Verlagerte Eckzähne - bzb-online.de · Durchbruchshindernisse in Form überzähliger Zahnkeime...
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Verlagerte EckzähneÄtiologie, Diagnostik und Behandlungskonzepte
Ein Be i t rag von Dr. Michae l Schuber t , Regensburg
Selbst ungewöhnlich und extrem verlagerte Eck-zähne können heute aufgrund der Vielzahl der verfügbaren kieferorthopädischen Apparaturen eingestellt werden. Dieser Beitrag beschreibt den ätiologischen Hintergrund verlagerter Eckzähne sowie das diagnostische Vorgehen und zeigt an-hand illustrierter Kasuistiken mögliche therapeu-tische Strategien und Maßnahmen auf.
In der deutschsprachigen zahnmedizinischen
Fachliteratur wird zwischen einer Verlagerung
und einer Retention unterschieden. Letztere liegt
vor, wenn die morphologische Entwicklung eines
Zahnes weiter fortgeschritten ist als die zu diesem
Zeitpunkt zu erwartende Vertikalentwicklung. Ent-
spricht die Längsachse des Zahnes nicht der phy-
siologischen Durchbruchsrichtung, spricht man
von einer Verlagerung [20]. In der internationalen
Fachliteratur wird meist nicht zwischen Verlage-
rung und Retention unterschieden, sondern der
allgemeine Begriff „impacted teeth“ verwendet.
Die Adverbien „palatally“ oder „labially“ dis-
placed dienen der genaueren Beschreibung. Eine
zeitliche Komponente fügte Baccetti [1] hinzu, der
von einer Impaktion spricht, wenn der betroffene
Zahn zwei Jahre über den pubertären Wachstums-
schub hinaus noch nicht durchgebrochen ist.
Nach den Weisheitszähnen sind verlagerte Eckzähne
mit 1 bis 2,5 Prozent bei einem unselektierten Pro-
bandengut zu beobachten, wobei die oberen Eck-
zähne am häufigsten betroffen sind. Circa 85 Pro-
zent liegen palatinal, rund 15 Prozent bukkal.
Ein doppelseitiges Vorkommen wird nur bei etwa
8 Prozent diagnostiziert. Untere Eckzähne sind nach
den oberen zweiten Prämolaren, den unteren ersten
Prämolaren, den oberen mittleren Schneidezähnen
und den unteren zweiten Prämolaren am wenigsten
häufig betroffen. Die Impaktionshäufigkeit mehre-
rer Zähne liegt nur noch bei circa 0,3 Prozent [19].
Ein Geschlechtsunterschied ist zu sehen: Frauen
sind dreimal häufiger betroffen als Männer [16].
ÄtiologieNeben endokrinen Störungen oder Strahlenbelas-
tung als allgemeinen Faktoren verursachen auch lo-
kale Faktoren eine Retention beziehungsweise Ver-
lagerung. Relativ häufig ist Platzmangel durch vor-
zeitigen Milchzahnverlust und eine daraus resultie-
rende Wanderung oder Kippung der Nachbarzähne
zu diagnostizieren. Seltener bilden ein überzähliger
Zahnkeim oder ein Odontom ein Durchbruchshin-
dernis. Ein frühzeitiges Trauma im Milchgebiss kann
zu einer Schädigung des Zahnkeimes führen. Eine
dysmorphische Entwicklung der Zahnkrone oder
eine Dislaceration der Zahnwurzel als Folge können
einen natürlichen Durchbruch ebenfalls verhindern.
Zu den schwierig therapierbaren Ursachen zählt die
Ankylose. Bei einer Verlagerung/Retention ohne
lokale Ursachen geht man von einem multifakto-
riellen genetischen Komplex aus, wodurch auch die
familiäre Häufung zu erklären ist.
DiagnostikBei der klinischen Inspektion der Mundhöhle auf-
fallende persistierende Milchzähne erwecken den
Verdacht einer Verlagerung oder Nichtanlage des
entsprechenden bleibenden Zahnes. Ein hypoplas-
tischer oberer seitlicher Schneidezahn oder dessen
abnorme Achsenneigung erhärten den Verdacht.
Eine gründliche Palpation des Alveolarfortsatzes
und des Gaumens ist unerlässlich. Diese liefert
eine erste Aussage über die Lage des betroffenen
Zahnes. Der nächste Schritt ist die einzuleitende
Röntgendiagnostik. Eine Panoramaschichtauf-
nahme liefert eine gute Übersicht. Zur genaueren
Lokalisation kann unter Umständen eine Aufbiss-
aufnahme notwendig werden. Absolute Klarheit
über die dreidimensionale Lage und die Beziehung
zu den Nachbarzähnen bringt erst eine digitale
Volumentomographie (DVT).
Interzeptive BehandlungBei einer gesicherten Diagnose eines retinierten/
verlagerten Eckzahnes sollte mit interzeptiven
Maßnahmen begonnen werden. Darunter versteht
man hier eine zeitlich begrenzte Behandlung im
frühen Wechselgebiss, auf die zu einem späteren
Zeitpunkt häufig eine zweite Behandlung folgt. In
der Zwischenzeit wird der Patient nur überwacht,
aber nicht behandelt.
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Durchbruchshindernisse in Form überzähliger
Zahnkeime oder Odontome, gegebenenfalls in
Verbindung mit Zysten, sollten umgehend entfernt
werden. Die Extraktion des betroffenen Milcheck-
zahnes bei gleichzeitigem Einsetzen eines Platz-
halters verspricht eine Erfolgsrate zur spontanen
Einstellung des verlagerten Eckzahnes von 36 Pro-
zent [2]. Bei zusätzlichem lateralen Kreuzbiss führt
eine forcierte Gaumennahterweiterung zu ähnlich
guten Ergebnissen [3].
Bricht der verlagerte/retinierte Eckzahn nach an-
gemessener Zeit nicht spontan durch, muss über
das weitere Vorgehen entschieden werden. Dafür
stehen fünf Möglichkeiten zur Wahl, woraus die für
den Patienten am besten passende Lösung ange-
wendet werden sollte:
1. Entfernung des ektopen Zahnes und morphologi-
sche Verbesserung der Milcheckzahnkrone
2. Entfernung des ektopen Zahnes und des Milch-
eckzahnes mit anschließendem kieferorthopädi-
schen Lückenschluss
3. Autotransplantation nach kieferorthopädischer
Vorbehandlung zur Lückenöffnung
4. Implantatgetragener Einzelzahnersatz als pri-
märe Versorgung nach Extraktion des Milcheck-
zahnes und des ektopen Zahnes oder im Falle des
misslungenen Autotransplantats
5. Kieferorthopädische Einordnung des ektopen
Zahnes nach chirurgischer Freilegung
Chirurgische KonzepteIn Abhängigkeit von der Lage des betroffenen Zah-
nes kommen folgende Techniken zur Anwendung:
· Gingivektomie
· Bildung eines apikalen Verschiebelappens
· offenes oder geschlossenes Verfahren
· präorthodontische Freilegung
Liegt die Krone des Eckzahnes gut tastbar ober-
flächlich unmittelbar unter der befestigten Gingiva,
sollte diese mit einer Gingivektomie dargestellt
werden. Liegt die Zahnkrone noch oberflächlich,
aber bereits an der Grenze befestigter/beweglicher
Gingiva oder gering höher, ist die Bildung eines
apikalen Verschiebelappens das Mittel der Wahl.
Bei unmittelbarer Nähe zur Wurzel des lateralen
Schneidezahnes muss die Schnittführung zusätz-
lich nach lateral erweitert werden. Liegt der betrof-
fene Zahn tief im Knochen, können zwei Techniken
zur Anwendung kommen:
· ein offener Zugang oder
· ein geschlossener Zugang.
Bei Anwendung des offenen Zugangs wird die
Krone des betroffenen Zahnes von einem Chirur-
gen so weit wie möglich freigelegt und die offene
Wunde mit einem Verband abgedeckt. Nach Ent-
fernung des Wundverbandes wird von dem behan-
delnden Kieferorthopäden eine Zugvorrichtung
auf die Zahnkrone geklebt. Im Gegensatz dazu
wird bei dem geschlossenen Zugang zunächst ein
Mukoperiostlappen gebildet und die zugewandte
Kronenfläche freigelegt. Von dem Chirurgen wird
die Zugapparatur auf die Krone geklebt und der
Mukoperiostlappen reponiert und vernäht. Etwa
eine Woche später sollte das Nahtmaterial entfernt
werden. Beide Verfahren zeigen im Vergleich keine
Unterschiede, weder bezüglich der Behandlungszeit
noch hinsichtlich der Parodontalsituation [12].
Eine spezielle Technik kann bei palatinal verlager-
ten Eckzähnen noch angewendet werden: die von
Schmidt und Kokich entwickelte präorthodontische
Freilegung. Hierbei wird der Eckzahn im offenen
Verfahren freigelegt und man lässt ihn dann spon-
tan weiter durchbrechen. Dann erst erfolgt die ortho-
dontische Eingliederung in den Zahnbogen.
Kieferorthopädische KonzepteNach chirurgischer Freilegung ist es die Aufgabe
des Kieferorthopäden, den verlagerten/impaktier-
ten Zahn an die ihm zugeordnete Stelle innerhalb
des Zahnbogens zu bewegen. Für die notwendige
Kraftapplikation steht eine Vielzahl von Mechani-
ken zur Verfügung. Diese können in drei Gruppen
eingeteilt werden:
1. Mechaniken für die initiale Extrusion
2. Mechaniken zur Korrektur von Fehlstellungen
erster und zweiter Ordnung
3. Mechaniken für das Finishing
Die wohl einfachste Mechanik der ersten Gruppe ist
ein elastischer kleiner Gummiring, den der Patient
selbst zwischen dem Zugdrahtende und einem
Verankerungspunkt gegebenenfalls skelettal im
Gegenkiefer einhängt [14]. Wesentlich effizien-
ter, da compliance-unabhängig, ist die „ballista
spring“ von Jacoby [10]. Nach einem ähnlichen
Prinzip arbeitet der „spring auxiliary archwire“
von Kornhauser [11]. Zur zweiten Kategorie zäh-
len als Hebelmechaniken Titanium Molybdenum
Alloy (TMA)-Teilbögen von bukkal oder palatinal
[8]. Pseudoelastische Drähte, die als Teilbogen in
einem Hilfsslot oder im Piggy-back-Verfahren be-
festigt werden, liefern ähnliche Kräfte bei gerin-
gem Biegeaufwand. Vierkantbögen für gezielten
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Torque in der Schlussphase der Behandlung zählen
zur Kategorie drei.
Bei der Einordnung verlagerter Zähne ist die Ver-
ankerung während der gesamten Behandlungszeit
von höchster Wichtigkeit. Wenn die zur Veranke-
rung dienenden Zahngruppen nicht entsprechend
stabilisiert werden, kann es zu unerwünschten
Nebenwirkungen kommen: bei einer Bukkalbewe-
gung des Eckzahnes zu einer Palatinalbewegung
der Molaren und der Entstehung eines Kreuzbisses
oder bei einer Extrusion des Eckzahnes zu einer
Intrusion und Kippung der Nachbarzähne mit
Entstehung eines offenen Bisses [18]. Bei dem Ver-
dacht einer ungenügenden dentalen Verankerung
sollte das Problem mit einer skelettalen Veranke-
rung gelöst werden [13].
Das Bestreben, aus Zeitersparnis gleichzeitig mit
der Zahneinstellung Lücken zu öffnen, führt meist
zu unerwünschten Nebenwirkungen, die wieder zu
beseitigen sind und einem zügigen Behandlungs-
ergebnis entgegenstehen. Es ist vorteilhaft, die
Nivellierung des Zahnbogens sowie die Lücken-
öffnung vorher abzuschließen und die Einstellung
des verlagerten/retinierten Zahnes als singuläre
Behandlungsmaßnahme vorzunehmen.
Die Literaturangaben über die anzuwendenden
Kraftgrößen schwanken erheblich. Während Ca-
prioglio 90 bis 120 cN als Kraftgröße benötigt [7],
empfiehlt Becker [5] nur noch eine Kraftgröße zwi-
schen 20 bis 40 cN/cm2 Wurzeloberfläche. Die tat-
sächlich anzuwendende Kraft errechnet sich nach
der Wurzeloberfläche des einzustellenden Zahnes
und der erforderlichen Bewegungsrichtung im drei-
dimensionalen Raum [15].
KasuistikenAnhand zweier klinischer Fälle soll das therapeu-
tische Vorgehen bei der Einstellung von verlager-
ten/retinierten Eckzähnen vorgestellt werden. Da-
bei wurde das relativ neu entwickelte EWC-System
(Easy-Way-Coil, Adenta, Gilching) angewandt [17].
Dieses besteht aus einer aktiven und einer passi-
ven Komponente (Abb. 1). Beide sind aus Edelstahl
gefertigt und haben einen Außendurchmesser
von 1,2 mm sowie einen Innendurchmesser von
0,75 mm. Die aktive Komponente ist über einen Clip
mit einem Lingualbutton (Attachment zum Kleben)
verbunden. Dieser Clip liegt eng wie ein Stehkra-
gen an und erlaubt nur eine Rotationsbewegung
in einer Ebene analog einem Uhrzeiger auf dem
Zifferblatt. Die Aktivierung der Zugapparatur
erfolgt durch Kürzung der ursprünglichen Feder-
länge zum Verankerungspunkt. 1 mm entspricht
der Kürzung um drei Spiralringe und erzeugt eine
durchschnittliche Kraft von 15,8 cN. Das passive
Element des Federsystems wird als Platzhalter im
Bereich der vorbereiteten Lücke des einzustellen-
den Zahnes exakt eingepasst und auf den Veranke-
rungsbogen aufgeschoben. Die maximale Bogen-
dimension hierfür beträgt 17 x 25 oder 20 x 20 in
der 22er-Technik.
Patientenfall 1Bei diesem 12,9 Jahre alten männlichen Patienten
lag eine doppelseitige Verlagerung der Zähne 13
und 23 mit Persistenz von Milchzähnen bei einer
Klasse 1-Verzahnung vor. Die palpatorische Unter-
suchung bukkal war negativ, während palatinal in
regio 12 und 22 eine leichte Auftreibung zu tasten
war. Auf der angefertigten DVT-Aufnahme waren
die Eckzähne in ihrer Palatinallage deutlich zu
sehen (Abb. 2).
Mit einer MB-Apparatur wurden die Zahnbögen
nivelliert und die entsprechenden Lücken für die
einzuordnenden Eckzähne durch Mesialisierung der
Schneidezähne geschaffen. Nachdem die seitlichen
Schneidezähne eine physiologische Achsenneigung
hatten und einen entsprechenden Abstand ihrer
Wurzel zu den Eckzahnkronen aufwiesen, konnten
diese bereits von Anfang an in die MB-Apparatur
Abb. 1: EWC-System mit aktiver (oben) und passiver Komponente (unten) Abb. 2: DVT-Aufnahme mit Darstellung der palatinal verlagerten Zähne 13 und 23
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mit einbezogen werden. Die passiven Komponenten
des Federsystems wurden exakt gekürzt und auf den
Verankerungsbogen (Edelstahl 17 x 25) im Bereich
der Eckzähne aufgeschoben.
Durch Bildung eines Mukoperiostlappens wurden
die Eckzahnkronen von einem Chirurgen bis zur
vermuteten Schmelz-Zement-Grenze an ihrer Pa-
latinalfläche freigelegt. Dort wurde die Zugappa-
ratur mit lichthärtendem Kunststoff mittig fixiert.
Durch Zug am freien Federende mit den Fingern
wurden die Klebestelle geprüft und das freie Feder-
ende nach disto-bukkal ausgerichtet (Abb. 3), der
Mukoperiostlappen reponiert und mit Nahtmate-
rial fixiert, ebenso das überstehende Ende der Zug-
feder. Bei Verwendung des EWC-Systems sollte die
Zugapparatur bei Palatinallage der verlagerten
Eckzähne in der Regel an der Palatinalfläche und
bei Bukkallage an der Bukkalfläche im Zentrum
der klinischen Krone geklebt werden. Es wurde da-
rauf geachtet, dass keine überschüssigen Klebstoff-
reste um den Lingualbutton die Drehfähigkeit der
Zugfeder und die damit verbundene Aufrichtung
der Wurzeln behinderten.
Die Eckzähne sollten von Anfang an nach disto-
bukkal bewegt werden, also wurde mit einem Li-
gaturenschneider am distalen Ende der Platzhalte-
feder eine Kerbe als Verankerungspunkt durch
vorsichtiges Schließen eingebracht, in die sich
später ein Ligaturendraht einlagern und nicht
mehr verrutschen kann (Abb. 4). Die „Root rating
scale“ nach Ricketts der oberen Eckzähne für eine
Distal-/Lateralbewegung beträgt 0,75 cm2, woraus
sich nach der Empfehlung von Becker eine Kraft
zwischen 15 und 30 cN errechnet.
Die Zugfeder wurde zum Verankerungspunkt aus-
gerichtet und so gekürzt, dass sie am Veranke-
rungspunkt zunächst bündig abschloss. Durch eine
weitere Kürzung um 2 mm wurde die gewünschte
Kraft festgelegt und dann eine kleine Öse mit einem
Ligaturenschneider eingebogen (Abb. 5). Mit einer
Drahtligatur durch diese Öse wurde die Zugfeder
am Verankerungspunkt fixiert (Abb. 6).
Abb. 3: Klinische Situation nach Freilegung des Zahnes 13 und Einbringung des EWC-Systems
Abb. 5: Einbiegen der Öse an der aktiven Komponente (exemplarisch am Modell)
Abb. 4: Einbringen eines Verankerungspunkts (exemplarisch am Modell)
Abb. 6: Verdrillen der Drahtligatur zur Einlagerung in den Verankerungspunkt und Fixation (exemplarisch am Modell)
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Die Nachaktivierung erfolgte im Abstand von vier
Wochen durch weitere Kürzung der Zugfeder um
jeweils 2 mm und Einbiegen einer neuen Öse. Die
Zugrichtung blieb unverändert (Abb. 7). Dieses
Vorgehen wurde so lange wiederholt, bis die Krone
gut sichtbar war. In diesem Stadium wurde die Zug-
feder durch vorsichtiges Ziehen am Clip von dem
Lingualknöpfchen getrennt. Die weitere Bukkal-
bewegung wurde mit einer C-Kette durchgeführt, die
von dem seitlichen Schneidezahn bukkal über das
verbliebene Lingualknöpfchen palatinal zum ersten
Prämolaren bukkal u-förmig verlief (Abb. 8).
Nachdem die Bukkalfläche des Eckzahnes zu se-
hen war, wurde der palatinale Button entfernt und
bukkal ein neuer aufgeklebt. Die weitere Extrusion
erfolgte mit einem elastischen Gummifaden, bis die
klinische Krone so weit durchgebrochen war, dass
ein Bracket mit einem negativen Wurzeltorque (-7 °)
geklebt werden konnte. Nachdem auch der gegen-
überliegende Eckzahn dieses Stadium erreicht hatte,
wurde dieser mit dem entsprechenden Bracket
(-7 °) versorgt. Das Verankerungsbogensegment im
Bereich des Eckzahnes wurde herausgeschnitten,
weil es die weitere Extrusion des Eckzahnes behin-
derte, und durch einen superelastischen Teilbogen
ersetzt (Abb. 9).
Nach Erreichen der vertikalen Endposition wurde
mit einem durchlaufenden 16 x 22-Nitinolbogen
die bukkale Torquebewgung der Eckzahnwurzel
eingeleitet und mit einem 17 x 25-TMA-Bogen die
Feineinstellung beendet. Bei Behandlungsabschluss
20 Monate nach Freilegung der Eckzähne konnte
ein parodontal und ästhetisch gutes Ergebnis er-
zielt werden (Abb. 10 und 11).
Patientenfall 2Bei dieser 12,2 Jahre alten weiblichen Patientin
lag eine hohe Verlagerung der Zähne 13 und 23
mit Persistenz der entsprechenden Milchzähne bei
einer Neutralverzahnung vor (Abb. 12). Die an-
gefertigte DVT-Aufnahme (Abb. 13 und 14) zeigte
nach kranial geneigte Zahnachsen, eine Bukkal-
lage der Zahnkronen und die nach mesial gekipp-
ten Wurzeln der ersten Prämolaren. Der Abstand
der Eckzahnkronenspitzen zu den Spitzen der
Milcheckzähne betrug rechts 27,2 mm und links
24,4 mm. Diese Messwerte ließen Rückschlüsse
auf die voraussichtliche Behandlungsdauer zu.
Abb. 7: Klinische Situation während der Einstellung der Zähne 13 und 23 mit dem EWC-System
Abb. 9: Klinische Situation nach bukkalem Durch-bruch und weiterer Extrusion des Zahnes 13
Abb. 8: Klinische Situation nach Abziehen des EWC-Systems und weiterer Bukkalbewegung des Zahnes 13
Abb. 10 und 11: Klinische Situation nach erfolgter Einstellung der Zähne 13 und 23 und Behandlungsabschluss
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Zunächst erfolgte die Platzbeschaffung durch
Strippen und eine geringe Protrusion der Schneide-
zähne. Durch Einbiegen einer individuellen Artistik
wurden die Wurzeln der seitlichen Schneidezähne
nach mesial und die der ersten Prämolaren nach
distal gekippt, um einen entsprechend breiten „Ein-
stellungskanal“ für die verlagerten Zähne zu schaf-
fen. Zur Vermeidung von Wurzelresorptionen an
den Schneidezähnen, verursacht als ungewollter
Nebeneffekt durch längere reziproke Intrusions-
kräfte, wurden diese nicht mit in die Verankerung
einbezogen, sondern mit einem 17 x 25-Teilbogen
getrennt fixiert.
Die Seitenzähne waren jeweils auch mit einem
17 x 25-Teilbogen verbunden, an dessen mesialem
Ende allerdings eine Öse eingebogen war. Diese
diente als Verankerungspunkt für die Zugapparatur.
Ein Transpalatinalbogen, festgeschraubt an einer
9 mm langen Primärschraube mit Innengewinde
und verklebt an den Palatinalflächen der ersten Prä-
molaren, stabilisierte die transversale und sagittale
Situation im Seitenzahngebiet (Abb. 15).
Zunächst wurden die persistierenden Milchzähne
extrahiert. Nach Bildung eines Mukoperiostlap-
pens wurden die Palatinalflächen der Eckzähne
von bukkal bis zur Schmelz-Zement-Grenze freige-
legt und eine Sonderausführung des EWC-Systems
aufgeklebt. Der Button ist hierbei durch ein Eyelet
ersetzt, mit dem die Zugfeder über eine Ringöse
verbunden ist. Dadurch wird eine Beweglichkeit in
allen Freiheitsgraden gewährleistet und eine Kip-
pung der Eckzähne nach kaudal erleichtert. Nach
Durchführung der Probeaktivierung wurden die
freien Enden der Zugfedern durch die leeren Al-
veolen nach kaudal geführt (Abb. 16) und nach
Wundverschluss mit Nahtmaterial provisorisch am
Verankerungsbogen befestigt.
Eine Woche nach Freilegung wurde das Naht-
material entfernt und die erste Aktivierung durch-
geführt. Die mesial etwas längeren Enden der Teil-
bögen wurden nach palatinal hin gebogen, eine
Zugrichtung in die Mitte des Alveolarfortsatzes wurde
möglich (Abb. 17). Durch eine Kürzung der Feder
um 2 mm von ihrer ursprünglichen Länge zum Ver-
ankerungspunkt wurde eine Kraft von circa 30 cN
eingestellt. Dies war in der Anfangsphase nötig, weil
die Bewegung nach kaudal für die Eckzahnwurzel
eigentlich eine Lateralbewegung mit der entspre-
chenden reaktiven Wurzeloberfläche darstellte. Erst
nach Abkippung der Eckzähne wurde die Kraft um
die Hälfte reduziert (Aktivierung 1 mm), weil die re-
aktive Wurzeloberfläche bei einer reinen Extrusion
nur noch circa 0,45 cm2 beträgt (Abb. 18). Nachdem
die Eckzähne in der Mitte des Alveolarfortsatzes
durchgebrochen waren, wurden Brackets (+7 °) ge-
klebt und die weitere Extrusion mit einem Super-
cable-Teilbogen durchgeführt. Die palatinalen Eye-
lets mit den Zugfederresten konnten entfernt werden.
Abb. 12: Panoramaschichtaufnahme bei hoher Verlagerung der Zähne 13 und 23 mit Milchzahnpersistenz
Abb. 13 und 14: DVT-Aufnahme zur exakten Diagnostik mit Darstellung der bukkal verlagerten Zähne 13 und 23
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abgeschlossen. Nach insgesamt zwei Jahren und
8,8 Monaten vom Zeitpunkt der Freilegung an ge-
rechnet, konnte die Patientin entbändert und die
aktive Behandlung erfolgreich abgeschlossen wer-
den (Abb. 20 und 21).
DiskussionIn der Kieferorthopädie gibt es häufig mehrere
Wege, die ans Ziel führen – so auch bei der Ein-
stellung palatinal verlagerter Eckzähne. Man kann
sie unterhalb der Schleimhaut nach bukkal bewe-
gen und dann erst extrudieren, wie im gezeigten
Fall, oder zunächst extrudieren und erst dann nach
bukkal bewegen. Für den Kieferorthopäden ist der
Behandlungsaufwand in etwa ähnlich, aber für
den Patienten ist das Behandlungsempfinden un-
terschiedlich [5]. Zur Überstellung eines im Kreuz-
biss palatinal durchgebrochenen Eckzahnes muss
zusätzlich eine Aufbissapparatur immer zuverläs-
sig getragen oder zumindest mit einem geklebten
Aufbiss der Biss gesperrt werden. Beide Möglich-
Abb. 15: Klinische Situation mit der skelettalen Verankerung an den Zäh-nen 14 und 24
Abb. 17: Klinische Situation nach Aktivierung des EWC-Systems für den Zahn 13
Abb. 16: Klinische Situation nach Freilegung des Zahnes 13 und Einbringen des EWC-Systems
Abb. 18: Panoramaschichtaufnahme im Rahmen der Verlaufskontrolle mit verbesserter Achsenneigung der Zähne 13 und 23
Abb. 19: Klinische Situation während des Finishings der Einstellung des Zahnes 23
27,1 Monate nach Freilegung hatte der Zahn 23
seine vertikale Position erreicht. Mit einem 17 x 25-
Twistflexbogen wurde die palatinale Torque-
bewegung der Eckzahnwurzel eingeleitet und mit
einem 17 x 25-TMA-Kontraktionsbogen (Abb. 19)
| BZB Mai 18 | Wissenschaft und Fortbildung58
keiten stören jedoch die Kau- und Sprachfunktion
des Patienten nicht unerheblich.
Die in der Literatur [4] beschriebene starke Rota-
tion des palatinal verlagerten Eckzahnes bei der
Lateralbewegung – bedingt durch die exzentrische
Krafteinwirkung bei konventionellem Vorgehen (mit
Zugkette oder Zugdraht) – ließ sich bei Verwendung
des EWC-Systems nicht beobachten. Bei einer Zug-
kraft von 0,3 N und einem Abstand des Attachments
(gemessen von der Längsachse des Eckzahnes) von
2 bis 3 mm entsteht ein rotatorisch wirkendes Dreh-
moment von 0,6 bis 0,9 Nmm um die Längsachse
des Zahnes. Bedingt durch die Materialeigenschaf-
ten (Steifheit der Stahlfeder) und die spezielle Kons-
truktion kann das EWC-System ein Drehmoment
von maximal 0,75 Nmm übertragen, das der Rota-
tion des Eckzahnes entgegenwirkt. Durch Minimie-
rung beziehungsweise Verhinderung der Rotation
bei der Lateralbewegung und das spezielle Vorgehen
(erst derotieren, dann extrudieren) scheint sich die
Langzeitstabilität des ehemals verlagerten Zahnes
um seine Längsachse zu erhöhen.
Bezüglich der Wahl zwischen offenem und ge-
schlossenem Vorgehen bei der chirurgischen Frei-
legung besteht eine kontroverse Diskussion. Auf-
grund der Tatsache, dass weder das eine noch das
andere parodontal bessere Ergebnisse liefert [12]
oder einen zeitlichen Vorteil bringt [9], sollte das
für den Patienten angenehmere Vorgehen das Mit-
tel der Wahl sein. Das geschlossene Vorgehen er-
niedrigt die Wahrscheinlichkeit einer Nachblutung
und die Wundoberfläche ist geringer und leichter
zu reinigen. Das Hauptargument für den offenen
Zugang, nämlich die Möglichkeit eines problem-
losen Nachklebens bei Abriss der Zugübertragung,
kann bei Verwendung des EWC-Systems entkräftet
werden. Die empfohlene Probeaktivierung erfolgt
mit einer Kraft von circa 150 cN, das heißt, sie ist
fünfmal höher als die später erforderliche Kraft.
Hält die Klebestelle dem Test Stand, ist ein späterer
Abriss nahezu ausgeschlossen. Klinische Tests über
viele Jahre bestätigten diese Tatsache [17].
FazitSelbst ungewöhnlich und extrem verlagerte Eck-
zähne können heute aufgrund der Vielzahl der
verfügbaren Apparaturen eingestellt werden. Für
die notwendige Verankerung brachten die ein-
geführten TADs (Temporary Anchorage Devices)
eine wesentliche Vereinfachung. Aber nicht alles,
was machbar ist, ist sinnvoll. Patientenindividu-
ell sollte genau differenziert werden. Letztendlich
entscheiden jedoch die Erfahrung und das Können
des Behandlers über Erfolg oder Misserfolg, vo-
rausgesetzt, die biologischen Grenzen werden nicht
überschritten.
Korrespondenzadresse: Dr. Michael Schubert
Albertstraße 5, 93047 [email protected]
Literatur beim Verfasser
Abb. 20 und 21: Klinische Situation nach erfolgter Einstellung der Zähne 13 und 23 und Behandlungsabschluss
Goldenes Doktordiplom
Die Charité, die die Medizinischen Fakultäten in Berlin
repräsentiert, ehrt seit vielen Jahren ihre Alumni, die vor
50 Jahren an der Charité promoviert haben, mit der Ver-
gabe einer „Goldenen Doktorurkunde“. Auch in diesem
Jahr soll dies wieder im Rahmen eines großen Festakts
im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte
erfolgen. Leider ist der Kontakt zu so mancher Kollegin/
manchem Kollegen verloren gegangen. Sollten Sie vor
etwa 50 Jahren in Berlin promoviert haben oder jeman-
den kennen, für den das zutrifft, melden Sie sich bitte
im Promotionsbüro der Charité – Universitätsmedizin
Berlin, Telefon: 030 450576018/-016/-058.Redaktion
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