maße die Jensen-sche Ungleichung fur alle quasikonvexen Funktionen.

Wie wir zu Beginn dieses Abschnitts gesehen haben, liefern die Young-Maßeaber gerade auch dann wertvolle Informationen, wenn die Integranden nicht quasi-konvex sind und ein Minimierer im Allgemeinen nicht angenommen wird. Ahnlichwie man fur manche Differentialgleichungen, die keine klassische Losung besitzen,immer noch ‘schwache Losungen’ konstruieren kann, kann auch der Definitions-bereich eines Integralfunktionals geeignet erweitert werden, so dass ‘verallgemei-nerte Minimierer’ existieren.

Betrachte das Funktional

I(u) =

∫Ω

f(Du)

aufA = u ∈ W 1,p(Ω;Rm) : u− g ∈ W 1,p

0 .Wir setzen I zu einem Funktional J auf die Menge

Y := ν : Ω→M(Rm×n) : ν ist W 1,p-GYM mit 〈νx, id〉 = Du fur ein u ∈ A

gemaß

J(ν) =

∫Ω

〈νx, f〉 dx

fort. Es gilt dann der folgende Satz (o. Beweis):

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Satz 6.14. Sei p > 1, f stetig mit c1|F |p−c2 ≤ f(F ) ≤ c2(1+ |F |p) fur geeigneteKonstanten c1, c2 > 0. Dann gilt

infAI = min

YJ.

Die Minimierer von J sind gerade die von den minimierenden Folgen erzeugtenGYMs.

Insbesondere hat I einen Minimierer in A genau dann, wenn ein Minimiererν von J existiert, so dass νx ein Dirac-Maß ist f.f.a. x.

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Kapitel 7

Γ-Konvergenz

Im letzten Kapitel dieser Vorlesung beschaftigen wir uns nun nicht mehr nur miteinem einzigen Funktional, sondern gleich mit Folgen von Variationsproblemenund deren Konvergenz. Solche Probleme tauchen in Anwendungen sehr haufigauf, insbesondere dann, wenn Phanomene durch Effekte auf sehr unterschied-lichen Großenskalen beeinflusst werden. Diese sogenannten Mehrskalenproblemehangen dann typischerweise in komplizierter Weise von einem (oder mehreren)sehr kleinen oder großen Parametern ab. Um diese Probleme in den Griff zu be-kommen, versucht man nun, ein effektives Problem herzuleiten, indem man diekleinen Parameter gegen 0 und die großen gegen ∞ gehen lasst. Dies fuhrt zumKonzept der Γ-Konvergenz von Funktionalen.

Naturlich sind Funktionale selbst nichts anderes als Abbildungen, fur die Kon-vergenzbegriffe wie etwa die punktweise oder die gleichmaßige Konvergenz zurVerfugung stehen. Dadurch motiviert, dass wir nicht nur an der Konvergenz derFunktionale selbst, sondern vielmehr an der Konvergenz der Losungen der zu-gehorigen Variationsprobleme, also der Konvergenz von Minimierern dieser Funk-tionale interessiert sind, mussen wir nun jedoch einen neuen Konvergenzbegrifffur Funktionale defineren: Die Γ-Konvergenz.

7.1 Allgemeine Theorie

Im folgenden sei (X, d) ein metrischer Raum, R = R ∪ −∞,∞. AbbildungenF : X → R bezeichnen wir als Funktionale (auf X).

Definition 7.1. Eine Folge Fk : X → R Γ-konvergiert gegen F : X → R, wennfur alle x ∈ X gilt:

(i) (‘lim inf-Ungleichung’) Fur jede Folge (xk) ⊂ X mit xk → x ist

lim infk→∞

Fk(xk) ≥ F (x).

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(ii) (‘Existenz einer recovery-Folge’) Es gibt eine Folge (xk) ⊂ X mit xk → xund

lim infk→∞

Fk(xk) = F (x).

Wir schreiben dann Γ-limFk = F , Γ(X)-limFk = F oder auch FkΓ→ F .

Bemerkung. 1. Wegen (i) genugt es, in (ii) zu fordern, dass es eine Folge(xk) ⊂ X mit xk → x und lim supk→∞ Fk(xk) ≤ F (x) gibt. Tatsachlichreicht es schon aus, fur jedes ε > 0 eine Folge mit

xk → x und lim supk→∞

Fk(xk) ≤ F (x) + ε

zu finden. (Ubung: Uberlegen Sie sich das!)

2. Γ-Konvergenz ist keine von einer Metrik auf der Menge der Funktionaleinduzierte Folgenkonvergenz. Selbst eine konstante Folge Fk = F fur alle kmuss nicht gegen F Γ-konvergieren (vgl. die Ubungen).

3. Aus Γ-limFk = F und Γ-limGk = G folgt nicht Γ-lim(Fk + Gk) = F + G(vgl. die Ubungen).

4. Gelten die Bedingungen (i) und (ii) aus Definition 7.1 fur ein x ∈ X (undnicht unbedingt auf ganz X), so spricht man auch von Γ-Konvergenz bei x.

5. Offensichtlich impliziert Γ-limk→∞ Fk = F auch Γ-limj→∞ Fkj = F fur jedeTeilfolge (Fkj).

Beispiele Es sei X = R mit der gewohnlichen Metrik.

1. Fur

Fk(x) =

−1, falls x = 1

k,

0, falls x 6= 1k

ist Γ-limFk = F mit

Fk(x) =

−1, falls x = 0,

0, falls x 6= 0.

2. Fur

Fk(x) =

+1, falls x = 1

k,

0, falls x 6= 1k

ist Γ-limFk ≡ 0.

3. Fur Fk(x) = sin(kx) ist Γ-limFk ≡ −1.

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Eine elementare aber wichtige Beobachtung ist, dass Γ-Konvergenz stabil un-ter stetigen Storungen ist:

Proposition 7.2. Es sei Γ-limFk = F und G : X → R stetig. Dann gilt Γ-lim(Fk +G) = F +G.

Beweis. (i) Fur xk → x in X ergibt sich aus der Stetigkeit von G

lim infk→∞

(Fk(xk) +G(xk)

)= lim inf

k→∞Fk(xk) + lim

k→∞G(xk) ≥ F (x) +G(x).

(ii) Wegen Γ-limFk = F lasst sich zu jedem x ∈ X eine Folge (xk) mitxk → x und Fk(xk)→ F (x) wahlen.. Diese Folge erfullt dann – wieder wegen derStetigkeit von G –

limk→∞

(Fk(xk) +G(xk)

)= lim

k→∞Fk(xk) + lim

k→∞G(xk) = F (x) +G(x).

Besonders wichtig ist die Tatsache, dass Grenzwerte von Minimierern einerΓ-konvergenten Folge gegen den Γ-Limes minimieren. Etwas allgemeiner:

Lemma 7.3. Es sei (Fk) eine gegen F Γ-konvergente Folge von Funktionalen.Des Weiteren sei (xk) ⊂ X eine Folge von “Fast-Minimiereren”, d.h. es gilt

limh→∞

(Fk(xk)− infXFk) = 0.

Gilt dann xk → x in X, so folgt Fk(xk)→ F (x) und es ist F (x) = minX

F .

Beweis. Ist y ∈ X, so gibt es eine recovery-Folge (yk) mit Fk(yk) → F (y) undsomit

F (y) = limk→∞

Fk(yk) ≥ lim supk→∞

infXFk

= lim supk→∞

Fk(xk) ≥ lim infk→∞

Fk(xk) ≥ F (x),

letzteres wegen der lim inf-Ungleichung. Damit aber ist erstens x als Minimierervon F nachgewiesen. Da zweitens speziell fur y = x in dieser Ungleichungsketteuberall die Gleichheit gelten muss, ergibt sich außerdem limk→∞ Fk(xk) = F (x).

Insbesondere folgt unter den Voraussetzungen dieses Lemmas, dass F seinMinimum annimmt. Die naturliche Folge, die sich nun aufwirft ist, ob man dieKonvergenz xk → x (zumindest fur eine Teilfolge) fur ein x ∈ X garantierenkann. Hierzu ist die folgende Bedingung besonders nutzlich:

Notation. Wir sagen, eine Folge Fk : X → R erfullt die Kompaktheitsbedingung(K), wenn fur alle C > 0 gilt: Jede Folge (xk) ⊂ X mit

Fk(xk) ≤ C ∀k

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besitzt eine konvergente Teilfolge.

Diese Bedingung ist offenbar insbesondere dann erfullt, wenn die Folge (Fk)equi-koerziv ist, d.h. wenn fur jedes C > 0 die Menge⋃

k∈N

x ∈ X : Fk(x) ≤ C

relativ kompakt ist.

Satz 7.4. Es sei (Fk) eine gegen F (6≡ ∞) Γ-konvergente Folge von Funktionalenauf X, die die Bedingung (K) erfulle.

(i) Dann besitzt jede Folge von Fast-Minimierern einen Haufungspunkt in X.

(ii) Jeder Haufungspunkt einer Folge von Fast-Minimierern ist ein Minimierervon F .

(iii) Es gilt limk→∞

infXFk = min

XF .

(iv) Umgekehrt ist jeder Minimierer von F der Limes einer Folge von Fast-Minimierern.

Beweis. (i) Nach Voraussetzung existiert ein x ∈ X mit F (x) <∞. Ist nun (xk)eine recovery-Folge von x und (yk) eine Folge von Fast-Minimierern, so gibt eswegen

Fk(yk) = inf Fk + o(1) ≤ Fk(xk) + o(1) = F (x) + o(1)

nach der Bedingung (K) eine konvergente Teilfolge von (yk).(ii) Das folgt direkt aus dem vorigen Lemma 7.3 angewandt auf eine gegen

den betrachteten Haufungspunkt konvergierende Folge. (Beachte die Bemerkung5 von Seite 117.)

(iii) Wahlt man xk ∈ X mit Fk(xk) ≤ infX Fk + 1k, so folgt aus (i) und

Lemma 7.3, dass jede Teilfolge von (Fk(xk)) eine weitere Teilfolge besitzt, diegegen minX F konvergiert. Nach dem Teilfolgenprinzip folgt

limk→∞

infXFk = lim

k→∞Fk(xk) = min

XF.

(iv) Es sei x ein Minimierer von F und (xk) eine recovery-Folge von x. Nach(iii) ist dann

limk→∞

Fk(xk) = F (x) = limk→∞

infXFk,

(xk) also tatsachlich eine Folge von Fast-Minimierern.

Insbesondere besitzt unter diesen Voraussetzungen das Limesfunktional alsoimmer einen Minimierer. Eine weitere nutzliche Beobachtung ist, dass Γ-Limitesimmer unterhalbstetig sind.

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Satz 7.5. Gilt Γ-limFk = F , so ist F unterhalbstetig.

Beweis. Es sei x(k) → x in X. Zu jedem x(k) wahlen wir eine recovery-Folge(x

(k)j )j ⊂ X. Definiert man nun durch m0 = 0 und

mk := minm > mk−1 : d(x

(k)j , x(k)) ≤ 1

k, |Fj(x(k)

j )− F (x(k))| ≤ 1

k∀ j ≥ m

fur k ≥ 1 eine aufsteigende Folge (mk) naturlicher Zahlen und setzt man

xj := x(k)j fur mk ≤ j < mk+1,

so gilt einerseits d(xj, x(k)) ≤ 1

kfur mk ≤ j < mk+1 und damit wegen x(k) → x

auch xj → x. Andererseits gilt auch |Fj(xj) − F (x(k))| ≤ 1k

fur mk ≤ j < mk+1

und somitlim infk→∞

F (x(k)) = lim infj→∞

Fj(xj).

Mit der lim inf-Ungleichung, lasst sich dieser Term nun durch F (x) abschatzenund wir erhalten

lim infk→∞

F (x(k)) ≥ F (x).

Bemerkung. Nun ist klar, dass selbst eine konstante Folge Fk ≡ F ∀ k nichtgegen F Γ-konvergieren muss. Tatsachlich lasst sich zeigen, dass die Fk gegen dieunterhalbstetige Einhullende von F konvergieren. (Ubung!)

Durch ein ahnliches Argument kann man zeigen, dass es unter gewissen Vor-aussetzungen genugt, recovery-Folgen nur fur eine (bezuglich der ‘richtigen’ Me-trik!) dichte Teilmenge zu konstruieren. Dieser Hilfsatz ist in vielen Anwendun-gen von großer Bedeutung. Wir betrachten dazu eine weitere Metrik d′ auf X, diestarker sei als d, d.h. d′(xk, x)→ 0 =⇒ d(xk, x)→ 0. (Aquivalent: Die Identitat(X, d′)→ (X, d), x 7→ x ist stetig.)

Proposition 7.6. Es sei d′ eine Metrik auf X, die starker sei als d. Des Weiterenseien (Fk) eine Folge von Funktionalen auf X, F : X → R d′-stetig und D ⊂ Xd′-dicht. Gibt es nun zu jedem x ∈ D eine Folge (xj) ⊂ X mit

xj → x und Fj(xj)→ F (x),

so existiert eine solche Folge sogar fur alle x ∈ X.

Beweis. Zu x ∈ X wahlen wir eine Folge (x(k)) ⊂ D mit x(k) d′−→ x und

Fk(x(k)) → F (x). (Dann gilt auch x(k) d−→ x.) Zu jedem x(k) gibt es nun wieder

eine Folge (x(k)j )j ⊂ X mit x

(k)j → x(k) und Fj(x

(k)j )→ F (x(k)) fur j →∞. Genau

wie im vorigen Beweis erhalten wir daraus eine Folge (xj) ⊂ X mit xj → x und|Fj(xj)−F (x(k))| ≤ 1

kfur mk ≤ j < mk+1 und damit wegen der Stetigkeit von F

limj→∞

Fj(xj) = limk→∞

F (x(k)) = F (x).

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In der folgenden Bemerkung fassen wir einige weitere allgemeine Eigenschaftender Γ-Konvergenz zusammen, deren Beweis eine Ubungsaufgabe ist.

Bemerkung. 1. Fur eine Folge (Fk) von Funktionalen definiert man

Γ- lim infk→∞

Fk(x) := inflim infk→∞

Fk(xk) : xk → x,

Γ- lim supk→∞

Fk(x) := inflim supk→∞

Fk(xk) : xk → x,

den sogenannten Γ-lim inf bzw. Γ-lim sup von (Fk). (Statt inf darf man hierauch min schreiben.) Diese Objekte sind (sogar unterhalbstetige) Funktio-nale auf X und es gilt

Γ- lim infk→∞

Fk = Γ- lim supk→∞

Fk = F ⇐⇒ Γ- limk→∞

= F.

2. Fur eine Folge (Fk) von Funktionalen gilt

Γ- lim infk→∞

Fk(x) = supU∈N (x)

lim infk→∞

infy∈U

Fk(y),

Γ- lim supk→∞

Fk(x) = supU∈N (x)

lim supk→∞

infy∈U

Fk(y),

wobei N (x) = U ⊂ X offen : x ∈ U ist.

3. Ist X ein separabler metrischer Raum, so gilt die folgende Kompakheits-eigenschaft der Γ-Konvergenz: Jede Folge von Funktionalen auf X besitzteine Γ-konvergente Teilfolge.

Ist X nicht separabel, so muss dies nicht gelten.

4. Auch die Γ-Konvergenz erfullt ein Teilfolgenprinzip: Ist (Fk) eine Folge vonFunktionalen auf X, so dass jede Teilfolge von (Fk) eine weitere Teilfolgebesitzt, die gegen F : X → R Γ-konvergiert, so gilt Γ-limFk = F .

5. In Anwendungen ist man oft am asymptotischen Verhalten einer Familie(Fε)ε>0 von Funktionalen interessiert, wenn der reelle Parameter ε gegen 0geht. Man definiert dann Γ-limε→0 Fε = F , wenn fur jede Folge εk 0 giltΓ-limk→∞ Fεk = F und sagt in diesem Fall – etwas salopp – auch oft die‘Folge’ Fε Γ-konvergiere gegen F .

7.2 Zwei Anwendungen

Abschließend untersuchen wir zwei Pobleme aus verschiedenen Anwendungsbe-reichen. Der Einfachheit halber beschranken wir uns dabei auf Probleme in einerDimension. (Eine Fulle von weiteren Anwendungen finet man z.B. in [Br])

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Ein Homogenisierungsresultat

Wir betrachten eine Familie von Integralfunktionalen Iε auf W 1,p(a, b), (a, b) einIntervall, die von einem kleinen Parameter ε > 0 abhangt, definiert durch

Iε(u) =

∫ b

a

f(xε, u′(x)

)dx,

wobei f : R× R→ [0,∞) eine Borelfunktion sei, die der Wachstumsbedingung

c1|z|p − c2 ≤ f(x, z) ≤ c2(1 + |z|p) ∀x, z ∈ R

mit Konstanten c1, c2 > 0 und 1 < p < ∞ genuge und die 1-periodisch in derersten Variable sei, d.h. es gilt

f(x+ 1, z) = f(x, z) ∀x, z ∈ R.

(Durch solche Funktionale lassen sich beispielsweise elastische Stabe beschreiben,die aus einer sehr feinen Materialmischung bestehen.) Die Integranden dieserFunktionale hangen explizit von x ab und sind somit nicht homogen. Da sie furkleine ε jedoch immer schneller oszillieren, konnen wir erwarten, das sich diesenicht homogenen Einflusse im Limes ε→ 0 in gewisser Weise ausmitteln, so dasswir Minimierer asymptotisch durch ein geeignetes homogenes Funktional

Iε(u) =

∫ b

a

fhom(u′(x)) dx

darstellen konnen. M.a.W.: I = Γ- limε→0 Iε.Wir beginnen damit, die Kompaktheitseigenschaften von Iε zu uberprufen.

Dazu setzen wir

Aua,ub = u ∈ W 1,p(a, b) : u(a) = ua, u(b) = ub sowie

A =u ∈ W 1,p(a, b) :

∫ b

a

u dx = 0,

fur ua, ub ∈ R.

Proposition 7.7. Die Funktionale Iε sind equikoerziv bezuglich der schwachenW 1,p-Konvergenz und der starken Lp-Konvergenz auf Aua,ub fur alle ua, ub ∈ Rsowie auf A. Insbesondere ist die Kompaktheitseigenschaft (K) erfullt.

Beweis. Fur c ∈ R und u ∈ W 1,p(a, b) mit Iε(u) ≤ c folgt

c ≥∫ b

a

c1|u′(x)|p − c2 dx = c1‖u′‖pLp − c2(b− a),

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so dass fur A = Aua,ub oder A = A⋃ε>0

u ∈ A : Iε(u) ≤ C ⊂ u ∈ A : ‖u′‖Lp ≤ C

mit einer Konstante C > 0 gilt. Mit der Poincareschen Ungleichung folgt darausnun ⋃

ε>0

u ∈ A : Iε(u) ≤ C ⊂ u ∈ A : ‖u‖W 1,p ≤ C.

(Beachte, dass fur u ∈ Aua,ub und z(x) = ua + ub−uab−a (x− a) gilt u− z ∈ W 1,p

0 unddamit ‖u‖Lp ≤ ‖z‖Lp +‖u−z‖Lp ≤ ‖z‖Lp +C‖u′−z′‖Lp ≤ C‖z‖W 1,p +C‖u′‖Lp .)

Die Menge u ∈ A : ‖u‖W 1,p ≤ C ist aber schwach folgenkompakt in W 1,p

und damit nach dem Satz von Rellich-Kondrachov auch kompakt in Lp. DieBehauptung folgt nun aus der Abgeschlossenheit von A.

Wir untersuchen nun die Γ-Konvergenz der Iε. Motiviert durch unser ebengezeigtes Kompaktheitsresultat wahlen wir hierzu die von der Lp-Norm indu-zierte Metrik auf W 1,p. (Wir hatten auch die schwache W 1,p-Konvergenz wahlenkonnen, was – wie wir sehen werden – zu analogen Ergebnissen fuhrt. Die schwa-che Topologie auf W 1,p ist jedoch nicht metrisierbar.)

Satz 7.8. Die Iε Γ(Lp)-konvergieren (auf W 1,p(a, b), A und Aua,ub, ua, ub ∈ R)fur ε→ 0 gegen das Funktional

Ihom(u) =

∫ b

a

fhom(u′(x)) dx

fur u ∈ W 1,p(a, b), wobei fhom gegeben ist durch

fhom(z) = limM→∞

inf

1

M

∫ M

0

f(x, z + u′(x)) : u ∈ W 1,p0 (0,M)

.

Beweis. Setze

g(z) := lim infM→∞

inf

1

M

∫ x+M

x

f(ξ, z + u′(ξ))dξ : u ∈ W 1,p0 (x, x+M), x ∈ R

.

Wir zeigen die Behauptung zuerst mit g∗∗ anstelle von fhom und begrunden erstganz am Ende des Beweises, dass dann g∗∗ = fhom gilt.

(i) lim inf-Ungleichung: Es gelte uε → u in Lp. Da wir uns, um lim infε Iε(uε) ≥I(u) zu zeigen, auf eine Teilfolge einschranken konnten, fur die limk Iεk(uεk) =lim infε Iε(uε) gilt, durfen o.B.d.A. Iε(uε) ≤ C fur ein C > 0 annehmen.

Betrachte die aquidistante Unterteilung

xnj = a+b− an

j, j = 0, 1, . . . , n

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von [a, b]. Es folgt

Iε(uε) =n∑j=1

∫ xnj

xnj−1

f(xε, u′ε(x)

)dx

=n∑j=1

ε

∫ xnj /ε

xnj−1/ε

f(x, u′ε(εx))dx

≥n∑j=1

(xnj − xnj−1) inf

ε

xnj − xnj−1

∫ xnj /ε

xnj−1/ε

f(x, znj,ε + v′(x))dx

: v ∈ W 1,p0

(xnj−1

ε,xnjε

),

≤n∑j=1

(xnj − xnj−1)g(znj,ε),

wobei znj,ε =uε(xnj )−uε(xnj−1)

xnj −xnj−1ist. Bezeichnet g∗∗ die konvexe Einhullende von g, so

folgt, da g∗∗ als konvexe Funktion stetig ist und uε nach dem Satz von Rellich-Kondrachov gleichmaßig gegen u konvergiert,

lim infε→0

Jε(uε) ≥ lim infε→0

n∑j=1

(xnj − xnj−1)g∗∗(znj,ε) =n∑j=1

(xnj − xnj−1)g∗∗(znj ),

wobei znj =u(xnj )−u(xnj−1)

xnj −xnj−1ist.

Es sei nun vn die stuckweise affine Interpolation von u an den Stutzstellenxn0 , . . . , x

nn, d.h. es gilt

vn(xnj ) = u(xnj ) und v′n = znj auf (xnj−1, xnj ).

Es ist dann vn u in W 1,p. (Das folgt z.B. aus ‖v′n‖Lp ≤ ‖u′‖Lp und vn → ugleichmaßig.) Da nun g∗∗ konvex ist, ergibt sich

lim infε→0

Jε(uε) ≥ lim infn→∞

n∑j=1

(xnj − xnj−1)g∗∗(znj )

= lim infn→∞

∫ b

a

g∗∗(v′n)dx

≥∫ b

a

g∗∗(u′)dx.

(ii) recovery-Folgen: Es sei zunachst u(x) = zx + d. Zu gegebenem η > 0wahlen wir M > 1

η, x0 ∈ R, v ∈ W 1,p

0 (x0, x0 +M) mit∫ x0+M

x0

f(x, z + v′(x))dx ≤Mg(z) + η.

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Setze dann v zunachst durch 0 auf [x0 + M,x0 + dMe] und dann zu einer dMe-periodischen Funktion auf R fort. Definiere nun uε durch uε(x) = zx+ εv(x

ε). Da

die Funktion x 7→ f(xε, u′ε(x)) = f(x

ε, z + v′(x

ε)) εdMe-periodisch ist, konvergiert

sie schwach gegen ihren Mittelwert (vgl. die Ubungen) und es ergibt sich

limε→0

Iε(uε) = limε→0

∫ b

a

f(xε, u′ε(x)

)dx

= (b− a)dMe−1

∫ x0+dMe

x0

f(x, z + v′(x))dx

≤ (b− a)dMe−1

(Mg(z) + η + c2

∫ x0+dMe

x0+M

1 + |z|p)

≤ (b− a)g(z) + (b− a)η(η + c2(1 + |z|p)).

Nun gilt uε → u gleichmaßig. Daher gibt es ρε > 0 mit ρε → 0 fur ε→ 0, so dass,wenn wir uε durch eine affine Interpolation auf [a, a + ρε] und [b − ρε, b] zu uεabandern mit uε(a) = u(a), uε(a+ ρε) = uε(a+ ρε) und uε(b− ρε) = uε(b− ρε),uε(b) = u(b) immer noch uε → u in Lp und

limε→0

Iε(uε) ≤ (b− a)g(z) + Cη(1 + |z|p)

gilt. Ein Diagonalfolgentrick ahnlich wie in Satz 7.5 ergibt schließlich eine Folge(uε) mit uε → u in Lp und

limε→0

Iε(uε) ≤ (b− a)g(z).

Ist nun u als stuckweise affin vorausgesetzt, etwa bzgl. der Zerlegung a = x0 <x1 < . . . < xn = b so konnen wir die eben konstruierten Folgen fur alle u|[xj−1,xj ]

zusammenstuckeln. (Beachte, dass die Randwerte diejenigen von u selbst sind.)Dies ergibt eine Folge uε → u mit uε(a) = u(a) und uε(b) = u(b) und

limε→0

Iε(uε) ≤∫ b

a

g(u′(x))dx.

Nun gibt es fur jedes stuckweise affine u eine Folge von stuckweise affinen Funk-tionen uk mit den gleichen Randwerten und uk → u in Lp sowie∫ b

a

g(u′k) dx→∫ b

a

g∗∗(u′k) dx.

Ein weiterer Diagonalfolgentrick zeigt dann, dass es sogar Folgen stuckweise ste-tiger Funktionen uε mit uε → u in Lp und

limε→0

Iε(uε) ≤∫ b

a

g∗∗(u′(x))dx.

125

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gibt.Da nun g∗∗ stetig ist und |g∗∗(z)| ≤ C(1 + |z|p) erfullt (Ubung!), definiert die

rechte Seite ein stetiges Funktional auf W 1,p bzgl. der starken W 1,p-Konvergenz(Ubung!1) Die Menge der stuckweise affinen Funktionen aber liegt dicht in W 1,p,so dass es nach Proposition 7.6 tatsachlich fur alle u ∈ W 1,p eine Folge uε → uin Lp mit

limε→0

Iε(uε) ≤∫ b

a

g∗∗(u′(x))dx

gibt. Damit ist Γ-Konvergenz auf W 1,p gezeigt. Da man auch wie zuvor wiederuε(a) = u(a) und uε(b) = u(b) erreichen kann, ergibt sich das gleiche Resultat

auch auf Aua,ub . Gilt schließlich∫ bau dx = 0, so ist nicht schwer zu sehen, dass

auch A 3 uε − −∫ bauε → u gilt.

Es bleibt zu zeigen, dass g∗∗ = fhom ist. Dazu beobachten wir, dass

fhom(z) = limM→∞

inf

1

M

∫ M

0

f(x, z + u′(x)) : u ∈ W 1,p0 (0,M)

= lim

ε→∞inf

∫ 1

0

f(xε, z + u′(x)

): u ∈ W 1,p

0 (0, 1)

= lim

ε→∞inf Iε(u) : u ∈ A0,0

(mit a = 0 und b = 1 sowie ua = ub = 0) ist. Nach Proposition 7.7 und demgerade bewiesenen Γ-Konvergenzresultat lasst sich Satz 7.4(iii) anwenden, so dasssich dieser Ausdruck erweist als

fhom(z) = min

∫ 1

0

g∗∗(z + u′(x)) : u ∈ W 1,p0 (0, 1)

= g∗∗(z)

nach der Jensenschen Ungleichung.

Als Konsequenz aus Proposition 7.7 und Satz 7.8 erhalten wir nun mit Satz7.4, dass limε→0 infAua,ub Iε = minAua,ub Ihom gilt und Fast-Minimierer von Iε aufAua,ub (bis auf Teilfolgen) gegen Minimierer von Ihom auf Aua,ub konvergieren.

Dasselbe gilt fur A. Da fur jedes u ∈ A die Abbildung u− cu mit cu = −∫ bau(x) dx

in A liegt und offensichtlich Iε(u) = Iε(u − cu) und Ihom(u) = Ihom(u − cu) gilt,ergibt sich daraus auch limε→0 infA Iε = minA Ihom sowie die Konvergenz (bis aufTeilfolgen) von fur uε− cuε fur Fast-Minimierer uε von Iε auf A gegen ein u ∈ A,dass Ihom auf A minimiert. (Oder vornehmer ausgedruckt: uε → u ∈ W 1,p

0 /R.)

1Tipp: Gilt uk → u in W 1,p, so gilt u′km→ u′ f.u. fur eine Teilfolge. Wenden Sie das Lemma

von Fatou auf C(1 + |u′km|p)± g∗∗(u′km

) an.

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Phasenubergange

Im letzten Abschnitt dieser Vorlesung betrachten wir die Funktionale∫ b

a

W (u(x)) + ε2|u′(x)|2dx

mit W ∈ C1(R), y ∈ R : W (y) = 0 = 0, 1, lim inf |y|→∞W (y) > 0 undW ≥ 0. Solche Funktionale treten bei der Modellierung von Phasenubergangenin Gemischen auf. u(x) gibt dann an, welcher Anteil von ‘Stoff 1’ (z.B. Ol) amRaumpunkt x vorliegt, wahrend 1− u(x) den Anteil von ‘Stoff 2’ (etwa Wasser)misst.

Setzt man u = v′, so lassen sich diese Funktionale auch als Regularisierung ei-nes elastischen Stabs mit zwei bevorzugten Deformationen oder als regularisiertesSeglerproblem ∫ b

a

W (v′(x)) + ε2|v′′(x)|2dx

auffassen. Es wird sich als nutzlich herausstellen, stattdessen die Funktionale

Iε(u) =

∫ b

a

1

εW (u(x)) + ε|u′(x)|2dx,

u ∈ W 1,2(a, b), zu betrachten. (Beachte, dass Teilen durch ε nur die Werte desFunktionals verandert, nicht aber die Eigenschaft einer Funktion, ein Minimiererzu sein.)

Wir erwarten dann, dass Funktionen mit beschrankten Werten von Iε mehrund mehr auf 0, 1 konzentriert sind.

Betrachten wir beispielsweise (fur x0 ∈ (a, b)) das stetige uε mit

uε(x) =

0, a < x < x0,

linear auf [x0, x0 + ε],

1, x0 + ε < x < b.

Dann ist

Iε(uε) =1

ε

∫ x0+ε

x0

W (uε(x)) + ε

∫ x0+ε

x0

ε−2dx

gleichmaßig in ε beschrankt. Gleichzeitig gilt uε → u in L1 mit

u(x) =

0, a < x < x0,

1, x0 < x < b,

also u 6∈ W 1,2. Dies zeigt, dass es sinnvoll ist, den Definitionsbereich von Iεzu erweitern, um die Kompaktheitseigenschaft (K) zeigen zu konnen. Um keine

127

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artifiziellen Minimierer hinzuzufugen, tun wir dies, indem wir

Iε(u) =

∫ ba

1εW (u) + ε|u′|2dx, u ∈ W 1,2,

+∞, u ∈ L1 \W 1,2

setzen.

Bemerkung. Naturlich kann man auch andere Skalierungen der Ausgangsfunk-tionale betrachten, indem man durch andere Potenzen von ε teilt. Unser Beispielvon eben zeigt aber, dass in unserem Fall die Beitrage beider Summanden im In-tegral von gleicher Großenordnung sind. Da beide Terme in diesem Sinne “aktiv”sind, beschreibt Iε gerade die interessanteste (tatsachlich die einzig nicht-triviale)Skalierung.

Voruberlegung: Es seien u ∈ W 1,2(a, b), x1, x2 ∈ [a, b]. Dann folgt aus der elemen-taren Ungleichung x2 + y2 ≥ 2xy fur Zahlen x, y ∈ R∣∣∣ ∫ x2

x1

1

εW (u(x)) + ε|u′(x)|2 dx

∣∣∣ ≥ 2∣∣∣ ∫ x2

x1

√W (u(x))u′(x) dx

∣∣∣= 2∣∣∣ ∫ u(x2)

u(x1)

√W (t) dt

∣∣∣,letzteres mit der Substitution z = u(x).

Proposition 7.9. Es gelte Iεk(uk) ≤ C fur Folgen (uk) ⊂ L1 und εk → 0mit einer Konstante C ∈ R. Dann gibt es eine Teilfolge (ukj) und ein u ∈ L1

mit ukj → u in L1. Die Funktion u ist f.u. gleich einer stuckweise konstantenFunktion.

Beweis. Wir uberlegen uns zunachst, dass (uk) dem Maße nach gegen 0, 1konvergiert, d.h.: ∀η > 0 gilt

limk→∞| x ∈ (a, b) : dist(uk(x), 0, 1) ≥ η︸ ︷︷ ︸

=:Mη,k

| = 0.

Dies folgt sofort aus

|Mη,k|minW (y) : dist(y, 0, 1) ≥ η ≤∫Mη,k

W (uk(x))dx

≤ εkIεk(uk) ≤ Cεk.

Fur fixes N ∈ N betrachte nun die aquidistante Zerlegung a = x(N)0 < x

(N)1 <

· · · < x(N)N = b mit x

(N)i = a + (b−a)i

N. Unser nachstes Ziel ist es zu zeigen, dass

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starke Oszillationen auf einem Intervall [x(N)i , x

(N)i+1] eine gewisse Mindestenergie

kosten: Wahle s(N)i , t

(N)i ∈ [x

(N)i , x

(N)i+1] mit

uk(s(N)i ) = minuk(x) : x ∈ [x

(N)i , x

(N)i+1],

uk(t(N)i ) = maxuk(x) : x ∈ [x

(N)i , x

(N)i+1].

Ist nun uk(t(N)i ) ≥ uk(s

(N)i ) + 1

2, so folgt aus unserer Voruberlegung

∣∣∣ ∫ t(N)i

s(N)i

1

εW (uk(x)) + ε|u′k(x)|2dx

∣∣∣ ≥ 2∣∣∣ ∫ uk(t

(N)i )

uk(s(N)i )

√W (t)dt

∣∣∣≥ 2 min

∣∣∣ ∫ y2

y1

√W (t)dt

∣∣∣ : y2 ≥ y1 +1

2

=: c.

Aus den Voraussetzungen an W aber folgt, dass dieser Ausdruck c positiv ist.Fur J

(N)k = i : uk(t

(N)i )− uk(s(N)

i ) ≥ 12 erhalten wir dann

#J(N)k ≤ 1

cIεk(uk) ≤ C

fur eine Konstante C.Da die Folge (J

(N)k )k nur endlich viele Werte annimmt, gilt fur eine Teilfol-

ge, dass J(N)kj

=: J (N) unabhangig von j ist. Die Abschatzung von eben zeigt

außerdem, dass #J (N) ≤ C unabhangig von N ist. Dann aber muss (ukj) auf⋃i 6∈J(N)

[x(N)i , x

(N)i+1]

gegen eine stuckweise konstante 0, 1-wertige Funktion konvergieren, wobei dieAnzahl der Wechsel zwischen den Werten 0 und 1 bei u durch C beschranktist. Da dies fur alle N ∈ N gilt, ergibt sich ukj → u dem Maße nach fur einestuckweise konstante 0, 1-wertige Funktion u.

Tatsachlich ist ukj auch beschrankt in L∞, denn wegen ukj → u d.M.n. gibtes fur hinreichend große j ein x0 mit |ukj(x0)| ≤ 2, was fur alle x ∈ (a, b) wegen

2∣∣∣ ∫ ukj (x)

ukj(x0)

√W (t)dt

∣∣∣ ≤ ∣∣∣ ∫ x

x0

1

εW (ukj(x)) + ε|u′kj(x)|2dx

∣∣∣≤ Iεkj (ukj) ≤ C

nach unseren Annahmen an W auch |ukj(x)| ≤ ˜C fur eine Konstante ˜C > 0impliziert. Dann aber gilt sogar ukj → u in L1.

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Satz 7.10. Es gilt Γ(L1)-limε→0

Iε = I mit

I(u) =

cw#S(u), falls u stuckweise konstant,+∞ sonst,

wobei S(u) die Menge der Sprungstellen von u bezeichnet und cw = 2∫ 1

0

√W (t)dt

ist.

Beweis. (i) Es sei uεk → u in L1. Da wir – wie im Beweis von Satz 7.8 begrundet– o.B.d.A. zu Teilfolgen ubergehen konnen, durfen wir Iεk(uεk) ≤ C und damitnach Proposition 7.9 uεk → u in L1 und dann auch fast uberall annehmen, sodass u stuckweise konstant und 0, 1-wertig ist.

Zerlege (a, b) durch a = x0 < x1 < · · · < xN = b in Intervalle, so dass

• [x0, x1] und [xN−1, xN ] keinen Punkt von S(u) enthalten,

• #([xi, xi+1] ∩ S(u)) = 1 ist fur i = 1, . . . , N − 2 und

• uk(xi)→ u(xi) gilt fur i = 1, . . . , N − 1.

Dann folgt (beachte #S(u) = N − 2)

lim infk→∞

Iεk(uk) ≥ lim infk→∞

N−2∑i=1

∫ xi+1

xi

1

εkW (uk(x)) + εk|u′k(x)|2 dx

≥ lim infk→∞

N−2∑i=1

∫ uk(xi+1)

uk(xi)

√W (t) dt

=N−2∑i=1

∫ 1

0

√W (t) dt

= cw#S(u).

(ii) Es genugt, zu jedem u ∈ L1 und η > 0 eine Folge (uε) mit uεL1

−→ u undlim supε→0 Iε(uε) ≤ I(u) + η anzugeben. Da dies anderenfalls trivial ist, durfenwir annehmen, dass u stuckweise konstant und 0, 1-wertig ist. Wir geben dieKonstruktion nur fur u von der Form

u(x) =

0, a < x < x0,

1, x0 < x < b

fur ein x0 ∈ (a, b) an. Da sich uε von u nur in einer kleinen Umgebung vonx0 unterscheidet, ist klar, wie man mit dieser Konstruktion recovery-Folgen furallgemeine u erhalt.

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Wir nehmen zunachst an, dass es zu jedem η > 0 ein fast optimales “Inter-polationsprofil” v gibt, d.h. ein R > 0 und ein v ∈ W 1,2(−R,R) mit v(−R) =0, v(R) = 1 und ∫ R

−RW (v(x)) + |v′(x)|2 ≤ cw + η.

Ist dies gezeigt, so konnen wir einfach

uε(x) =

0, a < x < x0 − εR,v(x−x0

ε), x0 − εR ≤ x ≤ x0 + εR,

1, x0 + εR < x < b,

definieren. Offensichtlich ist dann uε → u in L1 und

limε→0

Iε(uε) =

∫ x0+εR

x0−εR

1

εW (uε(x)) + εk|u′ε(x)|2dx

=

∫ R

−RW (v(x)) + |v′(x)|2dx

≤ cw + η = I(u) + η.

Um schließlich die Existenz von v zu zeigen, uberlegen wir, dass die elementareUngleichung x2 +y2 ≥ 2xy fur x, y ∈ R scharf ist, wenn x = y gilt. Wir definierendaher v als Losung des Anfangswertproblems

v′ =√W (v),

v(0) =1

2.

Da y 7→√W (y) auf (0, 1) lokal Lipschitz und positiv ist, sowie

√W (0) =√

W (1) = 0 gilt, existiert die Losung v auf ganz R und erfullt

limx→−∞

v(x) = 0, limx→∞

v(x) = 1.

Indem wir R hinreichend groß wahlen und v mit

v(x) =

0 fur x < −R,v(x) fur |x| ≤ R− 1,

1 fur x > R,

affin interpoliert auf [−R,R+1] und auf [R−1, R], ergibt sich das gesuchte v.

Proposition 7.9 und Satz 7.10 zeigen nun, dass alle Voraussetzungen fur Satz7.4 erfullt sind, so dass Minimalwerte und Minimierer von Iε (bis auf Teilfolgen)gegen das Minumum bzw. Minimierer von I konvergieren.

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Anhang A

Analytische Hilfsmittel

Glattungskerne (mollifier).Es sei η ∈ C∞(Rn), η ≥ 0, supp η ⊂ B1(0),

∫Rn η = 1, etwa

η(x) :=

Ce

1|x|2−1 , falls |x| < 1,

0, falls |x| ≥ 1,

mit C > 0 geeignet (s. Abb. A.1). Man nennt η den Standard-Glattungskern.

-1

0

1

-1

0

1

0.0

0.5

1.0

Abbildung A.1: η auf R2.

Setzt man fur ε > 0

ηε(x) :=1

εnη(xε

),

so gilt offenbar ηε ∈ C∞(Rn), ηε ≥ 0, supp ηε ⊂ Bε(0),∫Rn ηε = 1.

Der folgende Satz zeigt, wie man mit Hilfe der ηε beliebig glatte Approxima-tionen an allgemeine (raue) Funktionen konstruieren kann. Das ist ein wichtigesHilfsmittel in der Analysis, das wir im Folgenden ofter benotigen werden. Die Phi-losophie ist die folgende: Gewisse Aussagen (Gleichungen/Ungleichungen) uberFunktionen lassen sich haufig viel einfacher zeigen, wenn die beteiligten Funktio-nen glatt sind. Man behandelt also zunachst diesen Fall und nutzt dann einen

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Grenzprozess wie im folgenden Satz, um die Aussage fur allgemeine Funktionenzu beweisen.

Satz A.1. Sei U ⊂ Rn offen. Zu ε > 0 definiere Uε := x ∈ U : dist(x, ∂U) > ε.Ist f ∈ L1

loc(U) 1, setze fε := ηε ∗ f in Uε, also

fε(x) =

∫U

ηε(x− y)f(y) dy =

∫Bε(0)

ηε(y)f(x− y) dy.

Dann gilt

(i) fε ∈ C∞(Uε).

(ii) fε → f fast uberall mit ε→ 0.

(iii) Ist f ∈ C(U), so gilt fε → f mit ε → 0 gleichmaßig auf kompakten Teil-mengen von U .

(iv) Ist f ∈ Lploc(U) mit 1 ≤ p <∞, so gilt fε → f mit ε→ 0 in Lploc(U).

Beweis. (i) Ist x ∈ Uε, so gibt es ein h0 > 0 mit dist(x, ∂U) > h0 + ε. Setzt manV := Bε+h0(x), so ist V offen mit V ⊂ U (kurz: V ⊂⊂ U). Fur alle h ≤ h0 gilt

Abbildung A.2: Bh, V , Uε und U .

Bh+ε ⊂ V und

fε(x+ hei)− fε(x)

h=

∫U

ηε(x+ hei − y)− ηε(x− y)

hf(y) dy =

∫V

(· · · ) dy,

i ∈ 1, . . . , n. Der Bruch im Integranden konvergiert nun gleichmaßig auf Vgegen ∂ηε

∂xi(x − y) (Mittelwertsatz und gleichmaßige Stetigkeit von ∂ηε

∂xi). Es folgt,

dass ∂fε∂xi

existiert und gegeben ist durch

∂fε∂xi

(x) =

∫U

∂ηε∂xi

(x− y)f(y) dy =

(∂ηε∂xi∗ f)

(x).

1Fur p ∈ [1,∞], U ⊂ Rn messbar definiert man Lploc(U) := f : U → R messbar, f |K ∈

Lp(K) fur jede kompakte Teilmenge K von U. Man sagt fn → f fur n→∞ in Lploc(U), wenn

fn|K → f |K in Lp(K) fur jede kompakte Teilmenge K ⊂ U gilt.

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Aus der gleichmaßigen Stetigkeit von ∂ηε∂xi

ergibt sich auch, dass ∂fε∂xi

stetig ist: Furx ∈ Uε und V wie eben gilt

∂fε∂xi

(xk) =

∫U

∂ηε∂xi

(xk − y)f(y) dy =

∫V

(· · · ) dy → ∂fε∂xi

(x)

fur xk → x.Iteriert man dieses Argument, so ergibt sich, dass ∂αfε existiert fur alle Mul-

tiindizes α, stetig ist und es gilt

∂αfε = (∂αηε) ∗ f. (A.1)

(ii) Ein Ergebnis der Maßtheorie besagt, dass fast jeder Punkt x ∈ U einLebesgue-Punkt von f ist2, d.h.

limr→0−∫Br(x)

|f(y)− f(x)| dy = 0 (A.2)

gilt. Fur ein solches x gilt:

|fε(x)− f(x)| =∣∣∣∣∫Bε(x)

ηε(x− y) (f(y)− f(x)) dy

∣∣∣∣≤ ε−n

∫Bε(x)

η

(x− yε

)|f(y)− f(x)| dy

≤ C−∫Bε(x)

|f(y)− f(x)| dy → 0

mit ε→ 0.(iii) Sei nun f ∈ C(U), K ⊂ U kompakt. Wahle W offen mit K ⊂ W ⊂⊂ U

(etwa W = B 1η(0)∩x ∈ U : dist(x, ∂U) > η fur ein genugend kleines η > 0), so

dass f gleichmaßig stetig auf W ist. Dann gilt (A.2) gleichmaßig in x ∈ K unddie Rechnung von eben3 (im Beweis von (ii)) zeigt fε → f mit ε→ 0 gleichmaßigauf K.

(iv) Zu f ∈ Lploc, K ⊂ U kompakt wahle wieder W offen mit K ⊂ W ⊂⊂ U .Dann gilt fur hinreichend kleine ε

‖fε‖Lp(K) ≤ ‖f‖Lp(W ). (A.3)

2s. z.B. [EG]. (Wenn Sie dieses Ergebnis nicht kennen, macht das gar nichts, wir werdenPunkt (ii) des Satzes im Folgenden nicht brauchen. Aus (iv) folgt, dass eine Teilfolge der fεpunktweise gegen f konvergiert. Das wird fur unsere Zwecke reichen.)

3Das folgt direkt aus der gleichmaßigen Stetigkeit; hier braucht man den Satz von denLebesguepunkten nicht.

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Begrundung hierfur: Sei x ∈ K. Dann ist nach der Holderschen Ungleichung

|fε(x)| =∣∣∣∣∫Bε(x)

ηε(x− y)f(y) dy

∣∣∣∣≤∫Bε(x)

η1− 1

pε (x− y) η

1pε (x− y)|f(y)| dy

≤(∫

Bε(x)

ηε(x− y) dy

)1− 1p(∫

Bε(x)

ηε(x− y)|f(y)|p dy) 1

p

,

wobei das erste Integral gleich 1 ist. Integration uber K liefert∫K

|fε(x)|p dx ≤∫K

(∫Bε(x)

ηε(x− y)|f(y)|p dy)dx

=

∫K

(∫W

(. . .) dy

)dx =

∫W

(∫K

(. . .) dx

)dy

≤∫W

|f(y)|p(∫

Bε(y)

ηε(x− y) dx

)dy

=

∫W

|f(y)|p dy,

wobei wir in der zweiten Zeile den Satz von Fubini angewendet haben. Das nunimpliziert (A.3).

Sei nun δ > 0 beliebig. Zu gegebenem f wahle g ∈ C(W ) mit ‖f−g‖Lp(W ) ≤ δ.(Die stetigen Funktionen liegen dicht in den Lp-Raumen.4) Wendet man nun (A.3)auf f − g an, so ergibt sich aus (iii) fur hinreichend kleines ε:

‖fε − f‖Lp(K) ≤ ‖fε − gε‖Lp(K) + ‖gε − g‖Lp(K) + ‖g − f‖Lp(K)

≤ 2‖g − f‖Lp(W ) + δ ≤ 3δ.

4An diesem Ergebnis aus der Maßtheorie kommen wir nicht vorbei, s. etwa [EG].

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Anhang B

Mikrostrukturen und Laminate

In Satz 5.17 haben wir gesehen, dass Quasikonvexitat Rang-1-Konvexitat im-pliziert. Die wesentliche Konstruktion im Beweis dafur war eine Feinschichtungvon Lagen mit Deformationsgradient A bzw. B, Rang(A − B) = 1, so dass dieresultierende gemittelte Deformation λA+(1−λ)B ergab. Iteriert man diese Kon-struktion, so gelangt man zum Begriff des Laminats. Dabei handelt es sich umdiejenigen homogenen GYMs (also Maße), die durch Deformationen solcher Artinduziert werden. (Mehr Einzelheiten hierzu, insbesondere die exakte Definitionvon Laminaten, findet man in [Mu].)

Die interessante Frage ist nun, ob tatsachlich alle GYMs auf diese Weiseentstehen. Wie wir im letzten Abschnitt bemerkt haben, sind die GYMs gera-de die verallgemeinerten Minimierer von Integralfunktionalen, die von Gradien-ten abhangen. Sie verschlusseln die Mikrostrukturen, die von den minimierendenFunktionenfolgen dieser Funktionale erzeugt werden. Unsere Frage lautet also:

Sind alle Mikrostrukturen Laminate?

Es stellt sich nun heraus, dass – ahnlich wie GYMs die dualen Objekte zu denquasikonvexen Funktionen sind – die Laminate dual zu den Rang-1-konvexenFunktionen sind. (Ein Wahrscheinlichkeitsmaß mit kompaktem Trager ist genaudann ein Laminat, wenn die Jensensche Ungleichung fur alle Rang-1-konvexenFunktionen erfullt ist.) Daraus ergibt sich schließlich, dass unsere Frage aquivalentzu der schon fruher erorterten Frage

Gilt Quasikonvexitat =⇒ Rang-1-Konvexitat?

ist.Die Vermutung von Morrey aus dem Jahre 1952, dass das nicht stimmt, wur-

de erst 1993 von Sverak bewiesen. Zum Schluss dieser Vorlesung geben wir hierseinen Beweis wieder. In Anwendung auf die mathematische Theorie der Mate-rialwissenschaften bedeutet dies, dass es Mikrostrukturen gibt, die kompliziertersind als selbst auf verschiedensten Skalen beliebig verschachtelte Materialschich-tungen.

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Satz B.1. Es sei m ≥ 3, n ≥ 2. Dann gibt es eine Rang-1-konvexe Funktionf : Rm×n → R, die nicht quasikonvex ist.

Wir benotigen die folgende nutzliche Charakterisierung der Quasikonvexitat.

Lemma B.2. f : Rm×n → R ist quasikonvex genau dann, wenn∫Q

f(F +Dϕ(x)) dx ≥ f(F )

fur alle ϕ ∈ W 1,∞(Rn), die Q = (0, 1)n-periodisch sind, gilt.

Beweis. Direkt aus der Definition 5.14 ergibt sich, dass diese Bedingung hinrei-chend fur die Quasikonvexitat von f ist.

Ist nun umgekehrt f als quasikonvex vorausgesetzt, so wahle Abschneidefunk-tionen θk ∈ C∞c (Rn) mit 0 ≤ θk ≤ 1, θk ≡ 1 auf (−k + 1, k − 1)n, θk ≡ 0 aufRn \ (−k, k)n und |Dθk| ≤ C. Fur ϕk = θkϕ folgt dann

(2k)n∫Q

f(F +Dϕ) =

∫(−k,k)n

f(F +Dϕ)

≥∫

(−k,k)nf(F +Dϕk)− Ckn−1 ≥ (2k)nf(F )− Ckn−1.

Teilt man durch (2k)n und lasst k →∞ gehen, so erhalt man die Behauptung.

Beweis von Satz B.1. O.B.d.A. sei m = 3 und n = 2. Betrachte die (0, 1)2-periodische Funktion u : R2 → R3 mit

u(x) =1

sin 2πxsin 2πy

sin 2π(x+ y)

.

Es gilt

Du(x) =

cos 2πx 00 cos 2πy

cos 2π(x+ y) cos 2π(x+ y)

,

so dass

L := spanDu(x) : x ∈ R2 =

r 0

0 st t

: r, s, t ∈ R

ist. Beachte, dass die einzigen Rang-1-Geraden in L die Geraden von der FormF + Ra⊗ b mit

a⊗ b =

1 00 00 0

,

0 00 10 0

oder

0 00 01 1

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sind.Betrachte nun die Funktion g : L→ R mit

g

r 00 st t

= −rst.

Offenbar ist g Rang-1-affin auf L. Außerdem gilt∫(0,1)2

g(Du) =

∫(0,1)2

− cos 2πx cos 2πy cos 2π(x+ y)

=

∫ 1

0

∫ 1

0

− cos2 2πx cos2 2πy + cos 2πx sin 2πx cos 2πy sin 2πy

= −1

2· 1

2+ 0 = −1

4< 0 = g(0).

Der Beweis ist hier jedoch noch nicht beendet, da g ja nur auf L definiert ist.Wir konstruieren nun auf ganz R3×2 eine Rang-1-konvexe Funktion, die auf L

nahe bei g liegt: Es sei P die orthogonale Projektion von R3×2 auf L. Setze

fε,k(F ) = g(PF ) + ε(|F |2 + |F |4

)+ k|F − PF |2.

Wir uberlegen uns zunachst, dass fur jedes ε > 0 ein k(ε) > 0 existiert, sodass fε,k Rang-1-konvex ist: Ware dies nicht der Fall, so gabe es ε > 0, so dasskein fε,k, k ∈ N Rang-1-konvex ist. Da die fε,k glatte Funktionen sind, bedeutetdas, dass es zu jedem k ∈ N Matrizen Fk ∈ R3×2 und Vektoren ak ∈ R3, bk ∈ R2

mit |ak| = |bk| = 1 existieren, so dass

D2fε,k(Fk)(ak ⊗ bk, ak ⊗ bk) ≤ 0. (B.1)

Nun ist

D2fε,k(F )(X,X) (B.2)

= D2g(PF )(PX,PX) + 2ε|X|2 + ε(4|F |2|X|2 + 8|F : X|2

)+ k|X − PX|2.

(B.3)

Da g(PF ) kubisch in F ist, skaliert D2g(PF ) linear in F . Aus (B.1) und (B.2)ergibt sich damit, dass |Fk| ≤ C beschrankt ist. (Beachte |ak⊗bk| = |ak|·|bk| = 1.)

Nach Ubergang zu Teilfolgen (wieder mit k indiziert) erhalten wir

Fk → F, ak → a, bk → b.

Im Limes k →∞ folgt dann aber aus (B.1) und (B.2)

D2g(PF )(Pa⊗ b, Pa⊗ b) + 2ε+ j|a⊗ b− Pa⊗ b|2 ≤ 0 ∀ j > 0.

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Daher ist Pa ⊗ b = a ⊗ b, also a ⊗ b ∈ L. Die Abbildung t 7→ g(PF + tPa ⊗ b)ist also Rang-1-affin, so dass D2g(PF )(Pa⊗ b, Pa⊗ b) = 0 ist. Zusammengefasstergibt sich der Widerspruch 2ε ≤ 0.

Wir konnen also ε > 0 so klein wahlen, dass∫Q

fε,k(ε)(Du) =

∫Q

g(Du) + ε(|Du|2 + |Du|4

)< 0 = fε,k(ε)(0),

fε,k(ε) aber Rang-1-konvex ist.

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