Wolfgang Beudels Gegen Gewalt ankämpfen: Ringen und …

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25 Vorwort Die sich rasant verändernde und immer komplexer werdende moderne Gesell- schaft stellt alle heutigen Kinder vor große Herausforderungen und scheint denjenigen Kindern Chancen auf eine gesunde seelische und körperliche Entwicklung zu nehmen, die sozial, emotional, finanziell benachteiligt sind. Einige dieser Kinder leiden dazu unter massiver Vernachlässigung, Verwahrlo- sung und machen schon früh chronische Gewalterfahrungen. Untersuchungen und Aussagen von Fachkräften aus der Praxis bestätigen, dass sich in den letzten Jahren das Verhalten von Kindern deutlich in Richtung Aggressivität und Gewalt entwickelt hat. D. h. auch Gewalt unter Kindern bzw. Gleichaltrigen hat unübersehbar zugenommen. Dies ist längst nicht mehr ein Phänomen, das nur im schulischen Rahmen auftritt, sondern auch im Kindergarten. Immer jüngere Kinder und offensichtlich nicht mehr nur die aus so genannten „high-risk- Familien“, sondern auch die aus unvoll- ständigen und Familien mit einem multikulturellen Hintergrund sowie aus „ganz normalen Verhältnissen“ versu- chen demnach zunehmend Konflikte gewaltsam zu lösen. Permanentes dissoziales, aggressives und gewalttätiges Verhalten und die Verinnerlichung einer dementspre- chenden Grundhaltung ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern in vielerlei Hinsicht ein gesamtgesell- schaftliches. Selbst Politiker, die meinen, mit einer Verschärfung des Strafrechts für jugendliche und junge erwachsene Straftäter schnelle und wirksame Abhilfe zu schaffen, verwei- sen dabei auf die Notwendigkeit und Bedeutung früher Hilfen und präven- tiver Maßnahmen. Eine unzureichende Finanzierung und sicherlich die Tatsache, dass sich (Langzeit-)Effekte nur schwer empirisch nachweisen lassen, sind nur zwei Gründe, warum bislang vorhandene und theoretisch gut fundierte gewaltpräventive Programme in Kindergarten und Schule kaum eingesetzt werden. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, welche Rolle „Ringen und Raufen“ als bewegungsorientiertes Angebot im Rahmen gewaltpräventiver Maßnahmen einnehmen kann. Dazu soll zunächst auf der Grundlage aktueller Prävalenzraten begründet werden, warum gerade frühe gewaltpräventive Initiativen notwendig und sinnvoll sind sowie nachhaltig wirken können. Darauf aufbauend wird das Handlungsfeld „Ringen und Raufen“ als ein Element der Bildung und Förderung im Kindergarten näher beschrieben und Zielsetzungen darauf- hin diskutiert, ob sie unter der Perspek- tive Gewaltprävention plausibel und realistisch sind. Dabei wird dieses Angebot nicht als eigenständiges „Anti- Gewalttraining“ verstanden, sondern als ein weitgefächertes Handlungsfeld, in dem v. a. (pro-)soziale Kompetenzen Wolfgang Beudels Gegen Gewalt ankämpfen: Ringen und Raufen als präventives Angebot im Kindergarten Zu den wichtigsten Zielsetzungen psychomotorischer Entwicklungsförderung gehören der Aufbau eines positiven Selbstkonzepts sowie die Entwicklung sozial- kompetenten Verhaltens. Kind- und altersgemäße Bewegungs- und Spielangebote können dabei insofern gewaltpräventiv wirken, da hier ein verantwortungsbewuss- tes, reflexives und selbstbestimmtes Verhalten in der Auseinandersetzung mit der personalen und dinglichen Umwelt gefordert und gefördert wird. „Ringen, Raufen, Miteinander-Kämpfen“ zeigt sich unter dieser Perspektive als ein besonders geeig- netes Thema psychomotorischer Bewegungserziehung im Elementarbereich. Schon im frühen Kindesalter wird die Bedeutung eines respektvollen und menschlichen Umgangs miteinander vermittelt und kann in zentralen Erfahrungsfeldern wie „Kooperation“, „Körperkontakt“, „Nähe und Distanz“, „Vertrauen“ unmittelbar erlebbar gemacht werden. Wolfgang Beudels Lehrer für Sport und Geschichte, unterrichtet an der FH-Koblenz „Bildungs- und Sozialmanagement mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit“. Er ist seit über 20 Jahren in der psychomotorischen Förderung von Kindern und Jugendlichen in der Praxis wie in der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften tätig. Veröffentli- chungen zu unterschiedlichen Arbeits- bereichen und Themenfeldern der bewegungsorientierten Entwicklungs- förderung. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Wolfgang Beudels FH Koblenz, RheinAhrCampus Remagen Südallee 2, 53424 Remagen E-Mail: [email protected]

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VorwortDie sich rasant verändernde und immer komplexer werdende moderne Gesell-schaft stellt alle heutigen Kinder vor große Herausforderungen und scheint denjenigen Kindern Chancen auf eine gesunde seelische und körperliche Entwicklung zu nehmen, die sozial, emotional, finanziell benachteiligt sind. Einige dieser Kinder leiden dazu unter massiver Vernachlässigung, Verwahrlo-sung und machen schon früh chronische Gewalterfahrungen. Untersuchungen und Aussagen von Fachkräften aus der Praxis bestätigen, dass sich in den letzten Jahren das Verhalten von Kindern deutlich in Richtung Aggressivität und Gewalt entwickelt hat. D. h. auch Gewalt unter Kindern bzw. Gleichaltrigen hat unübersehbar zugenommen. Dies ist längst nicht mehr ein Phänomen, das nur im schulischen Rahmen auftritt, sondern auch im Kindergarten. Immer jüngere Kinder und offensichtlich nicht mehr nur die aus so genannten „high-risk-Familien“, sondern auch die aus unvoll-ständigen und Familien mit einem multikulturellen Hintergrund sowie aus „ganz normalen Verhältnissen“ versu-chen demnach zunehmend Konflikte gewaltsam zu lösen.

Permanentes dissoziales, aggressives und gewalttätiges Verhalten und die Verinnerlichung einer dementspre-chenden Grundhaltung ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern in vielerlei Hinsicht ein gesamtgesell-schaftliches. Selbst Politiker, die meinen, mit einer Verschärfung des Strafrechts für jugendliche und junge erwachsene Straftäter schnelle und wirksame Abhilfe zu schaffen, verwei-sen dabei auf die Notwendigkeit und Bedeutung früher Hilfen und präven-tiver Maßnahmen. Eine unzureichende Finanzierung und sicherlich die Tatsache, dass sich (Langzeit-)Effekte nur schwer empirisch nachweisen lassen, sind nur zwei Gründe, warum bislang vorhandene und theoretisch gut fundierte gewaltpräventive Programme in Kindergarten und Schule kaum eingesetzt werden.Dieser Beitrag möchte aufzeigen, welche Rolle „Ringen und Raufen“ als bewegungsorientiertes Angebot im Rahmen gewaltpräventiver Maßnahmen einnehmen kann. Dazu soll zunächst auf der Grundlage aktueller Prävalenzraten begründet werden, warum gerade frühe gewaltpräventive Initiativen notwendig und sinnvoll sind sowie nachhaltig

wirken können. Darauf aufbauend wird das Handlungsfeld „Ringen und Raufen“ als ein Element der Bildung und Förderung im Kindergarten näher beschrieben und Zielsetzungen darauf-hin diskutiert, ob sie unter der Perspek-tive Gewaltprävention plausibel und realistisch sind. Dabei wird dieses Angebot nicht als eigenständiges „Anti-Gewalttraining“ verstanden, sondern als ein weitgefächertes Handlungsfeld, in dem v. a. (pro-)soziale Kompetenzen

Wolfgang Beudels

Gegen Gewalt ankämpfen: Ringen und Raufen als präventives Angebot im Kindergarten

Zu den wichtigsten Zielsetzungen psychomotorischer Entwicklungsförderung gehören der Aufbau eines positiven Selbstkonzepts sowie die Entwicklung sozial-kompetenten Verhaltens. Kind- und altersgemäße Bewegungs- und Spielangebote können dabei insofern gewaltpräventiv wirken, da hier ein verantwortungsbewuss-tes, reflexives und selbstbestimmtes Verhalten in der Auseinandersetzung mit der personalen und dinglichen Umwelt gefordert und gefördert wird. „Ringen, Raufen, Miteinander-Kämpfen“ zeigt sich unter dieser Perspektive als ein besonders geeig-netes Thema psychomotorischer Bewegungserziehung im Elementarbereich. Schon im frühen Kindesalter wird die Bedeutung eines respektvollen und menschlichen Umgangs miteinander vermittelt und kann in zentralen Erfahrungsfeldern wie „Kooperation“, „Körperkontakt“, „Nähe und Distanz“, „Vertrauen“ unmittelbar erlebbar gemacht werden.

Wolfgang BeudelsLehrer für Sport und Geschichte, unterrichtet an der FH-Koblenz „Bildungs- und Sozialmanagement mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit“. Er ist seit über 20 Jahren in der psychomotorischen Förderung von Kindern und Jugendlichen in der Praxis wie in der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften tätig. Veröffentli-chungen zu unterschiedlichen Arbeits-bereichen und Themenfeldern der bewegungsorientierten Entwicklungs-förderung.

Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. Wolfgang BeudelsFH Koblenz, RheinAhrCampus RemagenSüdallee 2, 53424 RemagenE-Mail: [email protected]

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aufgebaut und eingeübt werden können. Grundlegende methodische und didaktische Hinweise, versehen mit Beispielen aus der Praxis sollen die Umsetzung erleichtern.

Abgrenzung und Prävalenz aggressiven und gewaltbereiten Verhaltens im Kindergarten

Der Eintritt in den Kindergarten ist eine Entwicklungsaufgabe, deren Gelingen hohe Anforderungen an das Kind stellt und bestimmte Kompetenzen voraus-setzt. Aggressives Verhalten im posi-tiven wie im wörtlichen Sinne (von lat. „aggredere = an etwas herangehen“) ist dabei durchaus hilfreich und erforder-lich, um sich in der noch fremden Umgebung zurecht zu finden, selbsttä-tig und selbstbewusst neue soziale Beziehungen zu knüpfen und sich in eine Gruppe einzuordnen, ohne gänzlich auf eigene Wünsche und Bedürfnisse zu verzichten. Dies ist ein gesundes und natürliches Verhalten, solange andere Menschen bzw. Kinder dabei nicht zu Schaden kommen bzw. die Grenze zur Destruktivität nicht überschritten wird und Wünsche wie Bedürfnisse anderer akzeptiert werden.Während der Kindergartenzeit, in der sich Kinder körperlich, kognitiv, sprachlich und sozial rasant entwickeln, ergeben sich weitere Aufgaben, deren Bewältigung nur durch eine angemes-sene Verhaltens- und Gefühlsregulation möglich ist. Dies geschieht natürlicher-weise mit Auseinandersetzungen, Unruhe und Konflikten wie in jedem System, in dem Menschen zusammen-leben, und gehört zum Alltag des Kindergartens. Rangeleien und körper-liches Kräftemessen, zeitweiliges Verweigern, bestimmten Aufgaben und Pflichten nachzukommen, sind weder Kennzeichen von Gewaltbereitschaft oder einer aggressiven Verhaltensstö-rung noch behandlungsbedürftig. Bei Kindern mit spezifischen Risikofak-toren (dazu zählen u. a. Impulsivität, auffälliges Sozialverhalten, verzögerte Sprachentwicklung und ein schwieriges familiäres Umfeld) sind Gefahr und Wahrscheinlichkeit größer als bei anderen, soziale Konflikte auf gewalt-same Weise zu lösen. Es geht vor allem um die „Fähigkeit, mit den eigenen Emotionen und den Emotionen anderer

erfolgreich umzugehen und sich Konfliktlösungen zu überlegen, die langfristig zu zufrieden stellenden sozialen Beziehungen beitragen“ (Koglin/Petermann 2006, 2). Aggressives und gewalttätiges (Lösungs-)Verhalten zeigt sich dabei nicht nur in körper-lichen Attacken (wie schlagen, treten, kneifen usw.), sondern auch in sozialer Ausgrenzung, Hänseleien oder verbalen Angriffen (wie drohen, beleidigen, verspotten usw.). Es handelt sich um ein zielgerichtetes, physisches, psychisches, soziales bzw. materiell schädigendes Handeln. Die ICD-10 definiert dies als „Störung des Sozialverhaltens“ und beschreibt es als anhaltendes Muster oppositionellen oder aggressiven Verhaltens, das über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten anhält und die Grundrechte anderer oder wichtige altersentsprechende Normen oder Gesetze verletzt. Nach Scheithauer/Petermann (2002, 188 f.) kann dabei unterschieden werden zwischen „offen-aggressivem“ und „verdeckt-hinterhäl-tigem Verhalten“, wobei typische geschlechts- und alterspezifische Ausprägungen erkennbar sind. Beachtet werden sollte jedoch, „dass Gewalt in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen objektiv wie subjektiv sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Was aus der Sicht der Erwachsenen als nicht hinnehmbare Gewalttat aussieht, mag aus der Perspektive der beteiligten Kinder oder Jugendlichen eine normale bzw. akzeptable Form des körperbetonten Ausraufens von Statuspositionen und des Austestens von Grenzen der Fairness oder schlicht als Ausagieren von Lebendigkeit erlebt werden. Derartige Unterschiede der Bedeu-tungszuschreibung von Gewalt sind nicht nur eine Frage des Alters, sondern – wie zahlreiche Studien belegen – in besonderem Maße Ausdruck hetero-gener kultureller Milieus (…). Deshalb gilt insbesondere im Kindes- und Jugendalter, dass es zwar gesell-schaftlich anerkannte legitime und illegitime Formen der Gewalt gibt; diese Grenzen sind jedoch nicht nur fließend, sondern sie müssen von Kindern und Jugendlichen erst erfahren und gelernt werden“ (Lüders/Holthusen 2007, 2 f.).Es liegen bislang nur wenige gesicherte Erkenntnisse darüber vor, wie viele Kinder schon vor dem Eintritt in die

Schule aggressive Verhaltensstörungen und/oder permanentes gewaltbereites Verhalten bzw. Störungen des Sozial-verhaltens zeigen. Dies liegt an mehreren Faktoren. Zunächst einmal zeigt sich ein äußerst heterogenes Bild gewaltbereiten und aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter. Zudem sind Gewalt und Aggression im Kindergarten als Gegenstände empi-rischer Forschung erst in den letzten Jahren in Erscheinung getreten. Die Ergebnisse entsprechender Langzeitstu-dien sind noch nicht komplett und die vorliegenden schwer zu interpretieren. Scheithauer/Petermann (2002, 191) verweisen auf die insgesamt hohe Varianz der Untersuchungen. Die Prävalenzraten liegen z. B. bei „Störungen des Sozialverhaltens“ zwi- schen 0,4 und 8,7% und bei „Störungen mit Oppositionellem Trotzverhalten“ zwischen 0,7 und 8,6%. Neben so genannten „Informanteneffekten“ (differierende Angaben von Eltern, Kindern, Lehrern) führen auch metho-dische Unterschiede zu erheblichen Schwankungen der Auftretensrate. Wei-terhin sind Rückschlüsse aus bisher vorliegenden Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung auf die Verhält-nisse bzw. Entstehungsbedingungen in der Altersgruppe „Kinder unter sechs Jahren“ nur bedingt möglich. Einige Daten belegen dennoch die Dringlichkeit dieses Problems. So klagten in der so genannten „Erlangen-Nürnberger-Studie“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004) 56% der Mütter von 675 Kindern über Verhaltensprobleme und Erziehungsschwierigkeiten. In 13–17% der Fälle erreichten diese ein Ausmaß, das als kritisch einzuschätzen ist. Vor allem stabilisiert sich aggressives und hyperaktives Verhalten. Zwischen 5-8% der Kinder verblieben demnach im Risikobereich, was auf längerfristige Schwierigkeiten im Sozialverhalten hindeutet.Nach Lavigne et al. (1996, zit. n. Koglin/Petermann 2006, 10 f.) zeigen rund 20% der Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren Verhaltensauffällig-keiten, 9% sogar schwer wiegende. Die am häufigsten diagnostizierte Auffällig-keit war mit 16,8% die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten.Ohne Zweifel ist ein zunehmendes Klima von Gewaltbereitschaft und

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Aggression erkennbar. Dennoch ist vor Hysterie und Aktionismus zu warnen: Trotz aller Widrigkeiten, Entwicklungs-gefahren und unkindgemäßen Bedin-gungen werden die meisten Kinder eben nicht zu Gewalttätern. Sie entwickeln sich „normal“, obwohl sie vielleicht Stunden am PC verbringen, im Kinder-garten oder in der Schule (mal) gehänselt werden, aus unvollständigen Familien oder Familien stammen, in denen Streit häufig auf der Tages-ordnung steht.

Der Kindergarten als Ort der Prävention und Förderung

Unter Prävention im weitesten Sinne fallen alle Maßnahmen, die das Auftre-ten von Störungen und Krankheiten unwahrscheinlicher machen oder im besten Fall sogar verhindern. Vorausset-zung für ihren Einsatz ist eine theore-tische Begründung der vermuteten Wirksamkeit bezogen auf das jeweilige Alter bzw. die Entwicklungsphase sowie wie empirisch abgesicherte Kenntnisse über störungsauslösende und -erhalten-de, reduzierende und verhindernde Faktoren. Gewaltprävention steht dabei unter dem Dilemma, dass Gewaltfreiheit und die Ächtung von Gewalt allgemein gültige Ziele sind, dass sie jedoch im Kindes- und Jugendalter in ihren unterschiedlichen Formen immer auch als ein Phänomen aller bekannten Gesellschaften auftritt. „Zur Debatte steht deshalb nicht die Frage, ob es überhaupt Gewalt im Kindes- und Jugendalter gibt bzw. geben sollte, sondern wie mit ihr umgegangen wird und wie sie reduziert werden kann. Vor diesem Hintergrund kommt es aus unserer Sicht darauf an, Gewalthandeln im Kindes- und Jugendalter angemessen zu begegnen, d. h. unter Berücksichti-gung der von den Kindern und Jugend-lichen typischerweise zu leistenden Entwicklungsaufgaben“ (Lüders/Holthusen 2007, 10). Ebenso ist unstrit-tig, dass Förderung und Prävention umso wirksamer und dauerhafter sind, je früher sie einsetzen. Kinder im Kinder-garten befinden sich in einer Entwick-lungsphase, in der die innerpsychischen Strukturen noch nicht gefestigt sind, was freilich neben großen Chancen auch große Gefahren birgt. Hier hat der Elementarbereich im Übrigen aufgrund

der weitgehenden Selbstständigkeit weit mehr Gestaltungsspielräume als die Schule, die vorhandenen Bildungspläne individuell im Sinne einer Stärkung der Persönlichkeit und der Vermittlung von Sozialkompetenz umzusetzen (vgl. Zimmer 2007, 10). Die Verankerung spezifischer gewalt-präventiver Programme in der Instituti-on Kindergarten macht aber auch aus anderen Gründen Sinn. Die Maßnahmen können „unauffällig“ in den Alltag des Kindergartens eingebunden und in die Gruppensituation integriert werden. Den Erzieherinnen werden keine strengen zeitlichen Vorgaben gemacht und, da sie mit allen Kindern durchge-führt werden bzw. für alle Kinder geeignet sind, kann Stigmatisierung und Etikettierung weitgehend vermie-den werden. Feste bekannte und sichere Bindungen sind darüber hinaus zentrale Wirkfaktoren. Die in der letzten Zeit „inflationäre Erweiterung des Verständnisses von Kriminal- und Gewaltprävention“, die so fast jede Sport- und Freizeitveran-staltung zu einem gewaltpräventiven Angebot deklarieren kann (vgl. Lüders/Holthusen 2007, 3), macht es notwen-dig, Programme und Maßnahmen, die im Sinne eines engen Präventionsbe-griffes vorrangig auf die Verhinderung oder Reduktion von Gewalt hinarbeiten, von denen zu unterscheiden, die dies eher auf indirektem Weg und neben anderen Aspekten versuchen. Erstere müssen plausibel belegen, bei welcher Gefährdungslage und unter welchen Kontextbedingungen die jeweiligen Arbeitsschritte und Inhalte im Sinne einer Gewaltprävention geeignet sind. Für den Elementarbereich liegen bislang einige z. T. empirisch begleitete Programme1 vor, die nicht nur nach einer gründlichen Schulung der Erziehe-rinnen direkt bei den Kindern ansetzen, sondern auch die Eltern bzw. Familien einbeziehen. In die andere Kategorie fallen unspezifische, allgemein und wesentlich weiter ausgerichtete Angebote mit Zielen wie „die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Entwicklung sozialer Kompetenzen, die Förderung

individueller Schutzfaktoren, die Eröffnung von Lebenschancen und den Abbau von allgemeinen Belastungs- und Risikofaktoren und –strukturen“ (ebd.). Diese wirken „– wie auch immer jeweils motiviert, also z. B. familien-, bildungs-, sozial-, arbeitsmarktpolitisch, pädagogisch oder integrativ – im günstigen Fall auch (Herv. d. Verf.) gewaltpräventiv“ (Lüders/Holthusen (2007, 3 f.). So hat in der Tat Sprachför-derung im Kindergarten dergestalt gewaltpräventive Effekte, indem über Verbesserungen kommunikativer Kompetenzen Konflikte früher und angemessener geregelt werden, kann jedoch auch für andere Ziele in Anspruch genommen werden. Gleiches gilt für eine Reihe anderer Maßnahmen, zu denen auch die „Psychomotorische Entwicklungsförderung“ gezählt werden kann.

Ringen und Raufen als Bildungsinhalt und präventives Förderangebot

EinordnungIn den länderspezifischen Orientie-rungs- und Bildungsplänen für den Elementarbereich finden sich unter dem übergeordneten Auftrag „Entfaltung der Persönlichkeit“ zahlreiche konkretere Ziele, die für die gesunde geistige, körperliche, soziale und emotionale Entwicklung aller Kinder sorgen sollen. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um eher „klassische Bildungsziele“ (wie der Erwerb sprachlicher, mathema-tischer, motorischer und naturwissen-schaftlicher Grundkenntnisse und Kompetenzen), während auf der anderen Seite Ziele im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung im Allge-meinen formuliert werden (z. B. Aufbau eines positiven Selbstbewusstseins, Entwicklung von Eigenständigkeit und Autonomie, emotionale Stabilität und sozial kompetentes Verhalten). Darüber hinaus soll Erziehung und Förderung im Kindergarten ausgleichend bei individu-eller und sozialer Benachteiligung wirken und zum Abbau von Verhaltens-problemen beitragen. Bei der Realisierung dieser Zielset-zungen wird im Kindergarten seit langem der „Psychomotorik“ als in den Alltag integriertes Prinzip und/oder als zugrunde liegendes Konzept der

1 Beispiele: Ich kann Probleme lösen (IKPL; Beelmann/Jaursch/Lösel 2004)/Faustlos (Cierpka/Schick 2004)/Verhaltenstraining im Kindergarten (Koglin/Petermann 2006)/Papilio (beta Institut 2003)

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elementaren Bewegungsziehung zugetraut, umfangreiche Hilfestellung zu leisten. Die Wirksamkeitshoffnungen richten sich dabei u. a. auf positive Zusammenhänge zwischen Bewegen und Lernen sowie motorischem Kompetenzerleben und Stabilisierung der Persönlichkeit über erfolgreiche Bewegungshandlungen. Dass die (psychomotorische) Praxis ein sehr uneinheitliches Bild zeigt, sich an unterschiedlichen theoretischen Bezugspunkten orientiert, mehr oder weniger strukturiert und reflektiert gestaltet wird, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden (vgl. Zimmer 2007). Von Beginn an wurde sie jedoch auch als ein Angebot verstan-den, das über bewegungsbezogene Erfahrungen in der Gruppe sozial unangemessenem, aggressivem und gewaltbereitem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen begegnen will, allerdings meist nicht als spezielles „Anti-Gewaltprogramm“ oder verhal-tenstherapeutische Intervention, sondern als ein Förderbereich neben anderen im Rahmen eines spielerischen und bewegten Geschehens.

Begriffsbestimmung„Ringen und Raufen“ ist keine (Kampf-) Sportart, sondern ein eigenständiges, hochmotivierendes, aktivierendes und zugleich entspannendes wie sozialisie-rendes Handlungsfeld, in dem an frühe kindliche Formen der spielerisch vollzogenen körperlichen Begegnung und Auseinandersetzung angeknüpft wird. Im oftmals engen Körperkontakt entstehen Situationen, in denen Jungen und Mädchen gemeinsame Grenzerfahrungen machen, Vertrauen in sich selbst und in andere aufbauen und festigen können und die zum gegenseitigen Respekt sowie zur Sicherheit und Kontinuität von

Beziehungen beitragen. Das wechsel-volle Geschehen von körperlichem und seelischem „Berührt-Werden“, welches nicht zwingend resultatsbezogen ist, bietet Raum für spielerisches, experi-mentierendes sowie exploratives Handeln, das weitgehend unabhängig vom Alter und Geschlecht und auch vom motorischem Leistungsvermögen ist. Unverzichtbare Voraussetzung für das Tun und das freudvolle Erleben sind das Einhalten von Regeln, der gegenseitige Respekt sowie Sensibilität und Verantwortungsgefühl im Umgang mit dem Partner bzw. der Partnerin.Ringen und Raufen wird hier als ein (mögliches) Element einer psychomoto-risch orientierten Bewegungserziehung im Kindergarten verstanden, das nicht auf ein eigenständiges Programm zur Gewaltprävention reduziert oder als ein solches instrumentalisiert werden darf. Was diesen Bereich jedoch noch näher an die Gewaltprävention heranrücken lässt als die Psychomotorik insgesamt und als geeignetes Anwendungs- und Erfahrungsfeld zur Stärkung der kindlichen Persönlichkeit und zum Einüben bzw. Festigen sozialverträg-licher Umgangsweisen auszeichnet, sind spezifische Themen und Inhalte, die die Bedeutung eines menschlichen Miteinanders unmittelbar erleb- und erfahrbar werden lassen. Dazu gehören u.a.:

Es wird schnell deutlich, dass damit nicht der (sicherlich sinnvolle) „Boxsack zum Austoben“ gemeint ist und schon gar nicht ein Ringen und Raufen als Selbstverteidigungskurs für Gewalt- und Mobbingopfer, das als Veranstal-tung ohnehin im Kindergarten nichts zu suchen hätte (vgl. Funke-Wienecke 1994). Ebenso ist es auch abzulehnen, Kindern einen Kampf als Lösungsmög-lichkeit für einen Konflikt anzubieten, da hier körperliche Über-/Unterlegen-heit für Rechthaben/Unrechthaben ausschlaggebend sind, selbst wenn nach strengen Regeln und in diesem Sinne fair vorgegangen wird.

Ringen und Raufen unter der Perspektive der GewaltpräventionZielsetzungen

Zahlreiche Bewegungsformen im Ringen und Raufen (wie Rollen, Wälzen, Krabbeln, Drehen) und die vielfältigen Bewegungssituationen bzw. –aufgaben, die schon in einfachen Partnerübungen und kleinen Kämpfchen den Körper vestibulär, propriozeptiv und taktil fordern und fördern, entwickeln nicht

Interessanterweise finden sich in den aktuellen Programmen zur Gewaltprävention zahlreiche „originäre“ psychomotorische Inhalte (z. B. Übungen und Spiele zur Selbst- und Fremdwahrneh-mung, Pantomime, Entspannungs- und Konzentrationsübungen sowie Aufgaben, die ein hohes Maß an Kooperation verlangen).

• jemandem unter- oder überlegen sein

• jemandem nahe oder zu nahe sein, sich annähern

• etwas in Angriff nehmen, Angreifen, sich behaupten

• Grenzen erkennen, anerkennen, ziehen, verschieben, mit Grenz-verletzungen umgehen

• etwas wagen, begründen und verantworten

• den Körper nutzen und einsetzen, um etwas durchzusetzen

• sich selbst und andere im Griff haben

• Regeln aushandeln, verbindlich machen, einhalten, überprüfen, gemeinsam verändern

• um eine Position kämpfen, eine Position einnehmen

• Halt geben und Halt finden• sich mit fairen Mitteln verteidi-

gen, sich befreien

Ringen und Raufen kann unter einer allgemeinen gewaltpräventiven Perspektive Kinder dabei unterstüt-zen• den eigenen Körper und sich

selbst zu „beherrschen“,• sich selbst und andere in seinen

bzw. ihren Stärken und Schwä-chen wahrzunehmen und zu akzeptieren,

• sich selbst und anderen – auch in kritischen Situationen zu vertrauen und

• Verhaltensweisen zu erlernen, Werte zu übernehmen, die einen menschlichen wie respektvollen Umgang miteinander wahr-scheinlicher machen.

• aufgeben können, Niederlagen verwinden

• tragen, ertragen, getragen werden

• von jemandem/etwas berührt werden

• aus dem Gleichgewicht geraten und dieses wieder finden.

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nur die motorischen Basiskompetenzen isoliert voneinander (Kraft, Schnellig-keit, Ausdauer, Koordination, Gleich-gewicht…), sondern erweitern das gesamte Bewegungsrepertoire. Außer-dem können spezifische Techniken erlernt werden (Rollen, Fallen, Hal-ten…), mit deren Hilfe die (eigene) Bewegung besser kontrolliert und sicherer werden kann. Dies kommt v. a. den Kindern entgegen, denen ein Übermaß an „Bewegungshunger“ zu Eigen ist, die impulsives und wenig aufmerksames Verhalten zeigen.Sich selbst wahrnehmen, als „reflexive Wendung auf die eigene Person“, und wahrnehmen von anderen, als ein Vorgang, der sich auf das soziale Geschehen, den gegenseitigen Umgang miteinander sowie auf die Interpretati-on des (gemeinsam) Erlebten und Wahrgenommenen bezieht (vgl. Funke 1983), sind gerade beim Ringen und Raufen eng miteinander verwoben. In einem Kampf treffen immer mindestens zwei Partner aufeinander und dies ist insofern jeder Zeit ein sozialer Vorgang. Ein Kampf führt aufgrund des heftigen, oft großflächigen Körper- und Haut-kontaktes zu Wahrnehmungen und Erlebnissen, die mit allen Persönlich-keitsbereichen verbunden und in mehrfacher Hinsicht grenzwertig sind. Nur wenn Grenzen wirklich gelten (etwas wert sind), wenn Grenzverlet-zungen und Umgangsformen damit (schon im Vorfeld) thematisiert werden, entsteht die Sicherheit, die für ein freudvolles Miteinander-Gegeneinan-der-Kämpfen notwendig ist. Partnerschaftlichkeit, Fairness, Höflich-keit und Respekt sind Ziele und gleichzeitig Voraussetzungen, um freudvoll (und u. U. heftig) miteinander zu kämpfen. Diese Werte sind unver-zichtbar zum Aufbau und zur Festigung positiver Beziehungen. Und deren Übernahme bedeutet eine klare Ablehnung von Gewalt. Gelingender Umgang miteinander zeigt sich noch während des Kämpfens darin, dass die Partner trotz des Siegeswillens respekt- und rücksichtvoll miteinander umgehen. Dazu gehört es, sofort auf verabredete Zeichen oder entsprechende Aufforde-rungen zum Aufgeben bzw. Abbrechen des Kampfes, möglichst aber auch schon auf erste Signale des Unwohl-seins, zu reagieren. Nach dem Ende des Kampfes darf in keiner Weise das

Prinzip der „Partnerschaftlichkeit“ zur Disposition stehen. Respekt bedeutet auch, den Sieg nicht zu Ungunsten bzw. zur Schmähung des Partners auszukos-ten.

Methodische HinweiseEine spezielle Methodik des Ringens und Raufens gibt es nicht. Gerade im Kindergarten geht es nicht um das Erlernen von Kampf- oder sportartspe-zifischen Techniken mit Hilfe von Übungsreihen und Bewegungsanwei-sungen, sondern darum, dass Kinder sich dieses Bewegungsfeld möglichst selbständig und selbstverantwortlich erschließen. Es empfiehlt sich, eine Angebotsstruktur zu schaffen, die zunächst die allgemeinen Bewegungs-bedürfnisse der Kinder berücksichtigt und sodann über primär kooperative Spiele und Übungen ohne und mit Körperkontakt das Thema zum Kämpfen hin allmählich entwickelt. Von zentraler Bedeutung sind allerdings bestimmte Strukturen und Rahmenbedingungen, für deren Aufbau und Einhaltung der Erwachsene Sorge tragen muss.

• Es gelten einige wenige, aller-dings unverzichtbare und nicht außer Kraft zu setzende Regeln. Freiwilligkeit ist dabei oberstes Prinzip. Jedes Kind muss für sich entscheiden, ob es sich auf das Geschehen einlässt oder nicht. Auch das zeitweilige Herausge-hen aus der Situation wird fraglos eingeräumt.

• Die Regel, die als umfassendste den Umgang miteinander und das Kampfgeschehen bestimmt, lautet: „Es ist alles verboten, was weh tut!“ (positiv formuliert: „Es ist alles erlaubt, was nicht weh tut!“). Dieses „Nicht-Wehtun“ bezieht sich dabei sowohl ausdrücklich auf die eigene wie auf die Person des Gegenübers. Die Bezeichnung „Gegner“ wird dabei vermieden. Gekämpft wird „mit einem Partner“, dem Respekt und Höflichkeit entgegen-gebracht werden soll.

• Eine weitere wichtige Regel besagt, dass jede(r) jederzeit das Recht hat, einen Kampf bzw. eine Übung abzubrechen, aus welchen

Gründen auch immer. Dies kann über verbale Äußerungen und/oder bestimmte Zeichen – wie „Abklopfen“ – erfolgen.

• Bestimmte Rituale (z. T. entnom-men aus dem Regelwerk der Kampfsportarten) erleichtern die Durchführung und geben gerade jüngeren Kindern Sicherheit und Orientierung. Dazu gehören u.a. Konzentrationsphasen zu Beginn und Ende der Stunde sowie ein Begrüßen und ein Abgrüßen des Partners vor dem Beginn bzw. nach Ende eines Kampfes.

• Auf weitere methodische Hinweise, die sich auf die äußeren bzw. materiellen Rahmenbedingungen beziehen, wird an dieser Stelle nur kurz verwiesen.

• Wichtig ist ein geeigneter Untergrund. Viele Übungen und Spiele lassen sich auf dem normalen Hallenboden durch-führen. Zum eigentlichen Kämpfen können alle verfüg- baren Matten (Weichböden, Turnmatten, Judomatten) eingesetzt werden, solange sie nicht wegrutschen. Ideal sind die mit glatten Oberflächen versehenen Judomatten, da sie weder zu hart noch zu weich und gut transportier- bar sind.

• Die übliche Sportkleidung ist zu dünn und nicht reißfest. Hier können Griffe nur direkt am Körper ansetzen. Durch eine stabile Jacke (oder ein altes Sweatshirt), kann diese selbst als direktes „Angriffsobjekt“ für Griffe mit einbezogen werden. Ein Judogürtel steigert die Vielfalt der Angriffs-, Halte- und Ausweichmöglichkeiten. Eine lange Hose ist gerade für Aktivitäten im Knien oder Robben auf den Matten zur Schonung der Knie sinnvoll.

• Schmuck sowie Armbanduhren sollten selbstverständlich abgelegt werden, ebenso Haarspangen etc., da sie die freie Bewegungsmöglichkeit zum Teil erheblich einschränken und zu unangenehmen Verletzungen führen können.

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Praktische Umsetzung

Die im Folgenden näher beschriebenen und mit Praxisbeispielen unterleg- ten Bausteine haben sich bei der Umsetzung für Kinder, die noch keine Erfahrungen mit dem Thema haben, in der angegebenen Abfolge bewährt (vgl. Beudels/Anders 2002).

Bewegungsfreude entwickeln, Bewegungshunger stillenSicherlich gibt es in jeder Gruppe ein Spannungsfeld zwischen Kindern, die sich ungern bewegen und sich nicht viel zutrauen, und Kindern, die einen großen „Bewegungshunger“ haben, der gestillt werden sollte. Geeignet dazu, Kinder in Bewegung zu bringen und gleichzeitig das Bewegungsbedürfnis „sozialver-träglich“ zu stillen, sind einfache Lauf- und Fangspiele, die keine großen Anforderungen an die motorische Leistungsfähigkeit stellen, schnell zu initiieren sind und weitgehend auf Wettbewerb verzichten. Hier können auch schon erste Aspekte von Kooperati-on und Vertrauen eingebunden werden.

• Beispiele

Körperkontakt aufnehmen und akzeptierenWährend in den meisten Sport- arten und –spielen, Körperkontakt als aggressive und/oder regelwidrige Handlung angesehen wird, ist dies im und für „Ringen und Raufen“ eine unabdingbare Voraussetzung. Kinder zur Aufnahme und Akzeptanz von Körperkontakt zu „erziehen“ verlangt ein besonders sensibles Vorgehen, das Vorbehalte und Ängste berücksichtigen muss.

• Beispiele

Schätzchen suchenDie Spieler laufen kreuz und quer durcheinander. Während des Laufens sucht sich jeder einen anderen Spieler („Schätzchen“) aus, ohne dass dieser etwas davon ahnt. Beim Ruf „Schätzchen suchen!“ geht es dann darum, den ausge-suchten Mitspieler möglichst schnell zu finden und dreimal zu umrunden. Wer es geschafft hat, zeigt auf. Damit sich nicht immer die gleichen Mitspieler finden, sollte die Regel gelten, dass man jeweils ein neues „Schätzchen“ umrunden muss.

Eiswürfelchen tauenJe nach Gruppengröße versuchen ein oder zwei Mitspieler, die anderen zu fangen. Wer von den Fängern berührt wurde, setzt sich im Schneidersitz auf den Boden („Eiswürfelchen“) und kann durch drei andere Mitspieler, die sich über das Eiswürfelchen an

Fangen und Erlösen (mit Körperkontakt)Ein Mitspieler ist Fänger und versucht, die anderen abzuschlagen. Wer abgeschlagen ist, bleibt stehen und kann erst wieder ins Spiel

r Abb. 1: Schätzchen suchen

den Händen festhalten und „tau-tau-tau!“ rufen, wieder erlöst werden.

r Abb. 2: Eiswürfelchen

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Vertrauen entwickeln und stabilisierenFehlt Selbstvertrauen und Vertrauen zu anderen, wird sich kein Kind ernsthaft

zurückkommen, wenn er durch einen anderen Mitspieler umarmt und/oder hochgehoben wird.

MenschenrüttelbankJeweils vier oder fünf Spieler knien sich Schulter an Schulter in Bank-stellung. Eine weitere Person legt sich vorsichtig mit dem Rücken auf diese ‚Bank’. Durch sanfte Bewe-gungen der unteren Spieler (vor-wärts-rückwärts; hoch-runter) wird die obere massiert bzw. sanft durchgerüttelt.

r Abb. 5: Puppenspieler

r Abb. 3: Fangen und Erlösen mit Körperkontakt

r Abb. 4: Menschenrüttelbank

auf das Thema „Rangeln und Raufen“ einlassen. Vertrauen bedeutet die Gewissheit, sich in neuartigen und kritischen Situationen auf den Partner und die Gruppe verlassen zu können. In dieser Phase gewinnt das Einhalten von Regeln und die Beachtung von Ritualen eine immer größere Be-deutung. Hier stehen dem Alter der Kinder entsprechend „riskante“ Bewegungsaufgaben im Vordergrund, deren Lösung bzw. Durchführung kooperatives Verhalten und eine angemessene Kommunikation verlangen.

PuppenspielerPartner A („Puppenspieler“) bewegt Partner B („Puppe“) durch den Raum. Die „Puppe“ soll sich möglichst steif machen und nur die Gelenke beugen bzw. strecken, die der „Puppenspieler“ bewegt. Es können auch zwei Puppenspieler eine Puppe bewegen.

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• Beispiele

Von kleinen Kämpfchen zum komplexen KampfgeschehenIn dieser Phase erleben und erfahren die Kinder erste kämpferische Ele-mente, i. d. R. zunächst in Partnerar-beit. „Raufspezifische Techniken“ (wie Abrollen, Fallen, Ziehen, Schieben usw.) werden erprobt und parallel die Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln und Ritualen vertieft. Allmäh-lich kann dann das vorher erworbene (Bewegungs-)Repertoire erweitert, verfeinert und durch taktische Kompe-tenzen ausgebaut werden. Sinnvoll ist auch, durch gemeinsame Überlegungen die Durchführung und Regeln zu variieren (z. B. statt „Eins gegen Eins“: „Zwei gegen Eins“, „Gruppe gegen Gruppe“ oder (z. B. „Zeit-“ statt „Punktekampf“).In komplexen Spielen und Wett- kämpfen schließlich können und sollen alle Facetten des Ringens, Rangelns und Raufens erlebt und genossen werden. Dass die Grundregeln auch und gerade hier ihre Gültigkeit behalten, ist selbstverständlich. Nun kann sich der eigentliche Charak-ter des Themas bzw. die „unbändige Kampfeslust“ entfalten. Dabei ist auf einen angemessenen Wechsel zwischen Aktionsphasen auf der einen und Ruhe-, Entspannungs- bzw. Reflexionsphasen auf der anderen Seite zu achten.

Blindes FührenPartner A führt Partner B, der die Augen geschlossen hat, mit Tempo- und Richtungswechsel durch den Raum. Der Führende hält den Geführten am Ober- und Unterarm fest. Ein Spieler mit verbundenen Augen kann auch durch eine Gasse (aus Kindern) geführt werden.

PendelZwischen zwei gegenüberste- henden Spielern steht ein dritter Mitspieler, der sich ganz steif macht und die Augen schließt. Dann wird er vorsichtig von den beiden anderen hin- und her-gependelt.

r Abb. 6: Blindes Führen

r Abb. 7: Pendel

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• Beispiele

Fazit

Nicht der konfliktfreie Kindergarten ist das Ziel gewaltpräventiver Maßnahmen, sondern die Vermittlung eines Verhal-tens bzw. einer Verhaltensdisposition, die einen sozial angemessenen Umgang miteinander ermöglicht. Gewaltpräven-tive Maßnahmen geben v. a. den Kindern Hilfestellung und Orientierung, bei denen eine Häufung von Risikofak-toren auf die Entwicklung aggressiven bzw. gewaltbereiten Verhaltens hindeutet. Erziehung und Förderung im

r Abb. 8: Rückenschieben

r Abb. 9: Ausweg suchen

r Abb. 10a: Dreifelderkampf r Abb. 10b: Dreifelderkampf

RückenschiebenZwei Kinder sitzen Rücken an Rücken auf dem Boden in der Mitte einer ungefähr vier bis sechs Meter breiten Gasse, die von zwei Ausli-nien markiert wird. Auf ein Startsig-nal hin wird versucht, den Partner über dessen Auslinie zu schieben.

Einen Ausweg suchenPartner „A“ fixiert Partner „B“ in Bauchlage am Boden entweder im „Schwitzkasten“ oder indem Partner „A“ im rechten Winkel auf seinem Bauch liegt und ihn mit seinem gesamten Gewicht belastet. Nach der Aufforderung: „Probiert mal aus, wie Ihr Euch befreien könnt“, hat der fixierte Partner 30sec Zeit, sich aus dieser Lage zu befreien.

Drei-Felder-KampfDie gesamte Mattenfläche wird in drei gleich große Felder eingeteilt. Alle Kinder befinden sich zu Beginn des Spiels im ersten (äußeren) Feld (1) und versuchen, so lange wie möglich in diesem Feld zu bleiben, aber gleichzeitig die anderen in das zweite (mittlere) Feld (2) zu drängen. Dabei ist das Anfassen an der Kleidung bzw. an den Schultern erlaubt. Diejenigen, die in das Feld zwei gedrängt worden sind, dürfen weitere Mitspieler aus Feld eins herausholen und in Feld (3) drängen. Gewonnen hat, wer bis zuletzt in Feld eins geblieben ist, zweite Sieger sind die, die sich in Feld 2 befinden. Es ist nur max. Kniestand erlaubt.

Gegen Gewalt ankämpfen: Ringen und Raufen als präventives Angebot im Kindergarten

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Kindergarten sollten jedoch insgesamt zur Konfliktfähigkeit und zur Verinnerli-ch einer Streitkultur, die trotz unter-schiedlicher Meinung den anderen respektiert, beitragen. Dazu gehört nicht nur, Kindern entsprechende Angebote zu machen, sondern sich der Vorbildfunktion als Erwachsener bewusst zu sein.Das Thema Ringen und Raufen setzt als ein eher unspezifisches Angebot an der Stärkung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes wie an der Vermittlung basaler Kompetenzen an und ergänzt bzw. unterstützt damit in geeigneter Weise spezifische gewaltpräventive Pro-gramme. Als weitgefächertes Erfah-rungsfeld können Kinder spielerisch den Umgang mit „Nähe und Distanz“ üben und eigene Grenzen entdecken. Die Erfahrungen tragen zum Aufbau eines positiven Selbstbildes bei und stabilisie-ren das Vertrauen in sich und andere. Gewalt? Nein Danke!

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