vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum
Transcript of vm Norbert Bertolini Publikation - vorarlberg museum
Müßiggänger
Norbert Bertolini, ein Amateurfotograf
zwischen den Kriegen
Kathrin Dünser, Andreas Rudigier
und Norbert Schnetzer (Hg.)
Residenz Verlag
Inhalt
17 Andreas Rudigier und Norbert Schnetzer
Vorwort
21 Kathrin Dünser
Norbert Bertolini
Amateur – Lebemann – Automobilist
51 Anton Holzer
Heimat-Bilder
Die österreichische Fotografie der 1930er-Jahre
71 Werner Ma;
Liebhaberei der Bürger und Fabrikanten
Amateure der Fotografie in Dornbirn um 1900
85 Markus Barnay
Menschen, Tiere, APraktionen!
Freizeit ver gnügungen in der Zwischen kriegszeit
101 Ulrich Wendl
Das Ländle wird mobil
Norbert Bertolini und die Motorisierung Vorarlbergs
117 Andreas Rudigier
Bertolini und die Olympischen Spiele
128 Norbert Bertolini in 3-D
147 Martin Kohler
Faszinierende 3-D-Fotografie
Norbert Bertolini und die Stereo fotografie
163 Ute Pfanner
Land der Berge im Fokus
181 Arno Gehrer
Lichtbildner Werner Schlegel –
eine Entdeckung
197 Anhang
Stammbaum
Autorinnen und Autoren
Register
21
Kathrin Dünser
Norbert Bertolini
Amateur
Lebemann
Automobilist
Erbe und Auftrag
Wie umfangreich Norbert Bertolinis fotografisches Œuvre tatsächlich gewesen
ist, wissen wir nicht. Er haPe keine Nachkommen, und so wurde sein gesamter
Besitz nach dem Tod seiner Frau Lore 1995 in alle Winde zerstreut. Von wenigen
Fotografien abgesehen, die in den letzten Jahren vereinzelt auftauchten, war
sein Schaffen bislang nur einem kleinen Kreis bekannt.1 2017 erhielt die Vorarl-
berger Landesbibliothek eine Schenkung von drei Fotoalben und mehreren
hundert GlasplaPendias,2 die einzig mit der Auflage verknüpft war, den in Ver-
gessenheit geratenen Fotografen posthum mit einem Katalog zu würdigen. Bei
der Sichtung stellte sich heraus, dass Norbert Bertolini von 1928 bis 1939 fast
ausnahmslos stereoskopische Aufnahmen erstellte. In einem ersten SchriP
wurde zusammen mit dem vorarlberg museum eine kleine Ausstellung konzi-
piert, die ihr Hauptaugenmerk auf diese frühen 3-D-Bilder legte.3 Währenddes-
sen arbeitete die Vorarlberger Landesbibliothek daran, sämtliche Abzüge und
GlasplaPen zu digitalisieren und über das Vorarlberger Landesrepositorium4
verfügbar zu machen.
1 Erwähnung fanden u. a. Bertolinis Fotografien
„Mann im Winterwald“ und „Gletscherspalte“,
beide aus der Fotosammlung Richard Huter,
Bregenz, abgebildet in: Ute Pfanner, Magie
des Schnees. Drei Fotografen aus der Region,
in: Tobias G. NaRer (Hg.), Schnee. Rohstoff
der Kunst, Bregenz 2009, S. 242–255, Abb.
S. 253, S. 255.
2 Laut Erfassungsliste der Vorarlberger Landes-
bibliothek beinhaltet „Album 1“ circa 1400
Kleinformate in S-W aus der Zeit von Juli 1926
bis August 1933; „Album 2“ deckt mit circa
1500 Kleinformaten in S-W die Zeit zwischen
September 1933 und 1940 ab; „Album 3“ ist in
den Jahren 1964 bis 1968 entstanden, darin
finden sich ca. 550 Abzüge, die meisten davon
in Farbe. Die Alben sind von Hand beschriftet
und datiert. Die anonyme Schenkung umfasste
überdies circa 1900 GlasplaRendias, 1500
lose Abzüge sowie 300 Negative aus den Jahren
1926 bis 1938.
3 Die Ausstellung „3-D um 1930. Der Fotograf
Norbert Bertolini“ wurde vom 17. Februar
bis 15. April 2018 im vorarlberg museum
in Bregenz gezeigt.
4 Über die Webseite www.vorarlberg.at/volare
können alle digitalisierten Fotos dieser Schen-
kung kostenfrei heruntergeladen werden.
Sämtliche stereoskopischen GlasplaRendias
stehen auch als Anaglyphenfotos zur Verfü-
gung. Bei dieser Technik werden zwei Halb-
bilder in Komplementärfarben übereinander
gedruckt; die räumliche Wirkung entsteht bei
der Betrachtung durch eine Farbfilterbrille,
wie sie auch diesem Buch beigelegt ist.
22
Eine vom Dornbirner Stadtmuseum für 2020 geplante Ausstellung über das
Bödele erwies sich im Nachhinein als glückliche Fügung, denn die Recherchen
zu diesem Thema brachten im November 2018 einen weiteren Fund zutage:
Die Nachkommen von Bertolinis Erben entdeckten vier Fotoalben, die sich als
Basis für alle weiteren Nachforschungen herausstellten.5 Hierbei handelte es
sich um die Alben von Marie und Hubert Bertolini sowie um das früheste Album
aus Norbert Bertolinis Kindertagen. Das nahezu quadratische Format von
27 × 23,7 Zentimeter mit einem Einband aus dunkelgrünem Leder und umlaufen-
der Goldlinienprägung ziert reduziertes florales Jugendstildekor und eine
Namensprägung am rechten oberen Rand. Das Album überwältigt vor allem
durch seinen Umfang: Auf 312 Seiten finden sich 685 Abzüge, die den Zeitraum
von 1912 bis 1920 abdecken. Für spätere Erinnerungsfotos wählte der Fotograf
eine äußerst pragmatische Lösung: Er führte das Album des 1916 in den Wirren
des Ersten Weltkriegs vermissten Bruders Hubert nahtlos weiter und dokumen-
tierte darin sein eigenes unbeschwertes Leben bis zu einer Venedigreise im
Jahr 1925. Den 141 Abzügen von Hubert stehen schließlich 869 kleinformatige
Aufnahmen6 des Bruders gegenüber. Das vierte und letzte Album aus dieser
Quelle enthält 196 Fotos unterschiedlicher Formate, die größtenteils in der
Zwischenkriegszeit entstanden und sich mit den bereits bekannten und digita-
lisierten Fotografien der Vorarlberger Landesbibliothek decken. Im Gegensatz
zu den anderen Alben fehlen bei diesem die chronologische Reihung der Abzüge
sowie deren Beschriftung. Es spricht einiges dafür, dass die Abzüge erst zu
einem späteren Zeitpunkt (und von anderer Hand?) in das querformatige Halb-
leinenalbum7 geklebt wurden.
Kurz zusammengefasst: Primärquelle und Ausgangspunkt der folgenden
Überlegungen bilden die fünf erhaltenen Fotoalben Norbert Bertolinis mit über
5000, zum größten Teil beschrifteten Abzügen. Die Aufnahmen decken die Jahre
von 1912 bis 1939 nahezu lückenlos ab und zeichnen ein äußerst spannendes
Bild vom Leben des gehobenen Vorarlberger Bürgertums dieser Zeit. Das letzte
Album fällt nicht nur zeitlich aus der Reihe, denn es enthält vorrangig Farbab-
züge aus den Jahren 1964 bis 1968. BläPert man durch die Seiten dieses Albums,
erhält man den Eindruck, dass Bertolini am Ende seines Lebens das Interesse
an den Menschen verlor und staPdessen seinen Fokus auf die ihn umgebende
Natur, Architektur und auf Baustellen richtete. Ein künstlerischer Anspruch ist
nicht mehr zu erkennen. Die Motive sowie deren Entwicklung in Farbe8 geben
einen Eindruck vom geruhsamen Leben eines alten Mannes, der sein Umfeld
beobachtete und dessen Veränderungen festhielt.
Noch lange bevor wir Kenntnis über die vier von anderer Seite verwahrten
Alben der Familie Bertolini erlangten, haPen wir die Bevölkerung im Rahmen
der Ausstellung „3-D um 1930“ über diverse Medien um Mithilfe gebeten, da sich
die Aufarbeitung von Bertolinis Lebensgeschichte aufgrund fehlender Archi-
valien, dessen Kinderlosigkeit sowie des Lebens als Privatier ohne „Brotberuf“
äußerst schwierig gestaltete. Vierzig Jahre nach seinem Tod wissen nur mehr
wenige Zeitzeugen Geschichten über Norbert Bertolini zu erzählen. Neben den
erhaltenen Fotografien sind diese Anekdoten das sprichwörtliche Salz in der
Suppe, denn sie erwecken den schablonenhaften Geck aus den Alben zu einem
Mann aus Fleisch und Blut.
5 Mein herzlicher Dank gebührt Petra Zudrell für
ihre wertvollen Tipps und hilfreichen Kontakte.
6 Die Maße der erhaltenen Abzüge sprechen für
ein PlaRenformat von 6,5 × 9 cm.
7 Der Deckel des Albums ist aus dunkelbraunem
Karton, die Maße betragen 20,4 × 27 cm.
44 Seiten aus festem elfenbeinfarbenem Kar-
ton bilden den Kern, zum Schutz der Fotos sind
Trennseiten aus „Spinnenpapier“ eingebunden.
8 Die Verbreitung der Farbfotografie in allen
Medien haRe in den 1960er-Jahren zur Folge,
dass ihr lange Zeit jeglicher künstlerische
Anspruch verwehrt blieb. Vgl. Johanna Pröll,
Zwischen Populärkultur und Kunst. Kultureller
und institutioneller Etablierungsprozess der
Farbfotografie als künstlerisches Medium
unter besonderer Berücksichtigung von William
Eggleston, Univ. Diplomarb., Wien 2013, S. 34,
[hRp://othes.univie.ac.at/26111/2013-01-09
0704765.pdf], eingesehen am 9.4.2019.
23
Norbert Bertolini war kein professioneller Fotograf, sondern Amateur. Dieser
Umstand muss bei der Arbeit mit seinem Werk stets berücksichtigt werden. Ab-
gesehen von einigen wenigen Ausnahmen9 dokumentierte er also Privates, das
niemals für eine Veröffentlichung über den Verwandten- und Bekanntenkreis
hinaus gedacht war. Die Auswahl der Abzüge unterlag nicht ästhetischen Ge-
sichtspunkten, sondern wurde vorrangig vom Erinnerungswert einer Aufnah-
me bestimmt.10 Auch war es nicht Bertolinis Bestreben, den Alltag zu dokumen-
tieren. Festgehalten wurden außergewöhnliche Momente, unbekannte Orte
und seltene Objekte. Mit der Entscheidung, Momente des eigenen Daseins bild-
lich aufzuzeichnen, ist die Absicht verbunden, bestimmte Lebensbereiche zu
gestalten. […] Die Herstellung der Aufnahmen wie das Betrachten der Abzüge
erfolgt häufig in Gesellschaft und formt in gewissem Maße die Beziehungen
der Personen untereinander. Das Verhalten vor der Kamera richtet sich da-
nach, wie man sich darstellen und von anderen gesehen werden will.11
Die Fülle des erhaltenen Materials darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
eine Fotoausrüstung sowie die Kosten für Negativmaterial und Entwicklung
in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so teuer waren, dass es
nur sehr Wohlhabenden überhaupt möglich war, diesem Hobby derart exzessiv
nachzugehen.12
Die Familienverhältnisse
In der MiPe des 19. Jahrhunderts, als in Italien die Unabhängigkeitskriege
gegen das österreichische Kaiserreich tobten, entschloss sich ein junger Kauf-
mann aus Rovereto, das Trentino in Richtung Vorarlberg zu verlassen.13 Eugen
Josef Bertolini (1833–1908, siehe Stammbaum S. 198) erkannte wohl die großen
Möglichkeiten, die eine aufstrebende Industriestadt wie Dornbirn einem ehr-
geizigen Textilkaufmann eröffneten. 1863 heiratete er die Tochter des ehemaligen
Dornbirner Bürgermeisters Franz Martin Rhomberg („Amma Franz“, im Amt
1831 bis 1853), Maria Wilhelmine Rhomberg (1840–1902), und lebte fortan in
deren Geburtshaus in der Marktstraße 4. Sechs Jahre später gründete er die
Firma Eugen Bertolini, Dornbirn. Manufaktur- und Modewaren-Lager en gros
et en detail.14 In den folgenden Jahren gebar Maria Wilhelmine elf Kinder, von
denen neun das Erwachsenenalter erreichten. Vier von ihnen heirateten in die
Unternehmerdynastie Herrburger & Rhomberg ein, indem sie sich mit Kindern
des erfolgreichen Dornbirner Fabrikanten Karl Theodor Rhomberg (1845–1918)
und seiner Frau Maria Emilie Hämmerle (1847–1907) vermählten.15 Und wäh-
rend der älteste Sohn Robert Bertolini (1869–1959) das Dornbirner Geschäft
übernahm, eröffnete der zweitgeborene Arthur im Jahr 1894 eine Filiale des
erfolgreichen Manufakturwarengeschäfts am Leutbühel in Bregenz.16 Am
12. Oktober 1896 heiratete Arthur Bertolini (1871–1959) Maria Friederika Rhom-
berg (Marie, 1870–1913) in der Dornbirner St. Martins-Pfarrkirche. Zur Feier
des Tages fuhr die aus 60 Personen bestehende Hochzeitsgesellschaft mit einem
Sonderzug ins Hotel Reutemann nach Lindau, um dort das Diner einzunehmen.17
In den folgenden Jahren wurden den beiden zwei Söhne geboren: Hubert
(1897–1916) und Norbert (1899–1982). Von Letztgeborenem handelt dieser Beitrag.
9 Das Bregenzer Stadtarchiv [im Folgenden
StAB] ist in Besitz von 77 Aufnahmen von Stra-
ßenzügen und Gebäudeansichten, die Norbert
Bertolini im Juli 1944 im Auftrag des damaligen
Bürgermeisters Carl Solhardt anfertigte. Eben-
falls erhalten ist ein dreisprachiger Tourismus-
prospekt mit dem Titel „Vorarlberg im Winter“
(hg. von F. Nohl, Innsbruck o. J.), das auf dem
Umschlag mit Bertolinis Konterfei als feschem
Skifahrer wirbt und im Inneren einige seiner
Alpinfotos zeigt.
10 Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der
privaten Fotografie in Deutschland und Öster-
reich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 23.
11 Ebd., S. 22.
12 Erst ab MiRe der 1920er kamen die billigen
Rollfilmkameras auf den Markt. Vgl. Starl,
Knipser, S. 98.
13 Die erste Erwähnung als Dornbirner Bürger
findet sich in einer Gästeliste vom 19.8.1862, in
der Eugen Bertolini im dortigen Gasthof zur
Goldenen Krone als Geschäftsreisender aus
Dornbirn genannt wird. Vgl. Ischler Bade-Liste,
19.8.1862, S. 4, [hRp://anno.onb.ac.at], einge-
sehen am 12.3.2019.
14 Wiener Zeitung, 30.11.1869, S. 17.
15 Julius Rhomberg (1869–1932) heiratete 1895
Eugenie Bertolini (1868–1926), Andreas Ernst
Rhomberg (1871–1935) war mit Lidia Bertolini
(1872–1941) seit 1897 und Hubert Rhomberg
(1873–1931) seit 1901 mit Anna Maria Pia
Bertolini (1880–1958) vermählt. Vgl. Werner
MaR (Hg.), Dornbirn Lexikon. Familienbuch,
[hRps://lexikon.dornbirn.at/startseite/
geschichte/dornbirner-familienbuch], einge-
sehen am 12.3.2019.
16 Vorarlberger Volksbla6, 16.12.1894, S. 3.
17 Vorarlberger Volksbla6, 14.10.1896, S. 4.
24
Ein Zufallsfund
Den überlieferten Fotografien zufolge verbrachten Hubert und Norbert
Bertolini den überwiegenden Teil ihrer Kindheit in Dornbirn. Zumindest lassen
die zahlreichen erhaltenen Fotodokumente den Schluss zu, dass die Zeit in
Dornbirn erinnerungswürdiger gewesen ist als der Bregenzer Alltag der Familie
Bertolini. In Dornbirn lebte der geliebte Großvater Theodor Rhomberg in seinem
Stammhaus am Marktplatz 11, dem heutigen Stadtmuseum/Stadtarchiv,
oder im Kehlegger Landhaus, das vor allem im Sommer ein beliebter Treffpunkt
der gesamten Familie war (Abb. 1).
Die häufigsten Gäste sind seine geliebte Tochter Marie mit ihren Söhnen
Hubert und Norbert. Beim Großvater darf man fast alles: schwimmen, fischen,
aus Baumrinde ein Häusle bauen, Holz schnitzen, mit auf die Jagd gehen,
Natur und Landschaft bewußt und unbewußt erleben.18
Seit seinem Rückzug aus dem aktiven Geschäftsleben widmete er sich dort
ab 1890 vorrangig der Jagd und Bienenzucht sowie seiner großen Leidenschaft,
der Fotografie. Da bislang einzig Theodor Rhombergs Fototagebücher bekannt
waren,19 haPe sich die Frage nicht gestellt, weshalb Hubert und Norbert fast
ausschließlich im Dornbirner Umfeld abgelichtet worden waren. Der glückliche
Fund eines Fotoalbums aus dem Besitz von Marie Rhomberg20 wirft ein neues
Licht auf die gesamte Familie, denn er verbildlicht die Nähe zwischen Theodor
Rhomberg und seiner Tochter Marie,21 macht sie durch das gemeinsam betrie-
bene Hobby nachvollziehbar. Nach seinem frühen Ausstieg aus der Firma
18 Dieter Leuze, Theodor Rhomberg – biographi-
sche Skizzen, in: Arno Gisinger/Werner MaR
(Hg.), Mit bürgerlichem Blick. Aus den
photographischen Tagebüchern des Theodor
Rhomberg (1845–1918), Dornbirn 1994,
S. 44–47, S. 46.
19 Der Nachlass befindet sich im Dornbirner
Stadtmuseum, eine erste Aufarbeitung erfolgte
in: Gisinger/MaR, Mit bürgerlichem Blick.
20 Insgesamt erhielt das Dornbirner Stadtmuseum
vier Alben als Leihgabe. Mein herzlicher Dank
ergeht an Viktor Thurnher, der diesen Schatz
bewahrt und Markus Barnay, der ihn zur
richtigen Zeit geborgen hat.
21 Die enge Beziehung zwischen Vater und Tochter
illustriert etwa folgende Zeitungsnotiz, die
anlässlich des Todes von Marie Bertolini
erschien: „Die innige allgemeine Teilnahme
wendet sich […] dem schwer gebeugten Vater,
dem Herrn Kulturrats-Präsidenten Theodor
Rhomberg zu, der mit geradezu rührender
Zärtlichkeit an seinem Liebling hing und dessen
Alter durch die stets so heitere, fürsorgliche
Tochter so versüßt worden war. Möge die all-
gemeine Teilnahme wenigstens einigermaßen
Balsam für die tiefe Wunde sein, die ihm durch
den schweren Verlust zugefügt wurde […]“, in:
Vorarlberger Volksbla6, 7.6.1913, S. 3.
Abb. 1: Die Familie Rhomberg/Bertolini vor
dem Kehlegger Landhaus anlässlich Kaisers
Geburtstag am 18. August 1902. Am unteren
Rand bezeichnet mit „I. Franz Mäser, Köchin
Amanda, Andreas Kaufmann, Franziska
Lachner, Magdalena Kaufmann, Mama, Epich,
Ernst, Lydia, Vater, Arthur, Andreas Kaufmann,
Hubert, Eugen, Norbert, Hubert, Anna“ (Album
Marie Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 2: Verkleidete Kinder beim Spiel, be-
zeichnet mit „Bregenz Sommer 1909, Indianer
Gesellschaft. In unserem Garten“ (Album
Marie Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 3: „August Kehlegg 1902. Der l. Vater
schoß einen schönen Rehbock auf dem P[…].
Ich machte dann ein Bildchen vom l. Vater
u. seinem Begleiter Epich“ (Album Marie
Bertolini, Privatbesitz)
25
26
Herrburger & Rhomberg haPe Theodor Rhomberg ausreichend freie Zeit – diese
nützten Vater und Tochter nicht zuletzt für Motivsuche und Inszenierung so-
wie zur technisch anspruchsvollen Entwicklung der Abzüge im hauseigenen
Fotolabor. Die vermeintliche Lücke, die sich bei der Vorbildsuche zwischen
Großvater und Enkel bislang auftat, wird durch die Tätigkeit der MuPer als
Amateurfotografin geschlossen.
Marie Bertolini richtete ihren Blick mit Vorliebe auf Alltägliches. Sie fotogra-
fierte die Familie und rückte dabei oft ohne jegliche Standesdünkel das Haus-
personal ins Zentrum ihrer Kompositionen. Neben zahlreichen Kinderporträts
(Abb. 2) interessierte sie sich besonders für die Bewohner von Kehlegg und hielt
diese – unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Rang – stets in würdevollen
Posen fest. Meist vermerkte Marie Rhomberg die Namen der abgelichteten Per-
sonen sowie den Ort, an dem die Aufnahme entstanden war. Penibel notierte
sie auch, wer das Bild aufgenommen beziehungsweise entwickelt haPe.22 Über
hundert Jahre nach deren Entstehung können so etliche Fotografien, die bis-
lang für Werke Theodor Rhombergs gehalten wurden, endlich der eigentlichen
Schöpferin zugeordnet werden (Abb. 3).
In der Familientradition
Von klein auf standen die Brüder Hubert und Norbert vor der Kamera und
wurden als Statisten von MuPer und Großvater in Szene gesetzt. Bestimmt
lernten sie dabei auch die Grundlagen der Fotografie, erhielten Einblicke in den
Umgang mit einer PlaPenkamera und durften bei der Entwicklung der Abzüge
in der Dunkelkammer dabei sein. Und so scheint es nur naheliegend, dass die
beiden jeweils bereits als 13-Jährige von den Eltern eine erste eigene Kamera
geschenkt bekamen. Fortan hielten auch sie Erinnerungswürdiges mit ihrem
Fotoapparat fest, fertigten Abzüge und klebten diese in ihre Fotoalben. Dabei of-
fenbarten die beiden völlig unterschiedliche Interessen und Vorgehensweisen.
Hubert Bertolinis kurze Lebensgeschichte ist dank seiner Fotos ausführlich
illustriert. Von 1910 bis 1914 sind insgesamt 141 Abzüge überliefert, die ihm zu-
zuschreiben sind, denn sie finden sich beschriftet in einem eigenen Fotoalbum.23
Schließt man vom Gros der Abzüge auf die Kamera, so dürfte es sich um eine
9 × 12 Zentimeter PlaPenkamera gehandelt haben. Was die Motive betrifft, so
orientierte sich Hubert Bertolini ganz an seinen nächsten Vorbildern und nahm
anfangs Familienporträts und Einblicke in den Kehlegger Dorfalltag auf. Spä-
ter fotografierte er Ausflüge mit der Familie, seine Schulklasse, den vorüber-
fahrenden Zeppelin, Jagdgesellschaften, seinen Hund Peterle; er dokumentier-
te die Überreste eines ausgebrannten Hauses oder das Kreisschießen auf dem
Berg Isel. Kurz gesagt, alles, was er für denkwürdig erachtete. Besonderes Inte-
resse kam dabei der Kameratechnik zu. Als einziger in der Familie notierte er
immer wieder die Blendengröße und den Zeitpunkt der Aufnahme (Abb. 4). Die
Fotos selbst komponierte er sehr formell, ganz in der Tradition von Großvater
und MuPer. Personen standen dabei im MiPelpunkt. Sie wurden meist zentral
platziert und in Ganzkörperaufnahme wiedergegeben. Sogar die Blickrichtung
wurde den Abgelichteten vorgegeben. Der große Abstand zwischen Fotograf
22 Marie Bertolinis Album ist hochrechteckig
(28 × 24 × 5 cm). Der Umschlag besteht aus
stark beanspruchtem dunkelgrünem Elefan-
tenhautpapier, die VorsatzbläRer sind aus Flo-
rentiner Papier mit cremefarbenen Ranken auf
braunem Grund. Das Album hat 182 feste
elfenbeinfarbene Seiten (ohne Pergamin-
ZwischenbläRer), darin sind 213 Abzüge einge-
klebt. Da die meisten davon die Maße
10 × 15 cm aufweisen, kann von einem ebensol-
chen PlaRenformat ausgegangen werden, was
für eine handliche, gut transportable Kamera
spricht. Die Bildbeschriftungen erfolgten mit
schwarzer Tusche in Kurrentschrift.
23 Das großformatige Buch mit Ledereinband,
das auf dem Umschlag ein Liebespaar im Stile
des Renaissancekünstlers Albrecht Altdorfer
(um 1480–1538) zeigt, hat ein VorsatzblaR aus
marmoriertem Papier, einen rot gefärbten Buch-
schniR und trägt die Maße 32,5 × 24,8 × 5 cm.
27
und Motiv ist dabei äquivalent zu deren Wirkung: steif und distanziert. Man
mag dafür die hohen Kosten24 und den Aufwand ins Treffen führen, der mit
dem Entstehen einer solchen Aufnahme verbunden war 25.
Der Vergleich mit den fast zeitgleich entstandenen Bildern Norbert Bertolinis
zeigt jedoch, dass sich die Ambitionen des jüngsten Sprosses der Familie bereits
im zarten Alter von 13 Jahren maßgeblich von denen der anderen fotografieren-
den Familienmitglieder unterschieden.
Norbert Bertolini widmete den ersten Eintrag seines Fotoalbums der Familie
(Abb. 5): Vor einem Torbogen in der Bregenzer Schedlerstraße verewigte er im
Winter 1912 Vater, MuPer, Bruder, Großvater und den Familienhund. Dabei fällt
auf, wie akribisch er bei dieser und vielen nachfolgenden Fotografien die abge-
bildeten Personen mit Nummern versah und sie außerhalb des Abzugs bezeich-
nete. Diesen ausführlichen Bildlegenden ist es zu verdanken, dass Norbert
Bertolinis Fotografien mehr sind als bloße Illustrationen einer längst vergan-
genen Zeit, nämlich kontextualisierte Bildquellen.
Als Jugendlicher hielt Bertolini mit der Kamera fest, was er für wichtig er-
achtete. Er besuchte das Bregenzer Gymnasium und dokumentierte Schulaus-
flüge ebenso wie Wanderungen mit seinen Eltern oder Besuche von Verwandten.
Einblicke in das elterliche Geschäft, sein Zimmer, Ausblicke aus dem Fenster
(Abb. 6), Berggipfel, Pilzfunde oder Holzarbeiten – alles das schien von Bedeu-
tung, denn es fand den Weg in sein Album. Der junge Fotograf versuchte auch,
seine Leidenschaft für Sport und Geschwindigkeit mit der Fotografie zu ver-
knüpfen. Bereits die (von ihm nummerierte) 13. Aufnahme des Albums illustriert
den Versuch, einen Skisprung seines Freundes mit der Kamera festzuhalten.
24 Der Fotohistoriker Timm Starl geht davon
aus, dass sich um 1900 keine zehn Prozent der
Bevölkerung eine Fotoausrüstung und die
laufenden Ausgaben des Fotografierens leisten
konnten. Vgl. Starl, Knipser, S. 96.
25 15 Minuten dauerte die Prozedur vom Aufstellen
der Kamera über die Einstellung und Feinjus-
tierung der Schärfe und Belichtungszeit sowie
das Einschieben der PlaRenkasseRe, dem Aus-
lösen des Verschlusses bis zum Abschrauben
des Stativs. Vgl. Die Kleinbildkamera – die gan-
ze Geschichte, in: heureka-stories (9.1.2018),
[hRps://heureka-stories.de/2-uncategorised/
69-die-kleinbildkamera-die-ganze-geschichte.
html], eingesehen am 14.3.2019.
Abb. 4: Arthur und Norbert Bertolini mit Hund
Peterle, bezeichnet mit „Ausflug am 17. Juli
[1911] nach Weißenfluh, Pflanzgarten, […],
Kehlegg. B. 22 Z. 1/36 12 Uhr M.“ (Album
Hubert/Norbert Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 5: Familienporträt, bezeichnet mit „1912.
Erste Aufnahme mit meinem neuen Apparate
in der Schedlerstraße. 1. Großvater, 2. Peter,
3. Mama, 4. Vater, 5. Hubert“ (Album Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
28
Eine dilePantische Retusche des Schwarz-Weiß-Positivs zeugt jedoch davon,
dass Norbert Bertolini mit dem Ergebnis unzufrieden war.
Im Juni 1913 ereilte die Familie ein schwerer Schicksalsschlag: Die MuPer
Marie Bertolini starb nach längerer Krankheit. Aus dieser Zeit sind eine Reihe
äußerst zurückhaltender, rein dokumentarischer Aufnahmen Norberts von
seinen nächsten Verwandten erhalten. Ganz nah rückte Norbert Bertolini den
Großvater (Abb. 7), den Bruder und Hund Peterle in den Fokus – als scheine er
sich seiner Nächsten mithilfe des Festhaltens auf Barytpapier versichern zu
wollen.
Eine Jugend zwischen „HüPengaudi“ und Krieg
Ab 1914 zeigen zahllose Fotografien in Norbert Bertolinis Album eine „Horde“
Halbwüchsiger bei diversen Unternehmungen. Die meiste freie Zeit verbrachten
diese befreundeten Fabrikantenkinder offensichtlich auf dem Bödele, wo
Norberts Onkel Julius, Ernst und Hubert Rhomberg jeweils FerienhüPen be-
wohnten. Julius Rhomberg bezog mit seiner Familie bereits 1902 Nummer 387,
eine der ersten um- und ausgebauten ehemaligen VorsäßhüPen der sogenann-
ten Familienkolonie. Später baute er sich ein eigenes Häuschen am Geißkopf,
während Ernst und Hubert Rhomberg langjährig Mieter in den Ferienhäusern
des Fabrikanten OPo Hämmerle blieben.
Abb. 6: Blick in die Bregenzer Kirchstraße
am 30. März 1913, vom Bertolini-Haus am
Leutbühel aus gesehen (Album Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 7: AusgeschniRenes Brustporträt
Theodor Rhombergs, bezeichnet
mit „Großvater. 29. August 1913“
(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)
29
Den zahlreichen Kindern und Jugendlichen bot das Bödele an den Wochenen-
den und während der schulfreien Zeit alles, was das Herz begehrte: Im Sommer
konnte man wandern, im Moorsee schwimmen, angeln oder eine Bootspartie
unternehmen, ab 1911 lud der Tennisplatz des Alpenhotels zum Spielen ein
und die HüPe Nr. 381 haPe man „nach Art eines Bregenzerwälder ‚Tanzhauses‘
(Tonzhus) als Tummelplatz der Koloniekinder bei schlechtem WePer umge-
baut“.26 Im Winter bot sich der zugefrorene See zum SchliPschuhlaufen oder
Eiskegeln an, die umliegenden Hänge waren wie gemacht für Skitouren und
den Bau von Sprungschanzen. Für den sprichwörtlichen Einkehrschwung fand
man sich standesgemäß im Alpenhotel Bödele ein, wo getrunken und musiziert
wurde. Einzig ein selbst geplanter und erschaffener Rückzugsort fehlte. Diesen
schufen sie sich mit dem Bau einer eigenen HüPe (Abb. 8), deren Einweihung sie
am 29. August 1915 mit OPo Hämmerle und Julius Rhomberg als prominenten
Gästen (Abb. 9) feierten.27 Als Ausdruck der Identität und Zugehörigkeit zu einer
Gruppe bedienten die Jugendlichen sich der Kennzeichen studentischer Ver-
bindungen und entwarfen neben einem Zirkel28 mit Band, (Zipfel-)Mütze und
Zipfelbund auch eigene Couleur-Elemente. Die Namensgebung „Gixverbindung“
dürfte mit dem Dornbirner Dialektausdruck „Gix“29 für einen Schluck (Hoch-
prozentiges) in Verbindung stehen.
Der Krieg erreichte auch die Bödele-Fabrikantensöhne und -töchter. Zwi-
schen die fröhlichen Ausflugsfotos mischen sich immer öfter Abbildungen von
jungen Männern in Soldatenuniform, bei AntriP der Grundausbildung oder
auf Heimaturlaub. Hubert Bertolini, der ältere Bruder Norberts, musste am
12. Oktober 1915 einrücken (Abb. 10), Vater Arthur folgte bald darauf. Trauriges
Dokument dieser Zeit ist eine Fotografie vom Weihnachtsabend 1916, an dem
die frisch angetraute Karoline Bergmüller mit ihrem Stiefsohn Norbert und
dem Porträt Arthur Bertolinis vor einem reich geschmückten Christbaum sitzt.
Hubert Bertolini galt da bereits seit über einem halben Jahr als vermisst.30
Den Verlust seines Bruders erwähnte Norbert Bertolini in seinem Album nicht.
Einzig ein beigelegtes „Gedenk-BlaP für die im Welt-Kriege gefallenen Tiroler
Kaiserjäger“,31 bei dem nach Aufzählung der Toten die abschließend erwähnten
„8772 Vermißte[n] aller 4 Regimenter“ mit rotem Buntstift unterstrichen sind,
gibt einen Hinweis auf den Bruder.
26 Rudolf Hämmerle, ORo Hämmerle und das
Bödele: Wie es war und wie es wurde, Dornbirn
[1976], S. 14.
27 ORo Hämmerle (1846–1916) war über 40 Jahre
lang Seniorchef der Firma F. M. Hämmerle und
gilt als Pionier des Fremdenverkehrs auf dem
Bödele. Er kaufte ein altes Gasthaus und er-
weiterte es zum Alpenhotel Bödele. Zusam-
men mit der Finanzierung einer neuen Straße
in den Bregenzerwald legte er so den Grund-
stein für die touristische Erschließung des Ge-
biets, das bald zum beliebtesten Wintersport-
ort des Bodensees avancierte. Julius
Rhomberg (1869–1932) war der älteste Sohn
Theodor Rhombergs und übernahm bereits
1890 die Leitung der Firma Herrburger &
Rhomberg. 1895 heiratete er Eugenie Bertolini
(1868–1926) und haRe mit ihr vier Kinder. Er
war an der Spitze des Industriellenbundes und
lange Jahre als Obmann der I. Vorarlberger
Viehzuchtgenossenschaft tätig.
28 Der „Zirkel“ ist das monogrammartige Erken-
nungszeichen einer Studentenverbindung.
29 Für diesen Hinweis danke ich Werner MaR vom
Dornbirner Stadtarchiv ganz herzlich.
30 In der „Einleitung des Verfahrens zur Todes-
erklärung“ heißt es dazu: „Er rückte am
1. Oktober 1915 als Einjährig-Freiwilliger zum
3. Tiroler Kaiserjäger-Regiment nach Lambach
ein, ging im Mai 1916 mit dem 21. Marsch-
bataillon ins Feld, und ist seit einem Patrouil-
lengang auf dem Pasubio, bei dem er nach
privaten Nachrichten verschüRet wurde,
vermisst und gänzlich verschollen“, in:
Vorarlberger Landeszeitung, 5.4.1919, S. 6.
31 Beibla6 der Vorarlberger Landes-Zeitung,
o. D., S. 6.
Abb. 8: Norbert vor der GixhüRe im Winter 1916
(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 9: Die HüReneinweihung am Bödele, be-
zeichnet mit „Mitglieder und zwei Ehrenmit-
glieder. 1. ORo Hämmerle, 2. Julius Rhomberg,
Sonntag, am 29. August 1915“ (Album Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
30
Im Februar 1917 wurde Norbert Bertolini zur Musterung einberufen. Zwei
Monate später dokumentierte er bereits seine Soldatenlaufbahn bei Truppen-
übungen auf dem Pfänder. Wann und wo er einrücken musste, ist nicht be-
kannt. Der einzige schriftliche Nachweis für diese Zeit ist eine Feldpostkarte,
die er am 20. Juli 1917 an seinen Vater schickte.32 Als Motiv für die Vorderseite
wählte er ein Foto im alpinen Gelände, auf dem er lächelnd neben einem nicht
explodierten feindlichen Sprengkörper posiert. Für seine aktive Soldatenlauf-
bahn gibt es noch einen weiteren Beleg: Es ist dies ein undatiertes GlasplaPen-
negativ, auf dem Norbert Bertolini und zwei weitere Kaiserjäger mit einer
Gruppe Einheimischer vor der Burg Arco („Schloß Arch“) am Gardasee posieren
(Abb. 11). Das seltsame Sujet bleibt aufgrund der fehlenden Bildlegende un-
geklärt. Das Lächeln der Soldaten in Verbindung mit deren besitzergreifender
Körperhaltung, dazu die Ernsthaftigkeit der einheimischen Frauen, die ihre
Hände auf dem Rücken verschränken – es wäre spannend zu erfahren, unter
welchen Umständen die Fotografie entstanden ist. Das Negativ enthält einen
Hinweis auf Norbert Bertolinis Soldatenlaufbahn: Er trägt das Karl-Truppen-
kreuz, das Kaiser Karl I. von Österreich-Ungarn im Dezember 1916 für die
Armee stiftete. Voraussetzungen für dessen Verleihung waren ein mindestens
zwölfwöchiger Dienst an der Front sowie die Teilnahme an einer Schlacht.33
32 Darin schreibt er an die Adresse der „Stabsab-
teilung, 3. Reg.[iment] der Tiroler Kaiserj[äger]
in Steyr, Oberösterr.[eich]“: „Stellung, am 20.
Juli 17, Liebster Vater! Besten Dank für Deine
lb. Karte v. 14. ds. […] Gerade während meines
Schreibens schnurrt hoch oben ein Italienischer
Flieger vorbei, jedoch kaum zu erreichen. Hier
siehst Du ein Bild von einem 21ger Blindgänger.
Das WeRer ist jetzt sehr schön. […] Herzl. Grü-
ße sendet Dir Dein Dich innigl. Sohn Norbert“.
Schreiben in Privatbesitz.
33 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des
Doppeladlers: Österreich-Ungarn und der
Erste Weltkrieg, Graz 1993, S. 401.
Abb. 10: „Hubert am Einrückungstag.
Dienstag, den 12. Oktober 1915“ (Album
Norbert Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 11: Norbert Bertolini posiert mit Soldaten
und einheimischen Zivilisten vor der Burg
Arco am Gardasee, GlasplaRennegativ
(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
Abb. 12: Norbert Bertolinis Halbbrüder Helmut
und Karl beim SchliRenfahren, Winter 1924
(Album Hubert/Norbert Bertolini,
Privatbesitz)
31
32
Die Zeit nach dem Krieg
Am 16. April 1916, drei Jahre nach dem Tod Marie Bertolinis, haPe Arthur Ber-
tolini Karoline Bergmüller (1883–1948) aus München geheiratet. Nach dem
Krieg wurden ihnen Helmut Ludwig (1918–1945) und Karl Hubert (1921–1999)
geboren. Mit rührseliger Zuneigung verfolgte Norbert Bertolini die Entwick-
lung seiner beiden Halbbrüder mit der Kamera (Abb. 12 und 13).
Auf die Zeit nach dem Tod seines Bruders Hubert (1897–1916), der ebenfalls
in Südtirol stationiert war und dort verunglückte, datieren die ersten Aufnah-
men von Gipfeln und Gebirgszügen, die Norbert Bertolini in großer Zahl mit
oder ohne Staffage anfertigte. Zeitlebens blieben die Berge seine große Leiden-
schaft. Mit dem EintriP ins Erwachsenenalter erweiterte sich der Radius seiner
Wander- und Skirouten, der ab MiPe der 1920er-Jahre schließlich (erneut) bis
in die Dolomiten reichte. War er im Kindes- und Jugendalter mit seinen Freun-
den fast ausschließlich vom Bödele aus zu diversen Wanderungen oder Skitou-
ren (Abb. 14) aufgebrochen, taten sich nach und nach ein paar besonders wag-
halsige Freunde zusammen und brachen zu mehrtägigen Ausflügen innerhalb
der Vorarlberger Landesgrenzen auf. Norbert Bertolini war stets mit der Ka-
mera zur Stelle und setzte alles daran, diese Expeditionen ins rechte Licht zu
rücken (Abb. 15 und 16).
Dabei gefiel ihm die Wiedergabe der Größe und Erhabenheit der Alpen ohne
zivilisatorische Hinweise ebenso, wie ihn mit der Motorisierung die Bezwin-
gung selbiger durch Straßen und Brücken zu interessieren begann (Abb. 17).
Daneben fungierte er als Regisseur und präsentierte sich selbst, oft nur spär-
lich bekleidet, als kraftstrotzenden Athleten vor Bergpanorama (Abb. 18). Bis
ins hohe Alter liebte Bertolini es, den Bergen seiner Heimat ein fotografisches
Denkmal zu setzen.
Abb. 13: Norbert Bertolinis Halbruder,
bezeichnet mit „Helmuth im Garten.
August 1921“ (Album Hubert/Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
33
Abb. 14: „Fernblick in das Bregenzerwaldtal
vom Hochälpele aus. Sonnt. am 26. Nov. 1916“
(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 15: „Eine kleine KleRertour am Fuße von
der Künzelspitze. 1. Hermann Rhomberg. 2.
Norbert. Freitag, am 21. Juli 1916“ (Album Nor-
bert Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 16: „Patriol vom Schindleraufstieg aus.
März 1920“ (Album Hubert/Norbert Bertolini,
Privatbesitz)
34
Zeitgleich mit dem wiedererlangten Frieden änderte sich auch Bertolinis Ver-
hältnis zu den Frauen. Während er sich 1916 noch damit begnügt haPe, den
Moment festzuhalten, in dem er die Initialen seiner Angebeteten „GG“34 in einen
Baum schniP (Abb. 19), verewigte er seine erste (offizielle) Liebesbeziehung zu
Hedwig Rhomberg (1897–1985), der Tochter des Dornbirner Kronenwirts, in
zahlreichen Fotografien. Über drei Jahre waren sie ein Paar und teilten beim
Skifahren und Wandern ihre Leidenschaft für die Berge (Abb. 20). 1921 endete
die Liebe zu Hedwig, auf sie folgten in den Jahren bis zu seiner Hochzeit zahl-
reiche Freundinnen. Sie ließen sich mit Begeisterung bei ihren Ausflügen und
sonstigen Aktivitäten ablichten und dokumentieren das turbulente Treiben
Bertolinis, namentlich im Album erwähnt wurde kaum eine von ihnen. Die
Fluktuation in Bertolinis Liebesleben verwundert kaum, galt der gutaussehende
und athletische Privatier mit eigenem Motorrad doch als „äußerst guter Fang“.
Während die Mitglieder der vormaligen Bödele-Jugendbande zum Studieren
verzogen, zu arbeiten begannen oder heirateten, tauschte Bertolini seinen
Freundeskreis gegen einen jüngeren und gab sich weiterhin dem Junggesellen-
leben hin.
34 Die Initialen „GG“ könnten für Gisela Ganter
(1894–1973) stehen. Sie war die Tochter von
Hubert Ganter (1851–1923) und Irene Bertolini
(1894–1897). Zahlreiche Fotos zeugen von der
Freundschaft mit dieser Cousine.
Abb. 17: Hölltobelbrücke bei Zürs am
Arlberg, 1933 (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
Abb. 18: Norbert Bertolini bei einem Schlamm-
bad, bezeichnet mit „Oberer Wildsee bei den
Pflunspitzen [Verwallgruppe]. August 1921“
(Album Hubert/Norbert Bertolini,
Privatbesitz)
Abb. 19: Norbert Bertolini schneidet die
Initialen „GG“ in einen Baum, bezeichnet mit
„Kehlegg 1916“ (Album Norbert Bertolini,
Privatbesitz)
Abb. 20: Norbert Bertolini und Hedwig
Rhomberg, bezeichnet mit „Jänner 1919“
(Album Norbert Bertolini, Privatbesitz)
35
36
Die Freiheit von 0,93 Pferdestärken
Norbert Bertolini war sehr sportlich, tat sich aber in keiner Sparte besonders
hervor. Auf den erhaltenen Bilddokumenten sieht man ihn auf SchliPschuhen,
beim Bergsteigen, Skilaufen (Abb. 21), Skispringen oder Tennisspielen. Durch
diverse Zeitungsartikel wissen wir um sein Engagement als Fahrwart im Ver-
ein Vorarlberger Skiläufer35 wie um seine wiederholte Teilnahme an diversen
Landesschießen der Heimatwehren36.
Seine wahre Leidenschaft entdeckte Bertolini jedoch erst mit dem Kauf des
Leichtmotorrads „Amstea“ der Marke Evans, das am 24. November 1923 unter
dem Kennzeichen „W II 148“ auf ihn zugelassen wurde (Abb. 22).37 Das Zusam-
menspiel von Geschwindigkeit und Technik stellte die perfekte Verbindung all
seiner Vorlieben dar und stand fortan im MiPelpunkt seines sportlichen Inter-
esses. Da die 0,93 PS des Berliner Fabrikats eine Höchstgeschwindigkeit von
45 Stundenkilometern nicht überstiegen, saPelte er bereits im darauffolgenden
Jahr auf ein wesentlich stärkeres Modell der britischen Firma Sunbeam um,
für das er sich 1925 auch einen Beiwagen zulegte. Mit diesem transportierte er
Ski (Abb. 23) ebenso wie seine zahlreichen Freundinnen. Bis zum Jahr 1931, als
Bertolini sich das erste Automobil kaufte, war die „Sunbeam“ sein ständiger
Begleiter und die erhaltenen Fotografien zeugen vom Gefühl der Freiheit und
Unabhängigkeit, welches ihm diese Maschine ermöglichte. Ähnlich der Amateur -
fotografie förderten, wie der Zeithistoriker Kurt Bauer erläutert, „Fahrräder,
Motorräder [und] Automobile als technische HilfsmiPel zur Beschleunigung der
Fortbewegung […] (mentalitätsgeschichtlich gesehen) den Prozeß der Individu-
alisierung. Sie trugen dazu bei, dass der Einzelne sich selbst als Individuum
wahrnehmen und als Akteur und Gestalter der eigenen Lebensgeschichte defi-
nieren konnte.“38
35 Es gibt einige Erwähnungen dazu in
Vorarlberger Zeitungen, darunter im
Vorarlberger Tagbla6, 19.11.1920, S. 2.
36 Seine Teilnahme an diversen WeRschießen
wird mehrmals erwähnt, etwa in der
Vorarlberger Landes-Zeitung, 30.7.1925, S. 3.
37 Emmerich Gmeiner, Eugen ZardeRi und die
Auto-Vorarlberger. Eine Geschichte des frühen
Automobilismus im Ländle, Hard 2007, S. 384.
38 Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens.
Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Auto-
mobil (Damit es nicht verloren geht … 50), Wien-
Köln-Weimar 2003, S. 213.
Abb. 21: Norbert Bertolini beim Skisprung in
steilem Gelände, 1925 (Album Hubert/Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 22: Norbert Bertolini und seine
„Amstea“ von Evans, bezeichnet mit
„November 1923“ (Album Hubert/Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
Abb. 23: Norbert Bertolini und sein Skitrans-
port auf der Bödelestraße, bezeichnet mit
„(November 1925)“ (Album Hubert/Norbert
Bertolini, Privatbesitz)
37
38
Im Sommer 1929 kulminierte Bertolinis Motorradbegeisterung in einer acht-
tägigen Dolomitenreise anlässlich eines TourenwePbewerbs. Neben ihm nahmen
Ferry Fink, Edi Meusburger, Werner Schlegel und Herbert Kiene an dieser Fahrt
teil, wobei letzterer die gesamte Reise im Frühjahrsheft der Zeitschrift Motor
und Sport beschrieb und dafür ein Preisgeld in der Höhe von 1000 Schilling er-
hielt.39 Die Fotos zu diesem Ausflug stammten von Norbert Bertolini und seinem
Freund, dem Fotografen Werner Schlegel40 (Abb. 24).
39 „Herr Kiene hat es verstanden, sehr hübsch
und lebhaft zu schildern, so daß der Zweck
seiner Arbeit, anregend zu wirken, voll erreicht
wurde.“ Vorarlberger Landes-Zeitung,
13.5.1930, S. 3.
40 Siehe Arno Gehrers Beitrag im vorliegenden
Band ab S. 181.
Abb. 25: Norbert Bertolini und Werner Schlegel
als Teilnehmer bei einem Motorradrennen, um
1930 (Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
Abb. 26: Werner Schlegel und Norbert Bertolini
(?) auf dem Dach einer HüRe, bezeichnet mit
„1928. (Sommer)“ (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
Abb. 24: Dolomitenfahrt 1929, bezeichnet
mit „Edi [Meusburger]/Herbert [Kiene]/
Werner [Schlegel]/Ferry [Fink]. Tofana“
(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
39
Exkurs: Der Profi als Freund und Vorbild
Werner Schlegel wurde 1908 in Bregenz geboren. Als Spross einer ehemals
wohlhabenden Familie fehlten ihm die finanziellen MiPel für einen Lebensstil,
wie ihn Norbert Bertolini pflegte. Schlegel absolvierte eine Ausbildung zum
Fotografen bei Risch-Lau in Bregenz, sammelte nach der Gesellenprüfung Aus-
landserfahrungen in Deutschland und begann 1926 zuerst als Mitarbeiter,
später als Kompagnon von Pankraz Sonntag im Bregenzer Fotohaus Immler.41
In seiner Freizeit versuchte er sich als KunsPurner, Kunstspringer,42 Skifahrer
und Numismatiker,43 war überdies Mitglied des Bregenzer Automobilclubs 44.
Im Juni 1929 organisierte er für den Bregenzer Turnverein ein aufwendiges
Sommerspektakel, für das er als Zirkusdirektor Ren-Rew (= weR-neR) des
gleichnamigen Zirkus’ in den Bregenzer Seeanlagen auftrat.45 Die Dolomiten-
reise von 1929 übertraf Schlegel 1932 mit einer Motorradfahrt nach Afrika,
die er mit drei Freunden unternahm.46
Wie und wann sich Norbert Bertolinis Wege mit jenen Werner Schlegels
kreuzten, ist nicht bekannt. Ab dem Ende der 1920er-Jahre ist ihre Freund-
schaft jedenfalls auf zahlreichen Fotografien dokumentiert. Gemeinsam nah-
men sie an Motorradrennen teil (Abb. 25), machten Ausflüge in Bertolinis
BMW „Wartburg“ oder trieben Schabernack mit Kollegen bei gemeinsamer
HüPengaudi (Abb. 26).
Die Freundschaft fand ihr jähes Ende mit Werner Schlegels Tod kurz vor
Kriegsende 1945.47 Die erhaltenen Bilddokumente der beiden machen deutlich,
dass Bertolinis fotografisches Œuvre ohne diese Verbindung ganz anders
ausgesehen häPe. Zwar war er über den Großvater und die MuPer mit den
Grundlagen der Amateurfotografie vertraut, doch die Zusammenarbeit mit
dem professionellen Vorarlberger Fotografen öffnete Bertolinis Horizont und
steigerte seinen Ehrgeiz, wovon waghalsige Perspektiven (Abb. 27) ebenso
zeugen wie außergewöhnliche Lichtstimmungen (Abb. 28) oder die vielfachen
Versuche, Geschwindigkeit festzuhalten.
41 Mein herzlicher Dank gilt Arno Gehrer, der den
Nachlass Werner Schlegels erforscht.
42 Innsbrucker Nachrichten, 16.8.1927, S. 6.
43 Bludenzer Anzeiger, 18.7.1931, S. 3.
44 Alpenländische Rundschau, 2.4.1932, S. 9.
45 In der Vorarlberger Landesbibliothek hat sich
ein Kurzfilm erhalten, der Werner Schlegel und
seine Artist*innen in Aktion zeigt. Ich danke
Markus MaineRi für diesen Hinweis.
46 „Die Afrika-Motorradfahrer wieder in der
Heimat. Begeisterter Empfang in Bregenz“
lautete die Überschrift in: Vorarlberger-
Landeszeitung, 18.4.1932, S. 3.
47 Schlegel fiel im slowakischen Budimír nahe
Prešov (Ostslowakei).
Abb. 27: Norbert Bertolini, Die Besteigung des
Lagazuoi in den Dolomiten, 1937, stereoskopi-
sches GlasplaRendia (Sammlung Norbert
Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)
Abb. 28: Norbert Bertolini posiert im Gegen-
licht, 1936 (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
40
Es hat sich eine Serie erhalten, die einen Eindruck von der inspirierenden
Freundschaft dieser beiden Männer vermiPelt: An einem schönen Sommertag
im Juli 1931 unternahmen die beiden einen Ausflug ins Allgäu und inszenierten
sich dabei im Stile Laurels und Hardys (Abb. 30). Sie sitzen im Heck eines kleinen
Ruderboots, umgeben von einem Teppich aus Seerosen, tragen weiße Hemden,
Knickerbocker und Melonen mit eingesteckten Blüten. Die Perspektive ist so
gewählt, dass der Betrachter meint, er säße im Bug des Bootes und sei Teil der
Gesellschaft. Ein weiteres Foto der Serie zeigt die beiden am Oberjoch, Rücken
an Rücken auf einem Felsen über dem Abgrund sitzend, dahinter öffnet sich
der Blick auf das Ostrachtal vor Allgäuer Bergpanorama (Abb. 29). Auch
hier ist das Motiv sorgsam gewählt: Im Feiertagsgewand posieren die beiden
auf einem Felsen über dem Abgrund, dämlich grinsend, präsentieren sie sich
(scheinbar) keiner Gefahr bewusst.
Bei der Dokumentation ihrer gemeinsamen Leidenschaften, dem Alpinismus
und der Liebe für den Motorsport, haben die beiden Freunde sich wohl gegen-
seitig befruchtet. Der Qualitätssprung im fotografischen Werk Norbert Bertolinis
macht seine Aufnahmen aus den 1930er-Jahren zu den kunsthistorisch wert-
vollsten. Dennoch darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass sich
diese Werke im Rahmen einer konservativen und heimatverbundenen Foto-
grafie bewegten, der sich sowohl Werner Schlegel als auch Norbert Bertolini
verpflichtet fühlten und wie sie erst der austrofaschistische „Ständestaat“ und
später der Nationalsozialismus forcierte und propagandistisch nutzte.4848 Siehe den Beitrag von Anton Holzer in diesem
Band ab S. 51.
Abb. 29: Norbert Bertolini und Werner Schlegel
am Oberjoch vor Allgäuer Bergpanorama,
Juli 1931, stereoskopisches GlasplaRendia
(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
Abb. 30: Norbert Bertolini und Werner
Schlegel in einem Kahn am Waldsee, 1931,
stereoskopisches GlasplaRendia
(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
41
42
43
Ein neuer LebensabschniP
Mit Ende der 1920er-Jahre begann im Leben Norbert Bertolinis eine Zeit großer
Veränderungen. In einem ersten SchriP legte er sich eine Stereokamera zu, mit
der er sein Leben in den folgenden zehn Jahren dokumentierte.49 Mit 31 Jahren,
am 17. November 1930, beendete Norbert Bertolini sein Junggesellentum und
vermählte sich mit der Ulmer Kaufmannstochter Eleonore Helene Stückle
(1906–1995) (Abb. 31).50
Ob es sich dabei um eine Liebesheirat handelte, oder ob auch wirtschaftliche
Kriterien eine Rolle für die Wahl der Ehefrau spielten, bleibt offen.51 Zusammen
bezog das junge Paar jedenfalls eine Wohnung im zweiten Stockwerk des fami-
lieneigenen Hauses am Bregenzer Leutbühel, in dem sich auch das Manufak-
turwarengeschäft des Vaters befand.52 Den erhaltenen Bildern ist zu entneh-
men, dass Lore Bertolini den Bergen zeitlebens ebenso zugetan war wie ihr
Ehemann. Auch sonst scheint sie sportlich sehr aktiv gewesen zu sein, wie eine
Zeitungsnotiz über die Teilnahme an einem nationalen Tennisturnier am Bödele
schließen lässt.53 Die Ehe der beiden blieb kinderlos. Wie Lore Bertolini ihre Tage
füllte, welchen Freizeitbeschäftigungen sie nachging und wie ihr das Leben in
Vorarlberg gefiel, ist nicht bekannt. In späteren Jahren widmete sie sich inten-
siv dem Kartenspiel.54 Mit ihrem Mann teilte sie die Liebe zu Sportwagen und
legte sich in den 1960er-Jahren einen VW „Karmann-Ghia“ zu, mit dem sie gerne
ihre Familie in Ulm besuchte. Darüber hinaus ist kaum etwas über ihr Leben
und ihre Leidenschaften bekannt.
49 Die Stereoskopie wird umgangssprachlich als
„3-D“ bezeichnet. Tatsächlich vermiReln dabei
zweidimensionale Bilder einen dreidimensio-
nalen Eindruck – ein „Raumbild“. Die Stereo-
skopie beruht darauf, dass der Mensch die
Umgebung mit seinen beiden Augen aus zwei
Blickwinkeln betrachtet. So kann das Gehirn
gesehenen Objekten eine Entfernung zuordnen
und ein räumliches Bild der betrachteten
Umwelt erzeugen. Eine Stereokamera ist mit
zwei Objektiven im Augenabstand ausgestat-
tet, sie nimmt die beiden benötigten Teilbilder
gleichzeitig auf. Ein solches Bilderpaar wird als
„stereoskopisches Bild“ bezeichnet. Zur
Betrachtung der Bilder benötigte man ein tech-
nisches HilfsmiRel. Meist war das ein soge-
nannter Stereo-Bildbetrachter mit Optikaugen
und verstellbarer Halterung. In den 1920er-
Jahren erlebte die Stereoskopie indes als Lieb-
haberei erneut ein kurzfristiges Revival. Siehe
dazu den Beitrag von Martin Kohler im vorlie-
genden Band ab S. 147.
50 „In Ulm a. d. D. wurde Herr Norbert Bertolini,
der Sohn des Inhabers der großen Manufaktur-
warenfirma Artur Bertolini in Bregenz, mit
Fräulein Lore Stückle aus Ulm getraut.“
Bregenzer Nachrichten, in: Alpenländische
Rundschau, 22.11.1930, S. 10.
51 Die Familie führte 1900 bis 1966 ein Herren-
bekleidungsgeschäft mit Maßschneiderei in
der Ulmer Innenstadt. Über die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Familie ist wenig bekannt,
da die Ulmer Gewerbeakten 1944/45 fast voll-
ständig verbrannt sind. Die gute Lage in der
Hirschstraße 24 stützt aber diverse Aussagen,
dass Lore Bertolini aus sehr wohlhabendem
Hause stammte. Ich danke MaRhias Grotz vom
Haus der Stadtgeschichte – Stadtarchiv Ulm
für diese Information.
52 Laut Melderegister zog Lore Bertolini am
26.11.1930 in die Bregenzer Rathausstraße 1
ein. Mein herzlicher Dank gilt Thomas Klagian
vom Bregenzer Stadtarchiv für die ÜbermiR-
lung dieser Daten und weiterer Informationen.
53 „Die Schlußrunde im gemischten Doppel […]
endete mit einem Siege für Fräulein Grete
Eyth, Bregenz und Dr. Kispert gegen Frau Lore
Bertolini, Bregenz und Herrn Hubert Hämmerle,
Dornbirn“, in: Vorarlberger Tagbla6, 15.9.1931,
S. 7.
54 Ihr zeitweiliger Bridgepartner Richard
Huter aus Bregenz sowie die Gastronomen
Barbara Moosbrugger-Fetz und Franz Fetz
berichteten von diesem Hobby als ihrer
großen Leidenschaft.
Abb. 31: Hochzeit von Lore Stückle und
Norbert Bertolini im Ulmer Münster, Novem-
ber 1930, GlasplaRennegativ (Sammlung Nor-
bert Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)
44
BMW 3/15 PS DA 3 Typ „Wartburg“
Es ist etwas Seltsames um dieses Reisen mit dem Auto. Es führt viel unmi;el-
barer als die Eisenbahn in das Leben hinein. Aber es führt auch wieder viel zu
schnell an ihm vorbei. Vor allem, es kostet viel Zeit. Die Eisenbahn macht es
schneller, sie läßt Muße zum Aufenthalt, zum Kennenlernen der Dinge und der
Menschen, und zum Studieren. Das Reisen im Auto nimmt die ganze Zeit in
Anspruch. Es wird Selbstzweck […].55
Von April 1930 bis Jänner 1931 begründete BMW seine Automobilsportge-
schichte mit dem Bau eines kleinen, nur knapp über 400 Kilogramm schweren
und zirka 90 Stundenkilometer schnellen Roadsters mit der Typenbezeichnung
BMW 3/15 PS DA 3 „Wartburg“. Die Gestaltung war an das englische Vorbild, den
Austin 7 „Ulster“, angelehnt, sein 750-Kubikzentimeter-Vierzylindermotor mit
Doppelauspuffanlage auf 18 PS getunt. Nur 150 Stück dieses erfolgreichen WeP-
bewerbswagens wurden bis 1931 verkauft. Der Preis betrug 3100 Reichsmark.56
Ab 1931 war Norbert Bertolini stolzer Besitzer eines solchen Sportwagens,
den er durch das Anbringen einer handtellergroßen eisernen Spinne auf dem
Kühlergrill personalisierte (Abb. 32).
Abb. 32: BMW-Kühlergrill mit eiserner Spinne,
Detail, 1931, stereoskopisches GlasplaRendia
(Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
Abb. 33: Norbert Bertolini im BMW „Wartburg“
auf der Sellastraße mit Marmolata, stereosko-
pisches GlasplaRendia (Sammlung Norbert
Bertolini, Vorarlberger Landesbibliothek)
55 Aus einer Rezension zu Felix von Moeschlins
„Amerika vom Auto aus. 20.000 km U. S. A.“
(1930), in: Frankfurter Zeitung, 8.6.1930.
56 Sämtliche dieser Informationen verdanke ich
Hagen Nyncke vom Archiv der BMW Group.
1,– Reichsmark entsprach der Kaufkraft von
rund 6,60 Euro.
45
Abb. 34: Werner Schlegel im BWM auf einer
italienischen Kriegsstraße, stereoskopisches
GlasplaRendia (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
Abb. 36: Lore Bertolini im BMW auf der Reichs-
autobahn, 1936, stereoskopisches GlasplaRen-
dia (Sammlung Norbert Bertolini, Vorarlberger
Landesbibliothek)
Abb. 35: Lore Bertolini im BMW auf
der Großglockner Hochalpenstraße,
1936, stereoskopisches GlasplaRendia
(Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
57 Die eiserne Spinne fand später ihren Weg vom
Auto zu Bertolinis Haus auf der Seewarte, denn
dort hockte sie fortan an der Fassade und
erschreckte neugierige Wanderer. Interview
mit Barbara Moosbrugger-Fetz und Franz Fetz,
7.4.2018. Petra Zudrell machte die Spinne bei
einer Dornbirner Sammlerin ausfindig.
58 Aus den Vorarlberger Gemeindestuben, in:
Vorarlberger Volksbla6, 25.9.1931, S. 5.
59 Die Reichsautobahnen in Deutschland waren
ein Netz von Schnellstraßen, mit deren Pla-
nung und Bau schon in der Weimarer Republik
begonnen worden war. Nach der Machtergrei-
fung durch die Nationalsozialisten 1933 wurde
der Ausbau beschleunigt und als Maßnahme
gegen die hohe Arbeitslosigkeit deklariert.
60 Der Ford „Eifel“ wurde 1935 bis 1940 als Nach-
folgemodell des Ford „Köln“ von der deut-
schen Ford Motor Company AG in Köln gebaut.
Er haRe 34 PS und war mit einem Dreigang-
getriebe ausgestaRet. Vgl. PKW – deutsche und
ausländische Fabrikate, in: Saar-Nostalgie,
Kapitel Verkehr [hRp://www.saar-nostalgie.de/
PKWDeutsch.htm], eingesehen am 16.4.2019.
Welche Bedeutung dieses Emblem für Bertolini haPe, entzieht sich bis heute
unserer Kenntnis.57 Zum Schutz seines Automobils beantragte Bertolini über-
dies den Bau einer Garage im familieneigenen Garten am Ölrain. Diesem
Wunsch wurde in der Bregenzer Stadtvertretungssitzung vom 24. September
1931 unter Punkt 5 staPgegeben: „Dem Herrn Norbert Bertolini wird die Bauab-
standsnachsicht zur Erstellung einer Autogarage aus Wellblech erteilt, da die
Anrainer (Erben nach Herrn ZardePi) dagegen keinen Einwand erheben.“58
Von 1931 bis 1938 befand sich der „Wartburg“ in Bertolinis Besitz und stellte
sein liebstes Fotomotiv dar. Der kleine Rennwagen wurde von seinem Fahrer
auf unterschiedlichen Strecken voller Stolz und mit viel Liebe zum Detail in
Szene gesetzt: Er meisterte etliche Passhöhen (Abb. 33), trotzte winterlichen
Fahrbahnen und bewältigte sogar Kriegsstraßen in den Dolomiten (Abb. 34).
Alpentouren mit spektakulären Passagen – wie die erst 1935 eröffnete Groß-
glockner Hochalpenstraße (Abb. 35) – stellten ein ähnlich begehrtes Reiseziel
dar wie eine Fahrt auf der zu jener Zeit noch spärlich genutzten deutschen
Reichsautobahn59 (Abb. 36).
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wechselte Bertolini das Auto. Anstelle des
sportlichen „Wartburgs“ setze er nun auf einen staPlichen Ford „Eifel“.60 Nach
1945 fand Bertolini zum Modell VW „Käfer“ in British Racing Green, dem er bis
zu seinem Lebensende treu blieb.
46
Eine HüPe in den Bergen
Am 25. April 1932 fanden sich Norbert Bertolini und vier Zeugen beim Dorn-
birner Notar Bernard Rudigier ein, um einen Kaufvertrag zu besiegeln, dem
zufolge die Firma Alpenhotel Bödele OPo Hämmerle ein 400 Quadratmeter
großes Grundstück für 2400 Schilling an den Bregenzer Privatier veräußerte.
Dem Käufer wurde ein immerwährendes Geh- und Fahrrecht eingeräumt; er
verpflichtete sich seinerseits, „niemals eine Gastwirtschaft zu errichten oder
daselbst ein dem Hotelbetrieb schädigendes Gewerbe auszuführen“.61
Bald darauf sah man einen gewissen Lehrer Bildstein, einen Radiästhesisten,
mit der Wünschelrute in Händen nach dem idealen Ort für den Brunnenbau zu
suchen.62 Das Ergebnis war nicht von Erfolg gekrönt, wie Rudolf Hämmerle in
seiner Geschichte des Bödele zu berichten wusste: „Norbert Bertolini, der auch
1932 [...] baute, versuchte einen Brunnen zu schlagen, kam aber bei 15 m Tiefe,
wo ihm die Rutengänger zu graben empfahlen, nicht auf Wasser.“63
Von diesen anfänglichen Schwierigkeiten ließ sich der Grundbesitzer aber
nicht beirren und begann bereits im Sommer 1932 mit dem Bau eines kleinen
Häuschens am östlichsten Punkt der Seewarte (Abb. 37). Der Standort am
61 Dokumentenarchiv F. M. Hämmerle, Schachtel
Verträge Alpenhotel Nr. 1–54, Nr. 32, Kaufver-
trag mit Norbert Bertolini. Mein herzlicher
Dank ergeht an Nikola Langreiter für die Über-
miRlung dieses Aktenfundes.
62 Bei dem von Bertolini in seinem Album als
„Lehrer Bildstein“ bezeichneten Mann könnte
es sich um Emil Bildstein (1890–1952) gehan-
delt haben. Im Dornbirner Familienbuch ist
als Berufsbezeichnung Lehrer angegeben. Vgl.
MaR, Dornbirner Familienbuch, [hRps://
lexikon.dornbirn.at/startseite/geschichte/
dornbirner-familienbuch/], eingesehen am
10.1.2019. Die Radiästhesie gehört zu den
Parawissenschaften und bezeichnet die Lehre
von den angeblichen Strahlenwirkungen auf
Organismen.
63 Hämmerle, ORo Hämmerle, S. 44–45.
Abb. 37: Lore Bertolini vor dem Haus auf der
Seewarte, um 1935, stereoskopisches Glasplat-
tendia in Farbe (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
47
Hügelkamm war ideal, von hier reichte die Aussicht vom Bodensee bis in den
Bregenzerwald. Das zweistöckige Holzhaus war mit Schindeln verkleidet und
haPe ein verzinktes Blechdach. Die traditionelle Veranda, die im Winter ver-
glast werden konnte, gab den Blick vom Bergahornweg der Seewarte bis zum
Bodensee frei. Das Innere der HüPe war schlicht, aber komfortabel eingerichtet.
Dort empfingen Bertolinis gerne Besuch von Freunden und Familie.
Bis zum Ende seines Lebens verbrachte Norbert Bertolini die meiste Zeit auf
dem Bödele. Dieses kleine Haus war von unschätzbarem Wert, denn es gehörte
nur ihm und stand damit Synonym für das einzige, das er je selbst erschaffen
haPe und für das er allein verantwortlich zeichnete. Es verband ihn mit seiner
unbeschwerten Kindheit und war der Ort, an dem er frei und unabhängig leben
konnte.64
Bertolini und der Nationalsozialismus
Norbert Bertolini war in einem liberal deutschnationalen Elternhaus aufge-
wachsen. Einzelne Persönlichkeiten seines familiären Umfeldes taten sich
früh als bekennende und äußerst aktive Nationalsozialisten hervor. So ist von
seinem Cousin Theodor Rhomberg d. J. (1897–1944), dem technischen Leiter
der Textilfabrik Herrburger & Rhomberg, überliefert, dass er noch vor dem
„Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich auf dem Bödele Wintergäste
schlug, die ihm den Hitlergruß verweigerten.65 Auch im engsten Familienkreis
lässt sich ab 1938 die Begeisterung für Hitler durch Fotografien der mit Haken-
kreuzen und Führerbüsten geschmückten Auslagen des Manufakturwaren-
ladens am Leutbühel belegen. Selbst Norbert Bertolinis bester Freund, der 64 In Zusammenhang mit Bertolinis LebensmiRel-
punkt, dem Häuschen auf der Seewarte, mel-
deten sich nach unserem Aufruf im Zuge der
Ausstellung im vorarlberg museum einige Zeit -
zeugen und teilten mit uns ihre Erinnerungen.
Dank dieser Anekdoten konnte das vom Foto-
grafen selbst erschaffene Bild des sportlichen
und unabhängigen Lebemanns um die FaceRen
des Liebhabers, Onkels, Gasts und Nachbarn
ergänzt werden. Nachzulesen in: Kathrin
Dünser, Norbert Bertolini, der Bürgermeister
vom Bödele oder Der Fotograf, seine Frau, die
Geliebte und ein Rückzugsort in den Bergen,
in: Nikola Langreiter/Petra Zudrell (Hg.), Wem
gehört das Bödele? Katalog zur gleichnamigen
Ausstellung im Stadtmuseum Dornbirn,
31.1.2020–31.1.2021 [in Vorbereitung, erscheint
bei Residenz, Salzburg-Wien 2020].
65 1925 übernahm Theodor Rhomberg die Stelle
als Prokurist, ab 1932 war er geschäftsführen-
der Gesellschafter der Textilwarenfabrik Herr-
burger & Rhomberg. Ihm oblag die gesamte
technische Leitung der Dornbirner Betriebe.
Vgl. Hans Nägele, Sechs Generationen im
Dienste ihrer Textilwarenfabriken. Die Firma
Herrburger & Rhomberg in Dornbirn, Innsbruck
und Wien von 1795 bis 1945, Dornbirn-
Innsbruck-Wien 1949, S. 94. Harald Walser,
Die illegale NSDAP in Tirol und Vorarlberg
1933–1938, Wien 1983, S. 109.
Abb. 38: Norbert Bertolini hisst im Beisein von
Lore, seiner Schwägerin und deren Mann die
NSDAP-Fahne am Haus auf der Seewarte,
März 1938 (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
48
Fotograf Werner Schlegel, war bereits 1933 Mitglied der NSDAP und nahm nach
dem Anschluss an SA-Fortbildungen teil.66 Es verwundert also nicht, dass Ber-
tolini bereits im März 1938 die NSDAP-Fahne auf der Seewarte hisste (Abb. 38),
im selben Jahr einen NS-Wimpel auf seinem BMW „Wartburg“‘ befestigte (Abb. 39)
und sich 1941 durch freiwillige Mitarbeit der NSDAP andiente.67
Wie sehr seine ideologische Ausrichtung jedoch der Familie und dem Freun-
deskreis geschuldet war oder einer inneren Überzeugung entsprach, wissen
wir nicht. Aufgrund einer schweren Magenoperation 1934 musste Norbert
Bertolini während des Zweiten Weltkriegs nicht einrücken. Bertolinis Technik-
begeisterung, die sich von der Fotografie über die Motorisierung bis hin zum
Straßen- und Brückenbau erstreckte, deckt sich mit den propagierten Zielen
des Nationalsozialismus. Seine anfängliche Kriegsbegeisterung dürfte ihm
jedoch spätestens 1945 vergangen sein. In den letzten Kriegstagen wurde sein
Halbbruder Helmut Ludwig auf der Heimreise in der Steiermark getötet, als
er im Gedränge aus einem Zug gestoßen und von diesem überrollt wurde. Im
selben Jahr starb Bertolinis Freund Werner Schlegel wie erwähnt bei Kampf-
handlungen in der Slowakei.
66 Im Nachlass Werner Schlegel in der Sammlung
Arno Gehrer finden sich umfangreiche Quellen,
darunter seine Mitgliedskarten der NSDAP.
In den Akten des Stadtarchivs aus der NS-Zeit
ist Schlegel 1941 als Gliederungsführer ein-
getragen. Vgl. StAB, Findbuch, Akten NS -Zeit,
S. 279/586.
67 StAB, Akten NS-Zeit, Nr. 566607.
Abb. 39: Lore Bertolini im BMW vor dem Kolos-
seum in Verona, Juli 1938, stereoskopisches
GlasplaRendia (Sammlung Norbert Bertolini,
Vorarlberger Landesbibliothek)
49
Was bleibt
Norbert Bertolinis intensives fotografisches Schaffen endete mit Kriegsbeginn
1939. Zumindest lässt das bislang aufgetauchte Werk diesen Schluss zu. Die
Gründe, weshalb der Amateur so plötzlich mit der Dokumentation seines Lebens
aufhörte, liegen im Dunkeln. Mit dem Fotohistoriker Timm Starl wäre anzu-
nehmen, dass die Realität des Kriegs den Amateurfotografen zum Weglegen
der Kamera brachte:
Gewöhnlich nimmt der Wunsch zu fotografieren in dem Maße ab, als die
Lebensumstände sich schwieriger gestalten. In Augenblicken der Not und
Bedrohung richten sich die Sinne nur auf die Gegenwart und die unmi;elbare
Zukunft. Die Angst um die Existenz kennt kein fotografisches Motiv. Auch
aus diesem Grund ist das Kriegsende ebenso spärlich in den privaten Alben
zugegen wie die ersten Jahre danach.68
In den drei Jahrzehnten davor schuf Norbert Bertolini jedoch ein beeindru-
ckendes Œuvre bürgerlicher Kunstfotografie, das in seiner Qualität die Ansprü-
che der sich stetig ausbreitenden Knipserfotografie69 weit übertraf. Den Grund-
stein dazu legten Großvater und MuPer, die ihm bereits in frühester
Jugend das kostspielige Hobby ermöglichten und ihm weitergaben, was sie
wussten. Durch die Freundschaft zum Profifotografen Werner Schlegel erhielt
Norbert Bertolinis Schaffen ab den 1920er-Jahren neuen Auftrieb. Gemeinsam
experimentierten sie auf den Gebieten der Ski- und Motorsportfotografie und
machten sich dazu die Errungenschaften der Neuen Sachlichkeit70 zunutze. Im
Nachhinein betrachtet machte sie ihre politische Einstellung zu idealen Werk-
zeugen der NS-Ideologie, propagierten sie doch das Bild einer heimatlichen
Idylle, die sich aus der Verbindung von Traditionalismus und technischem Fort-
schriP speiste.
Bis an sein Lebensende umgab sich Bertolini mit seinen Fotografien. Er ver-
wahrte sie mit Bildlegenden versehen in den Alben, gerahmt schmückten sie
die Wände seiner HüPe und als GlasplaPendias standen sie für die Betrachtung
mit dem Stereobetrachter bereit. Es ist anzunehmen, dass ihm diese Bilder
Sicherheit und Kontinuität vermiPelten, denn es handelte sich wohl um Abbil-
dungen von Dingen und Beziehungen, die andauern sollten. Sie standen gegen
das „Wechselvolle und Flüchtige, gegen die Unwägbarkeiten des Daseins,
gegen Überraschung und Katastrophe“.71
Uns hingegen eröffnen diese Bilddokumente einen Blick in die Welt des Vor-
arlberger Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Sie dokumentieren das Leben
der Oberschicht, deren Aktivitäten und Vorlieben wie auch ihren Humor. Sie
zeugen von der frühen Euphorie für den Nationalsozialismus ebenso wie vom
Verstummen angesichts des Zweiten Weltkriegs. In ihrer Vielschichtigkeit
komplementieren sie das in Anekdoten übermiPelte Bild des Amateurfotografen
Norbert Bertolini als das eines gepflegten, freundlichen, zurückhaltenden und
ein wenig ängstlichen Mannes, der für alle, die ihn kannten, zeitlebens seltsam
unverbindlich und indifferent blieb.
68 Starl, Knipser, S. 124.
69 In der Amateurfotografie wurde zwischen Lieb-
haberfotografie (meist in Vereinen organisiert
und um Veröffentlichung bemüht) und
Schnappschuss-Fotografen (sog. Knipsern)
unterschieden, wobei letztere ihre Umwelt
per definitionem nur um des Erinnerungswerts
willen und ohne künstlerischen Anspruch
festhielten.
70 Bei dieser Strömung stand die Gestaltungs-
macht des Objekts im Zentrum des Interesses.
Um sich von den Kompositionsschemata der
Malerei abzugrenzen, wurden häufig unge-
wöhnliche Blickwinkel wie Auf- und Untersich-
ten gewählt, diagonale Bildachsen konstruiert
und Objekte aus ihrem Kontext gelöst wieder-
gegeben. Vgl. Xenia Ressos, Österreich im
Kontrast. Fotografie zwischen künstlerischer
Avantgarde und politischer Funktion, in:
Christoph Bertsch (Hg.), Das ist Österreich.
Bildstrategien und Raumkonzepte 1914–1938,
Bregenz 2015, S. 55–63, S. 57.
71 Starl, Knipser, S. 55.