vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

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Müßiggänger Norbert Bertolini, ein Amateurfotograf zwischen den Kriegen Kathrin Dünser, Andreas Rudigier und Norbert Schnetzer (Hg.) Residenz Verlag

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Müßiggänger

Norbert Bertolini, ein Amateurfotograf

zwischen den Kriegen

Kathrin Dünser, Andreas Rudigier

und Norbert Schnetzer (Hg.)

Residenz Verlag

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Inhalt

17 Andreas Rudigier und Norbert Schnetzer

Vorwort

21 Kathrin Dünser

Norbert Bertolini

Amateur – Lebemann – Automobilist

51 Anton Holzer

Heimat-Bilder

Die österreichische Fotografie der 1930er-Jahre

71 Werner Ma;

Liebhaberei der Bürger und Fabrikanten

Amateure der Fotografie in Dornbirn um 1900

85 Markus Barnay

Menschen, Tiere, APraktionen!

Freizeit ver gnügungen in der Zwischen kriegszeit

101 Ulrich Wendl

Das Ländle wird mobil

Norbert Bertolini und die Motorisierung Vorarlbergs

117 Andreas Rudigier

Bertolini und die Olympischen Spiele

128 Norbert Bertolini in 3-D

147 Martin Kohler

Faszinierende 3-D-Fotografie

Norbert Bertolini und die Stereo fotografie

163 Ute Pfanner

Land der Berge im Fokus

181 Arno Gehrer

Lichtbildner Werner Schlegel –

eine Entdeckung

197 Anhang

Stammbaum

Autorinnen und Autoren

Register

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Kathrin Dünser

Norbert Bertolini

Amateur

Lebemann

Automobilist

Erbe und Auftrag

Wie umfangreich Norbert Bertolinis fotografisches Œuvre tatsächlich gewesen

ist, wissen wir nicht. Er haPe keine Nachkommen, und so wurde sein gesamter

Besitz nach dem Tod seiner Frau Lore 1995 in alle Winde zerstreut. Von wenigen

Fotografien abgesehen, die in den letzten Jahren vereinzelt auftauchten, war

sein Schaffen bislang nur einem kleinen Kreis bekannt.1 2017 erhielt die Vorarl-

berger Landesbibliothek eine Schenkung von drei Fotoalben und mehreren

hundert GlasplaPendias,2 die einzig mit der Auflage verknüpft war, den in Ver-

gessenheit geratenen Fotografen posthum mit einem Katalog zu würdigen. Bei

der Sichtung stellte sich heraus, dass Norbert Bertolini von 1928 bis 1939 fast

ausnahmslos stereoskopische Aufnahmen erstellte. In einem ersten SchriP

wurde zusammen mit dem vorarlberg museum eine kleine Ausstellung konzi-

piert, die ihr Hauptaugenmerk auf diese frühen 3-D-Bilder legte.3 Währenddes-

sen arbeitete die Vorarlberger Landesbibliothek daran, sämtliche Abzüge und

GlasplaPen zu digitalisieren und über das Vorarlberger Landesrepositorium4

verfügbar zu machen.

1 Erwähnung fanden u. a. Bertolinis Fotografien

„Mann im Winterwald“ und „Gletscherspalte“,

beide aus der Fotosammlung Richard Huter,

Bregenz, abgebildet in: Ute Pfanner, Magie

des Schnees. Drei Fotografen aus der Region,

in: Tobias G. NaRer (Hg.), Schnee. Rohstoff

der Kunst, Bregenz 2009, S. 242–255, Abb.

S. 253, S. 255.

2 Laut Erfassungsliste der Vorarlberger Landes-

bibliothek beinhaltet „Album 1“ circa 1400

Kleinformate in S-W aus der Zeit von Juli 1926

bis August 1933; „Album 2“ deckt mit circa

1500 Kleinformaten in S-W die Zeit zwischen

September 1933 und 1940 ab; „Album 3“ ist in

den Jahren 1964 bis 1968 entstanden, darin

finden sich ca. 550 Abzüge, die meisten davon

in Farbe. Die Alben sind von Hand beschriftet

und datiert. Die anonyme Schenkung umfasste

überdies circa 1900 GlasplaRendias, 1500

lose Abzüge sowie 300 Negative aus den Jahren

1926 bis 1938.

3 Die Ausstellung „3-D um 1930. Der Fotograf

Norbert Bertolini“ wurde vom 17. Februar

bis 15. April 2018 im vorarlberg museum

in Bregenz gezeigt.

4 Über die Webseite www.vorarlberg.at/volare

können alle digitalisierten Fotos dieser Schen-

kung kostenfrei heruntergeladen werden.

Sämtliche stereoskopischen GlasplaRendias

stehen auch als Anaglyphenfotos zur Verfü-

gung. Bei dieser Technik werden zwei Halb-

bilder in Komplementärfarben übereinander

gedruckt; die räumliche Wirkung entsteht bei

der Betrachtung durch eine Farbfilterbrille,

wie sie auch diesem Buch beigelegt ist.

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Eine vom Dornbirner Stadtmuseum für 2020 geplante Ausstellung über das

Bödele erwies sich im Nachhinein als glückliche Fügung, denn die Recherchen

zu diesem Thema brachten im November 2018 einen weiteren Fund zutage:

Die Nachkommen von Bertolinis Erben entdeckten vier Fotoalben, die sich als

Basis für alle weiteren Nachforschungen herausstellten.5 Hierbei handelte es

sich um die Alben von Marie und Hubert Bertolini sowie um das früheste Album

aus Norbert Bertolinis Kindertagen. Das nahezu quadratische Format von

27 × 23,7 Zentimeter mit einem Einband aus dunkelgrünem Leder und umlaufen-

der Goldlinienprägung ziert reduziertes florales Jugendstildekor und eine

Namensprägung am rechten oberen Rand. Das Album überwältigt vor allem

durch seinen Umfang: Auf 312 Seiten finden sich 685 Abzüge, die den Zeitraum

von 1912 bis 1920 abdecken. Für spätere Erinnerungsfotos wählte der Fotograf

eine äußerst pragmatische Lösung: Er führte das Album des 1916 in den Wirren

des Ersten Weltkriegs vermissten Bruders Hubert nahtlos weiter und dokumen-

tierte darin sein eigenes unbeschwertes Leben bis zu einer Venedigreise im

Jahr 1925. Den 141 Abzügen von Hubert stehen schließlich 869 kleinformatige

Aufnahmen6 des Bruders gegenüber. Das vierte und letzte Album aus dieser

Quelle enthält 196 Fotos unterschiedlicher Formate, die größtenteils in der

Zwischenkriegszeit entstanden und sich mit den bereits bekannten und digita-

lisierten Fotografien der Vorarlberger Landesbibliothek decken. Im Gegensatz

zu den anderen Alben fehlen bei diesem die chronologische Reihung der Abzüge

sowie deren Beschriftung. Es spricht einiges dafür, dass die Abzüge erst zu

einem späteren Zeitpunkt (und von anderer Hand?) in das querformatige Halb-

leinenalbum7 geklebt wurden.

Kurz zusammengefasst: Primärquelle und Ausgangspunkt der folgenden

Überlegungen bilden die fünf erhaltenen Fotoalben Norbert Bertolinis mit über

5000, zum größten Teil beschrifteten Abzügen. Die Aufnahmen decken die Jahre

von 1912 bis 1939 nahezu lückenlos ab und zeichnen ein äußerst spannendes

Bild vom Leben des gehobenen Vorarlberger Bürgertums dieser Zeit. Das letzte

Album fällt nicht nur zeitlich aus der Reihe, denn es enthält vorrangig Farbab-

züge aus den Jahren 1964 bis 1968. BläPert man durch die Seiten dieses Albums,

erhält man den Eindruck, dass Bertolini am Ende seines Lebens das Interesse

an den Menschen verlor und staPdessen seinen Fokus auf die ihn umgebende

Natur, Architektur und auf Baustellen richtete. Ein künstlerischer Anspruch ist

nicht mehr zu erkennen. Die Motive sowie deren Entwicklung in Farbe8 geben

einen Eindruck vom geruhsamen Leben eines alten Mannes, der sein Umfeld

beobachtete und dessen Veränderungen festhielt.

Noch lange bevor wir Kenntnis über die vier von anderer Seite verwahrten

Alben der Familie Bertolini erlangten, haPen wir die Bevölkerung im Rahmen

der Ausstellung „3-D um 1930“ über diverse Medien um Mithilfe gebeten, da sich

die Aufarbeitung von Bertolinis Lebensgeschichte aufgrund fehlender Archi-

valien, dessen Kinderlosigkeit sowie des Lebens als Privatier ohne „Brotberuf“

äußerst schwierig gestaltete. Vierzig Jahre nach seinem Tod wissen nur mehr

wenige Zeitzeugen Geschichten über Norbert Bertolini zu erzählen. Neben den

erhaltenen Fotografien sind diese Anekdoten das sprichwörtliche Salz in der

Suppe, denn sie erwecken den schablonenhaften Geck aus den Alben zu einem

Mann aus Fleisch und Blut.

5 Mein herzlicher Dank gebührt Petra Zudrell für

ihre wertvollen Tipps und hilfreichen Kontakte.

6 Die Maße der erhaltenen Abzüge sprechen für

ein PlaRenformat von 6,5 × 9 cm.

7 Der Deckel des Albums ist aus dunkelbraunem

Karton, die Maße betragen 20,4 × 27 cm.

44 Seiten aus festem elfenbeinfarbenem Kar-

ton bilden den Kern, zum Schutz der Fotos sind

Trennseiten aus „Spinnenpapier“ eingebunden.

8 Die Verbreitung der Farbfotografie in allen

Medien haRe in den 1960er-Jahren zur Folge,

dass ihr lange Zeit jeglicher künstlerische

Anspruch verwehrt blieb. Vgl. Johanna Pröll,

Zwischen Populärkultur und Kunst. Kultureller

und institutioneller Etablierungsprozess der

Farbfotografie als künstlerisches Medium

unter besonderer Berücksichtigung von William

Eggleston, Univ. Diplomarb., Wien 2013, S. 34,

[hRp://othes.univie.ac.at/26111/2013-01-09

0704765.pdf], eingesehen am 9.4.2019.

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Norbert Bertolini war kein professioneller Fotograf, sondern Amateur. Dieser

Umstand muss bei der Arbeit mit seinem Werk stets berücksichtigt werden. Ab-

gesehen von einigen wenigen Ausnahmen9 dokumentierte er also Privates, das

niemals für eine Veröffentlichung über den Verwandten- und Bekanntenkreis

hinaus gedacht war. Die Auswahl der Abzüge unterlag nicht ästhetischen Ge-

sichtspunkten, sondern wurde vorrangig vom Erinnerungswert einer Aufnah-

me bestimmt.10 Auch war es nicht Bertolinis Bestreben, den Alltag zu dokumen-

tieren. Festgehalten wurden außergewöhnliche Momente, unbekannte Orte

und seltene Objekte. Mit der Entscheidung, Momente des eigenen Daseins bild-

lich aufzuzeichnen, ist die Absicht verbunden, bestimmte Lebensbereiche zu

gestalten. […] Die Herstellung der Aufnahmen wie das Betrachten der Abzüge

erfolgt häufig in Gesellschaft und formt in gewissem Maße die Beziehungen

der Personen untereinander. Das Verhalten vor der Kamera richtet sich da-

nach, wie man sich darstellen und von anderen gesehen werden will.11

Die Fülle des erhaltenen Materials darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass

eine Fotoausrüstung sowie die Kosten für Negativmaterial und Entwicklung

in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so teuer waren, dass es

nur sehr Wohlhabenden überhaupt möglich war, diesem Hobby derart exzessiv

nachzugehen.12

Die Familienverhältnisse

In der MiPe des 19. Jahrhunderts, als in Italien die Unabhängigkeitskriege

gegen das österreichische Kaiserreich tobten, entschloss sich ein junger Kauf-

mann aus Rovereto, das Trentino in Richtung Vorarlberg zu verlassen.13 Eugen

Josef Bertolini (1833–1908, siehe Stammbaum S. 198) erkannte wohl die großen

Möglichkeiten, die eine aufstrebende Industriestadt wie Dornbirn einem ehr-

geizigen Textilkaufmann eröffneten. 1863 heiratete er die Tochter des ehemaligen

Dornbirner Bürgermeisters Franz Martin Rhomberg („Amma Franz“, im Amt

1831 bis 1853), Maria Wilhelmine Rhomberg (1840–1902), und lebte fortan in

deren Geburtshaus in der Marktstraße 4. Sechs Jahre später gründete er die

Firma Eugen Bertolini, Dornbirn. Manufaktur- und Modewaren-Lager en gros

et en detail.14 In den folgenden Jahren gebar Maria Wilhelmine elf Kinder, von

denen neun das Erwachsenenalter erreichten. Vier von ihnen heirateten in die

Unternehmerdynastie Herrburger & Rhomberg ein, indem sie sich mit Kindern

des erfolgreichen Dornbirner Fabrikanten Karl Theodor Rhomberg (1845–1918)

und seiner Frau Maria Emilie Hämmerle (1847–1907) vermählten.15 Und wäh-

rend der älteste Sohn Robert Bertolini (1869–1959) das Dornbirner Geschäft

übernahm, eröffnete der zweitgeborene Arthur im Jahr 1894 eine Filiale des

erfolgreichen Manufakturwarengeschäfts am Leutbühel in Bregenz.16 Am

12. Oktober 1896 heiratete Arthur Bertolini (1871–1959) Maria Friederika Rhom-

berg (Marie, 1870–1913) in der Dornbirner St. Martins-Pfarrkirche. Zur Feier

des Tages fuhr die aus 60 Personen bestehende Hochzeitsgesellschaft mit einem

Sonderzug ins Hotel Reutemann nach Lindau, um dort das Diner einzunehmen.17

In den folgenden Jahren wurden den beiden zwei Söhne geboren: Hubert

(1897–1916) und Norbert (1899–1982). Von Letztgeborenem handelt dieser Beitrag.

9 Das Bregenzer Stadtarchiv [im Folgenden

StAB] ist in Besitz von 77 Aufnahmen von Stra-

ßenzügen und Gebäudeansichten, die Norbert

Bertolini im Juli 1944 im Auftrag des damaligen

Bürgermeisters Carl Solhardt anfertigte. Eben-

falls erhalten ist ein dreisprachiger Tourismus-

prospekt mit dem Titel „Vorarlberg im Winter“

(hg. von F. Nohl, Innsbruck o. J.), das auf dem

Umschlag mit Bertolinis Konterfei als feschem

Skifahrer wirbt und im Inneren einige seiner

Alpinfotos zeigt.

10 Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der

privaten Fotografie in Deutschland und Öster-

reich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 23.

11 Ebd., S. 22.

12 Erst ab MiRe der 1920er kamen die billigen

Rollfilmkameras auf den Markt. Vgl. Starl,

Knipser, S. 98.

13 Die erste Erwähnung als Dornbirner Bürger

findet sich in einer Gästeliste vom 19.8.1862, in

der Eugen Bertolini im dortigen Gasthof zur

Goldenen Krone als Geschäftsreisender aus

Dornbirn genannt wird. Vgl. Ischler Bade-Liste,

19.8.1862, S. 4, [hRp://anno.onb.ac.at], einge-

sehen am 12.3.2019.

14 Wiener Zeitung, 30.11.1869, S. 17.

15 Julius Rhomberg (1869–1932) heiratete 1895

Eugenie Bertolini (1868–1926), Andreas Ernst

Rhomberg (1871–1935) war mit Lidia Bertolini

(1872–1941) seit 1897 und Hubert Rhomberg

(1873–1931) seit 1901 mit Anna Maria Pia

Bertolini (1880–1958) vermählt. Vgl. Werner

MaR (Hg.), Dornbirn Lexikon. Familienbuch,

[hRps://lexikon.dornbirn.at/startseite/

geschichte/dornbirner-familienbuch], einge-

sehen am 12.3.2019.

16 Vorarlberger Volksbla6, 16.12.1894, S. 3.

17 Vorarlberger Volksbla6, 14.10.1896, S. 4.

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Ein Zufallsfund

Den überlieferten Fotografien zufolge verbrachten Hubert und Norbert

Bertolini den überwiegenden Teil ihrer Kindheit in Dornbirn. Zumindest lassen

die zahlreichen erhaltenen Fotodokumente den Schluss zu, dass die Zeit in

Dornbirn erinnerungswürdiger gewesen ist als der Bregenzer Alltag der Familie

Bertolini. In Dornbirn lebte der geliebte Großvater Theodor Rhomberg in seinem

Stammhaus am Marktplatz 11, dem heutigen Stadtmuseum/Stadtarchiv,

oder im Kehlegger Landhaus, das vor allem im Sommer ein beliebter Treffpunkt

der gesamten Familie war (Abb. 1).

Die häufigsten Gäste sind seine geliebte Tochter Marie mit ihren Söhnen

Hubert und Norbert. Beim Großvater darf man fast alles: schwimmen, fischen,

aus Baumrinde ein Häusle bauen, Holz schnitzen, mit auf die Jagd gehen,

Natur und Landschaft bewußt und unbewußt erleben.18

Seit seinem Rückzug aus dem aktiven Geschäftsleben widmete er sich dort

ab 1890 vorrangig der Jagd und Bienenzucht sowie seiner großen Leidenschaft,

der Fotografie. Da bislang einzig Theodor Rhombergs Fototagebücher bekannt

waren,19 haPe sich die Frage nicht gestellt, weshalb Hubert und Norbert fast

ausschließlich im Dornbirner Umfeld abgelichtet worden waren. Der glückliche

Fund eines Fotoalbums aus dem Besitz von Marie Rhomberg20 wirft ein neues

Licht auf die gesamte Familie, denn er verbildlicht die Nähe zwischen Theodor

Rhomberg und seiner Tochter Marie,21 macht sie durch das gemeinsam betrie-

bene Hobby nachvollziehbar. Nach seinem frühen Ausstieg aus der Firma

18 Dieter Leuze, Theodor Rhomberg – biographi-

sche Skizzen, in: Arno Gisinger/Werner MaR

(Hg.), Mit bürgerlichem Blick. Aus den

photographischen Tagebüchern des Theodor

Rhomberg (1845–1918), Dornbirn 1994,

S. 44–47, S. 46.

19 Der Nachlass befindet sich im Dornbirner

Stadtmuseum, eine erste Aufarbeitung erfolgte

in: Gisinger/MaR, Mit bürgerlichem Blick.

20 Insgesamt erhielt das Dornbirner Stadtmuseum

vier Alben als Leihgabe. Mein herzlicher Dank

ergeht an Viktor Thurnher, der diesen Schatz

bewahrt und Markus Barnay, der ihn zur

richtigen Zeit geborgen hat.

21 Die enge Beziehung zwischen Vater und Tochter

illustriert etwa folgende Zeitungsnotiz, die

anlässlich des Todes von Marie Bertolini

erschien: „Die innige allgemeine Teilnahme

wendet sich […] dem schwer gebeugten Vater,

dem Herrn Kulturrats-Präsidenten Theodor

Rhomberg zu, der mit geradezu rührender

Zärtlichkeit an seinem Liebling hing und dessen

Alter durch die stets so heitere, fürsorgliche

Tochter so versüßt worden war. Möge die all-

gemeine Teilnahme wenigstens einigermaßen

Balsam für die tiefe Wunde sein, die ihm durch

den schweren Verlust zugefügt wurde […]“, in:

Vorarlberger Volksbla6, 7.6.1913, S. 3.

Abb. 1: Die Familie Rhomberg/Bertolini vor

dem Kehlegger Landhaus anlässlich Kaisers

Geburtstag am 18. August 1902. Am unteren

Rand bezeichnet mit „I. Franz Mäser, Köchin

Amanda, Andreas Kaufmann, Franziska

Lachner, Magdalena Kaufmann, Mama, Epich,

Ernst, Lydia, Vater, Arthur, Andreas Kaufmann,

Hubert, Eugen, Norbert, Hubert, Anna“ (Album

Marie Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 2: Verkleidete Kinder beim Spiel, be-

zeichnet mit „Bregenz Sommer 1909, Indianer

Gesellschaft. In unserem Garten“ (Album

Marie Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 3: „August Kehlegg 1902. Der l. Vater

schoß einen schönen Rehbock auf dem P[…].

Ich machte dann ein Bildchen vom l. Vater

u. seinem Begleiter Epich“ (Album Marie

Bertolini, Privatbesitz)

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Herrburger & Rhomberg haPe Theodor Rhomberg ausreichend freie Zeit – diese

nützten Vater und Tochter nicht zuletzt für Motivsuche und Inszenierung so-

wie zur technisch anspruchsvollen Entwicklung der Abzüge im hauseigenen

Fotolabor. Die vermeintliche Lücke, die sich bei der Vorbildsuche zwischen

Großvater und Enkel bislang auftat, wird durch die Tätigkeit der MuPer als

Amateurfotografin geschlossen.

Marie Bertolini richtete ihren Blick mit Vorliebe auf Alltägliches. Sie fotogra-

fierte die Familie und rückte dabei oft ohne jegliche Standesdünkel das Haus-

personal ins Zentrum ihrer Kompositionen. Neben zahlreichen Kinderporträts

(Abb. 2) interessierte sie sich besonders für die Bewohner von Kehlegg und hielt

diese – unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Rang – stets in würdevollen

Posen fest. Meist vermerkte Marie Rhomberg die Namen der abgelichteten Per-

sonen sowie den Ort, an dem die Aufnahme entstanden war. Penibel notierte

sie auch, wer das Bild aufgenommen beziehungsweise entwickelt haPe.22 Über

hundert Jahre nach deren Entstehung können so etliche Fotografien, die bis-

lang für Werke Theodor Rhombergs gehalten wurden, endlich der eigentlichen

Schöpferin zugeordnet werden (Abb. 3).

In der Familientradition

Von klein auf standen die Brüder Hubert und Norbert vor der Kamera und

wurden als Statisten von MuPer und Großvater in Szene gesetzt. Bestimmt

lernten sie dabei auch die Grundlagen der Fotografie, erhielten Einblicke in den

Umgang mit einer PlaPenkamera und durften bei der Entwicklung der Abzüge

in der Dunkelkammer dabei sein. Und so scheint es nur naheliegend, dass die

beiden jeweils bereits als 13-Jährige von den Eltern eine erste eigene Kamera

geschenkt bekamen. Fortan hielten auch sie Erinnerungswürdiges mit ihrem

Fotoapparat fest, fertigten Abzüge und klebten diese in ihre Fotoalben. Dabei of-

fenbarten die beiden völlig unterschiedliche Interessen und Vorgehensweisen.

Hubert Bertolinis kurze Lebensgeschichte ist dank seiner Fotos ausführlich

illustriert. Von 1910 bis 1914 sind insgesamt 141 Abzüge überliefert, die ihm zu-

zuschreiben sind, denn sie finden sich beschriftet in einem eigenen Fotoalbum.23

Schließt man vom Gros der Abzüge auf die Kamera, so dürfte es sich um eine

9 × 12 Zentimeter PlaPenkamera gehandelt haben. Was die Motive betrifft, so

orientierte sich Hubert Bertolini ganz an seinen nächsten Vorbildern und nahm

anfangs Familienporträts und Einblicke in den Kehlegger Dorfalltag auf. Spä-

ter fotografierte er Ausflüge mit der Familie, seine Schulklasse, den vorüber-

fahrenden Zeppelin, Jagdgesellschaften, seinen Hund Peterle; er dokumentier-

te die Überreste eines ausgebrannten Hauses oder das Kreisschießen auf dem

Berg Isel. Kurz gesagt, alles, was er für denkwürdig erachtete. Besonderes Inte-

resse kam dabei der Kameratechnik zu. Als einziger in der Familie notierte er

immer wieder die Blendengröße und den Zeitpunkt der Aufnahme (Abb. 4). Die

Fotos selbst komponierte er sehr formell, ganz in der Tradition von Großvater

und MuPer. Personen standen dabei im MiPelpunkt. Sie wurden meist zentral

platziert und in Ganzkörperaufnahme wiedergegeben. Sogar die Blickrichtung

wurde den Abgelichteten vorgegeben. Der große Abstand zwischen Fotograf

22 Marie Bertolinis Album ist hochrechteckig

(28 × 24 × 5 cm). Der Umschlag besteht aus

stark beanspruchtem dunkelgrünem Elefan-

tenhautpapier, die VorsatzbläRer sind aus Flo-

rentiner Papier mit cremefarbenen Ranken auf

braunem Grund. Das Album hat 182 feste

elfenbeinfarbene Seiten (ohne Pergamin-

ZwischenbläRer), darin sind 213 Abzüge einge-

klebt. Da die meisten davon die Maße

10 × 15 cm aufweisen, kann von einem ebensol-

chen PlaRenformat ausgegangen werden, was

für eine handliche, gut transportable Kamera

spricht. Die Bildbeschriftungen erfolgten mit

schwarzer Tusche in Kurrentschrift.

23 Das großformatige Buch mit Ledereinband,

das auf dem Umschlag ein Liebespaar im Stile

des Renaissancekünstlers Albrecht Altdorfer

(um 1480–1538) zeigt, hat ein VorsatzblaR aus

marmoriertem Papier, einen rot gefärbten Buch-

schniR und trägt die Maße 32,5 × 24,8 × 5 cm.

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und Motiv ist dabei äquivalent zu deren Wirkung: steif und distanziert. Man

mag dafür die hohen Kosten24 und den Aufwand ins Treffen führen, der mit

dem Entstehen einer solchen Aufnahme verbunden war 25.

Der Vergleich mit den fast zeitgleich entstandenen Bildern Norbert Bertolinis

zeigt jedoch, dass sich die Ambitionen des jüngsten Sprosses der Familie bereits

im zarten Alter von 13 Jahren maßgeblich von denen der anderen fotografieren-

den Familienmitglieder unterschieden.

Norbert Bertolini widmete den ersten Eintrag seines Fotoalbums der Familie

(Abb. 5): Vor einem Torbogen in der Bregenzer Schedlerstraße verewigte er im

Winter 1912 Vater, MuPer, Bruder, Großvater und den Familienhund. Dabei fällt

auf, wie akribisch er bei dieser und vielen nachfolgenden Fotografien die abge-

bildeten Personen mit Nummern versah und sie außerhalb des Abzugs bezeich-

nete. Diesen ausführlichen Bildlegenden ist es zu verdanken, dass Norbert

Bertolinis Fotografien mehr sind als bloße Illustrationen einer längst vergan-

genen Zeit, nämlich kontextualisierte Bildquellen.

Als Jugendlicher hielt Bertolini mit der Kamera fest, was er für wichtig er-

achtete. Er besuchte das Bregenzer Gymnasium und dokumentierte Schulaus-

flüge ebenso wie Wanderungen mit seinen Eltern oder Besuche von Verwandten.

Einblicke in das elterliche Geschäft, sein Zimmer, Ausblicke aus dem Fenster

(Abb. 6), Berggipfel, Pilzfunde oder Holzarbeiten – alles das schien von Bedeu-

tung, denn es fand den Weg in sein Album. Der junge Fotograf versuchte auch,

seine Leidenschaft für Sport und Geschwindigkeit mit der Fotografie zu ver-

knüpfen. Bereits die (von ihm nummerierte) 13. Aufnahme des Albums illustriert

den Versuch, einen Skisprung seines Freundes mit der Kamera festzuhalten.

24 Der Fotohistoriker Timm Starl geht davon

aus, dass sich um 1900 keine zehn Prozent der

Bevölkerung eine Fotoausrüstung und die

laufenden Ausgaben des Fotografierens leisten

konnten. Vgl. Starl, Knipser, S. 96.

25 15 Minuten dauerte die Prozedur vom Aufstellen

der Kamera über die Einstellung und Feinjus-

tierung der Schärfe und Belichtungszeit sowie

das Einschieben der PlaRenkasseRe, dem Aus-

lösen des Verschlusses bis zum Abschrauben

des Stativs. Vgl. Die Kleinbildkamera – die gan-

ze Geschichte, in: heureka-stories (9.1.2018),

[hRps://heureka-stories.de/2-uncategorised/

69-die-kleinbildkamera-die-ganze-geschichte.

html], eingesehen am 14.3.2019.

Abb. 4: Arthur und Norbert Bertolini mit Hund

Peterle, bezeichnet mit „Ausflug am 17. Juli

[1911] nach Weißenfluh, Pflanzgarten, […],

Kehlegg. B. 22 Z. 1/36 12 Uhr M.“ (Album

Hubert/Norbert Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 5: Familienporträt, bezeichnet mit „1912.

Erste Aufnahme mit meinem neuen Apparate

in der Schedlerstraße. 1. Großvater, 2. Peter,

3. Mama, 4. Vater, 5. Hubert“ (Album Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

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Eine dilePantische Retusche des Schwarz-Weiß-Positivs zeugt jedoch davon,

dass Norbert Bertolini mit dem Ergebnis unzufrieden war.

Im Juni 1913 ereilte die Familie ein schwerer Schicksalsschlag: Die MuPer

Marie Bertolini starb nach längerer Krankheit. Aus dieser Zeit sind eine Reihe

äußerst zurückhaltender, rein dokumentarischer Aufnahmen Norberts von

seinen nächsten Verwandten erhalten. Ganz nah rückte Norbert Bertolini den

Großvater (Abb. 7), den Bruder und Hund Peterle in den Fokus – als scheine er

sich seiner Nächsten mithilfe des Festhaltens auf Barytpapier versichern zu

wollen.

Eine Jugend zwischen „HüPengaudi“ und Krieg

Ab 1914 zeigen zahllose Fotografien in Norbert Bertolinis Album eine „Horde“

Halbwüchsiger bei diversen Unternehmungen. Die meiste freie Zeit verbrachten

diese befreundeten Fabrikantenkinder offensichtlich auf dem Bödele, wo

Norberts Onkel Julius, Ernst und Hubert Rhomberg jeweils FerienhüPen be-

wohnten. Julius Rhomberg bezog mit seiner Familie bereits 1902 Nummer 387,

eine der ersten um- und ausgebauten ehemaligen VorsäßhüPen der sogenann-

ten Familienkolonie. Später baute er sich ein eigenes Häuschen am Geißkopf,

während Ernst und Hubert Rhomberg langjährig Mieter in den Ferienhäusern

des Fabrikanten OPo Hämmerle blieben.

Abb. 6: Blick in die Bregenzer Kirchstraße

am 30. März 1913, vom Bertolini-Haus am

Leutbühel aus gesehen (Album Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 7: AusgeschniRenes Brustporträt

Theodor Rhombergs, bezeichnet

mit „Großvater. 29. August 1913“

(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)

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Den zahlreichen Kindern und Jugendlichen bot das Bödele an den Wochenen-

den und während der schulfreien Zeit alles, was das Herz begehrte: Im Sommer

konnte man wandern, im Moorsee schwimmen, angeln oder eine Bootspartie

unternehmen, ab 1911 lud der Tennisplatz des Alpenhotels zum Spielen ein

und die HüPe Nr. 381 haPe man „nach Art eines Bregenzerwälder ‚Tanzhauses‘

(Tonzhus) als Tummelplatz der Koloniekinder bei schlechtem WePer umge-

baut“.26 Im Winter bot sich der zugefrorene See zum SchliPschuhlaufen oder

Eiskegeln an, die umliegenden Hänge waren wie gemacht für Skitouren und

den Bau von Sprungschanzen. Für den sprichwörtlichen Einkehrschwung fand

man sich standesgemäß im Alpenhotel Bödele ein, wo getrunken und musiziert

wurde. Einzig ein selbst geplanter und erschaffener Rückzugsort fehlte. Diesen

schufen sie sich mit dem Bau einer eigenen HüPe (Abb. 8), deren Einweihung sie

am 29. August 1915 mit OPo Hämmerle und Julius Rhomberg als prominenten

Gästen (Abb. 9) feierten.27 Als Ausdruck der Identität und Zugehörigkeit zu einer

Gruppe bedienten die Jugendlichen sich der Kennzeichen studentischer Ver-

bindungen und entwarfen neben einem Zirkel28 mit Band, (Zipfel-)Mütze und

Zipfelbund auch eigene Couleur-Elemente. Die Namensgebung „Gixverbindung“

dürfte mit dem Dornbirner Dialektausdruck „Gix“29 für einen Schluck (Hoch-

prozentiges) in Verbindung stehen.

Der Krieg erreichte auch die Bödele-Fabrikantensöhne und -töchter. Zwi-

schen die fröhlichen Ausflugsfotos mischen sich immer öfter Abbildungen von

jungen Männern in Soldatenuniform, bei AntriP der Grundausbildung oder

auf Heimaturlaub. Hubert Bertolini, der ältere Bruder Norberts, musste am

12. Oktober 1915 einrücken (Abb. 10), Vater Arthur folgte bald darauf. Trauriges

Dokument dieser Zeit ist eine Fotografie vom Weihnachtsabend 1916, an dem

die frisch angetraute Karoline Bergmüller mit ihrem Stiefsohn Norbert und

dem Porträt Arthur Bertolinis vor einem reich geschmückten Christbaum sitzt.

Hubert Bertolini galt da bereits seit über einem halben Jahr als vermisst.30

Den Verlust seines Bruders erwähnte Norbert Bertolini in seinem Album nicht.

Einzig ein beigelegtes „Gedenk-BlaP für die im Welt-Kriege gefallenen Tiroler

Kaiserjäger“,31 bei dem nach Aufzählung der Toten die abschließend erwähnten

„8772 Vermißte[n] aller 4 Regimenter“ mit rotem Buntstift unterstrichen sind,

gibt einen Hinweis auf den Bruder.

26 Rudolf Hämmerle, ORo Hämmerle und das

Bödele: Wie es war und wie es wurde, Dornbirn

[1976], S. 14.

27 ORo Hämmerle (1846–1916) war über 40 Jahre

lang Seniorchef der Firma F. M. Hämmerle und

gilt als Pionier des Fremdenverkehrs auf dem

Bödele. Er kaufte ein altes Gasthaus und er-

weiterte es zum Alpenhotel Bödele. Zusam-

men mit der Finanzierung einer neuen Straße

in den Bregenzerwald legte er so den Grund-

stein für die touristische Erschließung des Ge-

biets, das bald zum beliebtesten Wintersport-

ort des Bodensees avancierte. Julius

Rhomberg (1869–1932) war der älteste Sohn

Theodor Rhombergs und übernahm bereits

1890 die Leitung der Firma Herrburger &

Rhomberg. 1895 heiratete er Eugenie Bertolini

(1868–1926) und haRe mit ihr vier Kinder. Er

war an der Spitze des Industriellenbundes und

lange Jahre als Obmann der I. Vorarlberger

Viehzuchtgenossenschaft tätig.

28 Der „Zirkel“ ist das monogrammartige Erken-

nungszeichen einer Studentenverbindung.

29 Für diesen Hinweis danke ich Werner MaR vom

Dornbirner Stadtarchiv ganz herzlich.

30 In der „Einleitung des Verfahrens zur Todes-

erklärung“ heißt es dazu: „Er rückte am

1. Oktober 1915 als Einjährig-Freiwilliger zum

3. Tiroler Kaiserjäger-Regiment nach Lambach

ein, ging im Mai 1916 mit dem 21. Marsch-

bataillon ins Feld, und ist seit einem Patrouil-

lengang auf dem Pasubio, bei dem er nach

privaten Nachrichten verschüRet wurde,

vermisst und gänzlich verschollen“, in:

Vorarlberger Landeszeitung, 5.4.1919, S. 6.

31 Beibla6 der Vorarlberger Landes-Zeitung,

o. D., S. 6.

Abb. 8: Norbert vor der GixhüRe im Winter 1916

(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 9: Die HüReneinweihung am Bödele, be-

zeichnet mit „Mitglieder und zwei Ehrenmit-

glieder. 1. ORo Hämmerle, 2. Julius Rhomberg,

Sonntag, am 29. August 1915“ (Album Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Page 12: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

30

Im Februar 1917 wurde Norbert Bertolini zur Musterung einberufen. Zwei

Monate später dokumentierte er bereits seine Soldatenlaufbahn bei Truppen-

übungen auf dem Pfänder. Wann und wo er einrücken musste, ist nicht be-

kannt. Der einzige schriftliche Nachweis für diese Zeit ist eine Feldpostkarte,

die er am 20. Juli 1917 an seinen Vater schickte.32 Als Motiv für die Vorderseite

wählte er ein Foto im alpinen Gelände, auf dem er lächelnd neben einem nicht

explodierten feindlichen Sprengkörper posiert. Für seine aktive Soldatenlauf-

bahn gibt es noch einen weiteren Beleg: Es ist dies ein undatiertes GlasplaPen-

negativ, auf dem Norbert Bertolini und zwei weitere Kaiserjäger mit einer

Gruppe Einheimischer vor der Burg Arco („Schloß Arch“) am Gardasee posieren

(Abb. 11). Das seltsame Sujet bleibt aufgrund der fehlenden Bildlegende un-

geklärt. Das Lächeln der Soldaten in Verbindung mit deren besitzergreifender

Körperhaltung, dazu die Ernsthaftigkeit der einheimischen Frauen, die ihre

Hände auf dem Rücken verschränken – es wäre spannend zu erfahren, unter

welchen Umständen die Fotografie entstanden ist. Das Negativ enthält einen

Hinweis auf Norbert Bertolinis Soldatenlaufbahn: Er trägt das Karl-Truppen-

kreuz, das Kaiser Karl I. von Österreich-Ungarn im Dezember 1916 für die

Armee stiftete. Voraussetzungen für dessen Verleihung waren ein mindestens

zwölfwöchiger Dienst an der Front sowie die Teilnahme an einer Schlacht.33

32 Darin schreibt er an die Adresse der „Stabsab-

teilung, 3. Reg.[iment] der Tiroler Kaiserj[äger]

in Steyr, Oberösterr.[eich]“: „Stellung, am 20.

Juli 17, Liebster Vater! Besten Dank für Deine

lb. Karte v. 14. ds. […] Gerade während meines

Schreibens schnurrt hoch oben ein Italienischer

Flieger vorbei, jedoch kaum zu erreichen. Hier

siehst Du ein Bild von einem 21ger Blindgänger.

Das WeRer ist jetzt sehr schön. […] Herzl. Grü-

ße sendet Dir Dein Dich innigl. Sohn Norbert“.

Schreiben in Privatbesitz.

33 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des

Doppeladlers: Österreich-Ungarn und der

Erste Weltkrieg, Graz 1993, S. 401.

Abb. 10: „Hubert am Einrückungstag.

Dienstag, den 12. Oktober 1915“ (Album

Norbert Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 11: Norbert Bertolini posiert mit Soldaten

und einheimischen Zivilisten vor der Burg

Arco am Gardasee, GlasplaRennegativ

(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Abb. 12: Norbert Bertolinis Halbbrüder Helmut

und Karl beim SchliRenfahren, Winter 1924

(Album Hubert/Norbert Bertolini,

Privatbesitz)

Page 13: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

31

Page 14: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

32

Die Zeit nach dem Krieg

Am 16. April 1916, drei Jahre nach dem Tod Marie Bertolinis, haPe Arthur Ber-

tolini Karoline Bergmüller (1883–1948) aus München geheiratet. Nach dem

Krieg wurden ihnen Helmut Ludwig (1918–1945) und Karl Hubert (1921–1999)

geboren. Mit rührseliger Zuneigung verfolgte Norbert Bertolini die Entwick-

lung seiner beiden Halbbrüder mit der Kamera (Abb. 12 und 13).

Auf die Zeit nach dem Tod seines Bruders Hubert (1897–1916), der ebenfalls

in Südtirol stationiert war und dort verunglückte, datieren die ersten Aufnah-

men von Gipfeln und Gebirgszügen, die Norbert Bertolini in großer Zahl mit

oder ohne Staffage anfertigte. Zeitlebens blieben die Berge seine große Leiden-

schaft. Mit dem EintriP ins Erwachsenenalter erweiterte sich der Radius seiner

Wander- und Skirouten, der ab MiPe der 1920er-Jahre schließlich (erneut) bis

in die Dolomiten reichte. War er im Kindes- und Jugendalter mit seinen Freun-

den fast ausschließlich vom Bödele aus zu diversen Wanderungen oder Skitou-

ren (Abb. 14) aufgebrochen, taten sich nach und nach ein paar besonders wag-

halsige Freunde zusammen und brachen zu mehrtägigen Ausflügen innerhalb

der Vorarlberger Landesgrenzen auf. Norbert Bertolini war stets mit der Ka-

mera zur Stelle und setzte alles daran, diese Expeditionen ins rechte Licht zu

rücken (Abb. 15 und 16).

Dabei gefiel ihm die Wiedergabe der Größe und Erhabenheit der Alpen ohne

zivilisatorische Hinweise ebenso, wie ihn mit der Motorisierung die Bezwin-

gung selbiger durch Straßen und Brücken zu interessieren begann (Abb. 17).

Daneben fungierte er als Regisseur und präsentierte sich selbst, oft nur spär-

lich bekleidet, als kraftstrotzenden Athleten vor Bergpanorama (Abb. 18). Bis

ins hohe Alter liebte Bertolini es, den Bergen seiner Heimat ein fotografisches

Denkmal zu setzen.

Abb. 13: Norbert Bertolinis Halbruder,

bezeichnet mit „Helmuth im Garten.

August 1921“ (Album Hubert/Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Page 15: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

33

Abb. 14: „Fernblick in das Bregenzerwaldtal

vom Hochälpele aus. Sonnt. am 26. Nov. 1916“

(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 15: „Eine kleine KleRertour am Fuße von

der Künzelspitze. 1. Hermann Rhomberg. 2.

Norbert. Freitag, am 21. Juli 1916“ (Album Nor-

bert Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 16: „Patriol vom Schindleraufstieg aus.

März 1920“ (Album Hubert/Norbert Bertolini,

Privatbesitz)

Page 16: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

34

Zeitgleich mit dem wiedererlangten Frieden änderte sich auch Bertolinis Ver-

hältnis zu den Frauen. Während er sich 1916 noch damit begnügt haPe, den

Moment festzuhalten, in dem er die Initialen seiner Angebeteten „GG“34 in einen

Baum schniP (Abb. 19), verewigte er seine erste (offizielle) Liebesbeziehung zu

Hedwig Rhomberg (1897–1985), der Tochter des Dornbirner Kronenwirts, in

zahlreichen Fotografien. Über drei Jahre waren sie ein Paar und teilten beim

Skifahren und Wandern ihre Leidenschaft für die Berge (Abb. 20). 1921 endete

die Liebe zu Hedwig, auf sie folgten in den Jahren bis zu seiner Hochzeit zahl-

reiche Freundinnen. Sie ließen sich mit Begeisterung bei ihren Ausflügen und

sonstigen Aktivitäten ablichten und dokumentieren das turbulente Treiben

Bertolinis, namentlich im Album erwähnt wurde kaum eine von ihnen. Die

Fluktuation in Bertolinis Liebesleben verwundert kaum, galt der gutaussehende

und athletische Privatier mit eigenem Motorrad doch als „äußerst guter Fang“.

Während die Mitglieder der vormaligen Bödele-Jugendbande zum Studieren

verzogen, zu arbeiten begannen oder heirateten, tauschte Bertolini seinen

Freundeskreis gegen einen jüngeren und gab sich weiterhin dem Junggesellen-

leben hin.

34 Die Initialen „GG“ könnten für Gisela Ganter

(1894–1973) stehen. Sie war die Tochter von

Hubert Ganter (1851–1923) und Irene Bertolini

(1894–1897). Zahlreiche Fotos zeugen von der

Freundschaft mit dieser Cousine.

Abb. 17: Hölltobelbrücke bei Zürs am

Arlberg, 1933 (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Abb. 18: Norbert Bertolini bei einem Schlamm-

bad, bezeichnet mit „Oberer Wildsee bei den

Pflunspitzen [Verwallgruppe]. August 1921“

(Album Hubert/Norbert Bertolini,

Privatbesitz)

Abb. 19: Norbert Bertolini schneidet die

Initialen „GG“ in einen Baum, bezeichnet mit

„Kehlegg 1916“ (Album Norbert Bertolini,

Privatbesitz)

Abb. 20: Norbert Bertolini und Hedwig

Rhomberg, bezeichnet mit „Jänner 1919“

(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)

Page 17: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

35

Page 18: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

36

Die Freiheit von 0,93 Pferdestärken

Norbert Bertolini war sehr sportlich, tat sich aber in keiner Sparte besonders

hervor. Auf den erhaltenen Bilddokumenten sieht man ihn auf SchliPschuhen,

beim Bergsteigen, Skilaufen (Abb. 21), Skispringen oder Tennisspielen. Durch

diverse Zeitungsartikel wissen wir um sein Engagement als Fahrwart im Ver-

ein Vorarlberger Skiläufer35 wie um seine wiederholte Teilnahme an diversen

Landesschießen der Heimatwehren36.

Seine wahre Leidenschaft entdeckte Bertolini jedoch erst mit dem Kauf des

Leichtmotorrads „Amstea“ der Marke Evans, das am 24. November 1923 unter

dem Kennzeichen „W II 148“ auf ihn zugelassen wurde (Abb. 22).37 Das Zusam-

menspiel von Geschwindigkeit und Technik stellte die perfekte Verbindung all

seiner Vorlieben dar und stand fortan im MiPelpunkt seines sportlichen Inter-

esses. Da die 0,93 PS des Berliner Fabrikats eine Höchstgeschwindigkeit von

45 Stundenkilometern nicht überstiegen, saPelte er bereits im darauffolgenden

Jahr auf ein wesentlich stärkeres Modell der britischen Firma Sunbeam um,

für das er sich 1925 auch einen Beiwagen zulegte. Mit diesem transportierte er

Ski (Abb. 23) ebenso wie seine zahlreichen Freundinnen. Bis zum Jahr 1931, als

Bertolini sich das erste Automobil kaufte, war die „Sunbeam“ sein ständiger

Begleiter und die erhaltenen Fotografien zeugen vom Gefühl der Freiheit und

Unabhängigkeit, welches ihm diese Maschine ermöglichte. Ähnlich der Amateur -

fotografie förderten, wie der Zeithistoriker Kurt Bauer erläutert, „Fahrräder,

Motorräder [und] Automobile als technische HilfsmiPel zur Beschleunigung der

Fortbewegung […] (mentalitätsgeschichtlich gesehen) den Prozeß der Individu-

alisierung. Sie trugen dazu bei, dass der Einzelne sich selbst als Individuum

wahrnehmen und als Akteur und Gestalter der eigenen Lebensgeschichte defi-

nieren konnte.“38

35 Es gibt einige Erwähnungen dazu in

Vorarlberger Zeitungen, darunter im

Vorarlberger Tagbla6, 19.11.1920, S. 2.

36 Seine Teilnahme an diversen WeRschießen

wird mehrmals erwähnt, etwa in der

Vorarlberger Landes-Zeitung, 30.7.1925, S. 3.

37 Emmerich Gmeiner, Eugen ZardeRi und die

Auto-Vorarlberger. Eine Geschichte des frühen

Automobilismus im Ländle, Hard 2007, S. 384.

38 Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens.

Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Auto-

mobil (Damit es nicht verloren geht … 50), Wien-

Köln-Weimar 2003, S. 213.

Abb. 21: Norbert Bertolini beim Skisprung in

steilem Gelände, 1925 (Album Hubert/Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 22: Norbert Bertolini und seine

„Amstea“ von Evans, bezeichnet mit

„November 1923“ (Album Hubert/Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Abb. 23: Norbert Bertolini und sein Skitrans-

port auf der Bödelestraße, bezeichnet mit

„(November 1925)“ (Album Hubert/Norbert

Bertolini, Privatbesitz)

Page 19: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

37

Page 20: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

38

Im Sommer 1929 kulminierte Bertolinis Motorradbegeisterung in einer acht-

tägigen Dolomitenreise anlässlich eines TourenwePbewerbs. Neben ihm nahmen

Ferry Fink, Edi Meusburger, Werner Schlegel und Herbert Kiene an dieser Fahrt

teil, wobei letzterer die gesamte Reise im Frühjahrsheft der Zeitschrift Motor

und Sport beschrieb und dafür ein Preisgeld in der Höhe von 1000 Schilling er-

hielt.39 Die Fotos zu diesem Ausflug stammten von Norbert Bertolini und seinem

Freund, dem Fotografen Werner Schlegel40 (Abb. 24).

39 „Herr Kiene hat es verstanden, sehr hübsch

und lebhaft zu schildern, so daß der Zweck

seiner Arbeit, anregend zu wirken, voll erreicht

wurde.“ Vorarlberger Landes-Zeitung,

13.5.1930, S. 3.

40 Siehe Arno Gehrers Beitrag im vorliegenden

Band ab S. 181.

Abb. 25: Norbert Bertolini und Werner Schlegel

als Teilnehmer bei einem Motorradrennen, um

1930 (Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Abb. 26: Werner Schlegel und Norbert Bertolini

(?) auf dem Dach einer HüRe, bezeichnet mit

„1928. (Sommer)“ (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Abb. 24: Dolomitenfahrt 1929, bezeichnet

mit „Edi [Meusburger]/Herbert [Kiene]/

Werner [Schlegel]/Ferry [Fink]. Tofana“

(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Page 21: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

39

Exkurs: Der Profi als Freund und Vorbild

Werner Schlegel wurde 1908 in Bregenz geboren. Als Spross einer ehemals

wohlhabenden Familie fehlten ihm die finanziellen MiPel für einen Lebensstil,

wie ihn Norbert Bertolini pflegte. Schlegel absolvierte eine Ausbildung zum

Fotografen bei Risch-Lau in Bregenz, sammelte nach der Gesellenprüfung Aus-

landserfahrungen in Deutschland und begann 1926 zuerst als Mitarbeiter,

später als Kompagnon von Pankraz Sonntag im Bregenzer Fotohaus Immler.41

In seiner Freizeit versuchte er sich als KunsPurner, Kunstspringer,42 Skifahrer

und Numismatiker,43 war überdies Mitglied des Bregenzer Automobilclubs 44.

Im Juni 1929 organisierte er für den Bregenzer Turnverein ein aufwendiges

Sommerspektakel, für das er als Zirkusdirektor Ren-Rew (= weR-neR) des

gleichnamigen Zirkus’ in den Bregenzer Seeanlagen auftrat.45 Die Dolomiten-

reise von 1929 übertraf Schlegel 1932 mit einer Motorradfahrt nach Afrika,

die er mit drei Freunden unternahm.46

Wie und wann sich Norbert Bertolinis Wege mit jenen Werner Schlegels

kreuzten, ist nicht bekannt. Ab dem Ende der 1920er-Jahre ist ihre Freund-

schaft jedenfalls auf zahlreichen Fotografien dokumentiert. Gemeinsam nah-

men sie an Motorradrennen teil (Abb. 25), machten Ausflüge in Bertolinis

BMW „Wartburg“ oder trieben Schabernack mit Kollegen bei gemeinsamer

HüPengaudi (Abb. 26).

Die Freundschaft fand ihr jähes Ende mit Werner Schlegels Tod kurz vor

Kriegsende 1945.47 Die erhaltenen Bilddokumente der beiden machen deutlich,

dass Bertolinis fotografisches Œuvre ohne diese Verbindung ganz anders

ausgesehen häPe. Zwar war er über den Großvater und die MuPer mit den

Grundlagen der Amateurfotografie vertraut, doch die Zusammenarbeit mit

dem professionellen Vorarlberger Fotografen öffnete Bertolinis Horizont und

steigerte seinen Ehrgeiz, wovon waghalsige Perspektiven (Abb. 27) ebenso

zeugen wie außergewöhnliche Lichtstimmungen (Abb. 28) oder die vielfachen

Versuche, Geschwindigkeit festzuhalten.

41 Mein herzlicher Dank gilt Arno Gehrer, der den

Nachlass Werner Schlegels erforscht.

42 Innsbrucker Nachrichten, 16.8.1927, S. 6.

43 Bludenzer Anzeiger, 18.7.1931, S. 3.

44 Alpenländische Rundschau, 2.4.1932, S. 9.

45 In der Vorarlberger Landesbibliothek hat sich

ein Kurzfilm erhalten, der Werner Schlegel und

seine Artist*innen in Aktion zeigt. Ich danke

Markus MaineRi für diesen Hinweis.

46 „Die Afrika-Motorradfahrer wieder in der

Heimat. Begeisterter Empfang in Bregenz“

lautete die Überschrift in: Vorarlberger-

Landeszeitung, 18.4.1932, S. 3.

47 Schlegel fiel im slowakischen Budimír nahe

Prešov (Ostslowakei).

Abb. 27: Norbert Bertolini, Die Besteigung des

Lagazuoi in den Dolomiten, 1937, stereoskopi-

sches GlasplaRendia (Sammlung Norbert

Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)

Abb. 28: Norbert Bertolini posiert im Gegen-

licht, 1936 (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Page 22: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

40

Es hat sich eine Serie erhalten, die einen Eindruck von der inspirierenden

Freundschaft dieser beiden Männer vermiPelt: An einem schönen Sommertag

im Juli 1931 unternahmen die beiden einen Ausflug ins Allgäu und inszenierten

sich dabei im Stile Laurels und Hardys (Abb. 30). Sie sitzen im Heck eines kleinen

Ruderboots, umgeben von einem Teppich aus Seerosen, tragen weiße Hemden,

Knickerbocker und Melonen mit eingesteckten Blüten. Die Perspektive ist so

gewählt, dass der Betrachter meint, er säße im Bug des Bootes und sei Teil der

Gesellschaft. Ein weiteres Foto der Serie zeigt die beiden am Oberjoch, Rücken

an Rücken auf einem Felsen über dem Abgrund sitzend, dahinter öffnet sich

der Blick auf das Ostrachtal vor Allgäuer Bergpanorama (Abb. 29). Auch

hier ist das Motiv sorgsam gewählt: Im Feiertagsgewand posieren die beiden

auf einem Felsen über dem Abgrund, dämlich grinsend, präsentieren sie sich

(scheinbar) keiner Gefahr bewusst.

Bei der Dokumentation ihrer gemeinsamen Leidenschaften, dem Alpinismus

und der Liebe für den Motorsport, haben die beiden Freunde sich wohl gegen-

seitig befruchtet. Der Qualitätssprung im fotografischen Werk Norbert Bertolinis

macht seine Aufnahmen aus den 1930er-Jahren zu den kunsthistorisch wert-

vollsten. Dennoch darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass sich

diese Werke im Rahmen einer konservativen und heimatverbundenen Foto-

grafie bewegten, der sich sowohl Werner Schlegel als auch Norbert Bertolini

verpflichtet fühlten und wie sie erst der austrofaschistische „Ständestaat“ und

später der Nationalsozialismus forcierte und propagandistisch nutzte.4848 Siehe den Beitrag von Anton Holzer in diesem

Band ab S. 51.

Abb. 29: Norbert Bertolini und Werner Schlegel

am Oberjoch vor Allgäuer Bergpanorama,

Juli 1931, stereoskopisches GlasplaRendia

(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Abb. 30: Norbert Bertolini und Werner

Schlegel in einem Kahn am Waldsee, 1931,

stereoskopisches GlasplaRendia

(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Page 23: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

41

Page 24: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

42

Page 25: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

43

Ein neuer LebensabschniP

Mit Ende der 1920er-Jahre begann im Leben Norbert Bertolinis eine Zeit großer

Veränderungen. In einem ersten SchriP legte er sich eine Stereokamera zu, mit

der er sein Leben in den folgenden zehn Jahren dokumentierte.49 Mit 31 Jahren,

am 17. November 1930, beendete Norbert Bertolini sein Junggesellentum und

vermählte sich mit der Ulmer Kaufmannstochter Eleonore Helene Stückle

(1906–1995) (Abb. 31).50

Ob es sich dabei um eine Liebesheirat handelte, oder ob auch wirtschaftliche

Kriterien eine Rolle für die Wahl der Ehefrau spielten, bleibt offen.51 Zusammen

bezog das junge Paar jedenfalls eine Wohnung im zweiten Stockwerk des fami-

lieneigenen Hauses am Bregenzer Leutbühel, in dem sich auch das Manufak-

turwarengeschäft des Vaters befand.52 Den erhaltenen Bildern ist zu entneh-

men, dass Lore Bertolini den Bergen zeitlebens ebenso zugetan war wie ihr

Ehemann. Auch sonst scheint sie sportlich sehr aktiv gewesen zu sein, wie eine

Zeitungsnotiz über die Teilnahme an einem nationalen Tennisturnier am Bödele

schließen lässt.53 Die Ehe der beiden blieb kinderlos. Wie Lore Bertolini ihre Tage

füllte, welchen Freizeitbeschäftigungen sie nachging und wie ihr das Leben in

Vorarlberg gefiel, ist nicht bekannt. In späteren Jahren widmete sie sich inten-

siv dem Kartenspiel.54 Mit ihrem Mann teilte sie die Liebe zu Sportwagen und

legte sich in den 1960er-Jahren einen VW „Karmann-Ghia“ zu, mit dem sie gerne

ihre Familie in Ulm besuchte. Darüber hinaus ist kaum etwas über ihr Leben

und ihre Leidenschaften bekannt.

49 Die Stereoskopie wird umgangssprachlich als

„3-D“ bezeichnet. Tatsächlich vermiReln dabei

zweidimensionale Bilder einen dreidimensio-

nalen Eindruck – ein „Raumbild“. Die Stereo-

skopie beruht darauf, dass der Mensch die

Umgebung mit seinen beiden Augen aus zwei

Blickwinkeln betrachtet. So kann das Gehirn

gesehenen Objekten eine Entfernung zuordnen

und ein räumliches Bild der betrachteten

Umwelt erzeugen. Eine Stereokamera ist mit

zwei Objektiven im Augenabstand ausgestat-

tet, sie nimmt die beiden benötigten Teilbilder

gleichzeitig auf. Ein solches Bilderpaar wird als

„stereoskopisches Bild“ bezeichnet. Zur

Betrachtung der Bilder benötigte man ein tech-

nisches HilfsmiRel. Meist war das ein soge-

nannter Stereo-Bildbetrachter mit Optikaugen

und verstellbarer Halterung. In den 1920er-

Jahren erlebte die Stereoskopie indes als Lieb-

haberei erneut ein kurzfristiges Revival. Siehe

dazu den Beitrag von Martin Kohler im vorlie-

genden Band ab S. 147.

50 „In Ulm a. d. D. wurde Herr Norbert Bertolini,

der Sohn des Inhabers der großen Manufaktur-

warenfirma Artur Bertolini in Bregenz, mit

Fräulein Lore Stückle aus Ulm getraut.“

Bregenzer Nachrichten, in: Alpenländische

Rundschau, 22.11.1930, S. 10.

51 Die Familie führte 1900 bis 1966 ein Herren-

bekleidungsgeschäft mit Maßschneiderei in

der Ulmer Innenstadt. Über die wirtschaftlichen

Verhältnisse der Familie ist wenig bekannt,

da die Ulmer Gewerbeakten 1944/45 fast voll-

ständig verbrannt sind. Die gute Lage in der

Hirschstraße 24 stützt aber diverse Aussagen,

dass Lore Bertolini aus sehr wohlhabendem

Hause stammte. Ich danke MaRhias Grotz vom

Haus der Stadtgeschichte – Stadtarchiv Ulm

für diese Information.

52 Laut Melderegister zog Lore Bertolini am

26.11.1930 in die Bregenzer Rathausstraße 1

ein. Mein herzlicher Dank gilt Thomas Klagian

vom Bregenzer Stadtarchiv für die ÜbermiR-

lung dieser Daten und weiterer Informationen.

53 „Die Schlußrunde im gemischten Doppel […]

endete mit einem Siege für Fräulein Grete

Eyth, Bregenz und Dr. Kispert gegen Frau Lore

Bertolini, Bregenz und Herrn Hubert Hämmerle,

Dornbirn“, in: Vorarlberger Tagbla6, 15.9.1931,

S. 7.

54 Ihr zeitweiliger Bridgepartner Richard

Huter aus Bregenz sowie die Gastronomen

Barbara Moosbrugger-Fetz und Franz Fetz

berichteten von diesem Hobby als ihrer

großen Leidenschaft.

Abb. 31: Hochzeit von Lore Stückle und

Norbert Bertolini im Ulmer Münster, Novem-

ber 1930, GlasplaRennegativ (Sammlung Nor-

bert Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)

Page 26: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

44

BMW 3/15 PS DA 3 Typ „Wartburg“

Es ist etwas Seltsames um dieses Reisen mit dem Auto. Es führt viel unmi;el-

barer als die Eisenbahn in das Leben hinein. Aber es führt auch wieder viel zu

schnell an ihm vorbei. Vor allem, es kostet viel Zeit. Die Eisenbahn macht es

schneller, sie läßt Muße zum Aufenthalt, zum Kennenlernen der Dinge und der

Menschen, und zum Studieren. Das Reisen im Auto nimmt die ganze Zeit in

Anspruch. Es wird Selbstzweck […].55

Von April 1930 bis Jänner 1931 begründete BMW seine Automobilsportge-

schichte mit dem Bau eines kleinen, nur knapp über 400 Kilogramm schweren

und zirka 90 Stundenkilometer schnellen Roadsters mit der Typenbezeichnung

BMW 3/15 PS DA 3 „Wartburg“. Die Gestaltung war an das englische Vorbild, den

Austin 7 „Ulster“, angelehnt, sein 750-Kubikzentimeter-Vierzylindermotor mit

Doppelauspuffanlage auf 18 PS getunt. Nur 150 Stück dieses erfolgreichen WeP-

bewerbswagens wurden bis 1931 verkauft. Der Preis betrug 3100 Reichsmark.56

Ab 1931 war Norbert Bertolini stolzer Besitzer eines solchen Sportwagens,

den er durch das Anbringen einer handtellergroßen eisernen Spinne auf dem

Kühlergrill personalisierte (Abb. 32).

Abb. 32: BMW-Kühlergrill mit eiserner Spinne,

Detail, 1931, stereoskopisches GlasplaRendia

(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Abb. 33: Norbert Bertolini im BMW „Wartburg“

auf der Sellastraße mit Marmolata, stereosko-

pisches GlasplaRendia (Sammlung Norbert

Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)

55 Aus einer Rezension zu Felix von Moeschlins

„Amerika vom Auto aus. 20.000 km U. S. A.“

(1930), in: Frankfurter Zeitung, 8.6.1930.

56 Sämtliche dieser Informationen verdanke ich

Hagen Nyncke vom Archiv der BMW Group.

1,– Reichsmark entsprach der Kaufkraft von

rund 6,60 Euro.

Page 27: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

45

Abb. 34: Werner Schlegel im BWM auf einer

italienischen Kriegsstraße, stereoskopisches

GlasplaRendia (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Abb. 36: Lore Bertolini im BMW auf der Reichs-

autobahn, 1936, stereoskopisches GlasplaRen-

dia (Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger

Landesbibliothek)

Abb. 35: Lore Bertolini im BMW auf

der Großglockner Hochalpenstraße,

1936, stereoskopisches GlasplaRendia

(Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

57 Die eiserne Spinne fand später ihren Weg vom

Auto zu Bertolinis Haus auf der Seewarte, denn

dort hockte sie fortan an der Fassade und

erschreckte neugierige Wanderer. Interview

mit Barbara Moosbrugger-Fetz und Franz Fetz,

7.4.2018. Petra Zudrell machte die Spinne bei

einer Dornbirner Sammlerin ausfindig.

58 Aus den Vorarlberger Gemeindestuben, in:

Vorarlberger Volksbla6, 25.9.1931, S. 5.

59 Die Reichsautobahnen in Deutschland waren

ein Netz von Schnellstraßen, mit deren Pla-

nung und Bau schon in der Weimarer Republik

begonnen worden war. Nach der Machtergrei-

fung durch die Nationalsozialisten 1933 wurde

der Ausbau beschleunigt und als Maßnahme

gegen die hohe Arbeitslosigkeit deklariert.

60 Der Ford „Eifel“ wurde 1935 bis 1940 als Nach-

folgemodell des Ford „Köln“ von der deut-

schen Ford Motor Company AG in Köln gebaut.

Er haRe 34 PS und war mit einem Dreigang-

getriebe ausgestaRet. Vgl. PKW – deutsche und

ausländische Fabrikate, in: Saar-Nostalgie,

Kapitel Verkehr [hRp://www.saar-nostalgie.de/

PKWDeutsch.htm], eingesehen am 16.4.2019.

Welche Bedeutung dieses Emblem für Bertolini haPe, entzieht sich bis heute

unserer Kenntnis.57 Zum Schutz seines Automobils beantragte Bertolini über-

dies den Bau einer Garage im familieneigenen Garten am Ölrain. Diesem

Wunsch wurde in der Bregenzer Stadtvertretungssitzung vom 24. September

1931 unter Punkt 5 staPgegeben: „Dem Herrn Norbert Bertolini wird die Bauab-

standsnachsicht zur Erstellung einer Autogarage aus Wellblech erteilt, da die

Anrainer (Erben nach Herrn ZardePi) dagegen keinen Einwand erheben.“58

Von 1931 bis 1938 befand sich der „Wartburg“ in Bertolinis Besitz und stellte

sein liebstes Fotomotiv dar. Der kleine Rennwagen wurde von seinem Fahrer

auf unterschiedlichen Strecken voller Stolz und mit viel Liebe zum Detail in

Szene gesetzt: Er meisterte etliche Passhöhen (Abb. 33), trotzte winterlichen

Fahrbahnen und bewältigte sogar Kriegsstraßen in den Dolomiten (Abb. 34).

Alpentouren mit spektakulären Passagen – wie die erst 1935 eröffnete Groß-

glockner Hochalpenstraße (Abb. 35) – stellten ein ähnlich begehrtes Reiseziel

dar wie eine Fahrt auf der zu jener Zeit noch spärlich genutzten deutschen

Reichsautobahn59 (Abb. 36).

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wechselte Bertolini das Auto. Anstelle des

sportlichen „Wartburgs“ setze er nun auf einen staPlichen Ford „Eifel“.60 Nach

1945 fand Bertolini zum Modell VW „Käfer“ in British Racing Green, dem er bis

zu seinem Lebensende treu blieb.

Page 28: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

46

Eine HüPe in den Bergen

Am 25. April 1932 fanden sich Norbert Bertolini und vier Zeugen beim Dorn-

birner Notar Bernard Rudigier ein, um einen Kaufvertrag zu besiegeln, dem

zufolge die Firma Alpenhotel Bödele OPo Hämmerle ein 400 Quadratmeter

großes Grundstück für 2400 Schilling an den Bregenzer Privatier veräußerte.

Dem Käufer wurde ein immerwährendes Geh- und Fahrrecht eingeräumt; er

verpflichtete sich seinerseits, „niemals eine Gastwirtschaft zu errichten oder

daselbst ein dem Hotelbetrieb schädigendes Gewerbe auszuführen“.61

Bald darauf sah man einen gewissen Lehrer Bildstein, einen Radiästhesisten,

mit der Wünschelrute in Händen nach dem idealen Ort für den Brunnenbau zu

suchen.62 Das Ergebnis war nicht von Erfolg gekrönt, wie Rudolf Hämmerle in

seiner Geschichte des Bödele zu berichten wusste: „Norbert Bertolini, der auch

1932 [...] baute, versuchte einen Brunnen zu schlagen, kam aber bei 15 m Tiefe,

wo ihm die Rutengänger zu graben empfahlen, nicht auf Wasser.“63

Von diesen anfänglichen Schwierigkeiten ließ sich der Grundbesitzer aber

nicht beirren und begann bereits im Sommer 1932 mit dem Bau eines kleinen

Häuschens am östlichsten Punkt der Seewarte (Abb. 37). Der Standort am

61 Dokumentenarchiv F. M. Hämmerle, Schachtel

Verträge Alpenhotel Nr. 1–54, Nr. 32, Kaufver-

trag mit Norbert Bertolini. Mein herzlicher

Dank ergeht an Nikola Langreiter für die Über-

miRlung dieses Aktenfundes.

62 Bei dem von Bertolini in seinem Album als

„Lehrer Bildstein“ bezeichneten Mann könnte

es sich um Emil Bildstein (1890–1952) gehan-

delt haben. Im Dornbirner Familienbuch ist

als Berufsbezeichnung Lehrer angegeben. Vgl.

MaR, Dornbirner Familienbuch, [hRps://

lexikon.dornbirn.at/startseite/geschichte/

dornbirner-familienbuch/], eingesehen am

10.1.2019. Die Radiästhesie gehört zu den

Parawissenschaften und bezeichnet die Lehre

von den angeblichen Strahlenwirkungen auf

Organismen.

63 Hämmerle, ORo Hämmerle, S. 44–45.

Abb. 37: Lore Bertolini vor dem Haus auf der

Seewarte, um 1935, stereoskopisches Glasplat-

tendia in Farbe (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Page 29: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

47

Hügelkamm war ideal, von hier reichte die Aussicht vom Bodensee bis in den

Bregenzerwald. Das zweistöckige Holzhaus war mit Schindeln verkleidet und

haPe ein verzinktes Blechdach. Die traditionelle Veranda, die im Winter ver-

glast werden konnte, gab den Blick vom Bergahornweg der Seewarte bis zum

Bodensee frei. Das Innere der HüPe war schlicht, aber komfortabel eingerichtet.

Dort empfingen Bertolinis gerne Besuch von Freunden und Familie.

Bis zum Ende seines Lebens verbrachte Norbert Bertolini die meiste Zeit auf

dem Bödele. Dieses kleine Haus war von unschätzbarem Wert, denn es gehörte

nur ihm und stand damit Synonym für das einzige, das er je selbst erschaffen

haPe und für das er allein verantwortlich zeichnete. Es verband ihn mit seiner

unbeschwerten Kindheit und war der Ort, an dem er frei und unabhängig leben

konnte.64

Bertolini und der Nationalsozialismus

Norbert Bertolini war in einem liberal deutschnationalen Elternhaus aufge-

wachsen. Einzelne Persönlichkeiten seines familiären Umfeldes taten sich

früh als bekennende und äußerst aktive Nationalsozialisten hervor. So ist von

seinem Cousin Theodor Rhomberg d. J. (1897–1944), dem technischen Leiter

der Textilfabrik Herrburger & Rhomberg, überliefert, dass er noch vor dem

„Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich auf dem Bödele Wintergäste

schlug, die ihm den Hitlergruß verweigerten.65 Auch im engsten Familienkreis

lässt sich ab 1938 die Begeisterung für Hitler durch Fotografien der mit Haken-

kreuzen und Führerbüsten geschmückten Auslagen des Manufakturwaren-

ladens am Leutbühel belegen. Selbst Norbert Bertolinis bester Freund, der 64 In Zusammenhang mit Bertolinis LebensmiRel-

punkt, dem Häuschen auf der Seewarte, mel-

deten sich nach unserem Aufruf im Zuge der

Ausstellung im vorarlberg museum einige Zeit -

zeugen und teilten mit uns ihre Erinnerungen.

Dank dieser Anekdoten konnte das vom Foto-

grafen selbst erschaffene Bild des sportlichen

und unabhängigen Lebemanns um die FaceRen

des Liebhabers, Onkels, Gasts und Nachbarn

ergänzt werden. Nachzulesen in: Kathrin

Dünser, Norbert Bertolini, der Bürgermeister

vom Bödele oder Der Fotograf, seine Frau, die

Geliebte und ein Rückzugsort in den Bergen,

in: Nikola Langreiter/Petra Zudrell (Hg.), Wem

gehört das Bödele? Katalog zur gleichnamigen

Ausstellung im Stadtmuseum Dornbirn,

31.1.2020–31.1.2021 [in Vorbereitung, erscheint

bei Residenz, Salzburg-Wien 2020].

65 1925 übernahm Theodor Rhomberg die Stelle

als Prokurist, ab 1932 war er geschäftsführen-

der Gesellschafter der Textilwarenfabrik Herr-

burger & Rhomberg. Ihm oblag die gesamte

technische Leitung der Dornbirner Betriebe.

Vgl. Hans Nägele, Sechs Generationen im

Dienste ihrer Textilwarenfabriken. Die Firma

Herrburger & Rhomberg in Dornbirn, Innsbruck

und Wien von 1795 bis 1945, Dornbirn-

Innsbruck-Wien 1949, S. 94. Harald Walser,

Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg

1933–1938, Wien 1983, S. 109.

Abb. 38: Norbert Bertolini hisst im Beisein von

Lore, seiner Schwägerin und deren Mann die

NSDAP-Fahne am Haus auf der Seewarte,

März 1938 (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Page 30: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

48

Fotograf Werner Schlegel, war bereits 1933 Mitglied der NSDAP und nahm nach

dem Anschluss an SA-Fortbildungen teil.66 Es verwundert also nicht, dass Ber-

tolini bereits im März 1938 die NSDAP-Fahne auf der Seewarte hisste (Abb. 38),

im selben Jahr einen NS-Wimpel auf seinem BMW „Wartburg“‘ befestigte (Abb. 39)

und sich 1941 durch freiwillige Mitarbeit der NSDAP andiente.67

Wie sehr seine ideologische Ausrichtung jedoch der Familie und dem Freun-

deskreis geschuldet war oder einer inneren Überzeugung entsprach, wissen

wir nicht. Aufgrund einer schweren Magenoperation 1934 musste Norbert

Bertolini während des Zweiten Weltkriegs nicht einrücken. Bertolinis Technik-

begeisterung, die sich von der Fotografie über die Motorisierung bis hin zum

Straßen- und Brückenbau erstreckte, deckt sich mit den propagierten Zielen

des Nationalsozialismus. Seine anfängliche Kriegsbegeisterung dürfte ihm

jedoch spätestens 1945 vergangen sein. In den letzten Kriegstagen wurde sein

Halbbruder Helmut Ludwig auf der Heimreise in der Steiermark getötet, als

er im Gedränge aus einem Zug gestoßen und von diesem überrollt wurde. Im

selben Jahr starb Bertolinis Freund Werner Schlegel wie erwähnt bei Kampf-

handlungen in der Slowakei.

66 Im Nachlass Werner Schlegel in der Sammlung

Arno Gehrer finden sich umfangreiche Quellen,

darunter seine Mitgliedskarten der NSDAP.

In den Akten des Stadtarchivs aus der NS-Zeit

ist Schlegel 1941 als Gliederungsführer ein-

getragen. Vgl. StAB, Findbuch, Akten NS -Zeit,

S. 279/586.

67 StAB, Akten NS-Zeit, Nr. 566607.

Abb. 39: Lore Bertolini im BMW vor dem Kolos-

seum in Verona, Juli 1938, stereoskopisches

GlasplaRendia (Sammlung Norbert Bertolini,

Vorarlberger Landesbibliothek)

Page 31: vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum

49

Was bleibt

Norbert Bertolinis intensives fotografisches Schaffen endete mit Kriegsbeginn

1939. Zumindest lässt das bislang aufgetauchte Werk diesen Schluss zu. Die

Gründe, weshalb der Amateur so plötzlich mit der Dokumentation seines Lebens

aufhörte, liegen im Dunkeln. Mit dem Fotohistoriker Timm Starl wäre anzu-

nehmen, dass die Realität des Kriegs den Amateurfotografen zum Weglegen

der Kamera brachte:

Gewöhnlich nimmt der Wunsch zu fotografieren in dem Maße ab, als die

Lebensumstände sich schwieriger gestalten. In Augenblicken der Not und

Bedrohung richten sich die Sinne nur auf die Gegenwart und die unmi;elbare

Zukunft. Die Angst um die Existenz kennt kein fotografisches Motiv. Auch

aus diesem Grund ist das Kriegsende ebenso spärlich in den privaten Alben

zugegen wie die ersten Jahre danach.68

In den drei Jahrzehnten davor schuf Norbert Bertolini jedoch ein beeindru-

ckendes Œuvre bürgerlicher Kunstfotografie, das in seiner Qualität die Ansprü-

che der sich stetig ausbreitenden Knipserfotografie69 weit übertraf. Den Grund-

stein dazu legten Großvater und MuPer, die ihm bereits in frühester

Jugend das kostspielige Hobby ermöglichten und ihm weitergaben, was sie

wussten. Durch die Freundschaft zum Profifotografen Werner Schlegel erhielt

Norbert Bertolinis Schaffen ab den 1920er-Jahren neuen Auftrieb. Gemeinsam

experimentierten sie auf den Gebieten der Ski- und Motorsportfotografie und

machten sich dazu die Errungenschaften der Neuen Sachlichkeit70 zunutze. Im

Nachhinein betrachtet machte sie ihre politische Einstellung zu idealen Werk-

zeugen der NS-Ideologie, propagierten sie doch das Bild einer heimatlichen

Idylle, die sich aus der Verbindung von Traditionalismus und technischem Fort-

schriP speiste.

Bis an sein Lebensende umgab sich Bertolini mit seinen Fotografien. Er ver-

wahrte sie mit Bildlegenden versehen in den Alben, gerahmt schmückten sie

die Wände seiner HüPe und als GlasplaPendias standen sie für die Betrachtung

mit dem Stereobetrachter bereit. Es ist anzunehmen, dass ihm diese Bilder

Sicherheit und Kontinuität vermiPelten, denn es handelte sich wohl um Abbil-

dungen von Dingen und Beziehungen, die andauern sollten. Sie standen gegen

das „Wechselvolle und Flüchtige, gegen die Unwägbarkeiten des Daseins,

gegen Überraschung und Katastrophe“.71

Uns hingegen eröffnen diese Bilddokumente einen Blick in die Welt des Vor-

arlberger Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Sie dokumentieren das Leben

der Oberschicht, deren Aktivitäten und Vorlieben wie auch ihren Humor. Sie

zeugen von der frühen Euphorie für den Nationalsozialismus ebenso wie vom

Verstummen angesichts des Zweiten Weltkriegs. In ihrer Vielschichtigkeit

komplementieren sie das in Anekdoten übermiPelte Bild des Amateurfotografen

Norbert Bertolini als das eines gepflegten, freundlichen, zurückhaltenden und

ein wenig ängstlichen Mannes, der für alle, die ihn kannten, zeitlebens seltsam

unverbindlich und indifferent blieb.

68 Starl, Knipser, S. 124.

69 In der Amateurfotografie wurde zwischen Lieb-

haberfotografie (meist in Vereinen organisiert

und um Veröffentlichung bemüht) und

Schnappschuss-Fotografen (sog. Knipsern)

unterschieden, wobei letztere ihre Umwelt

per definitionem nur um des Erinnerungswerts

willen und ohne künstlerischen Anspruch

festhielten.

70 Bei dieser Strömung stand die Gestaltungs-

macht des Objekts im Zentrum des Interesses.

Um sich von den Kompositionsschemata der

Malerei abzugrenzen, wurden häufig unge-

wöhnliche Blickwinkel wie Auf- und Untersich-

ten gewählt, diagonale Bildachsen konstruiert

und Objekte aus ihrem Kontext gelöst wieder-

gegeben. Vgl. Xenia Ressos, Österreich im

Kontrast. Fotografie zwischen künstlerischer

Avantgarde und politischer Funktion, in:

Christoph Bertsch (Hg.), Das ist Österreich.

Bildstrategien und Raumkonzepte 1914–1938,

Bregenz 2015, S. 55–63, S. 57.

71 Starl, Knipser, S. 55.