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Das Ruhrgebiet ist europäische Kulturhauptstadt 200 und die Städte im Ruhrgebiet und auch das Ruhrbistum sind als Orte der Begegnung besonders im Blick. Bei den hier vorgestellten geistlichen Impulsen treffen die Erd- verbundenheit und Bodenständigkeit biblischer Erzählungen auf das alltägliche Leben im Ruhrgebiet. Wer übt, hofft. Dieser Satz stammt vom Jesuitenpater Alex Lefrank. Ich möchte diesen Satz gerne umdrehen und den geistlichen Impulsen voranstellen: Wer hofft, übt. Das gilt nicht nur für körperliche Prozesse, bei denen der eine oder die andere übend darauf hofft, doch ein wenig schneller, gelen- kiger, schlanker oder stärker zu werden. Wer darauf hofft, dass Gott sein Leben begleitet und dass sein Leben gelingt, der ist angewiesen auf das Üben. Nicht nur, weil Gott dem Menschen die Freiheit zum Ja und zum Nein geschenkt hat, sondern auch, weil es menschlich ist, in den Anforderungen des Alltags Gottes Stimme zu überhören und die Zeichen seiner Gegenwart zu übersehen. Diese geistlichen Impulse sind eine Einladung, an Alltagsorten des Ruhrgebietes Gott bewusst zu begegnen und den Boden, auf dem man steht, als ‚heiligen Boden’ wahrzunehmen. Dazu werden Ihnen beispielhaft fünf Standorte angeboten, kombiniert mit fünf Kernaussagen christlichen Daseins. „Wo du stehst, ist heiliger Boden“ Exodus 3,5 Ingelore Engbrocks

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Das Ruhrgebiet ist europäische Kulturhauptstadt 20�0 und die

Städte im Ruhrgebiet und auch das Ruhrbistum sind als Orte

der Begegnung besonders im Blick.

Bei den hier vorgestellten geistlichen Impulsen treffen die Erd-

verbundenheit und Bodenständigkeit biblischer Erzählungen

auf das alltägliche Leben im Ruhrgebiet.

Wer übt, hofft. Dieser Satz stammt vom Jesuitenpater Alex

Lefrank. Ich möchte diesen Satz gerne umdrehen und den

geistlichen Impulsen voranstellen: Wer hofft, übt. Das gilt

nicht nur für körperliche Prozesse, bei denen der eine oder die

andere übend darauf hofft, doch ein wenig schneller, gelen-

kiger, schlanker oder stärker zu werden.

Wer darauf hofft, dass Gott sein Leben begleitet und dass sein

Leben gelingt, der ist angewiesen auf das Üben. Nicht nur,

weil Gott dem Menschen die Freiheit zum Ja und zum Nein

geschenkt hat, sondern auch, weil es menschlich ist, in den

Anforderungen des Alltags Gottes Stimme zu überhören und

die Zeichen seiner Gegenwart zu übersehen.

Diese geistlichen Impulse sind eine Einladung, an Alltagsorten

des Ruhrgebietes Gott bewusst zu begegnen und den Boden,

auf dem man steht, als ‚heiligen Boden’ wahrzunehmen.

Dazu werden Ihnen beispielhaft fünf Standorte angeboten,

kombiniert mit fünf Kernaussagen christlichen Daseins.

„Wo du stehst, ist heiliger Boden“ Exodus 3,5

Ingelore Engbrocks

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1.Standortist heiliger Boden

Wo du stehst,Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte,

gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen

noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf

die Erde noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen

Menschen, der den Ackerboden bestellte;

aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die

ganze Fläche des Ackerbodens.

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom

Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So

wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.

Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten

an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.

Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in

den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte.

Genesis 2,4b-8.15

geschaffen Das Fundament gläubigen Lebens ist das Sich-versichern des-

sen, was trägt und uns hält.

‘Search for the secrets you hide’ singt die Gruppe M People

in einem Lied; frei übersetzt heißt das: „Geh dir selbst auf die

Spur; in dir sind wunderbare Geheimnisse verborgen“. Wer

die Bibel aufschlägt und Gottes Wort liest, dem eröffnet sich

schon auf den ersten Seiten die Botschaft: Das größte und

kostbarste Geheimnis, das Menschen in sich tragen, ist ihre

Geschöpflichkeit und ihre Ebenbildlichkeit Gottes.

Zwei Schöpfungsberichte finden sich im Buch Genesis di-

rekt hintereinander. Der zweite, hier abgedruckte Bericht ist

der ältere. Er beschreibt sehr haptisch die Erschaffung des

Menschen: Aus Erde vom Ackerboden wird er von Gott selbst

geformt. Und seine Lebendigkeit erhält er dadurch, dass Gott

diesem Wesen aus Erde seinen Lebensatem, d.h. seine Lebens-

kraft einhaucht. Herkunftsaussagen sind immer auch Wesens-

aussagen. Der Mensch ist ganz nahe verbunden mit dem Bo-

den, auf dem er steht. Seine Form und Gestalt sind Zeichen der

Kreativität Gottes. Das menschliche Dasein hat seinen Urgrund gesc

haff

en

2 Modell des Mondes in der Ausstellung STERNSTUNDEN im Gasometer Oberhausen.

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in Gott; die Beziehung Gott – Mensch ist die erste und wich-

tigste Grundbeziehung des Menschen. Durch seinen Atem ist

er in seiner Lebendigkeit verbunden mit dem lebendigen Gott.

Diese theologische Aussage in einer der frühesten Schriften der

Bibel verdeutlicht, mit welcher Würde der Mensch ausgestattet

ist. Aber sie sagt gleichzeitig aus, dass der Mensch ein irdisch-

begrenztes Wesen ist. Im hebräischen Originaltext wird die

Erdverbundenheit des Menschen besonders deutlich:

Ackerboden heißt adama; Mensch heißt adam.

Der Atem Gottes ist die verwandelnde Kraft für das aus Erde

gestaltete Wesen Mensch. Der Psalm 8 beschreibt das Staunen

derjenigen, die den Menschen im Bezug zum Weltall sehen und

sich dabei der Menschenwürde nachhaltig bewusst werden:

Seh‘ ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond undSterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen

Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig

geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und

Ehre gekrönt. Psalm 8,4-6

… einen ‚Sinnenspaziergang’ machen: Eine Stunde lang spazieren gehen und alles bewusst wahrneh-

men, was die Natur bietet und was die Sinne spüren.

… den eigenen Atem wahrnehmen: Ohne eigenes Zutun und ohne Anstrengung wirkt Gott konti-

nuierlich in jedem Menschen das Wunder des Lebens. Einatmen

bedeutet Empfangen des Lebensatmens, bedeutet belebt und

gestärkt werden. Ausatmen bedeutet loslassen und frei werden

für ein neues Beschenkt-Werden.

… sich die Aussage von Psalm 8 zusagen lassen, indem man die drei Verse in die Ich-Form setzt: (Was bin ich, dass du an mich denkst…)

Der Bibeltext macht in seiner Universalität deutlich, dass alle

Menschen – jede und jeder Einzelne - von Gott geschaffen,

geliebt und gewollt sind. Und er macht deutlich, dass wir Men-

schen hinein genommen sind in die Wertschätzung und die

Sorge füreinander. Die Handwerkerinnung nutzt diese christli-

che Überzeugung selbstbewusst für ein Werbeplakat, wenn sie

schreibt: „Am Anfang waren Himmel und Erde; den Rest haben

wir gemacht.“

Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit, schreibt der �94� getö-

tete Jesuitenpater Alfred Delp. Die Wirklichkeit der Menschen

hier im Ruhrgebiet ist Lebendigkeit durch Wandel. Oder ist

es umgekehrt? Wandelt sich das Ruhrgebiet kontinuierlich

wegen der Lebendigkeit der Menschen, die hier wohnen? Was

Ursache und was Wirkung ist, ist wahrscheinlich gar nicht zu

definieren. Leben, Lebendigkeit und Wandel gehören für mich

jedenfalls untrennbar zusammen. Die Wirklichkeit unseres

Lebens mit seinen Veränderungen und auch den kontinuier-

lichen Elementen sind unsere je individuelle Möglichkeit, Gott

zu begegnen.

In kleinen Schritten kann man sich die Schöpfung

mehr und mehr bewusst machen. Man kann …

… die beiden folgenden Botschaften auf zwei Zettel schreiben und beide Botschaften einmal täglich lesen. Die Botschaften lauten: �. „Für dich allein hat Gott die Welt erschaffen“

2. „Du bist nur Asche und Staub“

... den abendlichen Sternenhimmel betrachten

… einen Ort in der Nähe aufsuchen, an dem man neulernen kann, über die Schöpfung zu staunen.

…den Tag abschließen mit dem Gebet der liebenden Aufmerksamkeit. Wie es geht, zeigt der Text auf der nächsten Seite.

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� �

gerufen

Gebet der liebenden Aufmerksamkeit /

Revision du jour

1

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5

2

4

6

�. Sich bewusst machen: Gott ist gegenwärtig; er schaut mich und meinen Tag liebevoll an, und lädt mich ein, das Gleiche zu tun.

2. Rückblickend den Tag ansehen:Liebevoll und aufmerksam alle Gedanken und Gefühle zulassen, ohne zu bewerten oder zu verurteilen.

�. Gott danken: Für das, was geschenkt wurde und gut getan hat; danken auch für scheinbar Selbstverständliches.

4. Sich Versöhnen: Ungeordnetes, Unfertiges, Unversöhntes und Konfliktbela-denes Gott hinhalten, damit er es wandeln und ordnen kann.

�. Vorausschauen:Auf das, was mich erwartet, Begegnungen und Aufgaben des nächsten Tages.

�. Abschließen:Mit dem Kreuzzeichen oder dem Vaterunser.

Menschen, die regelmäßig im Gebet der liebenden Aufmerk-

samkeit auf den Tag schauen, machen die Erfahrung, dass sich

ihr Alltag ändert, dass sie achtsamer, präsenter, verständnis-voller, dankbarer, versöhnter und zukunftsfähiger leben.

Er sagte zu mir: Stell dich auf deine Füße, Menschensohn;

ich will mit dir reden.

Als er das zu mir sagte, kam der Geist in mich und stellte mich

auf die Füße. Und ich hörte den, der mit mir redete. Ezechiel 2,1f

2.Standortist heiliger Boden

Wo du stehst,

� Stilleben A40 / Autobahnbrücke in Essen

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An dem zweiten ‚Standort’ kommt die immer neu notwendige

Entscheidung und Herausforderung in den Blick, auf die erfah-

rene Zuwendung Gottes zu antworten.

Die Textstelle stammt aus dem Buch Ezechiel. Nach einer

Vision der Herrlichkeit Gottes bekommt der Prophet den

Auftrag, dem Volk Israel sowohl Gerichtsandrohung als auch

Heilsverheißung zu bringen. Bevor er jedoch diesen Auftrag

bekommt, holt ihn der Geist Gottes von der visionären Schau

zurück in die Realität mit den Worten: „Stell dich auf deine

Füße, Menschensohn.“ Ez 2,1

Vergleicht man die Berufungserzählungen der großen Prophe-

ten Jesaja und Jeremia mit Ezechiel, dann fällt auf, dass von

Ezechiel kein Erschrecken berichtet wird wie von Jesaja; er

macht auch keine Einwände wie Jeremia. Fest auf dem Boden

verankert nimmt er Gotteswort auf - die Bibel berichtet, daß

er es verzehrt - und er lässt sich in den Dienst nehmen. Der

Geist Gottes ist es, der Ezechiel auf die Füße stellt. Und erst

gerufenin Verbindung mit dem Boden, der ihn trägt, kann er nun die

Stimme Gottes auch in ihrer Bedeutung wahrnehmen. Der

Name Ezechiel bedeutet: Gott ist stark / Gott macht stark. Ich

denke, was diesen Propheten so stark macht, ist dreierlei: sei-

ne Offenheit für Gottes Geist, seine Bodenhaftung und seine

Bereitschaft zum Hören auf Gottes Wort.

Hin und wieder höre ich bei meiner Arbeit skeptische Stim-

men, die bezweifeln, dass Spiritualität hilfreich sein könnte,

wenn man in der Arbeitswelt seinen Mann / seine Frau stehen

muss. Ich bin sicher: Spiritualität leben – also ein Leben mit

Gottes Geist zu führen - erschöpft sich nicht im Anzünden

einer Kerze und im Schaffen einer geistlichen Wohlfühlat-

mosphäre. Spiritualität holt nicht weg von der Umwelt, von

den eigenen Aufgaben und den Menschen, mit denen man zu

tun hat. Spiritualität ist ein gläubiger Umgang mit der Rea-

lität: eine geisterfüllte und offene Begegnung mit dem, was

Gott als Lebensfeld für jede und jeden bereithält und was den

eigenen Alltag ausmacht. Und dazu gehören auch schwierige

oder ermüdend-langweilige Arbeiten; dazu gehören berufliche

Kontakte, in der Mitmenschlichkeit nicht für jede/n selbstver-

ständlich ist und die eigene Entschiedenheit zum Guten immer

wieder herausgefordert wird. Dazu gehören natürlich auch

private Beziehungen zum Partner / zur Partnerin, zu Familien-

mitgliedern und zu Freunden, die vom Scheitern bedroht sind

und dann der Heilung bedürfen.

Diese Direktheit

des Ezechiel, der

„nicht lange fa-

ckelt“, wie man im

Ruhrgebiet sagt,

ist vielleicht das,

was die Menschen

hier auszeichnet:

Wenn etwas ‚dran‘ ist, dann macht man es halt. Ohne viel

Aufhebens – so wie Ezechiel, der uns zeigt, wie Entschieden-

heit geht. Wahlmöglichkeiten haben die meisten Menschen

täglich zahlreiche; entschieden leben wird aber oft verhindert

durch die Macht der Gewohnheit, durch das Streben nach

Perfektion, durch die unüberschaubare Vielfalt der Optionen

und die Angst vor den Konsequenzen; man fällt nahezu in eine

Entscheidungsparalyse. Geistliches Leben realisiert sich im

klaren und entschiedenen Umgang mit den eigenen Wahl-

möglichkeiten, im Schritt vom Konjunktiv zum Indikativ. Mose

beschreibt sie mit folgenden Worten: „Hiermit lege ich dir

heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor.

Wähle also das Leben, damit du lebst.“ Dtn 30,15.19a

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Abends die eigenen, auch die kleinen Entscheidungen Revue

passieren lassen: Welche hat mir gut getan?

Welche würde ich am liebsten rückgängig machen?

Die Aufmerksamkeit darauf richten, in welchen Situationen

des Alltags sich Angst und Ablehnung einschleichen oder auch

heftig auftreten. Sie können ein Signal dafür sein, dass hier für

mich eine Entscheidung ansteht.

Wenn eine größere Entscheidung ansteht, versuchen, sie

mit Hilfe der �0-�0-�0 – Regel zu prüfen: Welche Auswir-

kungen hat diese Entscheidung: a) nach �0 Minuten, b) nach

�0 Monaten und c) nach �0 Jahren?

Kleine Schritte sind es, durch die man

Entschiedenheit üben kann:

Sich eine Viertelstunde lang dem schweigenden Hören

hingeben. Wenn sich dabei immer wieder störende Gedanken

einstellen, dann hilft vielleicht folgendes Bild: Man geht durch

den Schwall der alltäglichen Gedanken hindurch wie durch

einen Wasserfall, weil man weiß, dass dahinter kostbare und

wohltuende Ruhe wartet.

Dem Wunderwerk der eigenen Füße einmal besondere Auf-

merksamkeit zukommen lassen:

Vielleicht an einem geeigneten Ort einmal �� Minuten barfuss

laufen?

Was ist nun jetzt?

Wo sind auf einmal die Stangen,

an denen die wünschende Nase sich wetzt?

Was soll er nun anfangen?

Er schnuppert neugierig und scheu.

Wie ist das alles vor ihm so weit

und so wunderschön neu!

Aber wie schrecklich die Menschheit schreit!

Und er nähert sich geduckt

einem fremden Gegenstande. -

Plötzlich wälzt er sich im Sande,

weil ihn etwas juckt.

Kippt ein Tisch. Genau wie Baum.

Aber eine Peitsche knallt.

Und der Bär flieht seitwärts, macht dann halt.

Und der Raum um ihn ist schlimmer Traum.

Lässt der Bär sich locken. Doch er brüllt.

Lässt sich treiben, lässt sich fangen.

Angsterfüllt und hasserfüllt

Wünscht er sich nach seines Käfigs Stangen.

Joachim Ringelnatz

Bär aus dem Käfig

entkommen

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bewegt

3.Standortist heiliger Boden

Wo du stehst,

Eines Tages trieb Mose das Vieh über die Steppe hinaus und

kam zum Gottesberg Horeb.

Dort erschien ihm der Engel des Herrn in einer Flamme, die

aus einem Dornbusch emporschlug. Er schaute hin:

Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht. ...

Als der Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzuse-

hen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose!

Er antwortete: Hier bin ich.

Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe

ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Ex 3,2.4f

Die Überschrift über die geistlichen Impulse – „Wo du stehst,

ist heiliger Boden“ - ist ein Satz aus dem Buch Exodus, der

am dritten Standort im Mittelpunkt der Betrachtung steht.

Die Bibel erzählt von Mose, der mitten am Tag während seiner

Arbeit beim Hüten der Ziegen und Schafe eine Begegnung

mit Gott am brennenden Dornbusch erlebt. Als er sich dem Ort

nähert, wird ihm gesagt, dass er die Schuhe ausziehen soll; mit

bloßen Füßen – ungeschützt und verletzlich – wird Mose offen

und sensibel für den Auftrag Gottes. Gott offenbart sich ihm,

nennt ihm seinen Namen: Ich bin da. Mit dieser Zusage schickt

er Mose los, das Volk Israel zu befreien.

Wer sich von Gott geschaffen weiß und sich von ihm gerufen

fühlt, der lässt sich von ihm auch bewegen. Denn Gottes Geist

führt zur Begegnung, er drängt zur Konkretion. Gottes Liebe

zum Menschen zeigt sich dadurch, dass Gottes Geist Gestalt

annehmen will in dem, was Menschen sind, was sie schaffen

und bewegen.

bewegtGott wird erfahrbar in den Menschen, die ihre Talente ein-

setzen und entfalten. Ich glaube, er wird in guten Kochre-

zepten, in spannenden Romanen und in menschenfreundlicher

Architektur ebenso erfahrbar wie in Kunst und Musik und in

der caritativen Fürsorge für Menschen aneinander. Er wird an

Arbeitsplätzen, Flughäfen, Bahnhöfen und Einkaufsstraßen

ebenso spürbar wie in Kirchen, Altenheimen und Kindergärten.

Erich Zenger führt in seinem Buch ‚Der Gott der Bibel‘ vier

Aspekte des Naheseins Gottes aus. Wenn Gott nahe ist, dann

ist er zuverlässig nahe, er ist aber gleichzeitig für uns Men-

schen unverfügbar. Gott ist in seiner Gegenwart unbegrenzt

und ausschließlich da für die Menschen. Wer sich im Alltag

auf die Suche nach der Gegenwart Gottes macht, darf sicher

sein: ER macht seine Gegenwart nicht davon abhängig, ob

Menschen ihn bemerken oder nicht. Gott macht seine Ge-

genwart und sein Wirken auch nicht davon abhängig, ob

sie in menschliche Pläne passen oder ob sie gewünscht oder

erwartet werden. Vielleicht kann gerade das bei geistlichen

�2 Impressionen von der Halde Prosper Haniel in Bottrop

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Übungen zum Erkennungsmerkmal werden, dass Gott da wirkt,

wo die eigenen Pläne gestört werden. Die Unbegrenztheit der

Gegenwart Gottes zeigt sich auch dadurch, dass es keine zeit-

lichen, räumlichen oder institutionellen Grenzen gibt, die Gott

hindern könnten. Und wer sein Leben in die Hand Gottes legt,

kann nicht noch ein Netz oder doppelten Boden einbauen, um

in schwierigen Zeiten eine Hintertür zu haben.

Wer sich auf die unplanbare Gegenwart Gottes einlassen kann,

der erlebt aber vielleicht auch, dass Problemlösungen oder

Konfliktbearbeitungen nach dem win-win-Prinzip verlaufen

können: Es muss neben dem Gewinner nicht zwangsläufig

Verlierer geben - beide Seiten können durch Veränderungen

gewinnen.

Gott bewegt uns Menschen, er beauftragt und schickt los; er

hält für jeden und jede Einzelne die verschiedensten Aufgaben

bereit. Aber er stärkt Menschen auch für ihre Aufgaben, gibt

ihnen das auf den Weg mit, was sie brauchen. Das wird beson-

ders deutlich in der Geschichte des Elija im Buch der Könige:

Elija werden seine Aufgaben zu viel, er will sich zurückziehen.

Wörtlich heißt es im Buch der Könige:

Er ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte

er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den

Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben;

denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich

unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel

rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich

blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender

Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und

trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des Herrn

kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf

und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf,

aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt,

vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb.

1 Kön 19,3-8

Was für Elija galt, gilt für jeden Menschen heute. Für die

Aufgaben, die Gott für jeden und jede ausgesucht hat, stellt er

auch genügend Zeit und Kraft zur Verfügung. Wenn Zeit und

Kraft fehlen, ist das ein ernst zu nehmendes Signal dafür, dass

man sich möglicherweise vom Willen Gottes entfernt.

Und wer sich bemüht um eine erhöhte Aufmerksamkeit im

Alltag, der / die kann die Gegenwart Gottes immer häufiger

wahrnehmen, auch und gerade an Orten, an denen man ihn

nicht vermutet hat. Die abgebildete Halde Prosper Haniel

in Bottrop verbindet die Arbeitswelt der Menschen in geni-

aler Weise mit ihrer Religiosität und mit der Möglichkeit zu

Freizeit und Entspannung. Ich denke, es ist einer der Orte im

Ruhrgebiet, die ganz unspektakulär auf die Gegenwart Gottes

hinweisen.

Dem Pastor einer Gemeinde fiel ein alter, bescheiden wir-

kender Mann auf, der jeden Mittag die Kirche betrat und sie

kurz darauf wieder verließ. So fragte er ihn eines Tages, was

er denn in der Kirche tue. Der antwortete: „Ich gehe hinein,

um zu beten.“ Als der Pastor verwundert sagte, dass er doch

gar nicht lange genug drin sei, um wirklich beten zu können,

meinte er: „Ich kann kein langes Gebet sprechen, aber ich

komme jeden Tag um zwölf und sage: ‚Jesus, hier ist

Johannes.’ Dann warte ich eine Minute, und er hört mich.“

Einige Zeit später musste Johannes ins Krankenhaus. Ärzte und

Schwestern stellten bald fest, dass er auf die anderen Pati-

enten einen heilsamen Einfluss hatte. Die Nörgler nörgelten

weniger, und die Traurigen konnten auch mal lachen.

„Johannes“, sagte die Stationsschwester irgendwann, „die

Männer sagen, du hast diese Veränderung bewirkt. Immer

bist du gelassen, fast heiter.“ „Dafür kann ich nichts“, meinte

Johannes, „das kommt durch meinen Besucher.“ Doch niemand

Zwölf Uhr mittags

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hatte bei ihm je einen Besucher gesehen, keine Verwandten

und auch keine Freunde. „Dein Besucher?“, fragte die Schwes-

ter. „Er kommt jeden Mittag um zwölf. Er tritt ein, steht am

Fußende meines Bettes und sagt: ‚Johannes, hier ist Jesus’.“

Quelle unbekannt

4.Standortist heiliger Boden

Wo du stehst,In einzelnen Schritten lässt sich die

Aufmerksamkeit üben, zum Beispiel:

Eine Woche lang an verschiedenen Ort einen kurzen Moment

innehalten und sich selbst die Worte der Bibel zusagen: „Wo du

jetzt stehst, ist heiliger Boden.“ z.B. in der Warteschlange beim

Einkaufen, in meiner Wohnung, im Fitnesscenter, …

Ändert sich dadurch etwas?

Einen Ort aussuchen, an dem man sich mit Gott verabre-

det. Vielleicht gelingt es ja, anstelle eines einmaligen Treffens

ein regelmäßiges tägliches Treffen mit Gott zu arrangieren.

In den eigenen vier Wänden einen Ort bereiten, an dem man

ein regelmäßiges kurzes Zusammensein mit Gott kultiviert.

Morgens am offenen Fenster, barfuss auf dem Boden

stehend, den Tag empfangen.

begr

enzt

Solarzellen an der Friedenskirche in Herten

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Am frühen Morgen begab sich Jesus wieder in den Tempel.

Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.

Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine

Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie

in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde

beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.

Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu

steinigen. Nun, was sagst du?

Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um

einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte

sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und

sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als

erster einen Stein auf sie.

Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.

Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem

anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück

mit der Frau, die noch in der Mitte stand.

Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie ge-

blieben? Hat dich keiner verurteilt?

Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich

verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht

mehr!

Johannes 8,2-11

Wer auf dem Boden steht und geht, wird auf Grenzen sto-

ßen. Grenzen zu spüren ist meistens nicht angenehm: Eigene

Grenzen irritieren und manchmal haben sie das Potential zu

demotivieren; eigene Grenzüberschreitungen verdrängt man

gerne aus dem Bewusstsein. Fremde Grenzen und Grenzüber-

schreitungen dagegen werden umso genauer wahrgenom-

men und umso schärfer kritisiert. Die heutige Stelle aus dem

Johannesevangelium erzählt davon.

Jesus steht zwischen zwei Konfliktparteien. Er soll sagen, was

richtig und falsch ist. Er soll Stellung beziehen für das Gesetz

und gegen die Verfehlung. Der Evangelist fügt hinzu, dass es

anscheinend nicht nur um die reine Sachfrage geht, sondern

darum, Jesus auszuspielen. Er soll sich positionieren zwischen

seiner liebenden Fürsorge für Menschen in Bedrängnis und Not

und seiner Gesetzestreue. Seine Reaktion: „Er bückte sich und

schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Was er wohl schrieb?

Einige Exegeten haben darüber schon gemutmaßt. Ebenso

spannend ist aber auch die Frage: Warum zieht er sich auf

begrenztdiese Weise erst mal aus dem Spannungsfeld heraus und erdet

sich? Ist es nur ein kurzes ‚Sich-sammeln’? Will er sich in der

angespannten Situation eine kleine Auszeit verschaffen? Ein

wenig erinnert es auch an die Angewohnheit vieler Menschen,

bei unangenehmen Telefonaten oder in Stresssituationen alles

in Reichweite liegende Papier mit üppiger Ornamentik zu

versehen, weil man unbewusst ein Ventil für angesammelte

Anspannung sucht.

Aber vielleicht ist doch noch etwas anderes in Jesu Han-

deln. Ob seine Erdung eine Deeskalationsmaßnahme ist? Die

Aufmerksamkeit wird von den Konfliktparteien weggeholt und

hingeführt zu dem, was Basis für alle Anwesenden ist: der Bo-

den unter den Füßen. Ob Jesus hier selbst an eine Grenze ge-

kommen ist? Ob ihm vielleicht in diesem Moment klar wurde:

Mit den Pharisäern ist ein offenes Gespräch in dieser Situation

nicht möglich, zu sehr wähnen sie sich auf der richtigen, der

gerechten Seite. Jesu Alternative ist es, sie auf den Boden ihrer

eigenen Realität und Schuldhaftigkeit zu holen.

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20 2�

Die Pharisäer stehen zunächst fest auf dem Boden des Ge-

setzes, anscheinend aber nur im Blick auf die Frau. Ihre Grenze

ist die Buchstabentreue zum Mosaischen Gesetz. Wenn man

auf den anderen kritischer schaut als auf sich selbst, wenn

eine differenzierte Wahrnehmung der Situation nicht mehr

stattfindet und nur noch die Kategorien gut und böse bzw.

Recht und Unrecht gelten, wenn man den Kontakt zur eigenen

Realität verliert, dann können Konflikte schnell eskalieren.

Jesus öffnet diese Grenze und hilft ihnen bei einem klaren

Blick auf eigene Grenzüberschreitungen, deutlich, aber nicht

unbarmherzig. Blamage und Bloßstellung gehören nicht dazu.

Und die Frau? Engere Grenzen kann ein Mensch wahrschein-

lich nicht erfahren, als zuerst öffentlich bloßgestellt zu sein

und in dieser Situation dann noch mit der Furcht zu kämpfen,

sein Leben zu verlieren. Zuerst scheint es, als sei sie nur das

Objekt für einen Rechtsstreit. Dann aber rettet Jesu Deeska-

lationsmaßnahme nicht nur ihr Leben, sondern schenkt ihr

auch eine neue Würde und Freiheit zurück mit den schlichten

Worten: „Geh – sündige nicht mehr.“ Sie selbst darf ihr Leben

und ihre Freiheit neu gestalten.

Die Bibelstelle verdeutlicht: Gesetze werden nicht aufgehoben,

sie sind nicht überflüssig. Grenzen geben dem Leben eine klare

Linie, auch wenn sie im Alltag manchmal hinderlich oder lästig

erscheinen.

Und wer es lernt, die eigenen Grenzen wahrzunehmen, wer es

schafft, diese Grenzen wahr sein zu lassen, der kann wachsen:

nicht nur an den eigenen Grenzüberschreitungen, sondern auch

an den gesetzten Grenzen.

„Nun lass mal fünfe gerade sein“ sagt man im Ruhrgebiet. Das

bedeutet: Man kennt die Regeln und Gesetze für ein gelingendes

Miteinander, aber man kann ihnen auch um des Lebens willen

situativ Weite geben. Denn Regeln und Gesetze sind nicht dazu

da, das Leben einzubetonieren. Mit dieser Haltung gegen sich

und andere entwickelt man im Alltag eine kreative Kraft der

Versöhnung: Eine Versöhnung mit sich selbst, mit den eigenen

Grenzen und mit denen, deren Grenzen man erfahren hat und an

denen man sich immer noch wundreibt. Auf diese Weise wird die

Klarheit nicht verwischt, aber es bleibt Flexibilität, die lebendig

sein lässt. Oder, biblisch gesprochen: Gesetz und Vergebung

haben gemeinsam Geltung und geben Standfestigkeit.

Oh sage, Dichter, was du tust?

- Ich rühme.

Aber das Tödliche und Ungetüme,

wie hältst Du’s aus, wie nimmst Du’s hin?

- Ich rühme.

Aber das namenlose, Anonyme,

wie rufst du’s, Dichter, dennoch an?

- Ich rühme.

Woher dein Recht, in jeglichem Kostüme,

in jeder Maske wahr zu sein?

- Ich rühme.

Und dass das Stille und das Ungestüme

wie Stern und Sturm dich kennen?

- weil ich rühme.

Rainer Maria Rilke

Für Leonie Zacharias

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gesendet5.Standortist heiliger Boden

Wo du stehst,

Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt

blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat

gesündigt? Er selbst? Ober haben seine Eltern gesündigt,

so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder

er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken

Gottes soll an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange

es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt

hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun

kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der

Welt. Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde;

dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn

dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und

wasch dich in dem Teich Schiloach! Schiloach heißt über-

setzt: Der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich.

Und als er zurückkam, konnte er sehen. Johannes 9,1-7

ganz konkret den Raum wahrnimmt, in dem man

sich gerade befindet, einschließlich der schützenden und

begrenzenden Wände.

vom Fenster oder einem anderen geeigneten Ort aus in

die Weite schaut.

sich an befreiende Momente des Alltags erinnert.

sich selbst und anderen Befreiung und Freiheit schenkt,

wenn man eine konkrete Schuld nicht länger nachträgt.

… seine eigenen Grenzen wahrnimmt:

Welche der Grenzen hilft mir, meine eigene Lebendigkeit zu

spüren? Mit welcher Grenze bin ich (noch) unversöhnt?

Der Umgang mit Grenzen lässt sich in

kleinen Schritten üben, indem man...

22 Weltkulturerbe Zeche Zollverein in Essen

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Auch die fünfte und letzte biblische Betrachtung lenkt die

Aufmerksamkeit noch einmal hin zu dem Boden, auf dem wir

stehen.

In der Perikope aus dem Johannesevangelium wird ein Blinder

durch Jesus geheilt. Zwei Hilfsmittel nimmt Jesus dazu: Erde

und Speichel. Bleibe ich auf der Bildebene dieser Bibelstelle,

dann ist der erste Gedanke: Nicht schön, auf welche Wei-

se diese Heilung vor sich geht. Schmutz von der Erde, mit

Speichel angerührt – wer möchte das schon so ohne weiteres

im Gesicht haben? Betrachtet man jedoch die Bilder mit und

in ihrem Bedeutungshintergrund, dann öffnen sich mehrere

Dimensionen: Speichel austauschen zwischen zwei Menschen,

das verliert das ungute Gefühl, wenn ganz viel Liebe mit dabei

ist. Für ein liebendes Paar ist so ein inniger Kontakt selbst-

verständlich, und auch zwischen kleinen Kindern und Eltern:

wenn eine Mutter oder ein Vater beherzt das klebrige Gesicht

eines Babys abschlecken, regt das die Zuschauenden vermut-

lich zum Schmunzeln an und das Baby stört es meistens nicht.

gesendetUnd das zweite Element dieser Heilungsgeschichte ist die Erde

– der Boden, auf dem der Blinde steht.

Am ersten Standort wurde an dieser Stelle der frühe Schöp-

fungsbericht der Bibel betrachtet, in dem beschrieben wird,

dass wir Menschen genau aus dieser Erde gemacht sind. Die

Heilungsgeschichte von Schiloach sagt mir: Zum Heilwerden,

zum Sehen und Erkennen, zur Wandlung und Veränderung

braucht man eine liebevolle Rückgebundenheit an eigene

Wurzeln und an die eigene Herkunft.

Eine Heilungsgeschichte mit Erde und Spucke - alltagstaug-

licher geht es eigentlich nicht mehr. Denn beides ist nahezu

jederzeit verfügbar. Und beides steht auch jedem Menschen

zur Verfügung. Man braucht weder große Reichtümer noch

eine besondere Begabung, um sie nutzen zu können. Offene

Augen und ein liebevoller Blick helfen bei dem, was der Kir-

chenvater Augustinus das Wichtigste nennt: „Unsere Aufgabe

in diesem Leben ist nichts anderes, als das Auge des Herzens

zu heilen, mit dem Gott gesehen wird.“

Das Ruhrgebiet – die Kulturhauptstadt 20�0 – hat viele Orte

der Wandlung. Im ‚Pott’ werden hässliche alte Industriegebäu-

de doch noch mal genauer angeschaut und mit liebevollem

Blick wird der Wert dieses Gebäudes oder Ortes für die Region

wahrgenommen. Alles, was dort an Arbeit geleistet wurde,

wird in Erinnerung gehalten und wie die Prägekraft der Orte

für das Ruhrgebiet ins Bewusstsein geholt. Und nicht selten

wird dann eine gute neue Verwendung für diese ‚locations‘

gefunden: Da werden alte Tanks zu Tauchschulen, Gasome-

ter beherbergen den größten Mond, den es auf der Erde gibt,

Kohlewaschanlagen bergen ein Museum, Abraumhalden geben

das Freizeitgefühl des bergischen Landes und alte Kokereien

werden Abenteuerspielplätze mit einem enormen Potential

fürs Verstecken spielen. Was dabei an die Heilungsgeschichte

erinnert? Es ist die Haltung, in der man versöhnt zurück-

schauen kann und dadurch Kraft für Innovation und Wandel

gewinnt: Schau auf das, was dich durchs Leben getragen hat

und was dir Halt und einen festen Stand gibt. Schau auf deine

Herkunft und deine Wurzeln, aber mit Zuneigung und Liebe,

mit Offenheit und Wertschätzung für die Möglichkeiten und

die Grenzen. Lass dort Verwandlung geschehen, wo sie sich

entwickeln will, und geh als Verwandelte/r in die Welt.

Vielleicht kann diese Heilungsgeschichte Ihnen in dieser Zeit

zum persönlichen Begleiter werden und dabei helfen, sich los-

zulösen von der Strömung eines kollektiven Pessimismus und

einer Mentalität des Jammerns, die das Land und die Region

immer wieder mal durchstreift. Sie kann befreien von blinden

Flecken, von ausbrennender Selbstüberschätzung und einem

lähmendem Mangel an Selbstbewusstsein. Und sie kann die

Augen und das Herz öffnen:

Dafür, wo die eigene Lebensgeschichte noch auf Versöh-

nung wartet - wo Menschen auf Zuwendung warten – wo

man selbst Dinge gestalten und verändern kann – wo Neues

entgegenkommt - wo man als Christ Lebensfreude spüren und

weiterschenken kann.

Wo du stehst, ist heiliger Boden.

Wenn Sie durch die Kulturhauptstadt 20�0 gehen, stärken Sie

sich und die, denen Sie begegnen, mir dieser Botschaft!

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Nicht müde werden

Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.

Hilde Domin, Nicht müde werden.

Aus: dies. Gesammelte Gedichte

© S. Fischer Verlag GmbH,

Frankfurt am Main 1987

Erde in die Hand nehmen und sie durch die Finger rieseln

lassen.

Etwas einpflanzen – in einem Blumentopf oder im Garten.

Sich bei einem Spaziergang durch die Natur in Erinnerung

rufen, wann man Wandel und Veränderung im eigenen Leben

gespürt hat.

Eigene Lebensbereiche anschauen, in denen Veränderung

jetzt gut täte. Mit Gelassenheit und Zuversicht das anschau-

en, was man gerne an sich selbst verwandelt hätte.

In den nächsten Tagen eine unangenehme oder lästige

Aufgabe mit Liebe und Aufmerksamkeit erledigen.

Gott, unser Vater,

du Schöpfer des Himmels und der Erde,

wir loben dich und wir preisen dich.

Groß bist du in allem,

was durch deine Güte und Kraft

an Gutem und Schönem

hier bei uns im Ruhrgebiet

entstanden und gewachsen ist.

Unter dem Wirken deines Geistes

hat der christliche Glaube

tiefe Spuren in der Kultur

unserer Städte und unseres Landes

hinterlassen.

Bewege die Künstler unserer Tage,

in der Sprache von Farbe und Form,

von Musik und Tanz, von Theater und Spiel,

von Skulptur und Architektur

Zeugen des Lebens und Propheten der Zukunft zu sein.

Gebet im Jahr der Kulturhauptstadt 2010

Halte deine schützende Hand

über die vielen Vorhaben der RUHR 20�0

mit ihren Besuchern von nah und fern,

mit ihren Begegnungen mitten im Alltag

und mit ihren Festen und Feiern.

Öffne die Herzen, Gedanken und Hände

der Menschen hier und überall auf der Erde

zu einem gewaltfreien Miteinander

der Kulturen und Religionen,

der Rassen und Nationen.

Lass mittendrin die Botschaft des Evangeliums

lebendig werden und alle die Einladung

zur Versöhnung, zur Gerechtigkeit

und zur Bewahrung der Schöpfung annehmen.

Der Geist deiner Liebe und deines Friedens

bestimme unser Leben.

Amen

Gerd Belker

Schritte, den heiligen Boden

wahrzunehmen…

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Impressum

Herausgeber: Exerzitienreferat Bistum Essen, Dahler Höhe 29,

4�2�9 Essen, Telefon: (02 0�) 49 00 �22, Telefax: (02 0�) 49 00 ��9

E-Mail: [email protected], www.bistum-essen.de

Erarbeitet von Ingelore Engbrocks

Erstabdruck als Exerzitien im Alltag im: RUHRWORT. Zeitung für das Bistum Essen

Redaktionelle Bearbeitung: Dr. Magdalena Musial

Foto Seite 2: Wolfgang Völz, Gasometer Oberhausen GmbH

Foto Seite �, �2, �� : Privat

Foto Seite 2�: © Ray / fotolia.de