Was unter dem Hügel steckt

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Nachrichten aus der Chemie| 59 | September 2011 | www.gdch.de/nachrichten 866 b Neben gut aufgelösten, schar- fen Signalen, den Peaks, die wohl definierten, sauber aufgetrennten Einzelverbindungen entsprechen, sind sanfte und breite Hügel stän- dige Begleiter des analytischen Chemikers. Solche Hügel gibt es sowohl in der Flüssigkeits- als auch in der Gaschromatographie. Sie treten vermehrt bei der Analyse von Rohextrakten und bei nicht oder schlecht gereinigten Proben auf. Im Umgang mit solchen Hügeln, die auch die Quantifizierung von Analyten erschweren, gibt es zwei Strategien: die sorgfältige Reini- gung der Probe, das ist die wissen- schaftlich redliche Vorgehensweise, und die Basislinienkorrektur eines Chromatogramms, die eher unred- liche Weise. Beschäftigt man sich mit solchen chromatographischen Hügeln stel- len sich mehrere Fragen: Wie häu- fig und relevant sind solche Hügel? Haben sie physikalisch-chemische Relevanz und wenn ja welche? Wie analysiert und charakterisiert man solche Hügel? Welche Schlussfol- gerungen kann man aus einer Hü- gelcharakterisierung ziehen? Auf die Frage nach Häufigkeit und Relevanz gibt die Literatur keine klare Antwort. Besonders die Frage nach der Häufigkeit ist schwer zu beantworten. Seit sich meine Arbeitsgruppe mit der Cha- rakterisierung von chromatogra- phischen Hügeln beschäftigt, habe ich die Zahl der basislinienkorri- gierten Chromatogramme in allen Veröffentlichungen gezählt, die ich seit 2006 begutachtet habe. Diese persönliche Statistik ist zwar nur anekdotisch zu werten. Schockierenderweise enthielten die Manuskripte aber zu über 80 Prozent geglättete Chromato- gramme. Eine klare Aussage über die Häufigkeit von Hügeln scheint daher unmöglich, wenn diese Pra- xis anhält. Zur physikalisch-chemischen Relevanz: Es gibt eine Reihe wohl- definierter Proben, in denen der Hügel den Hauptanteil ausmacht. Im Jahr 1990 publizierten Row- land und Mitarbeiter erstmals eine Arbeit über die Analyse von Erdöl- rückständen und prägten für den chromatographischen Hügel den Begriff „unresolved complex mix- ture“ (UCM). 1) Gaschromatogram- me aller Erdölproben, Proben um- weltrelevanter Erdölabbauproduk- te oder Abfallproben, die Erdöl- produkte enthalten, zeigen neben scharf aufgelösten Peaks vor allem einen breiten Hügel (Abbil- dung 1a). Auch in Lebensmittelproben fin- den sich häufig solche UCMs. Dies trifft insbesondere auf prozessierte Lebensmittel zu, die durch Erhit- zen oder Fermentierung hergestellt wurden. Zu den bekanntesten Bei- spielen zählen schwarzer Tee, Ka- kaopulver, gerösteter Kaffee, schwarzer Pfeffer, Karamell und andere Maillardprodukte. In ihnen stellt der UCM-Hügel den Haupt- anteil der chemischen Zusammen- setzung der Probe dar. Nur wenige Prozente des Gesamtinhalts ent- sprechen nach Quantifizierung den wohlaufgelösten, scharfen Peaks. Diese chromatographischen Hügel sind also entscheidend, um eine solche Probenzusammensetzung zu verstehen. Schwarzer Tee und Thearubigene b Von einer Tasse schwarzen Tees machen UCMs ungefähr 60 bis 70 Prozent der Trockenmasse aus. Knackpunkt bei schwarzem Tee sind die Thearubigene (TR), die Roberts zwar bereits im Jahr 1959 erstmalig isolierte und beschrieb, 2) an deren Strukturanalyse sich seit- Nikolai Kuhnert Komplexe Stoffgemische, wie sie in verarbeiteten Lebensmitteln, etwa schwarzem Tee, vorkommen, ergeben im Chromatogramm keine scharfen, sondern sehr breite Signale. Mit ultrahochaufgelöster und Tandem-Massenspektrometrie lassen sich solche „unresolved complex mixtures“ dennoch charakterisieren. Was unter dem Hügel steckt BAnalytikV VV In schwarzem Tee sind die Catechine aus dem grünen Teeblatt durch enzymatische Oxidation zu Thearubigenen umgesetzt, die im Chromato- gramm einen nicht aufgelösten Hügel ergeben. VV Um die Substanzen, die sich unter einem Thea- rubigenhügel verbergen, zu charakterisieren, eignet sich eine Strategie aus drei Schritten: Hochauflösende Massenspektrometrie erfasst die Summenformeln der Komponenten, eine graphische Auswertung gibt Hinweise auf die Strukturen, die LC-MS/MS-Experimente dann bestätigen oder verwerfen. VV Die Thearubigenfraktion des Tees enthält um die 30 000 Substanzen, das sind zehn Mal mehr als erwartet; damit reicht die Komplexität des Ma- terials an die von Erdöl heran. Bisher gibt es Vor- schläge für 1300 Strukturformeln. b QUERGELESEN

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Nachrichten aus der Chemie| 59 | September 2011 | www.gdch.de/nachrichten

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b Neben gut aufgelösten, schar-fen Signalen, den Peaks, die wohl definierten, sauber aufgetrennten Einzelverbindungen entsprechen, sind sanfte und breite Hügel stän-dige Begleiter des analytischen Chemikers. Solche Hügel gibt es sowohl in der Flüssigkeits- als auch in der Gaschromatographie. Sie treten vermehrt bei der Analyse von Rohextrakten und bei nicht oder schlecht gereinigten Proben auf.

Im Umgang mit solchen Hügeln, die auch die Quantifizierung von Analyten erschweren, gibt es zwei Strategien: die sorgfältige Reini-gung der Probe, das ist die wissen-schaftlich redliche Vorgehensweise, und die Basislinienkorrektur eines

Chromatogramms, die eher unred-liche Weise.

Beschäftigt man sich mit solchen chromatographischen Hügeln stel-len sich mehrere Fragen: Wie häu-fig und relevant sind solche Hügel? Haben sie physikalisch-chemische Relevanz und wenn ja welche? Wie analysiert und charakterisiert man solche Hügel? Welche Schlussfol-gerungen kann man aus einer Hü-gelcharakterisierung ziehen?

Auf die Frage nach Häufigkeit und Relevanz gibt die Literatur keine klare Antwort. Besonders die Frage nach der Häufigkeit ist schwer zu beantworten. Seit sich meine Arbeitsgruppe mit der Cha-rakterisierung von chromatogra-phischen Hügeln beschäftigt, habe ich die Zahl der basislinienkorri-gierten Chromatogramme in allen Veröffentlichungen gezählt, die ich seit 2006 begutachtet habe. Diese persönliche Statistik ist zwar nur anekdotisch zu werten. Schockierenderweise enthielten die Manuskripte aber zu über 80 Prozent geglättete Chromato-gramme. Eine klare Aussage über die Häufigkeit von Hügeln scheint daher unmöglich, wenn diese Pra-xis anhält.

Zur physikalisch-chemischen Relevanz: Es gibt eine Reihe wohl-definierter Proben, in denen der Hügel den Hauptanteil ausmacht. Im Jahr 1990 publizierten Row-land und Mitarbeiter erstmals eine Arbeit über die Analyse von Erdöl-rückständen und prägten für den

chromatographischen Hügel den Begriff „unresolved complex mix-ture“ (UCM).1) Gaschromatogram-me aller Erdölproben, Proben um-weltrelevanter Erdölabbauproduk-te oder Abfallproben, die Erdöl-produkte enthalten, zeigen neben scharf aufgelösten Peaks vor allem einen breiten Hügel (Abbil-dung 1a).

Auch in Lebensmittelproben fin-den sich häufig solche UCMs. Dies trifft insbesondere auf prozessierte Lebensmittel zu, die durch Erhit-zen oder Fermentierung hergestellt wurden. Zu den bekanntesten Bei-spielen zählen schwarzer Tee, Ka-kaopulver, gerösteter Kaffee, schwarzer Pfeffer, Karamell und andere Maillardprodukte. In ihnen stellt der UCM-Hügel den Haupt-anteil der chemischen Zusammen-setzung der Probe dar. Nur wenige Prozente des Gesamtinhalts ent-sprechen nach Quantifizierung den wohlaufgelösten, scharfen Peaks. Diese chromatographischen Hügel sind also entscheidend, um eine solche Probenzusammensetzung zu verstehen.

Schwarzer Tee und Thearubigene

b Von einer Tasse schwarzen Tees machen UCMs ungefähr 60 bis 70 Prozent der Trockenmasse aus. Knackpunkt bei schwarzem Tee sind die Thearubigene (TR), die Roberts zwar bereits im Jahr 1959 erstmalig isolierte und beschrieb,2) an deren Strukturanalyse sich seit-

Nikolai Kuhnert

Komplexe Stoffgemische, wie sie in verarbeiteten Lebensmitteln, etwa schwarzem Tee, vorkommen,

ergeben im Chromatogramm keine scharfen, sondern sehr breite Signale. Mit ultrahochaufgelöster und

Tandem-Massenspektrometrie lassen sich solche „unresolved complex mixtures“ dennoch charakterisieren.

Was unter dem Hügel steckt

BAnalytikV

VV In schwarzem Tee sind die Catechine aus dem

grünen Teeblatt durch enzymatische Oxidation

zu Thearubigenen umgesetzt, die im Chromato-

gramm einen nicht aufgelösten Hügel ergeben.

VV Um die Substanzen, die sich unter einem Thea-

rubigenhügel verbergen, zu charakterisieren,

eignet sich eine Strategie aus drei Schritten:

Hochauflösende Massenspektrometrie erfasst

die Summenformeln der Komponenten, eine

graphische Auswertung gibt Hinweise auf die

Strukturen, die LC-MS/MS-Experimente dann

bestätigen oder verwerfen.

VV Die Thearubigenfraktion des Tees enthält um die

30 000 Substanzen, das sind zehn Mal mehr als

erwartet; damit reicht die Komplexität des Ma-

terials an die von Erdöl heran. Bisher gibt es Vor-

schläge für 1300 Strukturformeln.

b QUERGELESEN

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dem jedoch alle Arbeitsgruppen die Zähne ausbissen. Thearubigene entstehen bei der Fermentierung des grünen Teeblatts aus dessen Hauptinhaltsstoffen, den Catechi-nen. Fermentation ist hier ein tra-ditioneller, aber sehr unglücklicher Begriff, da bei der Teefermentation keine Mikroorganismen am Werk sind und sie nur in Gegenwart von Sauerstoff stattfindet.

Das grüne Teeblatt produziert als Hauptsekundärmetabolite vier Catechine (1–4) als etwa 10 bis 20 Prozent seiner Trockenmasse (Strukturen und Reaktion in Abbil-dung 2, S. 868). Für die Teefermen-tierung wird das Teeblatt mecha-nisch zerstört. (1-4), die in der Zellvakuole gespeichert sind, kom-men mit dem Enzym Teepolyphe-noloxidase (TPPO) in Verbindung, das sich an der Außenmembran der Zellvakuole befindet. TPPO oxi-diert nun die Catechine zu etwa 40 gut charakterisierten Produkten, von denen die wichtigsten Theafla-vin, Theasinensin, Theacitrin und Theanaph thochinon (5–8) sind. Hauptreaktionsprodukte dieser en-zymatischen Oxidationsreaktion sind jedoch die Thearubigene.3) Vergleicht man ein Chromato-gramm des grünen Tees mit einem des schwarzen Tees, fällt auf, dass im schwarzen Tee fast sämtliche Catechine fehlen und durch einen nicht aufgelösten, gaußkurvenför-migen Hügel, den Theaurubigen-hügel, ersetzt sind (Abbildung 1b).3)

Die Analyse und Charakterisie-rung dieses Hügels war jahrzehnte-lang mit analytischen Standardver-fahren nicht lösbar. Bei der Analyse von Schwarztee ließen sich inner-halb des Hügels nur wenige mar-kante und gut zu deutende Einzel-signale erfassen, aus denen sich Molekülstrukturen für einzelne In-haltsstoffe ableiten ließen. Der größte Teil der Schwarzteeanalyse bestand aus einem undifferenzier-ten, nicht näher interpretierbaren Signalrauschen. Die jahrzehntelan-gen Diskussionen und Spekulatio-nen darüber fasste Haslam zusam-men.4)

Charakterisierung des UCM

b Wie charakterisiert man ein sol-ches UCM? Dafür entwickelten wir eine Strategie aus drei Schritten, die mit der Erfassung aller TR-Kompo-nenten durch hochaufgelöste Mas-senspektrometrie beginnt, durch In-terpretationstechniken ein Struktur-modell erstellt und dieses durch LC-Tandemmassenspektrometrie bestä-tigt oder verwirft.5,6)

Wenn wir davon ausgehen, dass jeder chromatographische Hügel das Ergebnis eines UCM ist, also eine solche Menge an Verbindungen ent-hält, die eine chromatographische

Trennung unmöglich macht, muss diejenige analytische Methode am er-folgreichsten sein, welche die höchs-te Auflösung bietet. Das ist die ultra-hochauflösende Massenspektrome-trie, die Elektrospray-Fouriertrans-formation-Ionenzyklotronresonanz-Massenspektrometrie (ESI-FT-ICR-MS). Deren Auflösungsvermögen übertrifft unsere chromatographi-schen und spektroskopischen Stan-dardverfahren um das 1000-fache.

Mit dieser ultrahochauflösenden Massenspektrometrie fanden wir et-wa 10 000 Signale, die etwa 5000 verschiedenen Verbindungen in der Thearubigenfraktion der Schwarztees

5,0 7,5 10,0 12,5 15,0 17,5 20,0 22,5 25,0 27,5 30,0 32,5 35,0 37,5 min

0

0,25

0,50

0,75

1,00

1,25

1,50

1,75

a)

Abb. 1. Chromatogramme von unresolved complex mixtures: a) GC-FID-Chromatogramm eines Kohlenwasser-

stoffextrakts aus Leichtschredderabfall mit typischem UCM-Profil; b) HPLC-Chromatogramm mit Detektion bei

400 nm eines Schwarzteeextrakts mit Thearubigenhügel.

b)

Thearubigenhügel0

10

30

10 20 30 40 50 min

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(2)

(3) (4)

Epigallocatechingallat Epicatechingallat

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OH

Theacitrin

(5)

(8)Theaflavin

(1)

Theanaphthochinon

(7)

(6)

Theasinensin

868 BBlickpunktV Analytik

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entsprechen (Abbildung 3a).6) Da Massenspektrometrie isomere Ver-bindungen nicht getrennt bestimmt, muss diese Zahl noch mit der durch-schnittlichen Anzahl der vorliegen-den Isomere multipliziert werden, um eine Mindestanzahl der vorlie-genden Komponenten zu erhalten.

Nach Bestimmung der Summen-formeln aus den MS-Daten liefert das ESI-FT-ICR-Experiment eine lange, unübersichtliche Liste an Summenformeln (wir haben mit 1500 der intensivsten Signale begon-nen), die zu interpretieren sind. Aus den Summenformeln lassen sich weitere molekulare Parameter direkt ableiten. Dies sind für jede einzelne Summenformel: Elementverhältnis-se (z. B. H/C, O/C, N/C etc.), Dop-pelbindungsäquivalente (DBEs) und Massendefekte. Die grafische Dar-stellung dieser Parameter liefert wei-tere Informationen über Zusammen-setzung und Chemie der Probe.5,6)

Grafische Datenanalyse: Van-Krevelen- und Kendrick-Plot

b Die aus den Summenformeln bestimmten Elementverhältnisse lassen sich grafisch gegeneinander auftragen, zum Beispiel das

H/C-Verhältnis gegen das O/C-Ver-hältnis. In der dritten Dimension stellt man entweder Signalintensi-täten oder ein weiteres Element-verhältnis dar. Einen solchen Van-Krevelen-Plot hat erstmals die Gruppe von Marshall in der Erdöl-analyse eingesetzt (Abbil-dung 3c).7) Jede einzelne Sum-menformel entspricht einem Punkt auf diesem Plot. Jede einzel-ne natürlich vorkommende Ver-bindungsklasse ist dabei klar durch Grenzwerte der Elementver-hältnisse charakterisiert, und die Verbindungsklassen (z. B. Kohlen-hydrate, Terpene, Lipide etc.) las-sen sich direkt zuordnen; im Falle der TR sind 90 Prozent der Verbin-dungen Polyphenole.6)

Als zweites grafisches Hilfsmit-tel zur Datenanalyse haben Mar-shall und Mitarbeiter die Massen-defektanalyse, den Kendrick-Plot, eingeführt.8) Dieser beruht da-rauf, dass für Serien homologer Verbindungen der Massendefekt konstant bleibt. Der Massende-fekt entsteht durch die starken Kernkräfte, die Protonen und Neutronen im Atomkern zusam-menhalten; er ist für jedes Ele-ment charakteristisch und äußert

sich in der dritten bis vierten Nachkommastelle der Atommas-se. Auf diesem Massendefekt be-ruht die Elementaranalyse durch hochaufgelöste Massenspektro-metrie. Homologe Serien sind hierbei Verbindungen, bei denen zu einer bestimmten Ausgangs-summenformeln sukzessive mehrmals die gleiche Kombinati-on an Elementen hinzugefügt wird. Durch Definition entspre-chender Parameter und Normie-rung lassen sich solche homolo-gen Serien mit einem vorab defi-nierten Masseninkrement (iden-tisch mit Summenformelinkre-ment, z. B. CH2 oder H2O) in ei-nem Massendefektdiagramm so darstellen, dass alle Datenpunkte zu einer einer vordefinierten ho-mologen Serie auf einer Geraden liegen, die parallel zur x-Achse verläuft (Abbildung 3b). Alle wei-teren homologen Serienmitglie-der liegen auf weiteren Geraden innerhalb des Diagramms, bei de-nen die Steigung der Geraden dem Masseninkrement ent-spricht. Diese lassen sich, da a priori für schwarzen Tee unbe-kannt, durch einen Computeral-gorithmus bestimmen, den wir

Oxidation

Fermentierung

Abb. 2. Chemische Strukturen der Catechine aus grünem Tee (1–4) und deren Dimere aus schwarzem Tee (5–8) sowie unten grüner und

schwarzer Tee.

Page 4: Was unter dem Hügel steckt

457,07763

511,05523

593,15110633,07305

759,12012

867,14162

901,24105

a)

400 500 600 700 800 900 m/z0

2

4

6

x109Intens.

869Analytik BBlickpunktV

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Homologous Series Analysis nen-nen. Für die TR-Proben sind dies beispielsweise die Insertion eines Sauerstoffs, Dehydrogenierungen oder Addition von Gallatestern und Kohlenhydraten oder Methy-lierungen.5,6)

Mit diesen grafischen Interpre-tationsmethoden und den Grund-lagen der Teechemie entwickelten wir ein Modell für die mechanisti-sche Entstehung der Thearubigene und Strukturvorschläge für die Einzelkomponenten der TR-Frak-tion.

Oxidative Kaskade

b Um die Chemie schwarzen Tees zu erklären, entwickelten wir eine Hypothese, die wir Oxidative Cas-cade Hypothesis genannt ha-ben.5,6,9) Die Catechine (1) bis (4) werden hierbei auf drei Reaktions-ebenen durch Oxidation chemisch modifiziert. Auf der ersten Ebene dimerisieren und oligomerisieren Catechine durch Knüpfung neuer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen und zwar nach den vier Reaktions-mechanismen, die bereits bei der Bildung von Theaflavin, Theasi-nensin, Theacitrin oder Thea-naphthochinonen (5–8) beobach-tet wurden.3,6) Auf der zweiten Ebene werden diese Reaktionspro-dukte zu Orthochinonen oxidiert, die als reaktive Elektrophile Wasser addieren. Formal ergibt sich hier-bei eine Insertion von Sauerstoff in eine aromatische C-H-Bindung. Letztlich stehen die hieraus resul-tierenden Polyphenole mit ihren Chinonen in einem Oxidations-gleichgewicht.

Auf jeder Ebene ergibt sich eine Vielzahl von isomeren Verbindun-gen; Strukturbeispiele zeigt Abbil-dung 4. Der Begriff Kaskade be-schreibt, dass die Reaktion unauf-haltsam, gleichsam lawinenartig fortschreitet, da jedes Reaktions-produkt leichter als sein Vorgänger zu oxidieren ist.

Innerhalb des TR-Datensatzes war es möglich, für etwa 1300 Ver-bindungen eine hypothetische Strukturformel zu formulieren.

0,0 0,5 1,0 1,5 2,00,0

0,5

1,0

1,5

2,0

H/C

- Ver

hältn

is

O /C-Verhältnis

Polyphenole

Kohlenhydrate

Lipide

c)

200 300 400 500 600 700 800 900 1000-600

-500

-400

-300

-200

-100

0

KMD

(Ken

drick

-Mas

send

efek

t)

Nominale Kendrick-Masse

b)

Abb. 3. a) ESI-FT-ICR-Massenspektrum im negativen Ionenmodus einer Thearubigenfraktion

mit etwa 10 000 aufgelösten Signalen; b) Kendrick-Diagramm, normiert für Massendefekt

+0 aus FT-ICR-MS-Daten einer Thearubigenfraktion; c) Van-Krevelen-Diagramm aus FT-ICR-

MS-Daten einer Thearubigenfraktion mit ausgewählten Elementverhältnisbereichen für

Polyphenole, Kohlenhydrate und Lipide. X

Page 5: Was unter dem Hügel steckt

Strukturen verifizieren

b Im letzten Schritt in der Charak-terisierung der TR-Komponenten sind die hypothetischen Strukturen zu bestätigen; dazu nutzen wir LC-Tandemmassenspektrometrie.9) Da-bei gehen wir davon aus, dass Ver-bindungen innerhalb einer homolo-gen Serie, da chemisch sehr ähnlich, einem identischen Fragmentierungs-

mechanismus in ihren Tandemmas-senspektren folgen. Diesen Fragmen-tierungsmechanismus können wir mit Referenzsubstanzen der ersten Mitglieder der Serie eindeutig be-stimmen. Solche definierten Frag-mentionen in Extracted Ion Chroma-tograms (EICs) der TR-Fraktion be-stätigen somit grob die ausgewählten Strukturformeln (Aspekte der Regio- und Stereochemie bleiben offen). Pro Summenformel liegen im Durch-schnitt etwa sechs chromatogra-phisch getrennte Isomere vor, so dass sich als Gesamtzahl aller in der Thea-rubigenfraktion bisher messbaren chemischen Verbindungen 30 000 er-gibt.9) Das sind zehnmal mehr als er-wartet und bedeutet, dass schwarzer Tee nach Erdöl das komplexeste Ma-terial ist, das bisher analysiert wurde.

Schlussfolgerungen aus der UCM-Analyse

b Die Teepflanze erzeugt, wahr-scheinlich als Abwehrstrategie gegen Fraßfeinde, aus nur einer Handvoll Sekundärmetabolite durch oxidati-ve, nicht selektive enzymatische Re-aktion Zehntausende von Reaktions-produkten. Eine erste Schlussfolge-rung aus unseren Arbeiten ist daher,

dass die Teepflanze ein Meister der molekularen Vielfalt ist.

Eine chemisch sinnvolle Charak-terisierung eines UCM ist trotz Zehntausender untrennbarer Ein-zelkomponenten durchaus möglich, sie liefert eine neue, einzigartige Sicht auf bisher nicht verstandene natürliche Prozesse und wird zum Verstehen der gesundheitlichen Ef-fekte schwarzen Tees beitragen.10)

Die Charakterisierung eines UCM entspricht nicht der klaren und eindeutigen Strukturaufklä-rung isolierter Reinverbindungen, wie in der organischen Chemie üb-lich, bedingt durch Grenzen unse-rer Möglichkeiten, Tausende von Verbindungen zu trennen. Auch die Alternative, zehntausende Zielver-bindungen zu synthetisieren, über-schreitet die Möglichkeiten und Ressourcen jeder Institution. Unse-re Methoden gleichen vielmehr ei-nem impressionistischen Gemälde der chemischen Realität von UCMs, indem sie mit groben Pinselstrichen ein klar erkennbares Bild dieser chemischen Realität abbilden. In-wieweit natürliche Gemische aus zehntausenden Verbindungen eine biologische Rolle spielen und ob die Fähigkeit, diese zu charakteri-

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Theacitrin-3-gallatC37H28O18

(5)

m/z 759,1275

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+ [O]+ [O]

+ [O]

+ [O]+ [O]

HO HO

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HOHOHO

OHOH

HO

C37H28O19

m/z 775,2C37H28O20

m/z 791,2

C37H28O21

m/z 807,2C37H28O22

m/z 823,2C37H28O23

m/z 839,2

(5) + O1 (5) + O2

(5) + O3(5) + O5 (5) + O4

Abb. 4. Oxidative-Cascade-Reaktion mit Theacitrin-3-gallat als Beispiel (die Regiochemie der Sauerstoffinsertion ist in allen Fällen zufällig

gewählt, Strukturen durch hochaufgelöste MS und Tandem-MS-Daten bestätigt).

870 BBlickpunktV Analytik

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Page 6: Was unter dem Hügel steckt

sieren, einen Paradigmenwechsel in Biologie und Chemie einleiten wird, bleibt abzuwarten.

Nikolai Kuhnert studierte Chemie in Würz-

burg und promovierte im Jahr 1995 in anorga-

nischer Chemie und pharmazeutischer Biolo-

gie. Nach Postdoc-Aufenthalten in Cambridge

(UK) und Oxford (UK) war er Lecturer und Se-

nior Lecturer an der University of Surrey (UK).

Seit 2006 ist er Professor für Analytische und

Organische Chemie an der Jacobs University

Bremen. Zu seinen Forschungsinteressen ge-

hört die Chemie der Polyphenole mit Schwer-

punkten auf der Entwicklung massenspektro-

metrischer Methoden zur Strukturaufklärung,

Polyphenole aus schwarzem Tee, geröstetem

Kaffee und Schokolade sowie den Auswirkun-

gen dieser Lebensmittel auf die menschliche

Gesundheit. [email protected]

Literatur

1) M. A. Gough,S. J. Rowland, „Characteriza-

tion of Unresolved Complex-Mixtures of

Hydrocarbons in Petroleum“, Nature

1990, 344, 648.

2) E. A. H. Robert, M. Myers, „The phenolic

substances of manufactured tea IV. Enzy-

mic oxidation of individual substrates.“ J.

Sci. Food Agric. 1959, 10, 167.

3) J. W. Drynan, M. N. Clifford, J. Obucho-

wicz, N. Kuhnert, „The chemistry of low

molecular weight black tea polyphe-

nols“. Nat. Prod. Rep. 2010, 27, 417.

4) E. Haslam, „Thoughts on the thearubi-

gin“, Phytochem. 2003, 64, 61.

5) N. Kuhnert, „Unraveling the structure of

the black tea thearubiginxs“, Arch. Bio-

chemi. Biophys. 2010, 501, 37.

6) N. Kuhnert, J. W. Drynan, J. Obuchowicz,

M. N. Clifford, M. Witt, „Mass spectrome-

tric characterization of black tea thearu-

bigins leading to an oxidative cascade hy-

pothesis for thearubigin formation“, Ra-

pid Commun. Mass Sp. 2010, 24, 3387.

7) Z. G. Wu, R. P. Rodgers, A G. Marshall,

„Two- and three-dimensional van Kreve-

len diagrams: A graphical analysis com-

plementary to the Kendrick mass plot for

sorting elemental compositions of com-

plex organic mixtures based on ultra-

high-resolution broadband Fourier trans-

form ion cyclotron resonance mass mea-

surements“, Anal. Chem. 2004, 76, 2511.

8) C. A. Hughey, C. L. Hendrickson, R. P. Rod-

gers, A. G. Marshall, „Kendrick mass de-

fect spectrum: A compact visual analysis

for ultrahigh-resolution broadband mass

spectra“, Anal. Chem. 2001, 73, 4676.

9) N. Kuhnert, M.N. Clifford, A. Müller, „Ana-

lysis of black tea thearubigins: Evidence

for oxidative cascade reactions forming

the thearubigins“, Food and Function,

2010, 1, 180.

10) E. J. Gardener, C. H. S. Ruxton, A. R. Leeds,

„Black tea – helpful or harmful? A review

of the evidence.“ Eur. J. Clin. Nutrition

2006, 1.

Neuer Sprengstoffsensor

b Materialwissenschaftler der TU Darmstadt und der Hoch-schule Rhein-Main haben einen Sensor entwickelt, der Spuren des Sprengstoffs Pentaerythri-toltetranitrat (PETN) nachweist. Bisher ist PETN nur über einen Wischtest und ein Ionenmobili-tätsspektrometer zu detektieren, da die Substanz einen geringen Dampfdruck hat und nur weni-ge Moleküle an die Umgebungs-luft abgibt. PETN befand sich in Paketbomben aus dem Jemen, die im Herbst 2010 Frachtflug-zeuge zum Absturz bringen soll-ten.www.mawi.tu-darmstadt.de

Kein Endosulfan mehr im Pflanzenschutz

b Das Insektizid Endosulfan steht nun nach dem Stockhol-mer Übereinkommen auf der Liste der persistenten organi-schen Schadstoffe (POPs). Dem-nach darf es weltweit nicht mehr im Pflanzenschutz eingesetzt werden. In der EU ist das Or-ganochlorpestizid seit 2005 ver-boten, der letzte deutsche Her-steller, Bayer Cropscience, hat die Produktion der Substanz im Jahr 2007 eingestellt.

Bisher wird Endosulfan vor allem im Anbau von Tee, Kaffee, Soja und Baumwolle eingesetzt. Es reichert sich im Fettgewebe, in Leber und Nieren von Men-schen und Tieren an und ist bis in die Arktis nachweisbar. chm.pops.int

Wünsche an die Akkreditierung

b Vorschläge, wie die Deutsche Akkreditierungsstelle Dakks ihre Arbeit in Sinne der Laboratorien verbessern könnte, sammelt das Beratungsunternehmen Klinkner & Partner. www.klinkner.de

Kurz notiert

871Analytik BBlickpunktV

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