weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich...

23
1 Reihe: Kunstpädagogische Impulse, 3. Dezember 2014, Justus-Liebig- Universität Gießen, Instituts für Kunstpädagogik ____________________________________________________________________ Christina Griebel Weiter lesen. Ereignis und Erzählung Essay [an/fang eins] Das Nachdenken über den Begriff "Erzählung" beginnt mit der Lektüre der Erzählung "Das falsche Geldstück" von Charles Baudelaire. Der Text findet sich in der Umschlagklappe des Buches "Falschgeld. Zeit geben I" von Jacques Derrida, 1 damit man ihn am Rande des Blickfelds neben sich weiß, während man "Falschgeld" liest. Lesen kann man, streng genommen, nur einen Text zur gleichen Zeit. Der Akt des Lesens kann aber jederzeit unterbrochen werden. Um im "falsche[n] Geldstück" zu lesen, man kann auch zurück blättern, nach vorne springen, Passagen nochmal lesen, zwischendurch einen anderen Text lesen usw. – diese Option teilt der Leser von alters her mit dem Konsumenten der neuen Erzählformate, auf die ich gleich zu sprechen komme. 1 Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 24.

Transcript of weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich...

Page 1: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

1  

Reihe: Kunstpädagogische Impulse, 3. Dezember 2014, Justus-Liebig-Universität Gießen, Instituts für Kunstpädagogik

____________________________________________________________________

Christina Griebel

Weiter lesen. Ereignis und Erzählung

Essay

[an/fang eins]

Das Nachdenken über den Begriff "Erzählung" beginnt mit der Lektüre der Erzählung "Das falsche Geldstück" von Charles Baudelaire. Der Text findet sich in der Umschlagklappe des Buches "Falschgeld. Zeit geben I" von Jacques Derrida,1 damit man ihn am Rande des Blickfelds neben sich weiß, während man "Falschgeld" liest. Lesen kann man, streng genommen, nur einen Text zur gleichen Zeit. Der Akt des Lesens kann aber jederzeit unterbrochen werden. Um im "falsche[n] Geldstück" zu lesen, man kann auch zurück blättern, nach vorne springen, Passagen nochmal lesen, zwischendurch einen anderen Text lesen usw. – diese Option teilt der Leser von alters her mit dem Konsumenten der neuen Erzählformate, auf die ich gleich zu sprechen komme.

                                                            1 Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 24. 

Page 2: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

2  

Doch zuerst die Erzählung von Baudelaire. Sie geht so: Zwei Freunde kommen aus einem Tabakladen. Einer von ihnen sortiert sein Geld. Dann gibt er einem Bettler eine Münze. Sein Freund zeigt sich überrascht über den Betrag. Der Geber sagt: Es war das falsche Geldstück. Dann passiert eine Weile nichts. Dann fügt er hinzu: Es ist ein Vergnügen, jemandem mehr zu geben, als er erwartet. Sein Begleiter zeigt sich moralisch erschüttert. Baudelaires Erzählung lässt eine zentrale Frage offen: Was ist eigentlich passiert? Wie (oft) man sie auch liest, einzelne Passagen wiederholt, Sätze gegeneinander ausspielt, ihre Übersetzbarkeit erprobt und bezweifelt – die Textgestalt gibt es nicht preis. Die Interpreten der Erzählung (genannt seien Jacques Derrida, Boris Groys2 und Dieter Mersch3) begegnen dem Problem in Variation mit zwei Fallunterscheidungen zu begegnen, nämlich:

• einer zur Beschaffenheit der Gabe: War die Münze nun echt oder falsch?

• und einer zum Wahrheitsgehalt der Aussage über die Beschaffenheit der Gabe: Hat der Freund gelogen oder nicht?

Und schon ist man mitten im Spiel. Auch in unserem. Dazu gleich mehr. Etwas soll sich ereignet haben, etwas (davon) wird erzählt, das wiederum schlägt sich in einem Text nieder und in dem könnte jederzeit nachgelesen werden.

Der Leser Gérard Genette hat, die Narratologie begründend, folgende Definitionen eingeführt: Eine Erzählung ist ein Diskurs, der sich aus Inhalt [Diegese, Geschichte] und Erzählakt [Narration] generiert.4

[an/fang zwei]

Im Diskurs künstlerischer Bildung spielt der Begriff "Erzählungen" eine zentrale Rolle. Carl-Peter Buschkühle5 leitet ihn aus einem den Avantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts zu dankenden Paradigma des 21. Jahrhunderts her, der Montage, die wir mittlerweile sampling nennen. "Wie die Montage in der Kunst sind sie […] als eine Gestaltung anzusehen bzw. anzustreben, deren Zusammenhänge aus der ausdrücklichen Differenzierung der Teile erwachsen. Solche Zusammenhänge sind keine zwanghaften Homogenisierungen, sondern können […] in der Konfrontation von Unvereinbarem […] entstehen. Wie in der künstlerischen Montage [entstand] die prekäre Form aus der Heterogenität der Teile, die darin einerseits zu ihrem Recht [kamen]

                                                            2 Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000. 3 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2002.  4 Genette, Gérard: Die Erzählung, München 2010, S. 12. 5 Buschkühle, Carl‐Peter: Die Welt als Spiel (2 Bde.), Oberhausen 2007. 

Page 3: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

3  

und andererseits in der Bewegung des Ganzen platziert [wurden]."6 (flüssig weiter lesen) "Wir mussten jedoch feststellen, dass es ein "unendliches System von zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hierdurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift, als Wirklichkeit und Charakter entgegen. Im Grunde fühlte er sich nach dieser Anschauung jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig, und dass Tugenden wie Laster in einer ausgeglichenen Gesellschaftsordnung allgemein, wenn auch uneingestanden als lästig empfunden werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur allenthalben geschieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit einen Mittelwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und einer Erstarrung zustrebt. Es mag sein, daß sich auch in diesen Anschauungen eine gewisse Lebensunsicherheit ausdrückte; allein Unsicherheit ist mitunter nichts als das Ungenügen an den gewöhnlichen Sicherungen",7

montiert Andreas Gursky aus Sätzen, die Robert Musil nie geschrieben hat. Die vier Tafeln aus der Serie Untitled, die, glauben wir den Worten seiner Galeristin, seine wirklichste und persönlichste ist, sind auf der Bild- und auf der Wortebene dem Mann ohne Eigenschaften entnommen und schreiben ihn auf einer Satzebene, die der Künstler setzt oder sätzt, weiter. Die ersten Seiten dieses Buches entfalten bekanntlich den Begriff des Möglichkeitssinns in Abgrenzung vom Wirklichkeitssinn, auf den sich, gelesen oder ungelesen, Künstler_innen und Pädagog_innen nun schon seit Generationen beziehen.

Gursky hat mit diesem seinem Erzählmodell (das auch die Methode seiner anderen Arbeiten prägt, dort aber meist ohne die Wortebene), neue Tatsachen geschaffen.

Ich frage mich, ob der Begriff "Erzählungen" im Kontext künstlerischer Bildung metaphorisch verwendet wird (mit der Gefahr der Verwischung, Verzerrung und Abnutzung), und untersuche ihn deshalb im Gegenzug als Tat/sache. Dabei beziehe ich mich bewusst auf Genette, der sich streng immanent, ja: formalistisch fragt, wie sein Gegenstand funktioniert. Ohne Zögern gibt er seinem Forschungsinteresse den Namen Poetik. Es betrifft die poiesis, das tat/sächliche Hervorbringen von etwas.

Das Hauptwerkzeug Genettes sind die genannten drei Begriffe. Der wichtigste ist für ihn der narrative Diskurs. An dieser Stelle muss

                                                            6 Buschkühle 2007, S. 75. 7 Andreas Gursky: Untitled XII, 1999, Tafel 1. 

Page 4: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

4  

eine kulturpessimistische Diagnose eingerückt werden: Die Gewichtung hat sich verändert. Heute überlagert der narrative Akt alles. Dazu gleich mehr.

Bei Genette behält er ein changierendes Moment. Er meint zum einen die reale oder fiktive Situation, in der er erfolgt, zum anderen den Akt des Erzählens inmitten der Lebensgeschichte des Autors selbst, die, so sah es Genette, unbefragt bleiben muss, da sie von außerhalb kommt und für das Werk nur triviale Einsichten zulässt. – Der Werkbegriff, dies gilt für Literatur und Bildende Kunst, ist längst erweitert auf Serie, Projekt, offene Situation, Protokoll einer Aktion, Arbeit. Seit dem "Ende der Kunst"8 gilt er als Rückgriff. Dieser durch die Nullpunkte der Moderne vorbereitete Perspektivwechsel macht aus einer territorialen Frage (von wo bis wo ist das Werk) eine Zeitfrage: Das Augenmerk gilt nunmehr dem Wahrheits/vollzug (aletheia),9 der aus ihm herausragt. Aus actio wird "aisthesis, Gewahrung, Gewährung des unvoreingenommen Gegebenen", und der Künstler wird zum "aisthetikos, dem Empfangenden",10 schreibt Dieter Mersch, Medienphilosph, keineswegs pessimistisch. Wir fragen also nicht mehr nach dem Werk, sondern nach seiner wirkenden Kraft. Aus seiner horizontalen "Ex/sistenz, dem 'Aus-sich-Haltenden', tritt über das vertikale 'Aus-sich-Herausstehende' die Ek/stasis: das Hervortreten in der Bedeutung eines Erscheinens im Er/eignis."11 Daran steckt das Eignen und das Eigenste.

Inzwischen kehrt jeder sein Eigenstes nach außen. Der narrative Akt ist alles und die Geschichte nichts, weil niemand mehr etwas erlebt, aber jeder alles (Nichtige) erzählt. Der Diskurs als Anspruch der Form ist auf der Strecke geblieben. Dazu gleich mehr. Die Form ist trotz allem und immer noch ein Anliegen künstlerischer (Aus)Bildung.

Ein anderes, zentrales sollt sein: [an/lass] geben, dass Geschichten passieren. Der Raum künstlerischer Bildung wäre dann die Diegese, bei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum, in dem die Geschichte sich abspielt,

denn:

Aus der gleichen situativen Konstellation gehen so viele Ereignisse wie Anwesende hervor, die natürlich auch nichts anderes als raumzeitlich lokalisierbare Beziehungsgeflechte sind. Jedes davon kann eine eigene Geschichte erzählen. Freund zwei wird einem anderen Freund (Freund drei) erzählen, Freund eins habe einem Bettler Falschgeld gegeben. Freund eins wird wieder einem anderen Freund (Freund vier) erzählen, er habe einen Bettler sehr, sehr glücklich

                                                            8 Danto, Arthur C.: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996. 9 Heidegger, Martin, Ursprung des Kunstwerks, hier in Mersch 2002, S. 186. 10 Mersch 2002, S. 258. 11 Mersch 2002, S. 10. 

Page 5: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

5  

gemacht. Und jeder der beiden wird beim nächsten Mal vielleicht eine wieder andere Geschichte erzählen. Je nachdem, was gerade gefragt sein wird. Dieses Gefragtsein (der neue Erzählakt) konstituiert sich wiederum aus dem, den es gerade drängt zu erzählen, und einem neuen Gefüge aus Ort, Zeit und Adressaten, das dieses Drängen begünstigt hat. Ob sich die Diskurse (überhaupt noch) ähneln, spielt für das Ereignis keine Rolle mehr. Das ist schließlich vergangen.

Und jeder der dabei war, wird beim nächsten Mal wieder etwas anderes erzählen. Das ist unser Ausgangspunkt. Sie fragen sich vielleicht, warum ich überhaupt davon angefangen habe. – Noch einmal. Der Diskurs muss keine aufgeschriebene Erzählung sein. Das ist ein Sonderfall, dessen Sonderfall die Literatur ist. Der Diskurs kann sich auf der Couch entwickeln. Das ist ein Sonderfall, dessen Sonderfall die Psychoanalyse ist. Der Diskurs kann auch ein innerer Monolog sein. Der Drang, innerlich zu monologisieren, hat oft einen imaginierten Adressaten ((Analytiker, Mentor, Freund, Objekt einer Verliebtheit)). In diesem Fall, der kein Sonderfall ist, bin ich selbst mein Anderer. Der Diskurs kann sich natürlich auch im Angesicht eines vorhandenen Anderen entwickeln. Oder vieler anderer. Wir sind längst in dem Rahmen angekommen, der uns hier zusammenhält: Eine Universität, darin eine Fakultät, darin ein Institut, darin ein Fach, das sich die Frage stellt, wie man Kunst lernt und lehrt, vordringlich in der Schule. Übers Fach sind wir wiederum damit verknüpft, dass es im ganzen Land Universitäten mit Fakultäten, Instituten und Fächern gibt, die sich diese Frage auch stellen und zu ganz anderen Antworten kommen. Zum Beispiel, weil sie im gleichen Vorgang etwas ganz anderes sehen oder gesehen haben. Das nennt man Diskurs. Und fordert Verortung. Dieter Mersch fordert Ver/ant/wortung. "Ver-Antwortung bedeutet deshalb das Eingedenken dessen, dass existieren ursprünglich

Page 6: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

6  

'Antworten-müssen' heißt. Die Nötigung ist mit dem ersten Augenblick gegeben, da Anderes begegnet, das heißt (sich) zeigt, (sich) gibt, […]. Sie enthält zugleich: (Etwas) geht voraus, kommt zuvor – kein 'Etwas' oder Seiendes, sondern Anderes im Sinne von Andersheit schlechthin. Und dies bedeutet nicht wiederum die Passivität von bloßer Hinnahme, was geschieht (quid), sondern die An- und Aufnahme, dass geschieht (quod), die 'Hin-Gabe' an sein Ereignen und damit das Achten auf, die Achtung für das Ereignis."12 [an/fang] drei Eine Gelegenheit klopft an die Tür, stand auf einem Zettel, der auf der Innenseite meiner Bürotür befestigt war. Er klebte schon da, als ich kam. Ich sah, dass der Zettel klüger ist als ich und ließ ihn hängen. Gelassenheit wäre die Freiheit, sich von der Umgebung sagen zu lassen, was zu tun sein könnte, aber nicht muss.13 Wollten Sie etwas über meine Position wissen? Das war sie schon. Darum ging es, lese ich verblüfft in einem Heft, das heute mit der Post gekommen ist, ohne Absender, damit der Text selbst mir sagt, von wem er ist. Er ist von zweien,14 die häufig durch diese Tür ein und ausgegangen sind und nun, Monate später, aus gegebenem Anlass (dazu gleich mehr) über den Zettel nachdenken. Gelegenheiten schaffen. Man könne nie wissen, was passiert. Einen Rahmen für das Unerwartete schaffen. Und es dann begrüßen. Man muss es nicht mögen, es geht auch wieder vorbei.

Das könnte der Stoff sein, aus dem die Erzählungen gemacht werden, die aus den Räumen künstlerischer Bildung hervorgehen; mit Genette: die Diegese. Ein solcher mit anderen geteilter Erzählraum ist kein vergangener und abgeschlossener. Wer sich darin aufhält, kann Protagonist, Gegenspieler, Nebenfigur, Zuschauer, Zuhörer, Autor, Erzähler und Leser sein. Das changiert. Deshalb zur Weiterarbeit noch einige Begriffe.

Genette fragt: Wer sieht? Wer spricht? und kommt zur Differenzierung von Ebenen und Positionen. Ein Text kann mehr als eine diegetische Ebene haben. Um verschiedene Ebenen voneinander trennen zu können, führt er relationale Begriffe ein (schneller lesen): Die der Diegese vorgelagerte Erzählebene, also zum Beispiel die Rahmenhandlung, nennt er extradiegetisch. Die Ebene, auf der tatsächlich die Figuren handeln, nennt Genette zur besseren Unterscheidung intradiegetisch. Wenn wiederum in die Intradiegese Binnen-Erzählungen eingelagert werden, sind wird auf der metadiegetischen Ebene angelangt. Auch die

                                                            12 Mersch 2002,  S. 296. 13 "Der Ausdruck Gelassenheit steht jetzt für eine geführte und angehörige Freiheit, die nicht in ironischer Unterergriffenheit und hohler Selbstreferenz neben oder über allem verharrt, sondern sich vom Umgreifend‐Verbindlichen gesagt sein lässt, was zu tun ist." Sloterdijk, Peter: Nicht gerettet. Versuche Nach Heidegger, Frankfurt 2001,  S.69. 14 Dank an Maika Saworski und Lennart Krauß. 

Page 7: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

7  

möglichen Positionen des Erzählers macht Genette an ihrem Verhältnis zur Diegese fest: Ist der Erzähler gleichzeitig eine Nebenfigur der Handlung, nennt er die Erzählerposition homodiegetisch. Ist der Erzähler gar die Hauptfigur, ist die Erzählposition als Sonderfall der homodiegetischen Position autodiegetisch zu nennen. "Kommt der Erzähler in der Handlung selbst nicht vor, ist seine Position als heterodiegetisch zu bezeichnen."Die Bezeichnungen der Erzählebenen und der Erzählerpositionen sind unabhängig voneinander. Eine Figur kann auf verschiedenen Ebenen auch unterschiedliche Erzählpositionen einnehmen: Ein Erzähler, der auf der extradiegetischen Ebene autodiegetisch erzählt, also eine Geschichte berichtet, in der er selbst die Hauptperson ist, kann innerhalb dieser erzählten Geschichte, der Intradiegese, wiederum eine Geschichte berichten (Metadiegese), in der er aber nicht vorkommt, also auf intradiegetischer Ebene ein heterodiegetischer Erzähler der metadiegetischen Ebene sein."15

Anders als der soeben zitierte Genettiker (sein Reich heißt Wikipedia) habe ich nicht vor, jedes Ereignis und die daraus hervorgegangenen Erzählungen unter diesem gewiss vorzüglichen Begriffsraster verschwinden zu lassen. Ein Raster kann nur die Erkenntnisse hervorbringen, auf die es zutrifft. Dabei verdeckt es, wie das Wort verrät, notgedrungen andere. Interessant ist doch vielmehr, was alles hervorgebracht werden kann, wenn Raster und Rahmen auf ihr Funktionieren hin reflektiert werden: Poetik (auch) im Sinne Genettes, Diegese als tat/sächliches po(i)etisches Multiversum des Hervorbringens und Weiterdenkens. Re-flektiert heißt: Eingefangen und weitergedacht. Flektieren: Ein Wort in seinen (grammatikalischen) Formen abwandeln (beugen, deklinieren, konjugieren). Re: -zurück, auch rückblickend Sinn bildend. Formbewusst sinnbildend. Die zweite Frage ist die, welchen Sinn ein Er/eignis im Bildungsgang eines Menschen haben kann, denn

Kein Ereignis wird ungeschehen, also zählt jedes. Darin liegt auch "die […] ethische wie politische Brisanz des Performativen. Noch die geringste Tat bewahrt [in den Dingen] ihre unauslöschliche Spur, ihr Unwesen, ihre Überraschung"16, denn "Vergangenes aber kann unmöglich nicht geschehen sein."17 "Was nützt es ein kleiner Junge zu sein18 wenn man zu einem Mann heranwachsen muss"19, fragt Gertrude Stein.

                                                            15 http://de.wikipedia.org/wiki/Diegese, zuletzt überprüft: 3. 12. 2014. 16 Mersch 2002, S. 274. 17 Mersch 2002, S. 274. 18 "Und doch denken alle so es sei denn ein kleines Mädchen das schon bald zu einer Frau heranwachsen wird." Stein, Gertrude: Die geographische Geschichte von Amerika oder Die Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem Geist des Menschen (1936), Frankfurt 1988, S. 19. 19 Stein 1988, S. 19. 

Page 8: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

8  

Ein weiteres kommt hinzu. Solange ich beim Erzählen in einem Diskurs mit anderen bin, entfaltet sich mein soziales Selbst. Das ist die menschliche Natur, schreibt Gertrude Stein, die selbst ein ausgeprägtes soziales Selbst gehabt haben/gewesen sein muss. Und sich vielleicht genau deshalb wieder und immer wieder fragte, wie all dem Trubel zu entrinnen wäre, um ein Meisterwerk zu schaffen. Ein solches erhofft sie vom menschlichen Geist, dazu gleich mehr. Der menschliche Geist ist unabhängig. Die menschliche Natur, die keineswegs verworfen wird, hat eine Erinnerung und ein Publikum. Aber eben ihre Grenzen. Stein schreibt: "Autobiographie I. Als ich noch eins war […]. Als ich dies eine war, sagte ich wenn ich schaute dass ich nicht sah was ich sah. Das kann jedem passieren."20

[an/fang vier]

Ich weiß, dass ich oft nicht sehe, was ich sehe. Ich wollte nach/schauen, wie künstlerisches Denken zur Zeit im Rahmen unseres Fachs aussieht, und bot ich ein Seminar zur Zeit an.

Es kommt nicht von ungefähr, bei der Frage nach der Zeit das Erzählen zu befragen. Erzählen ist: der Zeit eine Gestalt geben. Nur, welche, das fragt sich jeder professionelle Erzähler.

Die Philosophin Karen Gloy, der wir eine umfassende Morphologie der Zeit verdanken,21 kommt auf der Basis einer Analyse der ältesten Zeugnisse menschlichen Erzählens zu einer einfachen Formel: Erzählen, das ist Zählen, was von einem für alles Folgende bedeutungsvollen und somit als An/fang gesetzten Punkt an alles hinzugekommen ist. Jeder An/fang ist eine Setzung. Zum Zählen wiederum sei vermerkt: Die Bildungsprozesse von Zeit und Zahl sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Sie verdeutlichen eine immer noch vorgängige Abstraktionsleistung. Mathematisch gesehen ist jede Zahl eine synthetische Einheit aus gleichartigen, gleichwertigen und gleichberechtigten Einheiten, aus denen durch Hinzufügung einer weiteren gleichartigen, gleichwertigen und gleichberechtigten Einheit die nächste Zahl hervorgeht.22 Und so weiter. Ursprünglich aber handelte es sich bei Zahlen um Gestalten. Die Eins ist der Ursprung (die Null wurde rückwirkend erfunden), zwei die nicht immer gleichberechtigte Paarigkeit und drei die höchst ungleichartige und ungerechte Trias Vater-Mutter-Kind. Und nicht so, sondern noch einmal anders weiter.

Jeder zählt anders und anderes, weil er anders und anderes wahrnimmt. Gérard Genette fragt für seinen Diskurs konsequent: Wer sieht? Wer spricht? Das sollten wir uns auch fragen. Für die

                                                            20 Stein 1988, S. 117. 21 Gloy, Karen: Zeit. Eine Morphologie, Freiburg/München 2006, S. 189. 22 Gloy 2006, S. 168. 

Page 9: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

9  

Ereignisse, (die wir im Kontext der Frage, wie man Kunst lernt und lehrt,) auslösen.

[an/fang fünf gleicht an/fang eins]

Wir lasen gemeinsam den Text Das falsche Geldstück. Die Diskussion im Seminarplenum streift zwar die anfangs auch hier durchgespielten Fallunterscheidungen, nahm im Wesentlichen aber einen anderen Verlauf. Erzählmotive der Wahl und des Wünschens wurden ein- und vor allem durch/ein/ander gebracht, A sagt: Es erinnert mich an den Fischer und seine Frau, sie haben einen Ring, der Wünsche erfüllen kann. Der Ring wird ihnen gestohlen, doch sie merken es nicht einmal, denn sie verwahren ihn unter dem Kopfkissen und erarbeiten sich alles, was sie sich wünschen, selbst, um die Wünsche nicht zu verbrauchen, und führen ein glückliches Leben. Der Ring wurde ihnen inzwischen längst von einem Freund gestohlen - B sagt: nein, sie fangen einen Karpfen, und der sagt, er könne Wünsche erfüllen. Der Fischer geht nach Hause und erzählt seiner Frau davon, und die schickt ihn natürlich gleich wieder los, sie will Gold und schöne Kleider haben und König werden und Kaiser und Papst und der Fischer sagt immer Meine Frau die Ilsebil, die will nicht so wie ich es will. Am Schluss wohnen sie wieder in ihrer Hütte. C sagt: Was mich am meisten beeindruckt: dass die Hütte im Märchen ein Pissputt ist, D sagt: In Lessings Ringparabel ist es ja auch so, dass es ein Original und zwei Duplikate gibt; keiner weiß, wer den echten Ring hat, aber einer hat ihn! E sagt: Nein, nein, der wird doch eingeschmolzen und A ist noch bei der ersten Geschichte: der Freund spielt Gott. Er wünscht sich Geld und wird von dem Geld erschlagen, es wird über ihm ausgeschüttet. Der Ring wird auch verschüttet. F wirft ein: Ich habe mir aufgeschrieben: Von einem Wertesystem abweichende Spuren bleiben unsichtbar, solange sie integrierbar sind, und hilft somit G auf Baudelaire zurückzukommen: Mir fiel auf, wie er sein Geld sortiert: für die rechte Tasche nimmt er sich mehr Zeit, also für die Münze, die er später herausgibt. Was nicht stimmt und frei erfunden ist; ich habe es soeben noch einmal am Text überprüft. H hakt ein: aber kann er sich denn irren, wenn er es vorher so sorgfältig sortiert hat?, und F nutzt seinen Platz auf der Rednerliste, um zu sagen: was ich mir (noch) aufgeschrieben habe: Das Potential des Falschgeldes ist es, den Kreislauf des Warentauschs zu durchbrechen. Es zeigt die Absurdität der Zirkulation, indem es sie jederzeit stoppen kann,

Page 10: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

10  

und ich halte fest: Derrida definiert mit Baudelaire in der Umschlagklappe das Gabenereignis wie folgt: Ein Geber A, der auch ein Kollektiv sein kann, hat die Intention, die Gabe B, auch: ein Objekt oder ein Symbol, an den Gabenempfänger C zu geben. Bei C kann es sich wiederum um ein Kollektivsubjekt handeln.23 Wenn C die Intention der Gabe bemerkt, "wenn das Präsent ihm als Präsent präsent ist, genügt diese bloße An-erkennung, um die Gabe zu annullieren"24, weil die Anerkennung der Sache selbst ein symbolisches Äquivalent zurückgibt. Sähe C sich überdies genötigt, die Gabe zu erwidern, träte das Gabenereignis in die Gesetze der Ökonomie ein. C würde zu A und die Gabe wäre auch im neuen Gesetz annulliert, weil A und C unablässig ineinander übergehen können und B zur unendlichen Zirkulation zwingen. Zu den irreduziblen semantischen Werten der Ökonomie gehören das Gesetz der Verteilung, der Besitz, der Tausch, die Zirkulation und die Rückkehr; sie hat eine odysseische Erzählstruktur, die sich als Kreisfigur beschreiben lässt. Eine Gabe ist nur möglich, wenn sie nicht zu zirkulieren beginnt. Sie muss unbemerkt bleiben. Gelingt sie, unterbricht sie den Kreis,

und dieses Buch hier, (Sonderfall der Gabe aus einer Bibliothek), es fällt mir bei der Vorbereitung auf heute wie Schuppen von den Augen, hat seit vierundzwanzigeinhalb Jahren nicht mehr zirkuliert. Bücher in Bibliotheken fehlen, wenn sie ausgeliehen sind. Sie müssen zurückgegeben werden. Aber sie sind dazu da, zu fehlen. Ich wusste nicht, dass es das noch gibt: Auf die Karteikarte, die hinten im Buch klebt, wird das Rückgabedatum gestempelt. Auf die Karteikarte, die hinten im Buch in einer Extra-Tasche steckt, ebenfalls. Diese Karte kommt bis zur Rückgabe in den Karteikasten der Bibliothekarin; das Buch macht sich auf die Reise und hat einen Platzhalter in der

                                                            23 Derrida 1993, S. 21. 24 Derrida 1993, S. 24. 

Page 11: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

11  

Bibliothek. In der katholischen Pfarrbücherei des Städtchens Senden an der Iller war Frau Perlotzki die Bibliothekarin (sie wurde nicht so genannt und war es auch nicht). Die Bücherei war dreimal in der Woche nachmittags geöffnet, oft ging ich zweimal hin, und wenn ich zu früh dran war, setze ich mich vor der Tür auf den Boden und wartete. Damit es für alle reichte, durfte man aus dem Regal mit den Büchern von Enid Blyton nur zwei mitnehmen, ebenso aus dem Drei???-Regal. Frau Perlotzki schaute manchmal in ihren Karteikasten und verriet: Band Soundso ist gerade bei Demunddem. Und jeder wusste, wer das war. Aus der Pfarrbücherei wurde die Stadtbibliothek, und Frau Perlotzki wurde auf dem zweiten Bildungsweg tatsächlich Bibliothekarin. Frau Perlotzki wusste, dass ich zu den Pferdebüchern übergegangen bin und über Conan Doyle und Agatha Christie zu den Klassikern, dass Diätbücher ein großes Thema waren, dass ich alle "Wie zeichne ich richtig"-Bücher von José M. Parramon gründlich durchgearbeitet habe, dass ich offenkundig gern nähte und strickte, und eines Tages reichte sie mir einen Brief über die Theke, der in einem Buch verblieben sein muss, das ich Tage, eher Wochen vorher zurückgegeben hatte, einen Brief, den ich an jemanden geschrieben und nicht abgeschickt habe, den Adressaten kannte sie natürlich aus ihrem Karteikasten, und dieser Brief war weder korrekt mit einem Absender versehen noch mit meinen vollen und richtigen Namen unterschreiben, und noch heute sehe ich mich erröten, Knallrot werden sagt man und Freud sagt: Das Blut schießt ersatzweise in den Kopf, eigentlich will es gerade in ein anderes Körperteil, und das trifft für alles Peinliche genauso zu, den etwas ist einem zu nahe gekommen hat einen (sichtlich) berührt, aber man kann und darf nicht sagen, wo. Immerhin, sie hat den Brief mir gegeben und nicht dem Empfänger. Wer weiß, was dann passiert wäre. Sie hätte Tatsachen geschaffen. Warum erzähle ich Ihnen das.

[an/fang sechs]

Wir waren bei der Frage, warum erzählt wird und haben geklärt, dass Erzählfragen Zeitfragen sind. Warum habe ich so ausführlich von der Gabendiskussion im Seminar erzählt, die eine Wunschdiskussion war. Der freigestellte Wunsch ist die Zeitfrage schlechthin: eine Ent/scheidung (der Scheidung die Scheidung nehmen), die in die Zukunft reicht, muss jetzt getroffen werden (von den sich scheidenden Wegen kann nur einer gewählt werden; die poetische Ausnahme entwickelt Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Der Garten der Pfade, sie sich verzweigen),25 es gibt kein Zurück. Bei drei Wünschen kann zumindest der dritte Wunsch den Unsinn der ersten

                                                            25 Borges, Jorge Luis: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen. In: Ders.: Fiktionen. Erzählungen, Frankfurt 2009, S. 77‐89. 

Page 12: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

12  

beiden aufheben;26 in der Einwunschvariante führt der Aufschub bis zum Tod zu einem glücklichen, weil selbstmächtig geführten Leben. Freud wendet das Wahlmotiv am Beispiel der Kästchenwahl27 – die Kästchen sind natürlich Frauen; aus der Wahl der Frau zwischen drei Bewerbern wird die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen, die dritte aber, die Gute und Richtige, ist der Tod – in eine der Umkehrungen, die wir vornehmen, um das Unerträgliche erträglich zu machen: den Tod wählen wir nicht, er ist gewiss.

Und warum wird erzählt? Man erzählt, um sich die Zeit zu vertreiben. Man erzählt, um Zeit zu gewinnen. Scheherezad erzählt Tausend und eine Nacht lang die Geschichten aus Tausend und einer Nacht, um ihre Hinrichtung um Tausend und eine Nacht lang und darüber hinaus auszusetzen. Vertreiben wäre hergeben wäre loswerden wäre gewinnen. Aber vielleicht ist das das Gleiche?

Warum habe ich so ausführlich von der Gabendiskussion im Seminar erzählt. – "Fast alle Künste haben eine Affinität zur erzählenden Gestaltung […]. Die narrative Affinität so vieler Künstler kommt nicht von ungefähr. Sie hat ihren Ursprung in der narrativen Disposition des Menschen. Handelnde sind von Natur aus Erzählende. Sie sind auf Kulturen des Erzählens angewiesen. […] Die Kunst des Erzählens reicht weit über dies Sphäre der ästhetischen Künste hinaus. Denn das Erzählen ist eine universelle, anthropologisch fundierte Praxis, die in der Herstellung und Aufnahme künstlerischer Erzählungen sowohl eine Fortführung als auch eine Brechung erfährt", schreibt Martin Seel.28

Und Byung-Chul wirft ein: Wir sind keine Handelnden mehr, wir sind Fingernde.29 Dazu gleich mehr.

Seel fährt indes fort: "Durch Erzählungen machen Menschen sich selbst und anderen verständlich, was in Geschichte und näherer Gegenwart geschehen ist oder in Zukunft geschehen könnte. Sie stellen Beziehungen zwischen Zuständen und Ereignissen her, die verdeutlichen, wie und warum es zu Vorkommnissen und Veränderung einer bestimmten Art kam – oder hätte kommen können."30

Und Gertrude Stein, es auf den Punkt bringend ohne ein Komma zu setzen, schreibt: "Erzählung ist was jeder über irgend etwas das auf irgend eine Weise geschehen kann geschehen ist geschehen wird auf irgend eine Weise zu sagen hat."31

                                                            26 Zu erwähnen wäre die Märchenvariante, in der eine arme Frau sich eine Wurst wünscht; ihr Mann wünscht sich ob dieser Verschwendung, die Wurst möge ihr an der Nase kleben, so dass die beiden nun vor der Beziehungsfrage stehen, ob alle Reichtümer der Welt und eine Wurst an der Nase oder aber keins von beidem sie von nun an begleiten sollen. 27 Freud, Sigmund: Das Motiv der Kästchenwahl. In: GW X, Frankfurt 1999, S. 24‐37. 28 Seel, Martin: Varianten filmischen Erzählens, in: Ries 2013, S. 188. 29 Han, Byung‐Chul: Im Schwarm: Ansichten des Digitalen, Berlin 2013. 30 Seel 2013, S. 189. 31 Stein zit. n. Kracke, Bernd/Ries, Marc (Hg.): Expanded Narration. Das Neue Erzählen, Bielefeld 2013. 

Page 13: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

13  

Erzählen wäre also das Herstellen von Beziehungen zwischen persönlich relevanten Ereignissen. Lerntheoretiker sagen das Gleiche. Wir waren die ganze Zeit im Feld der Bildung (auch der künstlerischen).

Die "kulturelle Leistung [des Erzählens] liegt weniger im Trennen als im Verbinden", vermerkt der Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke.32 Die Gegenthese geht so:

"Um sich mitzuteilen, bedarf es einer Teilung als Division und Segmentierung dessen, was gesagt und erzählt werden will […]. Erst über diese umfassenden Prozesse des dividere, des Unterteilens und Segmentierens, kann ein Mitteilen, eine Kommunikation erfolgen und ein Teilnehmen, ein participere in Aussicht gestellt werden."33 behauptet der Soziologe und Medientheoretiker Marc Ries in enger raumzeitlicher Nachbarschaft zu Hans Ulrich Reck, der da definiert:

"Abstraktionen sind nach Akzentuierungen spezifisch gegliederte Prozesse der Herausbildung einer Form […]. Sie ermöglichen ein Weglassen der unwichtigen Aspekte zugunsten der Unterordnung des Ausgewählten unter den Gesichtspunkt des je gewählten Wichtigen. Das […] ist immer schon der […] Kern […] des künstlerischen Darstellens gewesen."34

Ich sehe mit Blick auf das Erzählen und mit Blick auf (künstlerische) Bildung im Verbinden Stufe I und im Weglassen die Operation für Fortgeschrittene. Verschärft: Die Abstraktion, die

                                                                                                                                                                                          

 2013, S. 32. 32 Zit. n. Ries, Marc: Das Neue Erzählen, in: Kracke/Ries  2013, S. 35. 33 Ebd. 34 Reck, Hans Ulrich: Jenseits des Strukturalismus. Erweiterndes Erzählen zwischen Texten und Bildern, in: Kracke/Ries 2013, S. 56. 

Page 14: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

14  

Fähigkeit zum Weglassen von Unwichtigem, ist Frucht eines ausgebildeten/auszubildenen Formgespürs und unterscheidet die Alltagspraxis der social media von der Sphäre der Kunst.

an/fang sieben

Womit ich bei an/fang sieben wäre. Wie sieht das Erzählen zur Zeit aus und wie ist es darin um die Selbstermächtigung bestellt?

"[…] ungefähr alle hundert Jahre wurde sich jeder der Sache bewußt daß jeder dahin gelangt war andere Dinge zu tun das heißt dahin gelingt war die gleichen Dinge auf eine andere Art zu tun auf eine Art die so anders war daß ein jeder dahin gelangen konnte diese Sache zu wissen wissen daß es eine wirklich andere Art war und daher und daher natürlich eine andere Art die gekommen war um zu bleiben.", schreibt Gertrude Stein.35 Das Zitat wird (ohne Nachweis) einem Reader über das "Neue Erzählen" vorangestellt, hier liegt er,

und ist es nicht eigenartig, dass der reader, ein zusammengeschusterter Texthaufen, im Wortlaut ja auch und nichts anderes als die Person des Lesers ist? Der Leserin,

die ein Wissen rezipiert. Und somit fein raus ist, unschuldig, sie kann ja nichts dafür, was in den Texten anderer steht. Ich meine nicht selbst, ich gebe nur wieder. Falsch gedacht, hält ihr ein Freund entgegen: Dadurch, dass du diese Texte liest, arbeitest du in gewisser Weise für diese Texte, für den Verlag, die Institution, die Reputation derer, die du erwähnst/zitierst. Es gibt kein Entrinnen.

Das neue Erzählen ist erstens das

                                                            35 Zit. n. Kracke/Riese 2013, S. 8.   

Page 15: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

15  

• Expandieren neuer Erzählformate. Das sind Serien (von Six feet Under über Frazier und Mad Man zu Downton Abbey und so weiter), Explorationen eines großen Erzählraums, der ins Wohnzimmer geholt wird. In der Entwicklung der Erzählung können sie auf die Reaktionen der Zuschauer reagieren. Serienhelden sind keine fernen Abenteurer, eher Freunde und Verwandte, deren Lebensweg man mitverfolgt. Aktivere Formate, die man hier hinzufügen könnte, wären jene eines transmedialen Erzählens im Netz mit hybrider Autorschaft und der Möglichkeit zur Partizipation sowie allen neuen Erzählweisen in der Bildenden Kunst, die sich letztlich der schnelle Verfügbarkeit der Videotechnik verdanken. Die Praxis des Dokumentarischen hat sich durch den Wegfall des Aufwands, den Filmrollen bedeuten, radikal verändert und eine andere Politik der Bilder ermöglicht.

• Zweitens sprechen wir von den Mikroerzählungen auf facebook, youtube, twitter etc., die ihre user und deren Lebensformen mit den visuellen und auditiven Formen der alltäglich benutzten Medien untrennbar verbinden. Social media storytelling heißt: ein intimer Akt (der Selbsterzählung) wird öffentlich. Privat hieß früher: Was die Öffentlichkeit nichts angeht. Neuere Befragungen haben ergeben, dass es für Jugendliche etwas anderes heißt, nämlich: Was die die Eltern nichts angeht. Aber alle anderen.

Ein soziales Medium ist ein den Aus/tausch ermöglichendes und zugleich gestaltendes technisches Gefüge. Diese Gefüge provozieren ihren permanenten Gebrauch. Sie fordern dazu auf, an andere zu schreiben, Bilder und sounds zu verschicken und die der anderen wahrzunehmen. Ein in jeder Hinsicht grenzenloser Erzählraum will betreten werden, indem man das, was man gerade tut, in erzählerische Materie überhöht und alles, was andere erzählen, kommentiert. "Eine Erzählform des eigenen Lebens ist entstanden, eine, die sich anderen zuwendet, die Gleiches mit ihrem Leben tun."36 Marco Ries sieht darin Selbstermächtigung in einer Öffentlichkeit, die so noch nie zur Verfügung stand. Erzähler erzählen Erzählern.

Allerdings ist etwas Entscheidendes passiert: "Im Storyversum des Internet ist eine Umgewichtung zu beobachten von der die Geschichte formenden Diegese zum Diskurs des Erzählens und zum narrativen Akt selbst […]", der nun ins Zentrum der Handlung gerückt ist.37

Das heißt: Der narrative Akt und die Narration als mediales Ereignis werden bedeutsamer als die Geschichte.38 Das Begehren, zu erzählen, ist jetzt alles. "Insofern sind die Autobiographismen im Netz weniger von kulturellem Wert als [vielmehr] für die

                                                            36 Vgl. Ries 2013, S. 33. 37 Ebd., S. 33. 38 Ebd., S. 34. 

Page 16: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

16  

Selbstwahrnehmung der Individuen in uneindeutigen Lebenszusammenhängen bestimmend."39

Dieter Mersch schreibt über Kunst, wenn er schreibt: "Wir haben es mit zwei Momenten zu tun, an denen sich der Bezug auf […] auf Existenz entzündet: die Materialität und die Setzung. Sie gehören zu […] den Unverfügbarkeiten des Performativen. Jedes Zeigen, Vorführen oder Ausstellen geschieht aus einem Kontext heraus; aber die Weise, wie sie mit ihm brechen, ihn verschieben oder aus ihm heraustreten, befindet sich jenseits der Souveränität von Setzungen: Es widerfährt ihnen."40 Darauf beruht ihr Ereignischarakter.

Das Ereignis, die Ekstasis im Storyversum hingegen besteht "allein [darin], dass (jemand eine Kamera in seinem Jugendzimmer aufstellt und sein Leben in kurzen Clips nacherzählt, [und] seine oftmals unspektakuläre, durchschnittliche Existenz als diese kommentiert." Maro Ries nennt es ein Heraustreten, ich würde eher sagen: Das ist ein passives Herauskippen "aus ihr, also aus der Stasis, ohne dass nun diese Existenz eine außergewöhnliche würde. Man hat […] den Eindruck, als ob ihr Etwas-Sein erst durch ihre Veröffentlichung auch eine Etwas-Kontur gewinnt."41

Man könnte hierin natürlich die minoritären Suchbewegungen loben. Aber was ist minoritär an einer Praxis aller? Für die meisten hat sich "mit der Teilnahme an den neuen Erzählformen im Netz eine Art existentielle Spannung eröffnet."42 Die aber keine Vertikalspannung ist, sondern eine "polyperspektivische Verstrickung in der 'unendlich verwobenen Fläche' der neuen medialen Öffentlichkeiten", schreibt Ries,43 der das unter/haltsam findet. Ziemlich sogar, aber ich komme nicht darüber hinweg, das Unter vor dem Haltsamen zu lesen.

an/fang acht

Ich hatte einen Seminarraum aufgesucht, um etwas über Erzählmodelle zur Zeit zu erfahren, die anders wären. Zwei Modelle tat/sächlicher künstlerischer Erzählungen möchte ich Ihnen kurz zeigen. Eine Studentin, Charlotte, nahm die Überlegungen zur Gabe wörtlich und ließ sich, es war, als Carl-Peter Buschkühle vorne stand und einen Vortrag über künstlerische Bildung hielt, der wiederum für einige Seminarteilnehmer_innen zu einem Wende- und somit An/fangspunkt durchaus als existentiell erlebter Überlegungen wurde, auf einem herumwandernden Zettel die Adressen der Seminarteilmehmer_innen geben. Einige baten nach der Sitzung um Löschung. Charlottes

                                                            39 Ebd., S. 359. 40 Mersch 2002, S. 103. 41 Ries 2013, S. 37. 42 Ebd., S. 43. 43 Ebd., S. 43. 

Page 17: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

17  

Zeitmodell könnte als bi/cyclisch beschrieben werden. Es bestand für sie darin, eines Nachts (es war die Nacht nach dem Blitzeis, als dichtes Schneetreiben einsetzte) mit ihrem Rennrad heimlich die Verbindung zwischen uns allen herzustellen, indem sie von einem zum anderen fuhr und dabei ein Gebiet von Prenzlauer Berg über Spandau bis Neukölln und zurück nach Friedrichshain mit eigener Muskelkraft ausmaß. Sie hängte jeder und jedem eine kleine Bild-Antwort auf die bisher im Seminar gezeigte Arbeit an die Haustür.

In der Folgesitzung lud sie in ihre Wohnung ein, eine Wohnung, in der Kunst und Nichtkunst schon vorher kaum zu unterscheiden gewesen sind. Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Rose hatte sie die Wohnung mit der Dokumentation ihres alleycats sowie Zitaten, Recherchen und Querverweisen zum gesamten bislang im Seminar geführten Diskurs bespielt. Das Erzählmodell heißt somit: sammeln und verbinden. Wörtlich, auf der Wortebene genommen. Ein Strukturprinzip formal verstanden, re/flektiert, weiter entwickelt.

Noch lang saßen wir im Ofenzimmer beisammen und versuchten, den Vorgang zu fassen. Hinterher notierte ich: Im Gabenereignis alleycat haben A (alle) den Platzhalter B (Vertrauen + Adresse) an C (Charlotte) gegeben. C hat zwei Dinge (B) an A gegeben: eine Antwort auf einen Vorschuss von A (nämlich: schon eine Arbeit präsentiert zu haben) der A bis zur Entdeckung oder Enthüllung nicht bewusst war und Vertrauen: Einlass in ihre Wohnung. A antwortet wiederum mit Vertrauen: Warum hast du nicht geklingelt? Wir hätten dir einen Tee gemacht. Wir öffnen gern die Tür und lassen dich zu uns: Was möchtest du von uns wissen? Der durchaus bejahenswerte Austausch (und somit: die Zirkulation) kam nicht durch die Beschaffenheit (das Was) der Gabe in Gang, sondern dadurch, dass etwas gegeben wurde.

Page 18: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

18  

an/fang neun

war der Anfang des neuen Semesters. Rose überreichte mir sichtlich nervös ihre Projektdokumentation in einer Kiste voll Sand. Diese enthielt – neben den bereits bei Charlotte ausgestellten Verbindungen, Verweisen und Notizen – einen Schlüssel. Den Schlüssel zu ihrer Wohnung, wie die Dozentin erst (viel zu) spät bemerkte. Sie hätte, indes Rose das Leben einer Wohnungslosen mit Studentenausweis führte (schlafen mit dem Kopf auf dem Tisch in der Bibliothek, Duschen in der Schwimmhalle, Wärme in der Vorlesung) und darauf wartete, dass verstanden wird, was sie im geteilten Erzählraum des Seminars längst verstanden hatte, nämlich: Erzählen, das war früher; Nichtsprachliches im Sprachlichen abbilden, Mimesis-Illusion. Repräsentation war gestern, das Erzählen von heute heißt nach Hans-Ulrich Reck Modell und Rose Pollozek würde hinzufügen: für das nächste (existentielle) Er/eignis und/oder eine neue Tat/sache. Die Dozentin hätte also den Schlüssel als Schlüssel nehmen und in eine fremde Wohnung gehen können, hätte die im Übrigen nicht eingeweihte Mitbewohnerin bei wer weiß was überraschen, sich alles ansehen und erst recht fragen können, wo die Schwelle von der Nichtkunst zur Kunst liegt. Ich wiederhole und vervollständige: "Wir haben es mit zwei Momenten zu tun, an denen sich der Bezug auf Existenz entzündet: die Materialität und die Setzung. Sie gehören zu den […] Unverfügbarkeiten des Performativen. Jedes Zeigen, Vorführen oder Ausstellen geschieht aus einem Kontext heraus; aber die Weise, wie sie mit ihm brechen, ihn verschieben oder aus ihm heraustreten, befindet sich jenseits der Souveränität von Setzungen: Es widerfährt ihnen. Ihr Ereignischarakter beruht auf solchen Widerfahrnissen. Dies offenbart sich besonders an der Unbeherrschtheit und Unbeherrschbarkeit ihrer Konsequenzen: Kein Kontext ist je

Page 19: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

19  

ausmessbar und berechenbar, wie Derrida betont hat", schreibt Mersch.44

an/fang zehn

Noch immer bin ich nicht mit der ersten Folie fertig.

"Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt", setzt Gursky seinen Mann ohne Eigenschaften fort.45

Und warum hatte ich Ihnen doch gleich von Frau Perlotzki erzählt. Ihr Sohn wurde übrigens zum prägenden local hero im Kunst-Leistungskurs. Er hatte blaue Haare. Auf einmal hatte der ganze Leistungskurs blaue Haare und fuhr nach Florenz. Die Haare waren blau, damit man sich im Gewühl leichter wiederfinde, so hieß es. Danach hat er in Stuttgart an die Akademie geschafft. Er arbeitet Tag und Nacht, hieß. Er ist ganz dünn geworden, er lebt ausschließlich von Vanillepudding und Grapefruitsaft. Nein, es ist Apfelmus und Weißwein, wusste jemand anderer, und Frau Schnipf, die einzige Künstlerin am Ort (zumindest hielt sie sich dafür) sagte: Das ist die Sehnsucht nach der Mutterbrust.

Nach der Tasche im Buch, in der ein Kärtchen steckt. – Weil ich einen Gegenstand, der augenblicklich gerade zu Händen lag, als plötzlich solchen wahrnahm, und dann begann er auch noch, Erinnerungen heraufzubeschwören, die mich betreffen, Martin Seel hätte seine helle Freude am Gleiten vom kontemplativen in den korresponsiven Modus ästhetischen Erscheinens, und die kleine Er/innerung, habe ich, da sie sich nicht unterdrücken ließ – wir

                                                            44 Mersch 2002, S. 103. 45 Andreas Gursky, Untitled XII, 1999, Tafel 1. 

Page 20: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

20  

sprachen vom Drängen zum narrativen Akt - für Sie heute in eine Ordnung = narrativer Diskurs gebracht habe, chronologisch, es sieht aus wie eine echte Reihe, wie eine Ereigniskette. Ob alles stimmt, steht auf einem anderen Blatt.

Weil mein Vortrag einen offensichtlichen Adressaten (Sie alle) hat und außerdem eine heimliche Adressatin. Das Buch, das da lag, ist von einer Autorin, an der mir liegt, und es lag da, weil sie mich vor einigen Wochen auf einem Kongress, auf dem sie einige Kunstpädagogen sich präsentieren sah, neugierig fragte, ob man denn in der Kunstpädagogik überhaupt wissenschaftlich arbeiten könne bzw. wie man hierbei Erkenntnisse generieren könne bzw. welcher Art die denn seien bzw. wie sie aussähen. Ich gab ihr damals Antwort, natürlich haben wir alle solche Antworten sitzen, aber vielleicht sind das leere Worte, die sich längst vom eigenen Er/leben abgekoppelt haben? Von da an überlegte ich, wie diese Antwort wahrhaftig hätte werden können.

Die heutige Antwort kann ich ihr nicht geben, sonst müsste sie erfahren, dass ihr Buch vierunzwanzigeinhalb Jahre lang nicht ausgeliehen wurde (und auch vorher nicht oft).

Aber mein letzter Punkt dürfte deutlich geworden sein: Wir arbeiten mit dem, was nicht aufgegangen ist. Wir lassen Woche für Woche einen Diskursraum zurück, in dem vieles nicht aufgegangen ist,46 und die Zukunft (des Erzählens, des Lehrens) liegt in der Erkenntnis, dass der Nachgang mindestens so wichtig wie der Vorgang ist.

Die menschliche Natur hat eine Erinnerung und ein Publikum, schreibt Gertrude Stein, und zwischen -innern und -äußern, zwischen der eigenen Wahrnehmung und den und den Wahrnehmungen und Wünschen aller, die dabei waren, zwischen letzten und dem nächsten Mal liegt die Erkenntnisarbeit, die uns ehrliche (Geistes-)Gegenwart ermöglicht.

Ein kurzer Appendix, Stufe II: Den menschlichen Geist hatte ich mir für den Schluss aufgehoben. Wenn es der Narration gelingt, dass ich mich und andere und die Zeit vergesse, dann kann ich ohne Identität existieren. Endlich ohne Zeit kann ich mich einer Nicht-ICH-Situation stellen. "Und Schreiben das heißt der Geist des Menschen besteht nicht aus Mitteilungen er besteht nur aus dem Niederschreiben […]",47 das ihn hervorbringt, schreibt Stein.

ende

                                                            46 „Es hat doch den Anschein als wäre das Analysieren der dritte jener ‚unmöglichen‘ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger gekannten, sind das Erziehen und das Regieren.“ Freud, Sigmund: Die endliche und die unendliche Analyse,  in: GW 16, Frankfurt 1999, S. 94 47 "[…] oder aus Ereignissen er besteht nur aus dem Niederschreiben dessen was schon geschrieben ist und hat deshalb keine Beziehung zur menschlichen Natur." Stein 1988, S. 65. 

Page 21: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

21  

Warum erzähle ich Ihnen all das. Ich hätte natürlich auch eine Folie mit ein paar Thesen schicken können:

1) Die Räume künstlerischer Bildung sind Erzählräume. 2) Der Begriff der Erzählung ist in diesem Kontext als tat-

sächlich aufzufassen. 3) Die Tat/sachen aller werden zu den Er/eignissen einzelner, 4) wenn ihr Nachleben ausreicht, einen (neuerlichen) narrativen

Akt zu evozieren 5) der an die Ereignisse anknüpft 6) und neue schafft, indem er vollzogen wird. 7) Der Unterschied zur Alltagspraxis des socialmedialen

storyversums ist auf formaler Ebene zu suchen. 8) Es gilt, den narrativen Diskurs zu rehabilitieren. 9) Er weiß mehr.

Oder eine Flasche mit einem Brief darin, wie neulich hier bei mir per Paket eingetroffen, es handelt sich hierbei um den Praktikumsbericht der Studentin Charlotte, der daran lag, in der Schule einen anderen Erzählfaden aus dem Zeit-Seminar weiter zu spinnen: die Idee des Schiffbruchs, nautische Denkfiguren, die für sie am Diskurs über Derrida als Ausgangspunkt des Begriffs Ökonomie hingen, Schiffe werden beladen und ins Ungewisse geschickt, einige davon kehren mit Reichtümern zurück. Die Entdeckung der Passatwinde hat den Kapitalismus und die Globalisierung möglich gemacht, diese Geschichte erzählt uns Peter Sloterdijk in Sphären II: Globen48 sowie Im Weltinnenraum des Kapitals.49 – Gepaart mit der Einsicht, dass

                                                            48 Sloterdijk, Peter: Sphären II. Globen, Frankfurt 1999. 49 Ders.: Im Weltinnenraum des Kapitals: Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt 2006.  

Page 22: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

22  

jedes Zusammensein von Menschen der Ernstfall ist, folglich auch ein didaktisches Seminar nicht Rezepte für die Zukunft liefert, sondern die Gegenwart eines Diskurses bietet, und dass die Schule stets der Ernstfall ist, baut Charlotte mit einer achten Klasse, die davon von zunächst nicht besonders angetan ist, ein Floß. Final schwamm dieses Floß tat/sächlich auf der Havel, darauf die ganze Klasse, dazu Eltern und Geschwister und kurzzeitig die Dozentin, die all das unsichtbar, aber keineswegs von fern begleitet hat. Da sind fremde Leute auf unserem Floß, rief plötzlich jemand. Für Charlotte der Satz, der ihr den Glauben wiederschenkte, endlich identifizieren sie sich, vielleicht war das Projekt ja doch nicht ganz verkehrt.

Momentan steht das Floß im Schulhof und die Schüler erneuern regelmäßig mit Eddig ihre Signaturen auf seinen Planken (und taggen weiter): Das ist unser Floß. Unser Schreibgrund, unser Beschreibstoff. – Es wurde zum Teil einer größeren Erzählung, die der Klassenlehrer gemeinsam mit seinem Sohn, einem Wildnispädagogen, über die Jahre hinweg weiter denkt: Im kommenden Sommer wird die Klasse (zwar nicht von diesem Floß aus, aber immerhin) vor einer norwegischen Insel ausgesetzt, soll diese ganz auf sich allein gestellt Kraft überqueren und wird nach diesem Abenteuer auf der anderen Seite abgeholt, vielleicht.

Seit ein paar Wochen dem drängt es mich, Briefe nicht mehr elektronisch zu versenden, sondern sie in Flaschen zu stecken und fieberhaft auf ein Zeichen zu warten, ob sie angekommen sind, ob die Gabe als Gabe erkannt und, sei's drum, durch die nächste annulliert wird, denn die rückwirkend erfundene Null, die ist nicht nichts, sie ist auch alles minus alles oder minus alles plus alles also eine ganze Mengeund warum ich ihnen das alles hier und jetzt erzähle:

damit wir einen lebendigen Diskurs haben (darin steckt der Kursus und der Kreis), und

Page 23: weiter lesen. ereignis und erzählung - ph- · PDF filebei Genette ursprünglich Geschichte genannt, später auf alles erweitert, was zum Raum der erzählen Welt gehört, das Universum,

23  

Wort für Wort habe zwei Enden im Gebände, das Bildende und das Hörende. Selb-Er uneins geworden in zwei und zwei unpaare Gesichtspunkte dividiert […].50

                                                            50 Egger, Oswald: Nichts, das ist. Gedichte, Frankfurt 2001, S. 7.