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Zach Weinersmith

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Zach Weinersmith

DANKSAGUNGEN

Danke an alle meine Leser – Ty Franck, Michael Johnson,Rosemary Mosco, Alex Roederer und Mark Saffian. Besonderen

Dank an Rosemary, Alex und Mark, die das Buch jeder vielzu oft gelesen haben. Ich habe wahrscheinlich einige Teile

gestrichen, die ihr geliebt habt, und einige Dinge hinzugefügt,die ihr hassen werdet, und dafür entschuldige ich mich.

Danke an mein Team, Michael Johnson und Amanda Rossi,dafür, dass ihr immer die Dinge tut, die mir nicht so liegen, sodass ich mich auf das konzentrieren konnte, was ich gut kann.

Danke an Kristyn Keene, deren Notizen einenHaupteinfluss auf die zweite Hälfte dieses Buches hatten.

Danke an George Rohac, der bei der Gestaltung diesesBuches half und den Autor bei geistiger Gesundheit hielt.

Danke an all die Unterstützer auf Kickstarter. Es erstauntmich immer wieder und weckt Demut in mir, wennich sehe, wie viele Leute mir regelmäßig beistehen.

Hoffentlich arbeite ich hart genug, um das auch zu verdienen.

Danke an meine Frau, Kelly Weinersmith, die von diesem Buchbegeistert war, seit sie die ersten paar tausend Worte gelesen hatte.

Und danke an den Herbst in Alabama, der mich auf diese Ideebrachte. Das gleicht den Sommer in Alabama fast wieder aus.

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Augie und der Grüne Ritter

Dies ist keine Copyright-Seite. Dies ist eine Creative-Commons-Seite.

Zach Weinersmith, (CC) 2015. Einige Rechte vorbehalten.

Attribution-Noncommercial 3.0 Unported http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/

Übersetzung gesetzt in Deutschland

Original hergestellt bei Shanghai Offset Printing Products LTD. Weinersmith, Zach.

Augie and the Green Knight. ISBN 978-0-9785016-9-3.

SMBC, LLC. www.smbc-comics.com

Co-Published with Breadpig, Inc

Titelbild und Illustrationen von Boulet.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alfe Berlin.

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Für Ada Marie

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Illustrationen von Boulet

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Kapitel 1»HAHAHAHAHA!«, war das Geräusch, das aus

Augies Mund kam.Die Lokalnachrichten hatten gerade erklärt, dass die

Schule aufgrund eines ungewöhnlich starken Schnee-sturms geschlossen bleiben würden. Augie rieb sichdie Hände und beobachtete die sich auftürmendenWolken. »Schnee, Schnee, Schnee«, beschwor sie,»auf dass ich meine Feinde nicht mehr seh.«

Die Chefs von Mama und Papa hatten deren Arbeitnicht ausgesetzt, weil heute ja nicht die Welt unterge-hen sollte, und jetzt war es zu spät, noch einen Baby-sitter zu organisieren. Es war zumindest zu spät, umeinen für Augie zu bekommen – für andere Kinder wä-re das vielleicht noch möglich gewesen.

Augies Vater hatte bereits alle Babysitter in derGegend angerufen, aber jeder hatte nein gesagt. Das

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konnte sein, weil es fünf Uhr morgens war, aber eskonnte auch am Klang von Augies Gackern und ih-ren Beschwörungen liegen, während ihr Vater erklär-te, was für ein guterzogenes Kind sie war. Wenn dieBabysitter nach dem irren Lachen im Hintergrundfragten, bestand ihr Vater darauf, dass es sich dabeium eine wahnsinnige Gans handele, die irgendwie insHaus gekommen sei. Aber weil eigentlich jeder weiß,dass Gänse niemals »JETZT GEHÖRT ES MIR! AL-LES MEINS! ENDLICH! AHAHAHAHAHAHA!«schreien, bekam er nur Absagen.

Beide Eltern von Augie hatten an diesem Tag wich-tige Präsentationen, die sie nicht verpassen durften.Präsentationen, falls ihr noch nie eine mitgemachthabt, sind wie Spoiler an Autos. Die meisten Men-schen sind ziemlich sicher, dass die für irgendetwasgut sind, können aber nicht so recht sagen, wofür ge-nau, und die Leute, die auf sie bestehen, sind ein biss-chen komisch. Augie wusste alles über Spoiler, aberwann immer sie über die Abtriebskräfte zu reden be-gann, beendeten Erwachsene die Unterhaltung, um siefür ihre Intelligenz zu loben, was sofort jedes Ge-spräch unmöglich machte.

»G-glaubst du …«, sagte ihre Mutter, und ihre Handkrallte sich unwillkürlich in ihre Bluse, »glaubst du,

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wir könnten Augie für ein paar Stunden allein zuhauselassen?«

»AHAHAHAHAHA!«, bemerkte Augie.Beide blickten sie an. Sie war ein sehr aufgewecktes

Kind, aber noch bedenklicher war, wie einfallsreichsie war. Papa räusperte sich, was anatomisch gesehendas ist, was Papas tun, um ihre Papastimme zu akti-vieren.

»Augie. Du bist ein gutes Mädchen«, sagte Papa.Das war mehr Hoffnung als Wahrheit. »Du bist neun-einhalb.«

»NEUN«, korrigierte sie. Sie hasste es, dass Er-wachsene nie zur nächsten natürlichen Zahl rundeten,wenn sie mit Kindern sprachen.

»Neun«, sagte Papa. Dann sprach er sehr langsamund ernst. »Deine Mutter und ich werden ein paarStunden lang weg sein, und wir müssen sicher sein,dass du keinen Unsinn anstellst. Wir werden die Türenabschließen, und du darfst nicht nach draußen gehen.Schaffst du das?«

»Ja«, sagte sie.»Machst du das auch?«, fragte Mama.

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»AHAHAHAHAHAHA!«, antwortete Augie.»Wir sollten ihren Schlitten mitnehmen«, sagte Pa-

pa.

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Kapitel 2Augie zog ihre Hand in den Ärmel ihres übergroßen

Pullis und wischte mit seiner Wolle über das Fensterneben der Vordertür. Durch das Guckloch, das sie indie beschlagene Scheibe gemacht hatte, beobachtetesie, wie sich der Buick durch den Schnee schob undum die Ecke bog, vorbei an dem Briefkasten.

Sobald Mama und Papa außer Sicht waren, rann-te Augie durch das Haus in ihr Zimmer. Es war einkleines Zimmer, das noch kleiner wurde durch ihre›Sammlung Wichtiger Dinge‹. Sie hatte zum Beispielvierzehn Bücher gepresster Blumen, auch wenn nochnicht ganz klar war, ob sie gepresste Blumen wegenihrer Schönheit oder wegen des Zerquetschens moch-

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te. Vielleicht war es beides, aber soweit ich weiß, gibtes kein Wort, das die Kombination vermitteln würde.1

Augie hatte auch eine kleine Familie von Renn-mäusen, denen sie beigebracht hatte, Räder zu dre-hen, die mit einer Steinchentrommel verbunden wa-ren, die Steine für ihr Mangrovenbachlingaquariumlieferte. Sie war ein großer Fan dieser Bachlinge, weilihre Nachkommen Klone sind, und eine Klonarmee zuhaben ist eine hervorragende Methode, um Mobber inder Schule abzuschrecken.2

Auf ihrem Bett war eine pelzige gelbe Decke mitgroßen, dunklen, auf der Oberseite aufgenähten Au-

1 Mögliche Worte wären Quetschlichkeit, Pressination undPrügeleganz.2 Mangrovenbachlinge sind genau genommen isogen, und dasauch nur unter bestimmten Bedingungen. Allerdings sind sichdie meisten Mobber des Unterschiedes nicht bewusst.

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gen, die wie die Io-Motte aussah.3 Die unechten Au-gen dienten dazu, allgemeine Schlafzimmergefahrenwie Bettenkobolde und Schrankbären abzuschrecken.

Sie schob die Gesamtausgabe von Geoffrey Chau-cer von ihrer Kommode, um einen besseren Blickdurch die Vorhänge ihres Fensters zu haben. Das hattesie schon so oft getan, dass inzwischen einige Seitenherausgerissen waren, was dazu führte, dass der Titeljetzt völlig falsch war. Vor dem Fenster war der Wald.Es war ein alter Wald, ursprünglich nach George Wa-shington benannt, aber der war seit Jahren nicht hiergewesen, deswegen hatte Augie ihn in Augustawaldumbenannt.

Sie atmete die kalte Luft am Fenster ein und lächel-te. Der Wald brauchte sie.

Sie ging an ihren Schrank, um ihr Feldnaturforsche-rinnen-Kit zu holen. Das enthielt die folgenden Dinge:

1 Handbuch der lokalen Flora und Fauna

1 Sportbrille

1 Schal

3 Automeris io, ein schönes Insekt, das man in Nordamerikafindet.

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1 Mütze mit Ohrklappen, erhalten von ihrer Tante, der

Biologin, und dadurch mit all ihren Biologinnenkräf-

ten ausgestattet

1 Jacke

2 Handschuhe,

mathematisch äquivalent zu 1 Handschuhpaar,

mathematisch äquivalent zu ½ Handschuhvierer,

mathematisch äquivalent zu ¼ Handschuhachter

1 Netz

1 Kompass

1 Uhr

½ Stiefelvierer

1 Fernglas

1 Bewegungsmelder

60 Schokoriegel, kein Karamell

1 Rucksack

1 Gasbrenner

1 Heizplatte

1 Taschentuch

30 Ersatzschokoriegel, kein Karamell

1 Teetasse

1 Feldflasche

1 Paar geräuschunterdrückende Ohrstöpsel, zu benutzen

wenn irgendwelche Leute aus Mamas Generation ihre

»Musik« spielten

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1 Lampe, wahlweise betrieben durch Batterien, Hand-

kurbel oder Solarzellen

1 Augie-Hand Teeblätter (eine Augie-Hand ist derzeit

etwa 1/3 Papa- oder Mama-Hand)

Sie drückte das Fenster nach oben, warf sich ihrwulstiges Bündel über die Schulter und sprang hinausin den kalten Morgen. Jenseits des Feldes standen dieschönen geheimnisvollen Bäume.4

4 »geheimnisvoll« mag ein wenig verspielt klingen, aber ein100-Morgen-Wald produziert jeden Tag rund eine Tonne grünerBiomasse. Wann habt ihr euer Gewicht das letzte Mal um eineTonne an einem Tag geändert?

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Kapitel 3Als Augie durch den Schnee rannte und sich dann

zwischen die Bäume begab, war sie überrascht, dassdie Luft sich wärmer und wärmer anfühlte, als wäresie in ihrer Aufregung dem Schnee und der Kälte da-vongelaufen.

Der Wald war grün-schön und rot-schön und braun-schön und gelb-schön, und sie wusste, dass direkt hin-ter dem Augustagebüsch ein blau-schöner Bach war.Sie mochte das Gefühl, in einem intakten Ökosystemzu sein. Fliegen summten, Spinnen sponnen, Eich-hörnchen hüpften, Moos mooste.

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Hier war es ein perfekter Tag – die Sorte Tag andem die Zeit stillsteht, sich entspannt und einen wissenlässt, dass dieser Tag nicht zählt, so dass man ihn ein-fach genießen kann. Der Wind säuselte durch die Bäu-me und Äste, stark genug, um Augies Haar vor ihremGesicht tanzen zu lassen, aber doch so sanft, dass sienicht fror. Sie genoss jedes Rascheln der Blätter, jedesRufen der Eulen und jedes Kreischen ihrer Lungen,wenn sie Eidechse spielte. Das war eines ihrer Lieb-lingsspiele, aber lacht sie deswegen nicht aus. Ich wet-te, ihr seid genauso albern, wenn niemand zuschaut.

Nach ungefähr einer Stunde ihrer Reise bemerkteAugie etwas Seltsames. Sie war schon hunderte Ma-le durch den Augustawald gestreift. Sie kannte Gat-tung und Spezies von allem, von den Animalia zu denPlantae zu den Fungi zu den Sonstigae. Aber da warein Baum, den sie nicht erkannte. Er war dick undhoch und mit Nadeln wie die einer Kiefer. Aber andersals bei einer Kiefer war seine Borke in einem dunk-len Grünton. Blaugrüne Flechten wuchsen auf seinemStamm, nicht in unregelmäßigen Flecken, sondern inkleinen Kringeln und Bögen, wie von einem Kind ge-malt. Sie ging auf den Baum zu, doch irgendwie schiener trotzdem nicht näher zu kommen.

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Sie ging schneller, doch auch als sie an anderenBäumen vorbeieilte, schien der seltsame grüne Baumseine Position nie zu verändern. Sie ging in einemKreis um den Baum herum und bemerkte etwas nochSonderbareres. Die Seite, die sie als erstes gesehenhatte, blieb die, die aus jedem Blickwinkel zu sehenwar. Als wäre die ganze Welt ein Rad mit diesem selt-samen Baum als Nabe.

Augie rückte ihre Sportbrille zurecht. Sie war frus-triert. Es war eine Sache, die Gesetze der Biologie zumissachten, aber sich den Gesetzen der Geometrie zuwidersetzen, war geradezu herablassend. Augie zog ¼ihres Handschuhvierers aus und hob einen schwerengrauen Stein vom Boden auf. Sie warf ihn gegen denBaum, und es gab einen lauten dumpfen Schlag, alsein Stück der grünen Rinde abplatzte.

»AU!«, sagte eine tiefe Stimme. Tief wie Donner.Tief wie der Wald.

»WER BEWIRFT EINEN WUNDERBAUM MITSTEINEN?!«, rief er empört.

Augie zeigte mit dem Finger auf ein Eichhörn-chen in der Nähe, das unter einen herumliegenden Asthuschte.

»KANN ICH ALS DEN SINNEN TROTZEN-DER WUNDERBAUM NICHT MAL EINEN TAG

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HABEN, OHNE MIT STEINEN BEWORFEN ZUWERDEN?!«

Augie zeigte anklagend auf eine Spatzendame undformte mit den Lippen die Worte: »Das war sie.« DieSpätzin schaute ärgerlich zurück und flatterte davon.

Die Nadeln des grünen Baumes zogen sich in sei-ne Zweige zurück, die sich in seine Äste zurückzogen,die sich in seinen Stamm zurückzogen. Seine Wurzelnwogten empor und stemmten sich in den Boden, wo-durch sein gesamter Körper angehoben wurde, der nunwie der eines rundlichen Mannes mittleren Alters aus-sah.

»MAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!«,rief er. »AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!«,fuhr er fort. »AAAAAAAAAAAAAAAaaach, freutmich, deine Bekanntschaft zu machen, guten Tag. Ichbin der Grüne Ritter.«

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Kapitel 4Der Grüne Ritter war ein Riese. Seine Haut war von

einer bräunlich-grünen Schattierung mit kleinen Fle-cken, die sich bei näherer Betrachtung als Pilze ent-puppten. Sein Haar und Bart waren ziemlich lang undaus Moos, gespickt mit Kiefernzapfen, Eicheln, klei-nen Knochen und etwas, das aussah wie ein Goldfisch-glas mit einem kleinen Aal darin. Der Aal wirkte zu-rückhaltend, aber freundlich.

Der Grüne Ritter hatte einen breiten grünen Gürtelaus Borke um seinen Bauch, und auf seinem Rückenhing ein dazu passender Borkenumhang. Er trug keineSchuhe, aber das Moos auf der Oberseite seiner Füßebedeckte diese reichlich, und seine Zehennägel ragtenweit über die Enden seiner großen runden Zehen hin-aus.

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Er trug einen Kilt aus verwickelten Ranken, und aufseinem Kopf war eine kleine Kappe mit drei gewalti-gen Geweihsprossen. Sein Oberkörper war mit einemgrünen Wollpulli bekleidet.

»Das ist ein hübscher Pulli«, sagte Augie.»Den hat meine Mama gemacht«, sagte der Riese

mit Stolz.»Wer ist deine Mama?«»Offensichtlich ein grünes Schaf.«Augie fand nicht so ganz, dass dies offensichtlich

sei, aber sie war gewillt, es dabei zu belassen, da derGrüne Ritter, wie sie nun bemerkte, eine gewaltigegrüne Axt auf seinen Rücken gebunden hatte.

»Was führt dich in meinen Wald?«, fragte er.»Das ist mein Wald«, sagte sie.»Oh, ist das so? Wieso trägt er dann meinen Na-

men?«

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Er zeigte auf eine Eiche in der Nähe, auf der »HerrDer Grüne Ritter, hochwohlgeboren« stand.

Augie zeigte auf eine nahe Birke, auf der »AugustaFrankmacher, hochwohlgeboren« stand.

Der Grüne Ritter strich sich über den Bart, wasden freundlichen aber zurückhaltenden Aal erschreck-te. »Nun«, sagte der Riesenritter. »Es scheint, wir ha-ben hier gleiche Ansprüche. Wie wär's, wenn wir Hal-be-Halbe machen?«

Er streckte ihr die Hand zum Schütteln entgegen.Augie entfernte eine Schnecke von der Hand, dannschüttelte sie sie.

»So«, sagte sie, »würdest du ein Stück mit mir wan-dern? Meine Eltern sind für ein paar Stunden weg, dieRegeln der Menschheit können mir also gerade nichtsabverlangen.«

»Oh, ich wäre entzückt«, sagte der Grüne Ritter.»Ich kann dir die Kreaturen des Waldes zeigen.«

Augie vermutete, dass sie den Wald besser kann-te als dieser seltsame Grüne Ritter, dank der Leistun-gen der modernen Wissenschaft. Sie sagte das auch,aber der Riese lachte nur und sagte: »Warum nur willdas Morgenlicht dem Abendlicht immer sagen, wie esscheinen soll?«

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Augie runzelte die Stirn. Sie mochte die Metaphernicht. »Das Morgenlicht liest viel«, sagte sie.

Der Grüne Ritter hob sie an ihrer Jacke hoch undsetzte sie auf seinen Rücken. Sie lehnte sich gegen dieAxt, die feucht, aber warm vom Körper des Riesenwar.

Der Riese ging mit Augie auf den Schultern durchden Wald, wobei sein Tritt erstaunlich leise war, trotzseiner ausladenden wackeligen Schritte. Schon baldkamen sie zu einer Butterblume, die alleine auf einemFleck weicher Erde wuchs, der irgendwie der Kälteentkommen war.

»Nun«, sagte der Grüne Ritter. »Wenn du so klugbist, Augusta des Morgenlichts, was ist das?«

Atemlos antwortete sie: »Das ist natürlich Ranun-culus Bulbosus, allgemein bekannt als Knolliger Hah-nenfuß.«

»Falsch!«, sagte der Riese. »Ha! Völlig falsch.Nein, der Name dieser Blume ist Frank. Sie ist allge-mein als Frank bekannt.«

»Was?«, sagte Augie. »Nein. Nein, nein, nein, dasist RANUNCULUS BULBOSUS, allgemein bekanntals Knolliger Hahnenfuß.«

Der grüne Riese setzte sich auf seinen Hintern, wasAugie fast abstürzen ließ.

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»Hey, Frank!«, sagte er zu der Blume. Er drehte denKopf und grinste Augie an.

Aber die Blume, wie bei Blumen üblich, tat nichts.Das äußerst sesshafte Leben der Blumen ist ja auchgut dokumentiert.

»FRANK!«, rief er. Aber die einzigen Geräu-sche waren das Plätschern des Bachs und das Echodes »Frank-frank-frank-frank-frank« durch die Bäu-me. Dem Grünen Ritter war das offensichtlich pein-lich. Er wurde dunkelrot, atmete ein und brüll-te: »FRAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA-AAAAAAAAAAANKLIIIIIIIIIIIIIIIIIINNNNNNN-NNNNNNN!«

Der Riese war so laut, dass die Bäume erzittertenund eine ganze Fuhre trockener Blätter herabregnete,gelb und orange. Aber die Butterblume bewegte sichkaum.

Augie streckte triumphierend die Brust heraus undlächelte den Riesen an.

Der Riese schnippte die Blume mit dem kleinenFinger an.

»AU!«, sagte die Blume. »ICH SCHLAFE!«Augies Unterkiefer klappte herab.»WAS WILLST DU?«, sagte die Blume. »UAHH!

Tja, ich schätze, jetzt bin ich wach!«, nörgelte sie.

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Frank streckte seine Blätter aus und atmete durchseine Spaltöffnungen.

»Wie heißt du?«, fragte der Grüne Ritter.»Frank!«, sagte die Blume verärgert. »Und tu nicht

so, als wüsstest du das nicht, denn ich habe gehört, wiedu meinen Namen ein paar Mal gesagt hast, bevor dumich angeschnippt hast.«

Der Riese schaute Augie an. »Siehst du?«Augie sammelte sich, bereit, ihre wissenschaftliche

Integrität zu verteidigen. »Ich sprach über ihre No-menklatur. Ihre Klassifikation. Sie ist von der GattungRanunculus, und sie ist spezifisch eine Bulbosus vonden Ranunculus.«

Der Riese tätschelte ihr den Kopf, als sei sie ein be-sonders dummes Haustier.

»Er heißt Frank. Spezifisch Frank.«»Ich rede darüber«, sagte sie mit undeutlicher wer-

dender Aussprache, »welche SORTE sie ist. Du hastvielleicht einen Namen für diese bestimmte Blume,aber es ist wohl kaum informativ, einen Namen für je-de einzelne zu haben!«

»Es ist ja nicht mein Name für ihn«, sagte der Riese.»Es ist einfach nur sein Name. Seine Mama nannte ihnFrank.«

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An dieser Stelle bemerkte der Riese eine weite-re Blume etwa zehn Meter entfernt und rief hinüber:»Oh, hey, Frau Glendower!«

Sie antwortete nicht.Inzwischen hatte Augie das Problem erkannt. Das

System des Grünen Ritters war für ihn durchaus nütz-lich, da er alle Pflanzen einzeln kannte. Ja in derTat hatte Augie ein ganz ähnliches System für Leu-te. Wenn jemand fragen würde, wer deine Eltern sind,wäre es schließlich auch seltsam, »Oh, das sind Men-schen« zu antworten. Aber dennoch, sie weigerte sich,eine Blume Frank zu nennen. Die Idee als solche warschon absurd, daher entschied sie, das Thema einfachfallen zu lassen und höflich zu sein.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte sie. »Estut mir leid, dass wir dich geweckt haben.«

Frank machte eine bestimmte Geste mit seinen Blü-tenblättern, die ihr und ich nicht verstehen, die aber imReich der Pflanzen ziemlich vulgär ist. Der Riese undAugie nahmen es als Hinweis, dass sie verschwindensollten, also gingen sie zum Bach.

Sie trafen einen ältlichen Stein, der schwor, er wä-re der gewesen, der Goliath besiegt habe, auch wennso ein junger Bengel den ganzen Ruhm dafür einge-

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strichen habe, aber dem Grünen Ritter fiel auf, dass erdringend zu einem Termin musste.

»Wo gehst du hin?«, fragte Augie.»Ich muss zu König Artus' Hof«, sagte er. »Sie wis-

sen es noch nicht, aber wir spielen das Köpfen-Spielan Weihnachten!«

»Das was?«»Das Köpfen-Spiel.«»Werden in dem Köpfen-Spiel Leute geköpft?«»HO HO HO!«, lachte der Riese. »HA HA HA, oh

je, nein nein nein, nicht viele.«

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Augie wollte gerade nach dem »nicht viele« fragenoder wie es dazu kam, dass Weihnachten in den Herbstgewandert sei, da hielt der Grüne Ritter eins seinerNasenlöcher zu und blies durch das andere, was einGeräusch irgendwo zwischen einem Horn und einemDidgeridoo machte. »WABBA-WABBA-WIIIIII!«

Augie schaute von ihrem Ast über dem Riesen her-ab, als sich der Boden unter ihnen erhob und zu einemenormen grünen Pony formte. Alles an ihm war grün.Sein Haar war blaugrünes Moos, seine Augen hattendie Farbe von Kiefernnadeln in der Nacht, seine Hufewaren unpolierte Jade, und sein Sattel und Zaumzeugwaren Rinde in der Farbe eines Ochsenfroschrückens.

»KIAH!«, rief der Ritter, und schon galoppiertensie durch den Wald. Augie probierte den Nasentrick,um herauszufinden, ob sie auch ein Pony beschwörenkonnte, aber am Ende brauchte sie nur das Taschen-tuch aus ihrem Kit.

Obwohl jeder der grünen Hufe des riesigen Pferdesfünfzig Pfund wiegen musste, traten sie nur sanft aufden schwammigen Waldboden. Sie ritten munter vor-an, sprangen über Flüsse und Bäche, in Senken undLöcher und wieder heraus aus Höhlen, Hügel hinaufund hinab in Täler. Augie sah die Sonne sinken undsinken und sinken und versuchte, sich Entschuldigun-

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gen für ihre Eltern zu überlegen, warum sie auf einemriesigen grünen Axtmann herumritt, deutlich nach ih-rer Schlafenszeit. Aber ihr fiel nichts ein, daher ent-schied sie, sich zu entspannen und die Zeit zu genie-ßen.

»Wie heißt das Pferd?«, fragte sie.»Frank«, sagte der Grüne Ritter.Augie begann, sich über das Namenssystem in die-

sem seltsamen Land zu wundern, da kamen in derFerne die warmen roten Lichter von Burgfenstern inSicht.

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Kapitel 5Es war eine alte Burg mit Flechten und Moos, und

in den Spalten ihrer Steinmauern wuchsen sogar klei-ne Bäume. Die Sonne stand inzwischen schon tief, undvon allen Fenstern und Türmchen kam ein feines feuri-ges Glühen. Kleine dreieckige Flaggen mit goldenemSaum flatterten im Wind, und Augie hörte entfernt dieGeräusche der Lustbarkeiten. Dies war die Burg vonArtus und seinen Rittern.

Bevor ich jetzt weitererzähle, solltet ihr einige Din-ge über den Ritterstand erfahren. Ein Ritter zu seinklingt wundervoll für Außenstehende, aber es ist einwenig wie ein Superheld zu sein ohne eine geheimeIdentität. Man kann so gut wie nichts unternehmen,weil man sich immer wie ein Superheld benehmenmuss, egal wo man hingeht. Ritter sind an den Ehren-kodex der Ritterlichkeit gebunden, der passenderwei-

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se »Kodex« heißt, denn er ist komplex und verwirrend.Was er genau bedeutet, bleibt auf ewig ein Geheimnisfür Uneingeweihte. Ritter müssen auf eine bestimmteWeise essen, trinken und sprechen. Sie sind oft so sehrauf ihre Ehre bedacht, dass sie über Kleinigkeiten wieschlechten Musikgeschmack oder die falschen Schuhein arge Streitereien geraten. Es ist ein wenig wie einRaum voller Teenager, nur dass jeder ein Schwert hat.

Genau so eine Gruppe Ritter hatte sich an diesemAbend zu einem Fest versammelt, als der Grüne Rit-ter (der mehr ein Ritter aufgrund seiner Abstammungals beruflich war) mit seiner massiven Faust gegendas Haupttor pochte. Das hatte unglücklicherweise zurFolge, dass das Tor zersplitterte und die Scharniereverbogen. Es hatte allerdings auch den positiven Ef-fekt, dass sie nun niemanden mehr auf sich aufmerk-sam machen mussten.

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Augie und der Grüne Ritter

Augie war es gewohnt, anderen Erwachsenen vonihren Eltern vorgestellt zu werden und nicht von rie-sigen grünen Verrückten, daher wusste sie nicht sorecht, wie sie reagieren sollte. Sie blickte auf hundert-fünfzig Ritter hinab, die um eine runde Tafel versam-melt waren, auf der sich Fleisch, Pasteten und Gebäcktürmten, zusammen mit Bier, Wein und Met. Am hin-teren Ende des Saales befand sich der König. Er wareindeutig der König, denn er hatte den größten Stuhlund den größten Hut. Er hatte einen gepflegten weißenBart und eine scharfe Nase mit einer rosigen Spitze.Die Königin saß daneben, mit kupferfarbenem Haarund in einem tief-violetten Samtkleid. Ihr Name warGuinevere.

Alle starrten die torezerschlagenden neuen Gästean. Der Saal war still bis auf das Knistern einiger Ka-minfeuer.

»FROHE WEIHNACHTEN!«, rief der Grüne Rit-ter.

Es gab keine Reaktion, nur das Echo.Augie lehnte sich zum Ohr des Grünen Ritters vor

und flüsterte: »Ich glaube, sie erwarten, dass du michvorstellst.«

»Wie heißt du?«, flüsterte er zurück.»Augie. Nein, Augusta. Sag Augusta.«

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»Hast du einen Titel?«»Nicht dass ich wüsste.«»Denk dir einen aus.«»Doktor.«»Du bist zu jung, um ein Doktor zu sein.«»Aber ich werde ein Doktor sein. Ein kleiner Vor-

schuss kann nicht schaden!«Der Grüne Ritter begann zu antworten, als König

Artus aufstand. »WER SEID IHR?!«, rief er.»Mach schon! Stell mich vor!«, flüsterte Augie.Der Grüne Ritter räusperte und verbeugte sich. »Ich

bin der Grüne Ritter, und dies ist meine Partnerin,Doktor Augie Nein Augusta Sag Augusta.«

Augie seufzte.»Und was bringt Euch hierher?«, fragte der König.Der Grüne Ritter gestikulierte elegant mit der Hand

und sagte: »Ich habe landauf, landab von der Tapfer-keit König Artus' und seiner Ritter der Tafelrunde ge-hört.«

Als sie dies hörten, empfanden die Ritter es als an-gemessen, Bescheidenheit zu demonstrieren, und rie-fen Dinge wie »Oh, ich doch nicht« und »Ich tue nurmeine Pflicht« und »Er spricht sicher von Gaheris oderYwain oder Glistnir, aber nicht von mir!«

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Der Riese fuhr fort: »Und ich wünsche, den Tap-fersten von Euch herauszufordern!«

Daraufhin überboten sich die Ritter im Verkündenihrer Größe und riefen Dinge wie »Ich habe die Ta-rasque von Manosque besiegt!« und »Mein Schwerttrank das Blut von tausend Feinden!« und »Ich ha-be die höchste Totschlagrate unter den professionellenRittern!«

Der Riese war glücklich ob dieser Zurschaustellungvon Tapferkeit. »Sehr gut!«, sagte er. »Ich schlage einSpiel vor, bei dem ich und einer von Euch uns abwech-selnd köpfen!«

An dieser Stelle begannen die Ritter kurze Redenüber den Wert von lange währendem Frieden. »Wirsollten den Kreislauf der Gewalt wirklich durchbre-chen«, sagten sie, und »Weihnachten ist das Fest derLiebe, nicht wahr?« und »Können wir nicht alle fried-lich miteinander auskommen?«

Das war peinlich für König Artus, der sich damitbrüstete, die größten Ritter des Landes zu haben. Ererhob sich auf seinen dürren Beinen, schwer beladenvon Gold, Juwelen und dicken Pelzen, und rief: »Willkeiner die Herausforderung annehmen? Wollt Ihr Eu-ren König vorschicken, tausendfach in Schlachten er-probt – soll er seinen Hals vor der fallenden Klinge

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recken, während Ihr sein Brot esst und seinen Weintrinkt?«

Es gab eine Diskussion zu diesem Thema, die einigeMinuten andauerte und kein klares Ergebnis hatte.

»Nun«, sagte der Grüne Ritter, »ich sehe, ich habehier einen Saal voller bartloser Jungen und nicht er-wachsener MÄNNER, die verantwortlich und ehrbargenug sind, um Axtkämpfe mit Fremden auszufech-ten!«

Die Ritter waren beschämt. König Artus' Augenwurden feucht und er ächzte.

Der Grüne Ritter versuchte es mit Ermutigung.»Wer sich mir stellt, mag meine Axt benutzen!«, sagteer und hielt sie empor. »Ihr Name … ist Frank!«

Augie beschlich ein Verdacht, wieso der Riese denNamen der Butterblume gekannt hatte.

Der König überblickte seine feuchtfröhlichen Krie-ger und schämte sich. »IST DA KEINER?! ERWEISTIHR EUCH ALLE ALS FEIGLINGE?«, brüllte er.

Auch darüber wurde eine Zeitlang debatiert. DieRitter erörterten gerade die vielen Pros und das eineziemlich große Kontra, als ein junger Ritter namensGawain aufstand.

Gawain, müsst ihr wissen, war nicht der beste derRitter. Das war Lancelot, doch Lancelot tobte gera-

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de durch den Norden Frankreichs auf einer diplomati-schen Mission. Gawain war der Typ Mensch, mit demman gut zusammenarbeiten kann, weil er kompetentist, der einem aber damit auf den Keks geht, dass ergenau Buch führt, über alles, was er geleistet hat, undeinem dann ständig erzählt, wie viele Liegestütze ergestern Abend geschafft hat. Sein Rittertum war ein-fallslos, aber das wusste er, und es spornte ihn an. Ga-wain sah den Schutz des Königs als seine Pflicht, under war eine dieser simplen Seelen, die glaubten, dassPflicht keine Sache momentaner Bedenken ist, wie dasVermeiden einer Enthauptung.

»EINER IST DA!«, rief Gawain, dem König ant-wortend. Die inzwischen vergangene Zeit hatte dieseAussage aber unklar gemacht, so dass er sich zu einerKlarstellung gezwungen sah. »DA IST NICHT KEI-NER. Da ist … JEMAND. Es ist … ich bin es. ICH!GAWAIN!«

Diese mutige Verkündung wurde mit einer lautenMischung aus Hurras und Vorwürfen der Schleimereibegrüßt, als Gawain sich von seinem Sitz erhob unddem König salutierte.

Augie lehnte sich zum Ohr des Grünen Ritters vorund flüsterte: »Bist du verrückt? Verstehst du nicht,dass du STIRBST, wenn du geköpft wirst?«

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»Sei nicht albern«, sagte er. »Das wäre, als wennich sagte, wenn ich dir den Arm abreiße, kannst du ihnnicht mehr bewegen.«

»Das könnte ich auch nicht mehr!«, sagte sie undhielt ihre Arme hinter ihren Rücken.

»Hast du es überhaupt schon mal versucht?«, sagteer.

»Kein Armabreißen!«, rief sie.Inzwischen stand Gawain vor dem Grünen Ritter,

das Schwert in der Hand. Der Grüne Ritter lächelteund griff rücklings nach seiner Axt. Er stützte sich dar-auf wie auf einen Stock, als er seine Kilttasche durch-suchte. Die Axt war einen guten Fuß länger als Ga-wain, der sie betrachtete und versuchte, nicht die Stirnzu runzeln, als der Grüne Ritter einen Stein aus seinerTasche holte und die Schneide der Klinge zu schärfenbegann.

SKRTSCH! SKRTSCH! SKRTSCH! ging dasSchärfen.

»Nur einen Moment«, sagte der Grüne Ritter.SKRTSCH! SKRTSCH! SKRTSCH!»So«, sagte der Grüne Ritter, dem nicht auffiel, dass

er Funken auf Gawain herabregnen ließ, »willst du alsErster oder als Zweiter geköpft werden?«

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Gawain schluckte. Er schaute auf die riesige Axt. Erschaute sein eigenes Schwert an, das ihm plötzlich wieeine Nadel erschien. Er schaute zu den anderen Rit-tern, aber keiner wollte seinen Blick erwidern. Wärees feige, als Zweiter zu starten? Oder … oder wäre essogar mutiger, weil sein Leben dann vollständig vonseiner Schwertkampfkunst abhinge?

»Ich, ähm, äh, das ist … nun –«, begann er.»Oder vielleicht ein Münzwurf?«, fragte der Grüne

Ritter.»Ich zuerst!«, rief Gawain.»Wunderbar!«, sagte der Grüne Ritter, der seiner

Axt einen letzten Schliff verlieh. »Deine Waffe odermeine?«

»Wie viel wiegt die Axt?«, fragte Gawain. Be-vor der Grüne Ritter antwortete, fügte er hinzu:

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»Denn, wisst Ihr, ich kann fünfhundert Pfund drücken.Leicht.«

Der Grüne Ritter hatte nie das Gewicht seiner Axtbedacht, aber er sah, dass Gawain nervös war, und erwollte ihn beruhigen. »Sie ist so schwer, dass beimKöpfen immer ein ganz sauberer Schnitt gelingt!«

Das steigerte Gawains Stimmung nicht. Aber ernahm die Axt, und mit einer gewaltigen Anstrengunghob er sie über seinen Kopf.

»Wisst Ihr, bei mir zuhause spielen wir zu Weih-nachten gewöhnlich nur Scrabble!«, rief Augie. »Willjemand Scrabble spielen?«

Aber niemand beachtete sie. Alle schauten nur starrzu, wie der Grüne Ritter sich auf seinen Bauch undden Kopf auf den kalten Steinfußboden legte. »Ist esso recht?«, fragte er und zog seinen Umhang zurück,um seinen braungrünen Nacken zu entblößen, auf demkleine Pilze wuchsen.

»S-sicher«, sagte Gawain, bemüht, die Axt emporzu halten. Der Grüne Ritter versuchte, ihn zu ermuti-gen, und sagte: »Ihr macht das großartig! Jetzt, auf dreizuschlagen. Und eins … und zwei … und … drei!«

Die Ritter schnappten nach Luft. Der König knurr-te. Die Königin wurde ohnmächtig. Der Riese lächelte

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ungeduldig. Augie sagte: »Die Siedler von Catan istauch ein schönes Brettspiel!«

WUUSCH war der Klang der Axt, die durch dieLuft schnitt.

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Kapitel 6Die Axt war so schwer und scharf, dass sie direkt

durch den Hals des Grünen Ritters schnitt und denSteinboden spaltete. Als das Echo von Metall auf Steinverklang, war der Saal so leise wie der Schritt einerAmeise. Gawain ließ den vibrierenden Axtgriff los.

Seine Hände zitterten, und er fühlte sich benommenund sehr durstig. Er trat zurück, bestürzt von dem, waser getan hatte. Der Kopf des Riesen purzelte ein paarMeter weit, bevor er ruhig liegen blieb und ihn, Ga-wain, anzulächeln schien.

»Gute Leistung!«, sagte der Kopf des Grünen Rit-ters.

Der Körper des Grünen Ritters stand auf, hob denKopf auf und hielt ihn an den Haaren hoch. Mit seinemanderen Arm streckte er Gawain eine Hand entgegen.

Jeder am Hof starrte in tiefem Schweigen.

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»Gute Leistung, Herr Ritter!«, sagte des RiesenKopf, und seine Hand schüttelte die schlaffe von Ga-wain.

»Also …«, sagte Gawain, der sich fragte, ob es ir-gendwie möglich sein könnte, noch einmal von vorneanzufangen.

»Heute in einem Jahr«, verkündete der Grüne Rit-ter, »müsst Ihr in meiner Burg, der Grünen Kapelle,erscheinen, wo ich mich revanchieren werde für diemutige Tat, die Ihr für mich geleistet habt. Seid mirgegrüßt, Ritter … Wie war Euer Name?«

»Gawain«, presste er hervor.»Seid mir gegrüßt, Ritter Gawain der Tapfere!«Gawain fragte, ob eine Zwei-von-Drei-Entschei-

dung auch im Bereich des Möglichen sei, aber er wur-de übertönt von den hellen Hurrarufen des königlichenHofes. Er seufzte, ließ die Schultern hängen und kehr-te zu seinem Platz zurück, um wieder dem Fest bei-zuwohnen. Die Ritter neben ihm fuhren fort, als wä-re nichts geschehen (schließlich war ihnen auch nichtsFolgenschweres geschehen). Aber aus Rücksichtnah-me vereinbarten sie, für die folgende halbe Stunde vonFormulierungen Abstand zu nehmen wie »Kopf hoch«und »nur nicht den Kopf verlieren«.

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Gawain wusste, später würde er ein Gefühl vonStolz über sein ritterliches Verhalten verspüren, aberim Moment rieb er sich nur seinen Hals und erkann-te, wie schön es war, eine physische Verbindung zwi-schen seinem Kopf und seinem Körper zu haben.

Der Grüne Ritter verbeugte sich und band die gro-ße Axt wieder auf seinen Rücken. Er setzte Augie aufseine Schultern und brachte dann seinen Kopf an sei-nen angestammten Platz zurück. Versehentlich setzteer den Kopf verkehrt herum auf, so dass er direkt Au-gie anschaute und seine gewaltige Nase in ihre Mittestieß.

»Dein Kopf ist falsch herum«, sagte sie und ver-suchte, nicht bis ins Mark entsetzt zu erscheinen.

»Ich will verdammt sein, wenn ein kleines Mädchenmir sagt, wie ich meinen Kopf aufsetzen soll!«, sagteer. Dann bemerkte er das Etikett an seinem Pulli unddrehte seinen Kopf nach vorne. Er lächelte den Hof anund machte eine tiefe Verbeugung, bei der sein Kopfwieder abfiel und vor König Artus durch den Saal kul-lerte, woraufhin der König aus purem Ekel ohnmäch-tig wurde.

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»Entschuldigung! Entschuldigung! Das passiert im-mer in den unpassendsten Momenten, nicht wahr?«,sagte der Kopf des Grünen Ritters. Niemand im Saalantwortete. Sein Körper schlich herüber, hob den Kopfauf und hielt ihn dann wie einen Hut, den er vor demHof kurz lüftete. Das war so schockierend, dass Kö-nig und Königin kurz erwachten, »GUTE GÖTTER!«riefen und wieder ohnmächtig wurden.

»Wir sollten gehen«, flüsterte Augie. Der GrüneRitter stimmte zu. Er zwängte sich aus dem Saal unddurch die Burgtore, während sein Hals und sein Kopfsich wieder zusammennähten. Der Grüne Ritter lä-chelte und hüpfte munter hinfort von der Burg unterden Sternen und dem Sichelmond.

Es war jetzt viel dunkler, und es wurde noch dunk-ler, als sie tiefer und tiefer in den Wald vordrangen.Bald schon war das einzige Licht das von Glühwürm-chen und Irrlichtern, die in der Dunkelheit aufleuchte-ten. Augie lächelte über die wunderschöne Nacht, aberin ihr Lächeln mischte sich auch Sorge.

Augies Eltern wären zweifellos verstimmt über alldiese Vorkommnisse. Zwischen der späten Stundeund dem Köpfen hatte sie die letzten beiden Regelngebrochen. Auch wenn es genau genommen keine Re-gel gegen das Köpfen gab, konnten ihre letzten Aktio-

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nen doch als Bruch der Regel zum »guten Benehmen«gewertet werden.

Sie entschied, dass es wohl besser wäre, mit demHeimkehren bis zum Morgen zu warten. Mama undPapa sagten zu so ziemlich allem Ja, wenn man sie vordem Kaffee erwischte. Auf jeden Fall befand sie sichin Sicherheit, und jetzt gab es eine Situation, mit derman sich auseinandersetzen musste. Sie musste denGrünen Ritter davon überzeugen, dass Köpfen eineziemlich ernste Sache war. Sollte sie scheitern, würdeGawain sterben.

Inzwischen war in Artus' Burg alles wieder fröhlich.König und Königin waren wieder wohlauf, und dasFest war doppelt so ausgelassen wie zuvor, als wollteman die verlorene halbe Stunde wieder aufholen.

»Ahh«, sagte der König, »es ist nicht wirklichWeihnachten, bis etwas Magisches passiert, hm?«

Dem prosteten alle zu, auch wenn Gawain etwasweniger enthusiastisch war. Aber im Laufe der Nacht,während der Mond sank und der Biernachschub nach-

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ließ, besserte sich seine Stimmung. Die durchschnittli-che Lebenserwartung eines erwachsenen Ritters wur-de ohnehin besser in Monaten als in Jahren gemessen.

Wenn man die typischen magischen Weissagun-gen berücksichtigte, dann war die Aussicht, noch einJahr zu leben, eine ziemlich günstige Prognose. Ma-gische Weissagungen sind nämlich selten gut. Artuszum Beispiel wusste, dass er eines Tages von seinemLieblingsritter verraten werden würde. Und erinnerteuch an den berühmten Zauberer Merlin, der die Weis-sagung kannte, dass er eines Tages von seiner großenLiebe gefangen gehalten werden würde. Oder denktan Ritter Powackel, dem geweissagt worden war, dasssein ruhmreicher Name eines Tages Kinder amüsierenwürde. Armer Ritter Powackel. Oh, armer, armer Rit-ter Powackel und all die kleinen Powackels, die ihmfolgen würden.

Ja, im Vergleich dazu hatte Gawain ziemlichesGlück. Und daher erhob sogar er an diesem Weih-nachtsabend ein Glas in Dankbarkeit und Bescheiden-heit.

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Kapitel 7Als das Pferd des Grünen Ritters durch den Wald

galoppierte, kämpfte Augie mit dem Schlaf. Heute warder drittanstrengendste Tag ihres Lebens gewesen.Der alleranstrengendste war gewesen, als sie an einemHalloween im letzten Moment entschieden hatte, sichals Bertrand Russell zu verkleiden, was ihr abverlang-te, erst einmal zu beweisen, dass 1+1=2 war, bevorsie gewillt war, zwei Schuhe zu tragen. Denn wenn1+1 nicht gleich 2 war, dann könnte man schließlichjedes Mal, wenn man seine Füße betrachtete, vierzehndavon haben oder fünfzig oder minus eine Million,oder mehr Füße, als ein endliches Universum enthal-ten konnte. Sollte das geschehen, dann gäbe es endlo-

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se »Füße der Stärke«-Wortspiele von Papa, und daswäre unerträglich.1

Der andere anstrengendere Tag war der Tag ih-rer Geburt gewesen, damals allerdings in einer ArtTeamarbeit mit Mama und deswegen nicht ganz soschlimm. »Obwohl«, dachte sie jedes Mal, wenn siedie Geschichte hörte, »so wie Mama es beschreibt,könnte man meinen, zweiundsiebzig Stunden seienzehn Jahre.«

Während das große Pferd an den Bäumen vorbeiglitt, wiegten das sanfte Schaukeln und die Fast-Stil-le des Waldes sie in den Schlaf. Sie fiel in einen wun-derbaren Traum. Es war der Traum, in dem sie denNobelpreis für Entwicklungen in der Plasmaphysik er-hielt, und der Preis war aus Erdnussbutter und Scho-kolade gemacht. Nicht die komische Schokolade, dieman während der Ferien bekommt – die gute Sorte.Sie hielt dem Publikum eine kurze Rede über die Be-deutung der Myonen-Haltung, daraufhin erhielt sie dieHerrschaft über den Jupiter als Sonderpreis, und danngewann sie die Olympischen Spiele. Alles auf einmal.

1 feats of strength (Kraftakte) vs. feet of strength, leider unüber-setzbar.– Anm. d. Übers.

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Etwas später glitt ein Finger aus Licht über ihr Ge-sicht. Sie blinzelte und schielte, wischte sich die Au-gen und erblickte eine rosa Morgendämmerung. Ne-ben der aufgehenden Sonne war eine schöne Burg zusehen. Wie der Grüne Ritter und sein Pferd war auchdie Burg völlig grün. Sie hatte grüne Steine, grüneTüren, grüne Fenster, einen Burggraben aus grünemWasser, Grünfische (die wie Goldfische sind, nur vio-lett), grüne Fahnen, grüne Spitzen und Wachen in grü-nen Rüstungen.

Die eine Gruppe grüner Wachen wurde in grü-nem Gold bezahlt und die andere in grünen Diaman-ten. Dieser Bezahlungsunterschied garantierte, dassdie Wachen immer grün vor Neid waren. Schließlichist das Gras des Nachbarn immer grüner.2

Das riesige Pferd fiel zurück in einen Trab, als siedie grünen Türen der Grünen Kapelle erreichten. DerGrüne Ritter schlug an die Tore, woraufhin sie bars-ten. Das musste ein ziemlich alltägliches Ereignis sein,denn die kleinen Kobolde, die daraufhin herausge-rannt kamen, um sie zu reparieren, schienen kein biss-chen aufgebracht.

2 Das zweite Wortspiel war unnötig und bringt große Schandeüber den Autor.

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Innerhalb der Burgmauern war die herrlichste Stadt,die Augie je in ihrem Leben gesehen hatte. »Das istherrlicher als Trenton«, keuchte sie, »und sogar alsBaltimore.«

Augies Eltern waren keine großen Urlauber.Die Gebäude im Innern der Burg waren aus Bäu-

men gemacht – stattliche dicke grüne Bäume mit kräf-tigen Stämmen. Die kurvigen Äste waren zu Brückengeformt, um Gebäude zu verbinden oder über Wasser-läufe zu führen. Es gab Edelkastanien voller Früchteund biolumineszierende indische Senfbäume, die ei-nen blassen Schimmer entlang der mit Farn eingefass-ten Straßen erzeugten.

Wie der Grüne Ritter so durch die Stadt promenier-te, kamen viele Burgbewohner hervor, um ihn zu grü-ßen. Er nahm sofort eine königliche Pose ein und lehn-te seinen Kopf so weit zurück, dass er nicht mehr nachvorne blicken konnte. Das hatte zur Folge, dass Augiehinter seinem Kopf eingequetscht und in feuchtes ver-filztes Haar gehüllt wurde, das wie eine unglücklicheMischung aus Weihrauch und Sumpfschimmel roch.Er holte grüne Süßigkeiten aus seinem Bart und warfsie seinem Volk zu, während er vorüberritt.

Allerdings wollte niemand Dinge essen, die aus ei-nem Bart gekommen waren, daher taten die meisten

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Kobolde und Elfen nur so, als würden sie die Süßig-keiten essen, und versteckten sie später unter dem So-fa.

In der Mitte des Burghofs stand die Große Halle derGrünen Kapelle. Das war ein hohes Gebäude, dessenBogengang aus den verschlungenen Zweigen einesLitschibaumes bestand. Unter normalen Umständenhätte Augie die Energieeffizienz des Anbaus tropi-scher Pflanzen in dieser Hemisphäre hinterfragt. Aberin der gegenwärtigen Situation war sie einfach nurhungrig, daher griff sie sich ein paar der Früchte imVorbeigehen und verschlang sie gierig. Sie hatte seitvierundzwanzig Stunden nichts gegessen, wenn mandie sechzig Schokoriegel nicht zählte, ohne Karamell.

Die Große Halle war ein langer Raum mit einer ho-hen Decke. Am entfernten Ende war ein Thron auseinem Pekanussbaum. Die Dielen des Bodens warenebenfalls aus lebendigem Holz, ebenso die Rahmender vielen Bilder der Vorfahren des Grünen Ritters.Die Bilder selbst waren nicht aus Bäumen gemacht,aber die Schnurrbärte darauf schon. Es war nicht klar,ob der Künstler das so gewollt hatte, oder ob Weiden-bäume einfach nur einen eigenartigen Sinn für Humorhaben.

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Der Riese stieg ab, ging zu seinem Thron und setztesich, wobei er Augie hinter sich beinahe zerdrückte.Augie sprang im letzten Moment herunter und fiel inseinen Bart, in dem erstaunlich viel Platz war. Er ent-hielt mehrere Grabkammern im ägyptischen Stil, ei-nen Schaukasten mit Plesiosaurierknochen, einen Ro-boter aus der New Yorker Weltausstellung von 1939und vier Hunde, die Poker spielten. Sie steckte ihrenKopf gerade wieder rechtzeitig aus dem Bart, um einekönigliche Prozession zu sehen, die die Halle betrat.Augie konnte sofort erkennen, dass es sich nicht umEinheimische der Grünen Kapelle handelte. Dies waroffensichtlich eine ausländische Delegation.

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Winzige gelbhaarige Männer in schicken weißenund goldenen Uniformen kamen zuerst, gefolgt vonseltsamen Vögeln mit Frauenköpfen. Sie hatten lei-der noch die Gehirne von Vögeln und pickten unauf-hörlich nach Körnern und sagten »VOGEL! VOGEL!VOGEL!«, was die meisten Vögel meinen, wenn sie»quak« sagen.

Kleine klötzchenförmige Kreaturen aus Holz mach-ten hohle Geräusche, als sie hinter den Vögeln her-trappelten. Sie hatten große mürrische Gesichter undtrugen Eimer voll Wasser. Diese hatten sie anschei-nend, weil ihnen Feuervögel folgten, deren Körper wieflammende Kometen aussahen und die ständig das ge-samte Haus niederzubrennen drohten. Das Quaken derFeuervögel klang wie typischer Vogelgesang, bedeu-tete übersetzt aber: »Entschuldigung! Ich kann nichtsdafür!«

In der Mitte der Prozession war eine hölzerneBlockhütte auf riesigen Hühnerbeinen. Sie hielt vordem Grünen Ritter und öffnete ihre geschwungeneHolztür. Eine alte Dame in einem mit Diamanten undBernsteinen besetzten bauschigen Spitzenkleid tau-melte heraus.

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Sie zog einen Schleier mit grellen Mustern beiseiteund streckte ihre lange ledrige Nase unter zwei kom-plett schwarzen Augen heraus. Sie zischte entsetzlich.»Man nennt mich Baba Yaga! Mutter Knochenbein!Geist der Tundra. Schleicherin in der Nacht. Fieber-traum von tausend mal tausend Kindern. Verfolgerinvon –«

»VOGEL! VOGEL!«, kreischte eine der Vogel-frauen.

»Schscht!«, sagte die alte Frau. »Nicht, während ichrede!«

»VOGEL!«, protestierte die Vogelfrau. »VOGEL!VOGEL! VOGEL!« Die Holzmänner scheuchten sie

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mit ihren Wassereimern davon, und Baba Yaga seufz-te.

»Was führt dich hierher?«, fragte der Grüne Ritter.»Wir haben ein Problem, das keiner unserer Weisen

zu lösen vermochte«, sagte sie in ihrer schrillen trut-hahnartigen Stimme. »Daher unternahmen wir weit-läufige Reisen auf der Suche nach einer Antwort.« Siedrehte sich zur Seite und winkte mit ihrer linken Hand.

Ein kleiner Mönch in einer dunklen Robe trat vor.Eine Kapuze bedeckte den Großteil seines Kopfes, sodass von seinem Gesicht nur die vielen tiefen Faltenunter seinen Augen und an seinen Mundwinkeln zusehen waren. Unter seinem rechten Arm trug er eingroßes staubiges Buch mit Ledereinband.

Baba Yaga hielt die Augen auf den Grünen Ritterfixiert und rief: »Zitiere die Geschichte von Salomonund dem Baby!«

Der alte Mönch räusperte sich und öffnete das großeBuch, das dabei eine Woge des Geruchs von Bücher-eischimmel im Raum verbreitete. »Einst waren zweiFrauen, die beide behaupteten, die Mutter eines Kin-des zu sein. Als keine der beiden die Lüge eingestehenwollte, brachten sie das Kind vor Salomon den Wei-sen. Nach einer Weile des Besinnens entschied Salo-

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mon, dass das Kind in zwei Teile geschnitten werdenund jeder Mutter eine Hälfte gegeben werden sollte.«

Baba Yaga war nun keine Expertin für Menschen,daher dachte sie, dass diese Geschichte hier endensollte. Doch kürzlich war sie dadurch überrascht wor-den, dass die Geschichte weiter ging.

»Von diesem Gedanken war die wahre Mutter desKindes so entsetzt, dass sie einwilligte, der falschenMutter das Kind zu geben, so dass es leben konnte.Dies zeigte Salomon schließlich, wer die wahre Mut-ter war.«

Der Mönch verbeugte sich und zog sich hinter dieParade zurück.

Der Grüne Ritter rieb verwirrt seinen Kopf. »Wa-rum sollte man das Kind nicht einfach teilen? Dannbekäme jede Frau ein halbes Kind.«

»Ja, dieser Teil ist etwas seltsam«, sagte Baba Ya-ga. »Die Menschen in meinem Königreich haben eineseltsame Abneigung dagegen, in zwei Hälften geteiltzu werden. Ich habe das während einer Partie Twisterherausgefunden, die sehr peinlich endete.«

An dieser Stelle verspürte Augie den Drang, sicheinzuschalten und ein paar Dinge über Menschen zuerklären. Aber sie entschied, dass es wohl klüger wäre,erst einmal abzuwarten, wie die beiden über die Sache

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mit dem Kinderteilen entscheiden würden, bevor siesich einmischte.

»Wie auch immer«, sagte Baba Yaga, »es ist ei-ne gute Methode, wann immer zwei Mütter dasselbeKind beanspruchen. Wir haben sie jetzt seit einigenMonaten in Verwendung, und sie funktioniert halb-wegs gut.«

»Also wo liegt das Problem?«, fragte der Grüne Rit-ter.

»Tja, kürzlich hatte ich drei menschliche Mütter miteinem Streit um ein Kind.«

Der Grüne Ritter bedachte dies und sagte dann:»Warum nicht vorschlagen, das Kind in drei Teile zuteilen und dann schauen, wer das ablehnt?«

»Nun, angenommen, ich würde das Kind nichtgleichmäßig teilen. Die wahre menschliche Mutterkönnte mit einer Dreiteilung einverstanden sein, wennsie, sagen wir, vierzig Prozent des Kindes erhielte.«

Augie, die selbst ein Kind war, war ziemlich froh,gerade in dem Bart versteckt zu sein.

Baba Yaga fuhr fort. »Wenn da nur zwei Müttersind, können wir einfach einer sagen, sie soll das Kindteilen, und die andere darf dann zuerst eine Hälftewählen. Dabei kommt immer eine faire Verteilungheraus. Aber wie sollen wir das für drei Mütter ma-

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chen? Oder für noch mehr wie vier oder fünf odersechs?«

Der Grüne Ritter verzog das Gesicht bei der Aus-sicht auf ein schwieriges mathematisches Problem.Aber in seinem Bart lächelte Augie, und ihr Herz raste.Baba Yagas Problem hatte mehrere Lösungen, abhän-gig von einer Reihe von Fragen, wie ob man unend-liche viele Schnitte machen konnte oder ob der obe-re Teil eines Babys sich stark von dem unteren unter-schied.

»Unsere Weisen haben keine Lösung für dieses Pro-blem gefunden«, sagte Baba Yaga. Dann schnippte siemit den Fingern.

Sieben Feuervögel traten vor sie und ließen ihreFlügel auflodern. Sie gaben ein wilden hohen Schreivon sich, und ein Feuerball entstand zwischen ihnenund schnellte in die Luft. Die kleinen Klötzchenmän-ner rasselten hervor, um das Feuer zu löschen, und alsder graue Rauch sich verzog, lagen da sieben goldeneEier. Jedes Ei öffnete sich und offenbarte eine genia-le Konstruktion. Das erste erzeugte einen Vogel, dersang und sich bewegte. Das zweite enthielt eine Mi-niatur-Dampflok. Das dritte zeigte eine tanzende Bal-lerina. Im vierten war eine junge Dame, die ein Pferdtränkte. Das fünfte zeigte eine Uhr, die die Zeit in drei

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verschiedenen Städten und die verbleibende Zeit biszum Ende des Universums anzeigte. Das sechste spiel-te »Die Spieldose« von Anatoly Liadov. Und das letz-te der sieben enthielt einen mechanischen Gnom, derin einer Hütte hauste und all seine Zeit damit verbrach-te, darüber zu lamentieren, wie prahlerisch die ande-ren sechs seien.

Die Augen des Grünen Ritters wurden groß. Erleckte sich über die Lippen und rieb sich die Hände.

»Wenn du das Problem lösen kannst«, sagte die alteFrau, »magst du diese Eier dein Eigen nennen.«

Augie kletterte zum Ohr des Grünen Ritters undflüsterte: »Nimm die Eier! Ich kenne die Antwort!«

»Oh«, sagte der Grüne Ritter. »Du bist noch da?«»Ja! Und wenn du mich zu deiner Beraterin er-

nennst, werde ich dir helfen!«

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Kapitel 8Einige Stunden später hatte Augie eine Lösung auf

einem Tafelbaum ausgearbeitet. Einzelheiten der Lö-sung finden sich im Appendix am Ende dieses Buches,aber die Lösung ist recht einfach, solange man es nichtmit unendlich vielen Müttern zu tun hat.1

Baba Yaga gefiel die Lösung ziemlich gut, aber siefand sie ein wenig merkwürdig, da sie überhaupt keinZerteilen des Babys vorsah. Es gibt natürlich vieleWege, dieses Problem zu lösen, aber Augie hatte nurLösungen vorgestellt, die das Baby ganz ließen. Daserschien ihr einfach angemessener.

»Hiermit übergebe ich diese Eier der Grünen Ka-pelle!«, kreischte Baba Yaga. Sie machte kehrt, umin ihre wandelnde Blockhütte zu verschwinden, aber

1 Bitte den Appendix nicht entfernen, solange er sich nicht ent-zündet.

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sie hielt inne, als ihre Hand die hölzerne Oberflächeberührte. Sie drehte sich zu Augie um, lächelte undgriff in ihre Tasche. Dann zog sie ein einfaches golde-nes Amulett daraus hervor mit drei grob behauenen,durchscheinenden blauen Steinen darin. Sie warf esdem kleinen Mädchen zu.

»Es ist wunderschön«, sagte Augie.»Es sind Queststeine, die du in deiner Zeit hier brau-

chen wirst. Ich sehe, dass du intelligent bist. Vielleichtsehr intelligent. Aber du musst auch Weisheit haben.Intelligenz ist Sirup. Weisheit ist Ahorn.«

Sie gab ein hohes nasales Lachen von sich, hob ih-ren Umhang an und ging durch die Tür ihrer hühner-beinigen Hütte. Die knochigen Hühnerbeine trabtenzurück zum Tor hinaus, und die Prozession seltsamerKreaturen folgte ihr.

Der Grüne Ritter lächelte, nahm die Eier und gabsie seinem Koch, um Frühstück zu machen. Dann be-gann er die Zeremonie der Ernennung, in der Augiezur Beraterin des Hofs der Grünen Kapelle gemachtwerden würde.

»Bevor wir fortfahren …«, fing Augie an. »Enthältdie Zeremonie irgendwelches Köpfen?«

»Hmm«, sagte der Grüne Ritter. »Willst du wel-ches?«

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»Eigentlich nicht, nein.«»Tja, soweit ich mich erinnern kann, gab es da ent-

weder kein Köpfen oder wenn, dann nur wenig.«»Ich wäre für die Nicht-Köpfen-Variante, nur für

den Fall.«»Nun gut«, sagte der Riese mit nur einer Spur Ent-

täuschung. Er griff in seinen Bart, aus dem er ein glän-zendes grünes Zepter zog. Augie war eine versierteMetallurgin, aber sie hatte noch nie ein Material wiedieses gesehen. Es sah wie grünes Gold aus, dochwenn man genau schaute, schien es zu schimmern undzu schwappen wie eine Wasseroberfläche.

»Was ist das?«, fragte sie.»Das Zepter? Das ist Frank.«Augie wurde die ganze Frank-Sache langsam zu

bunt.»Ich meine, welches Metall ist das?«»Das Metall ist auch Frank. In elementarer Form.«»AHA!«, sagte Augie. »FALSCH. Ich bin mit dem

gesamten Periodensystem der Elemente vertraut, undda gibt es kein Element namens Frank! Du hast dir dieganze Frank-Sache nur ausgedacht.«

»Die Frank-Sache?«, fragte der Riese.»Alles hier heißt Frank!«, rief sie.

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Der Riese wirkte ehrlich verwirrt, seine zukünftigeBeraterin derart sprechen zu hören. »Warum um allesauf der Welt meinst du, alles hier heiße Frank?«

»Die ersten sechs Dinge, zu denen ich etwas fragte,hießen Frank!«

»Oh, je. Aber das ist doch albern. Ich vermute, wenndu mal sechs Enten in einer Reihe siehst, meinst duauch, alles danach seien nur noch Enten!«

»Nein. Wir Menschen haben sogar einen Witz da-rüber. In der Zahl Pi wird der Punkt, wo sechs Neunenhintereinander kommen, der Feynman-Punkt genannt.Die Idee ist, Pi bis zu diesem Punkt aufzuzählen unddann ›…999999 und so weiter‹ zu sagen. Dann wür-den alle einen falschen Eindruck bekommen.«

»Ach komm. Menschen haben keinen solchenWitz.«

»Doch, haben wir!«»Na, wir werden sehen«, rief der Riese. »Bringt

meinen Hofmenschen herein!«Ein Mensch wurde von einigen der Hofkobolde her-

eingeführt. Er war in etwas gekleidet, das aussah wieder Versuch von Waldfeen, Menschenkleidung herzu-stellen. Er hatte Jeans aus gepressten blauen Wiesen-lupinen und ein Wollhemd, auf das »Nummer EinsLokales Sportteam« gestickt war.

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»Habt ihr einen solchen Witz?«, fragte der Riese.»Nie davon gehört«, sagte der Hofmensch und

zuckte die Achseln.»Danke, Frank. Wegtreten.«Augie blickte finster.»Genug davon«, sagte der Grüne Ritter. »Lass uns

das Zepter der Ernennung senken.«Er tippte ihr mit dem grünen Zepter auf den Kopf,

und ein Samenkorn fiel aus ihrem Haar. Es landete aufihrem Ärmel und keimte zu einem Spross. Der Sprossverzweigte sich in winzige Ranken, die sich selbst zueinem Gewebe fügten, das zu einer Schärpe wuchs,auf der »BERATERIN« stand.

Augie war zugegebenermaßen etwas eitel, und dieSchärpe stand ihr recht gut. Sie strich mit ihrem Hand-rücken über ihre raue Oberfläche.

»Und?«, fragte der Grüne Ritter. »Was rätst dumir?«

Das was Augies Chance, um Gawain zu retten.»Der erste Tagesordnungspunkt ist, dass du aufhö-

ren musst, Dinge zu köpfen.«Der Grüne Ritter runzelte die Stirn und grinste süf-

fisant. Der Vorschlag erschien ihm wie eine neumodi-sche Flause – andererseits hatte sie bei dem Baby-Zer-teilen völlig recht gehabt.

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»Fahre fort«, sagte er.»Es ist absolut barbarisch!«, rief sie. »Du kannst

nicht herumrennen und Ritter köpfen.«»Ich glaube, du weißt nicht, was ›kannst nicht‹ be-

deutet«, sagte der Riese.Das würde wohl schwerer werden, als Augie ge-

glaubt hatte. Dem Grünen Ritter war überhaupt nichtklar, warum ein Ritter wohl seinen Kopf behaltenwollte, oder warum ein Führer vermutlich nicht mirnichts, dir nichts die Köpfe guter Leute abschlagensollte. Sie würde ihm nicht nur das Köpfen erklärenmüssen, sondern ein ganzes System sinnvoller Regeln.

»Was wir hier brauchen«, sagte sie, »ist ein kom-plettes Zivilisationsprogramm für dich.«

»Und was bitte schön muss an mir zivilisiert wer-den?«, fragte der Riese. Er wurde langsam ärgerlich.

»Wie viele Ritter hast du geköpft?«»Die meisten.«»Gibt es je wirkliche Sieger in Kriegen?«»Ja. Gewöhnlich einen. Mich.«»Was ist dein Lieblingsgericht?«»Brot aus den Knochen meiner Feinde. Mit Butter

und Zimt. Worauf willst du hinaus?«Augie schielte zu dem Riesen hinüber. Sie hatte so

wenig Zeit, um alles an ihm zurecht zu rücken. Immer-

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hin hatte es fast Augies gesamtes bisheriges Leben ge-braucht, um Mama und Papa zu zivilisieren. Sie dach-te zurück an diese schwierigen Jahre.

Als sie zum Beispiel fünf Jahre alt war, machte siesich Sorgen um ihre Lesekompetenzen, also brachtesie ihre Eltern dazu, ihr jeden Abend beim Zubettge-hen etwas vorzulesen. Es war bezaubernd, wie Ma-ma all die Worte herausbrachte und nur selten stol-perte, wenn sie Sätze mit ungewöhnlichen Silben laswie »Der fünfte Fünfer fügte sich für fünfzig faireViertelpennies« oder wenn sie ausgedachte Wörter le-sen musste wie »schwoxindoxincladjutrubbinbonker-schwox”.

Papa dazu zu bringen, Mathe zu lernen, war nochschwieriger gewesen. Augie machte ihre Hausaufga-ben und ließ sie von Papa korrigieren, damit er an sei-nem Verständnis arbeiten konnte. Papa begann lang-sam, die Grundlagen zu begreifen. Er war natürlich et-was langsamer als Augie, aber man konnte heutzutagevon Eltern auch nicht mehr viel erwarten, mit all denMedien um sie herum, die um ihre Aufmerksamkeitkonkurrierten.

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Wie auch immer, der Grüne Ritter war erheblichunzivilisierter als Augies Eltern, und sie hatte für ihndeutlich weniger Zeit. Es waren jetzt nur noch elf Mo-nate, bis Gawain ankommen würde, und der GrüneRitter war fest entschlossen, ihm den Kopf abzuschla-gen.

»Okay«, sagte sie. »Ich werde mit vier Grundprin-zipien der Zivilisation anfangen. 1) Ethik basiert aufKonsens. 2) Opfer sollen nicht selbst Rache üben. 3)Die Regierung dient dem Willen des Volkes. 4) Rie-sige ungewaschene Bärte sind eklig.«

Der vierte Punkt war erst vor Kurzem hinzugefügtworden.

Der Riese räusperte sich, um eine Erwiderung vor-zuschlagen.

»1) Ethik basiert auf dem, was der König in genaudieser Sekunde will. 2) Wenn Opfer Rache selbst aus-üben, halbiert das die Ausgaben für die Polizei. 3) DieRegierung bringt den Willen des Volkes ZU den Leu-ten, und wenn sie nicht gehorchen, werden sie zer-quetscht. 4) Ich habe diesen Bart erst letzte Woche inDünger gewaschen, darum sieht er jetzt so üppig aus.«

Der Bart schüttelte sich angeberisch. Der zurück-haltende aber freundliche Aal in dem Bart streckte Au-gie die Zunge heraus. Augie hörte schwach einen po-

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kerspielenden Hund, der »WAU! Royal Flush!« riefund eine Menge Chips vom Tisch nahm.

Es würden elf lange Monate werden.

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Kapitel 9Seit Gawain die Herausforderung angenommen

hatte, war sein Ansehen als Edelmann erheblich ge-stiegen, und er war bemüht, sich entsprechend zu ver-halten. Beim edlen Verhalten geht es hauptsächlichdarum, finster zu blicken, die Schultern zurückzuneh-men und »in der Tat« zu sagen. Unglücklicherwei-se war Gawain darin nicht sehr gut. Er war sowohlaufrichtig als auch eifrig, und diese Dinge sind unterwichtigen Leuten nie in Mode, besonders, wenn sie inder Öffentlichkeit stehen.

Zu Beginn des Jahres hatte er mehrere Monate mitKrafttraining verbracht, bevor er erkannte, dass Kraftvermutlich nicht helfen würde. Schließlich hatte erdem Grünen Ritter glatt den Kopf abgetrennt, aber eshatte nichts gebracht. Er entschied, dass er besser da-rin werden musste, grüne Dinge zu besiegen.

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Also befahl er seinem Knappen, er möge ihm so vie-le grüne Dinge wie möglich bringen, auf dass er derenTapferkeit im Kampfe erproben konnte. Der Knappejagte in der Burg herum und brachte ihm Gras, Limet-ten und Brennnesseln.

Des Grases entledigte sich der Ritter schnell, da essich kaum verteidigte.

»Schwächling«, sagte Gawain und wischte dasChlorophyll von seiner Klinge.

Die Limetten waren ein unwürdiger Gegner, ob-wohl sie es schafften, Zitronensäure in Gawains Au-gen zu spritzen. Er war nicht wirklich in Gefahr, doches liegt in der Natur der Ritter, etwas dramatisch zureagieren, daher komponierte er ein paar Balladen aufdie grässliche Unbeständigkeit des Seins und die Lau-nen eines aufrechten Lebens.

Ich erspare euch die Einzelheiten, doch hier ist derletzte bedauernswerte Vierzeiler eines Gedichts mitdem Titel »Ich bin nur ein Mann«:

Oh, Schurke des Zitronenreichs! Du stachst ins Aug', das tat sehr weh! Und weil der Stich gar stechend stach, Drum räch' ich mich! Du wirst Baiser!

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Sobald er besiegt war, wurde der fruchtige Feindzu einem Limetten-Baiser-Kuchen verarbeitet. Rachewar der süßeste Teil des Ganzen, vom Zucker einmalabgesehen.

Die Brennnessel war ein deutlich heimtückischererGegner, aber Gawain hätte es besser wissen und einerPflanze keinen Kopfstoß verpassen sollen. Er obsiegtein dem Kampf, doch hinterher glaubte er nicht mehran das Motto »Sieg um jeden Preis«.

Nachdem er drei grüne Pflanzen besiegt hatte, be-fahl Gawain seinem Knappen, drei grüne Tiere zu be-schaffen. Der Knappe fand einige Vertreter der übli-chen Fauna – einen Frosch, einen Molch und eine Am-phisbaena. Eines dieser Tiere mag unvertraut klingen,und wenn du noch nie einen Frosch gesehen hast: Ersieht aus wie eine Ziege, aber mit einem Echsenkopfund dem Körper eines Grashüpfers. Der Molch warein kesselfertiger Speisemolch, und die Amphisbaenawar eine stinknormale Feld-, Wald- und Wiesen-Am-phisbaena.

Gawain stellte sich zuerst dem Molch. Gawain waretwa vierhundertmal so groß wie dieser, dadurch warer gezwungen, ihn auf einen Tisch zu setzen, umBlickkontakt aufzubauen. Blickkontakt ist eine Artder Einschüchterung bei Rittern, doch das funktioniert

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nicht gut bei Molchen, weil ihre Augen an den Seitenihres Kopfes sitzen.

Nachdem er einige Male zwischen dem linken unddem rechten Auge hin und her geblickt hatte, war Ga-wain so weit verärgert, dass er den Kampf begann.

Er griff nach seiner Schwertscheide und zog seineKlinge, Galatine, die von uralten Runen bedeckt war.Die Runen waren in einer lange vergessenen Spra-che geschrieben, sollten aber ursprünglich bedeuten»Klingen sind vom Umtausch ausgeschlossen«.

Er trat einen Schritt zurück, hob sein Schwert hochüber den Kopf, schwang es herab und schlug demMolch die Schwanzspitze ab.

»AU!«, sagte der Molch, allerdings war es keinbesonders leidenschaftliches »Au«. Es war mehr dielanggezogene Sorte »Auuuuuu«, die man benutzt,wenn man auf ein Spielzeug tritt, das jemand liegen

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gelassen hat, der jetzt zwei Räume weiter ist, und manwill, dass er noch hört, dass man leidet.

Gawain war sprachlos. Er hatte einen Molch nochnie sprechen hören! Er war ein Ritter aus einfachenVerhältnissen und aus einer schlichteren Zeit als eurer,in der Mensch und Tier sich noch mehr ähnelten, da-her hatte er schon viele andere Tiere sprechen hören.Er hatte Dachse reden hören und Gänse, und er hatteeinst einen Igel gekannt, der so beredt war, dass er sichals Anwalt für Schadenersatzklagen ein goldene Naseverdient hatte. Aber einen Molch? Niemals.

»Auuuuu!«, beharrte der Molch, verärgert durchGawains ausdruckslosen Blick.

»Entschuldige«, sagte Gawain. »Ich wusste nicht,dass du sprechen kannst. Wenn ich gewusst hätte, dassdu intelligent bist, hätte ich mich mit dir auf eine Artduelliert, die Ehrenmännern gerechter wäre, wie mitLanzen.«

»Duellieren ist ein Sport für Schwachsinnige«, sag-te der Molch. »Erkläre mir mal, was ich hier soll, underspare mir die Metaphysik. Dein Scherge hat michvon einer wichtigen Monographie weggezerrt, in deres um die Frage ging, ob Korrelation und Kausalitätkorrelativ oder kausal korrelieren!«

Gawain blinzelte.

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Die Schwanzspitze des Molches begann bereitsnachzuwachsen, als Gawain sagte: »Nun, ich versucheeinen riesigen grünen Ritter zu bekämpfen. Ich habeihm den Kopf abgeschlagen, was er überlebte, und nunsoll er mir den Kopf abschlagen. Ich bin bereits starkgenug, um mich ihm auf die übliche Weise zu stellen.Ehrlich. Ich kann fünfhundert Pfund kreuzheben, pro-blemlos. Ich mein's ernst, ich werd's dir zeigen.«

»Ich glaube dir«, sagte der Molch, aber es war zuspät. Gawain hob bereits eine Steinbank auf und ab,schwitzte und bestand darauf, dass »man den Brenn-wert maximiert, wenn man Stein stemmt.«

Als der Ritter schließlich fertig war, schaute er An-erkennung heischend zum Molch. Der Molch starr-te ihn nur leicht gelangweilt an. Das war für Gawainschwer zu ertragen, denn Anerkennung suchte und be-gehrte er immer und überall. Das war auch der Grund,warum er zu dieser Zeit viele Freunde hatte, aber kei-nen einzigen engen.

»Du erwähntest, gegen einen riesigen grünen Ritterkämpfen zu wollen«, sagte der Molch.

»Oh, ja«, sagte Gawain. »Also, der Riesen-Aspektscheint kein Problem zu sein, daher konzentriere ichmich auf die grüne Farbe. Ich stelle mich allen mög-

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lichen grünen Dingen im Kampf, um ihre Verteidi-gungsmethoden zu erlernen.«

»Das ist närrisch«, sagte der Molch. »Ja, ich bingrün, aber aus anderen Gründen als die Limette. Dasist, als würde man den Kampf gegen eine Kartoffeltrainieren, weil sowohl Kartoffeln als auch Riesen Au-gen haben.«

Gawain dachte darüber nach. In seinem langsam ar-beitenden Hirn kam ihm der Gedanke, dass der Rie-se tatsächlich Augen hatte, genau wie die Kartoffel,und dass er sich vielleicht wirklich auch mit Kartof-feln duellieren sollte. Aber er entspannte sich, als ersich erinnerte, dass er erst diesen Morgen eine Kartof-fel beim Frühstück im Kampf besiegt hatte. An dieserStelle unterbrach der Molch Gawains Gedankengang.

»Du sagst, es gibt einen Riesen? Das könnte eine sa-genhafte Anomalie in der Klasse der Säugetiere sein«,sagte der Molch. »Darf ich dann vorschlagen, stattsich mit mir zu duellieren oder mich zu kochen, dassdu mich anstellen könntest, damit ich dich auf deinerQuest berate? Ich habe viele Dinge gesehen, und alsMolch bin ich der Natur viel näher als du, was mich zueinem nützlichen Begleiter machen wird. Ich bin au-ßerdem Philosoph.« Den letzten Teil sagte er mit gro-ßer Trauer und Würde.

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Gawain erwog das Angebot des Molches, und esgefiel ihm auch deshalb, weil er dachte, dass ein »Phi-losoph« jemand sei, der viel saufe, aber auch, weilGawain sich der Langsamkeit seines Gehirns bewusstwar, daher konnte selbst die Hilfe einer derart kleinenKreatur von Nutzen sein. Doch dann störte ihn ein Ge-danke.

»Warte«, sagte Gawain. »Wenn ein Molch so weiseist, dann sollte ich vielleicht auch den Rat des Froscheseinholen.«

Der Molch schaute Gawain an, als hätte er etwassehr Dummes gesagt.

»Das ist ein Frosch«, sagte der Molch.»… Und?«»Na, das … Ich kann nicht glauben, dass ich das

erklären muss. Ein Frosch kann nicht sprechen. Wieum alles in der Welt soll der dich beraten? Das ist nurein Frosch.«

Gawain schaute zu dem Frosch, dessen Augen ab-wesend in gegensätzliche Richtungen schauten. DerFrosch quakte und beschmierte sich selbst, ohne eineMiene zu verziehen.

»Das ist vielleicht, wie Frösche Hallo sagen«,schlug Gawain vor.

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Dann dachte der Frosch, er sähe eine Fliege, undseine Zunge schoss hervor. Die vermeintliche Fliegewar nur ein Schatten, aber die Zunge des Froschs kleb-te an einem sehr kalten Stein der Burgmauer, wo siewie ein langezogener Kaugummi hängen blieb. DenFrosch schien das alles zu langweilen.

»Okay, und was ist dann mit der Amphisbaena?«,fragte Gawain.

Der Molch schaute noch skeptischer.»Das ist doch nur eine Amphisbaena. Die sitzt den

ganzen Tag nur herum und skorgelt ihren Bitteltap.«Gawain schaute sich die Amphisbaena an. Tatsäch-

lich tat sie das gerade.»Eklig«, sagte Gawain, als er wieder zum Molch

schaute. »Wohlan denn, Vielsauf, spring auf!«»Philosoph«, sagte der Molch und sprang auf Ga-

wains Schulter. »Und«, hauchte er, »nenn mich Mol-chael«.

Der Ritter fand die müde Zuversicht des Molchessehr beruhigend.

»Ich glaube, wir könnten beste Freunde werden«,sagte Gawain.

»Ich glaube nicht an Freundschaft«, sagte derMolch. »Je mehr man festhält, desto mehr verliertman, weißt du. Besser, wir halten es professionell.«

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Gawain nickte, aber er konnte nicht anders undfühlte sich verletzt von der Ablehnung der angebote-nen Freundschaft. Er schaute ein wenig traurig, aberdas störte den stoischen Molch nicht, der nur sagte:»Du wirst es verstehen, wenn du älter bist und Verlus-te kennengelernt hast. Gefühle sind für einen großenLogiker nur eine Ablenkung. Nun denn! Erster Tages-ordnungspunkt. Wie lange hast du noch, bis du im Pa-last des Grünen Ritters zu erscheinen hast?«

»Ein paar Monate«, sagte Gawain.»Und wo ist der Palast?«, fragte der Molch.Gawain zuckte die Schultern. Der Molch seufzte.

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Kapitel 10Wir gehen jetzt ein paar Monate zurück, wo wir Au-

gusta betrachten, die erst seit zwei Monaten versuchthatte, den Grünen Ritter zu zivilisieren – mit begrenz-tem Erfolg.1 Es stellte sich als schwierig heraus, denRiesen direkt zu zivilisieren, daher versuchte sie nun,eine Zivilisation um ihn herum zu erzeugen, die dieArbeit für sie erledigen würde.

Sie schritt vor dem Riesen, der auf seinem Thronsaß, auf und ab. Nachdem sie so eine ziemliche Men-ge hin und her geschritten war, hob Augie ihren Kopf,stieß einen Finger in die Luft und sagte dann mit gro-

1 Ich wurde darauf hingewiesen, dass diese Geschichte nichtchronologisch voranschreitet und dass ihr Menschen das proble-matisch finden könntet. Tja, kommt damit klar.¹¹ Dies ist ein Experiment, um zu sehen, ob Fußnoten in Fußnotenmöglich sind. Bitte mit der Geschichte fortfahren, aber späternoch einmal kontrollieren, ob das noch immer funktioniert.

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ßer Bestimmtheit: »Das erste, was du tun musst, umeine zivilisierte Gesellschaft zu errichten, ist, zu ent-scheiden, welche Wirtschaftssysteme erlaubt sein sol-len.«

Der Grüne Ritter nickte dazu, obwohl er den Satzweniger verstand als die einzelnen Worte. Augie fuhrfort.

»Ich schlage vor, wir etablieren ein System vonLaissez-Faire-Kapitalismus entlang der Leitlinien, dieAdam Smith vorgeschlagen hat.«

»Was ist das?«, fragte der Riese.»Nun, die Grundidee ist, dass das Individuum für

sein eigenes Wohlergehen sorgt, und die unsichtbareHand des Marktes gute Ergebnisse für die Gesellschafterzeugt.«

»Nein, nein«, sagte der Grüne Ritter. »Wir ha-ben schon eine unsichtbare Hand am Markt. Er heißtHandreas. Ach, der ist schrecklich. Immer kneift erLeute, wenn sie nicht schauen, und er macht rüde un-sichtbare Gesten. Ich bin mir, was die Gesten angeht,nicht ganz sicher, aber ich hab da so ein Gefühl. Nein,eine unsichtbare Hand ist genug, danke.«

Augie hatte mit dieser Erwiderung nicht gerechnet,aber sie vermutete, dass jedes System in Ordnung wä-re, und jetzt war nicht die Zeit, sich in den Details zu

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verlieren. »Vielleicht wäre es besser, eine eher kom-munale Wirtschaft zu haben«, schlug sie vor.

»Ja, ich denke auch«, sagte der Riese, der aus ir-gendeinem Grund glaubte, »kommunal« bedeute, dasses dort Pizza geben würde.

Augie lächelte. »In diesem Fall sollten wir Privat-besitz abschaffen, damit niemandem irgendetwas al-lein gehört.«

»Interessant«, sagte der Riese. »Aber wir haben daseigentlich schon. Ich bin hier der Boss, also gehört mirhier aller Besitz. Also statt dass niemandem etwas ge-hört, gehört hier einem alles. Wir sind somit nur eineStelle davon entfernt, und das ist genau genug.«

Augie grinste und dachte nach. »Was tun, wastun …«, dachte sie. »Wie kommt es, dass Opa es im-mer schafft, dass Papa ihm gehorcht, obwohl Papagrößer und stärker ist und kein Gesetz vorschreibt,dass Opa das Sagen hätte?«

Das war es! Sie brauchte kein komplettes kompli-ziertes System, um den Grünen Ritter zu zivilisieren.Sie musste dem Grünen Ritter nur Manieren beibrin-gen.

Manieren sind, wenn man es herunterbricht, ziem-lich einfach. Man erfindet einen Regelsatz, der dasVerhalten festlegt, und dann rollt man mit den Augen,

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wann immer jemand diese Regeln nicht kennt. Sobaldman das tut, hat man akzeptiert, dass Regeln existie-ren, auch wenn es niemanden gibt, der sie durchsetzt.Und sobald man so weit ist, könnte man dafür offensein, dass »kein Köpfen erlaubt« eine der Regeln wäre.

In ihrer offiziellen Position als Beraterin setzte Au-gie ein Bankett für diesen Abend an.

Es war eine schöne Winternacht, ruhig bis auf dasgelegentliche Rufen einer Eule oder das Skorgeln ei-ner Amphisbaena. Der Mond stand hoch und glommblassblau, der Burggraben lag in einem grünen Schim-mer, und die grünen Pflanzen wirkten fast weiß.

Im Speisesaal des Grünen Ritters stand eine großeHolztafel, geformt von vielen ineinander verschlunge-nen Obstbäumen, so dass man von jedem Platz aus ei-ne Pflaume, Feige oder Kirsche pflücken konnte, so-gar in dieser kalten Jahreszeit. Beiderseits des Saa-les waren große offene Kamine, deren steinerne Ein-fassungen verschiedene Abenteuer des Grünen Ritterszeigten. Eine davon war erst kürzlich geformt worden

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und zeigte den Grünen Ritter mit Gawains Kopf in dereinen Hand und einem Daumen hoch mit der anderen.Augie war damit nicht einverstanden gewesen.

Während der Mond höher stieg, setzten sich eineAnzahl wichtiger Gäste aus der Stadt zum Speisen. Esgab Kreaturen aller Art zum Bankett. Selkies, die halbMensch und halb Robbe sind, saßen in Vogelbad-Sit-zen, die man an den Tisch gezogen hatte. Elfen, ge-wandet in Gold und Seide, saßen höflich und genossendas holzgewirkte Gebäude. Einige der Sitze schienenleer, doch dies waren in Wirklichkeit Stuhlschildkrö-ten, die genau wie Stühle aussahen. Das Problem mitden Stuhlschildkröten ist, dass sie kurzsichtig sind undgerne auf Stühlen sitzen, daher passiert es recht häu-fig, dass sie sich aufeinander setzen. Wenn man genugStuhlschildkröten in einem Raum hat, hat man ganzschnell einen unendlich hohen Stapel von ihnen. Diesverletzt die Gesetze der Realität und beschädigt (oft)auch das Dach des Gebäudes. Glücklicherweise hattedie Bankett-Einladung an die Stuhlschildkröten fest-gelegt, dass sie nur eine endliche Anzahl Gäste mit-bringen durften, sonst hätte es Schildkröten den gan-zen Weg nach oben gegeben.

Die Gäste schwatzten in ihren verschiedenen frem-den Sprachen, bis auf einmal die Kamine ausgingen.

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»Willkommen«, brüllte der Grüne Ritter aus derDunkelheit.

Der Saal wurde heller. Die Gäste blickten emporund sahen einige tausend Ranken herabsinken. An je-der Ranke war ein knolliges Gewächs, das ein ange-nehmes gelbes Licht aussandte. Das Licht wurde hel-ler und heller, und just als man die Person neben sichwieder sehen konnte, sprangen die Kamine wieder an.Am Kopf der Tafel saßen der Grüne Ritter und Augie.

»Ich bin euer Herrscher, der Grüne Ritter. Dies istmeine Beraterin, deren Name lautet ›Augusta Sag NurAugusta Frankmacher Und Nichts Sonst Denn DasIst Mein Name‹«. Augie seufzte innerlich und atme-te langsam. Um sich zu beruhigen, stellte sie sich denTag vor, an dem sie die mathematische Welt mit demfrankmacherschen Trivialitätssatz2 schockieren wür-de. Dann würde sie die Fields-Medaille erhalten undgenug Geld für eine Million Schokoriegel, kein Kara-mell.

2 Der frankmachersche Trivialitätssatz besagt, dass alle Sät-ze trivial-wahr sind, einschließlich dem frankmacherschen Satz.Dies ist ein perfekter mathematischer Satz, denn er beweist sichselbst. Das einzige mögliche Problem ist, dass er auch sein Ge-genteil beweist. Glücklicherweise ist es trivial-wahr, dass daskein Problem ist.

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»Danke für die Vorstellung«, sagte sie. »Ihr könntmich kurz Augusta nennen. Bitte setzt Euch alle.

Ihr werdet bemerken«, sagte Augie mit einem bösenGrinsen auf dem Gesicht, »dass neben Euren Tellernzwei Gabeln liegen. Eine ist eine normale Gabel, dieandere ist eine Salatgabel.«

Die Gäste sahen einander verwirrt an. Bis aufdie kurzsichtigen Schildkröten, die verwirrt unbelebteObjekte anschauten.

Der Führer der Selkies schaute auf und fragte:»Welche Gabel ist welche? Die sehen gleich aus.«

»Aber sicher wissen Sie doch, welches die Salatga-bel ist, edler Herr«, sagte Augie.

Augie und der Grüne Ritter hatten sich zuvor einSystem zurecht gelegt. Die Salatgabel hatte einen win-zigen Kringel an ihrem stumpfen Ende eingraviert,doch der war so unauffällig, dass die Gäste vergeblichnach einem Unterschied suchten.

»AHAHAHAHAHAHAHA!«, gackerte Augie,während ihre Gäste sich umsonst bemühten.

»Es ist diese!«, sagte der Grüne Ritter, der vollerStolz die falsche Gabel hoch hielt.

Augie entschied blitzschnell, dass die Gabel OHNEden Kringel die Salatgabel war.

»Äh … ja. Genau«, sagte Augie.

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Der Grüne Ritter verstand den Sinn von all demnicht, und doch fühlte er sich mit einem Mal den El-fen und Selkies und Stuhlschildkröten überlegen, diekeine Idee hatten, dass offensichtlich die Gabel ohneKringel die Salatgabel war. »Arme plumpe Narren«,dachte er und benutzte die Salatgabel, um sich Toma-ten aus der Schüssel in den Mund zu katapultieren. Et-wa die Hälfte der Male klappte es.

»So weit, so gut«, dachte Augie.Und auf diese Weise bekam die Zivilisation einen

Fuß in die Tür der Grünen Kapelle. Der Grüne Ritterwar noch immer der Herrscher des Landes, doch durcheine simple Salatgabel hatte Augie ihm gezeigt, dasses Regeln gibt, die außerhalb der Macht der Herrscherexistieren. Zur Erinnerung: Die Gabel-Regel war ver-mutlich eine schlechte Regel, doch Augie nahm an,dass wenn sie eine dumme Regel etablieren konnte,dann würde sie sie mit der Zeit verbessern können,denn alle Rechtssysteme arbeiten auf diese Weise.

Augie lächelte, nahm sich eine Handvoll Salat undbiss glücklich hinein, bevor ihr auffiel, dass alle sieanstarrten. Dann nahm sie die Salatgabel in die Hand.

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Kapitel 11Im November machten Molchael und Gawain sich

auf den Weg zur Grünen Kapelle. Sie hatten gehofft,das Ross des grünen Riesen hätte Hufabdrücke hinter-lassen, doch der Verfolgte hatte mächtige Waldmagiean seinem Pferd, und so machte es keine Spuren.

Glücklicherweise hatte der Grüne Ritter die mäch-tige Waldmagie nicht bei sich selbst angewandt, da-her gab es eine deutliche Spur von Barthaar und Scho-koriegelverpackungen. Molchael machte eine Notiz ineinem winzigen Notizbuch:

»Wenn nicht grässlicher Tod: Mit irrem Riesen Un-rat in der Natur besprechen.«

Sie folgten der Spur bis zum Waldrand. Es warschon spät am Tag, und Molchael schlug vor, bis zumnächsten Tag zu warten, bevor sie in den dunklenWald gehen sollten.

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»Ach, komm schon!«, rief Gawain. »Ich will jetztgehen!«

»Es ist zu dunkel«, sagte der Molch. »Geduld.«Aber Geduld war keine Tugend, die Gawain je ge-

meistert hätte. Er hatte mehrmals versucht, Geduld zuerlangen, hatte sich dann aber immer so sehr gelang-weilt, dass er auf halbem Wege abgebrochen hatte.

Doch als der Molch sich weigerte, den Wald in derNacht zu betreten, war Gawain gezwungen, sich hin-zusetzen und zu warten.

Wenn sich unsereins hinsetzen und warten müss-te, würden wir uns vermutlich mit einem Computer ir-gendeiner Art die Zeit vertreiben, aber Gawain hatteweder einen Computer, noch einen Fernseher oder einRadio. Er hätte vielleicht Bodybuilder-Magazine ge-lesen, aber die Druckerpresse war in seiner Welt nochnicht erfunden worden. Magazine wurden sorgfältigvon Mönchen und Weisen kalligraphiert, und sie wa-ren sehr kostspielig und schwer zu bekommen. Es gabzum Beispiel nur eine Ausgabe der Fitnesswelt Band4, und die lag auf dem Meeresgrund in den Trümmernder Bibliothek von Alexandria.

Gawain entschied sich also, seine Muskeln zu trai-nieren und eine große Anzahl Liegestütze zu machen.Er hatte immer vor, nur zehn zu machen, aber er konn-

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te nicht zählen, daher machte er jedes Mal hunderteund wurde so topfit. So albern das klingt, aber im We-sentlichen entstehen die meisten menschlichen Erfol-ge auf diese Weise.

Molchael saß auf dem Rücken des Ritters und laseine winzige Ausgabe von Der Hobbit: Ausgabe fürAmphibien, Echsen und Schlangen. Er las bis spät indie Nacht, bis die Seiten nur noch vom Mondlicht be-leuchtet wurden, das sich in Gawains Helm spiegelte.Gawain hatte seine Übungen schon lange beendet undschnarchte laut. Molchael war gerade an der Stelle inseinem Buch, wo der edle Drache alle Zwerge, Hob-bits und Menschen verschlingt und danach glücklichlebt bis an sein Lebensende.1 Mit diesem wundervol-len Gedanken sank schließlich auch er in den Schlaf.

1 Molchaels Lieblingsstelle war das Drachengedicht:Die Fährte zu riechen,Die Beute indessenIns Dunkel zu treibenUnd alle zu fressen!

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Sie erwachten, als die Sonne gerade über dem Ho-rizont erschien. Obwohl sie in ziemlicher Entfernungvom Waldrand geschlafen hatten, schienen sie nunin seiner unmittelbaren Nähe zu sein. Das beunruhig-te den Molch, doch bevor er seine Bedenken äußernkonnte, war Gawain auf dem Weg in das Unterholz.Ihr müsst wissen, Gawain bemerkte selten kleine Än-derungen in seiner Umgebung, weshalb er auch sehrglücklich war und sich in etwa jeden seiner Knochenschon einmal gebrochen hatte.

Die Kreaturen dieses wundersamen Waldes warenzarte Geschöpfe, und daher gab es sogar in dem fri-schen Schnee, der den Waldboden bedeckte, keineSpuren oder Fährten. Die ganze Gegend erschien Ga-wain und Molchael wie ausgestorben. Als sie tieferund tiefer vordrangen, verbarg der Baldachin der Bäu-me mehr und mehr von der Sonne, und die dichter ste-henden Bäume zwangen die Wanderer zu einem stär-keren Zickzack-Pfad.

Eine Eule rief von oben herab. Ein Wolf schlug ir-gendwo hinter ihnen an. Eine Amphisbaena skorgel-te unheilvoll. Sie konnten die Zeit schlecht schätzen,und obwohl sie dachten, sie wären noch nicht langegewandert, wurden sie schon bald schläfrig und ent-schieden, zu rasten.

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Gawain sammelte trockene Zweige und machteein kleines Feuer. Er rollte seinen Mantel zu einemkleinen Kissen zusammen, während die flackerndenFlammen die nahestehenden Bäume erhellten, aberwenig sonst. Molchael hatte Angst, denn er war in-telligent und konnte sich alle möglichen scheußlichenDinge in der Dunkelheit vorstellen. »Nicht die Dun-kelheit macht mir Angst«, sagte er, »sondern das, wasdarin lauert!«

Aber Gawain hörte nicht zu, denn er war schon ein-geschlafen und träumte davon, Lancelot im Reiter-kampf zu besiegen. Molchael wusste das, weil Gawainim Schlaf sprach. Er skandierte eine falsche Buch-stabierung seines Namens: »G-A-W! A-Yps-N! Ga-wayn, Ga-wayn wird gewinn'n!«

Es mag seltsam erscheinen, aber Gawains Schlicht-heit und Stärke beruhigten Molchael. Er ging zu sei-nem großen Begleiter hinüber, stellte sicher, dass erfest schlief, und kuschelte sich dann in den Arm desRitters.

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Als sie etwas später erwachten, war es zu ihrerÜberraschung noch immer dunkel. Der Wald erschienihnen jetzt fremder und düsterer. Das Unterholz wardicht und dunkel und schien sich um sie zu schließenwie eine enger werdende Höhle. Camelot schien jetztsehr weit entfernt.

»Fürchte dich nicht«, sagte Gawain.»Warum nicht?«, fragte Molchael.Gawain hatte darüber nicht nachgedacht, und jetzt

bekam er auch Angst. Er wurde sich schlagartig seinerUmgebung deutlicher bewusst. Der raue Umhang umseinen Hals, das feuchte Gras, die weiche schwammi-ge Erde.

Dann sah er in einiger Entfernung ein blasses blauesLicht.

»Schau dir das an!«, sagte er, während er aufsprangund darauf zu rannte. Molchael hielt sich an seinenSchultern fest.

»Echt jetzt?«, rief Molchael. »Du kannst doch nichtzu jedem mysteriösen Licht hinrennen, das du hier indiesem unheimlichen Wald siehst! Hat dir deine Ma-ma das nicht erklärt?!«

Doch es war bereits zu spät. Molchael hielt sich anGawains Schultern fest, während der Ritter durch dasGehölz preschte.

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Sie kamen näher, und es wurde deutlich, dass es sichnicht um ein kleines nahes Licht handelte, sondern umein großes, das recht weit weg war. Es wurde größerund größer, bis es eine imposante blaue Burg in derFarbe des Mondlichts war, oder in der Farbe des sehrheißen Teils einer Kerzenflamme.

Der Ritter war so aufgeregt, dass er einen kleinenMann in einem blauen Mantel übersah.

»Stopp!«, sagte der mit einer Fistelstimme.Gawain nutzte seine befehlsgewohnte Ritterstimme

und sagte: »Wer seid Ihr, Reisender?«»Wahrlich!«, sagte der kleine Mann, denn so fangen

die meisten Sätze von mysteriösen Reisenden an, »Ichweiß sehr wohl, welche Sorte Reisender Ihr seid, derIhr es vorzieht, nicht geköpft zu werden.«

Gawain lächelte voller Erstaunen. »Woher wisst Ihrdas!?«

»Der Ort, zu dem Ihr geht, wird Grüne Kapelle ge-nannt, und sein König ist der Grüne Ritter. Er hat die-sen seltsamen Wunsch nach grünen Sachen, womit ichsagen will, dass er verrückt ist. Sei's Halunke oder Hei-liger, wer dorthin geht, den hackt er klein!«

»Tut er das immer?«, fragte Gawain. Doch der Rei-sende beachtete ihn nicht.

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»Und falls Ihr Euch an diesem Orte zeigt«, sagte derseltsame Mann, »dann ist der Tod Euch sicher. Für-wahr, ich sage Euch, Ihr müsst ihn fliehen, diesen Ort,aus Angst um Euer Leben.«

»Ja schon, aber wenn ich fortgehe«, sagte Gawain,»werden mich alle für einen Waschlappen halten.Mein Ding ist gerade, KEIN Waschlappen zu sein.«

Molchael schaute Gawain an und flüsterte: »Kannich dich kurz unter vier Augen sprechen?«

Gawain und der Molch gingen ein paar Schritte bei-seite und unterhielten sich mit leiser Stimme.

»Du hast nicht gesagt, dass du das tust, um nicht wieein Waschlappen dazustehen!«, sagte der Molch.

»Welchen anderen Grund gibt es denn, irgendwaszu tun?«, fragte Gawain.

»Liebe, Frieden, Schönheit, Wahrheit, Glück, Spaß,Laune, Abenteuer, Freude, Verantwortung, …«

»Okay, aber was noch, außer diesem Zeug?«Molchael seufzte. Aber er blickte in Gawains Au-

gen und meinte zu verstehen. Es ist fast unmöglich, zuverstehen, warum andere Leute Dinge tun, denn wirhaben alle Lieblingsgefühle und Lieblingswege, die-se Gefühle zu erlangen. Daher muss man manchmalverstehen, dass das, was eine andere Person glücklichmacht, nicht das ist, was einen selbst glücklich machen

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Zach Weinersmith

würde, und dass das, was eine andere Person traurigmacht, nicht das ist, was einen selbst traurig macht.Der kleine Molch verstand, dass Gawain nicht Sicher-heit oder Ruhe oder ein gutes Buch glücklich machenwürden, wie es bei ihm selbst der Fall gewesen wäre.Gawain wollte sich als guter Ritter fühlen.

»Das ist eine schreckliche Idee«, sagte Molchaelmit einem Seufzen. »Ich werde dir helfen.«

Sie drehten sich zu dem Reisenden.»Ich muss zur Grünen Kapelle«, sagte Gawain.

»Und was mir dort widerfährt, werde ich ertragen.«Gawain kannte einige der Worte nicht, die er gerade

gesagt hatte, aber Lancelot hatte sie einmal gesagt, undsie klangen sehr eindrucksvoll. Der Reisende lächelteund nickte.

Er hob eine sehr kleine Hand und wies zur blauenBurg hinter sich.

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Augie und der Grüne Ritter

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Zach Weinersmith

Kapitel 12Wir gehen noch einmal ein paar Monate zurück zu

Augie in der Grünen Kapelle.Ihr erinnert euch vielleicht, dass Augie früher in

diesem Jahr den Grünen Ritter zivilisiert hatte. Ihmbekam die Zivilisation ziemlich gut. Jetzt trug er einenZylinder, hatte eine vernünftige viertürige Limousi-ne und las jeden Morgen den Börsenbericht. Ich musseuch sicher nicht daran erinnern, dass solche Dinge indieser Märchenwelt schwer zu bekommen waren, da-her war der Zylinder in Wirklichkeit ein Kobold na-mens Zilindar, dessen Aufgabe es war, auf dem Kopfdes Grünen Ritters zu sitzen, die vernünftige viertü-rige Limousine war ein Pferd, das weder Türen hattenoch vernünftig war, und der Börsenbericht war einStück Papier, das über und über mit dem Wort »Akti-en« beschriftet war.

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Augie und der Grüne Ritter

Nachdem der Ritter nun die Regeln der Zivilisati-on akzeptiert zu haben schien, hoffte sie, ihm zeigenzu können, dass einem Unschuldigen den Kopf abzu-schlagen entschieden unzivilisiert war.

»Herr Ritter?«, sagte sie mit großer Würde.»Ja, meine Beraterin?«, erwiderte der Ritter und lüf-

tete seinen Kobold. Das klappte nicht besonders gut,da Kobolde es hassen, gelüftet zu werden.

»Sir, Ihr mögt Euch erinnern, dass uns bald Gawainvon König Artus' Tafelrunde besuchen wird.«

Der Ritter verkniff das Gesicht, als würde er etwasgründlich bedenken. Er sprach schnell, wie ein Ge-schäftsmann, dem viel im Kopf herum geht.

»Ah, ja«, sagte der Ritter, während er seinen Bör-senbericht durchsah. »Wunderbarer Bursche. Freuemich schon darauf.«

»Und Ihr plant, ihn zu köpfen.«

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Zach Weinersmith

»Ja, in der Tat, das ist mein Plan«, sagte er, setz-te eine Lesebrille auf und kniff die Augen zusammenbeim Lesen des Papiers. »Das Highlight der Saison,würde ich sagen.«

»Meint Ihr nicht, es wäre schlecht, das zu tun?«»Nein, nein, das sehe ich nicht so.«»Aber wenn wir ihn ohne ordentlichen Gerichts-

prozess köpfen, würde uns das unzivilisiert machen.Wenn wir unzivilisiert sind, sind wir nicht viel besserals Barbaren. Wenn wir nicht besser als Barbaren sind,weiß ich nicht, wie wir für Euch einen Espresso auf-treiben sollen.«

Wie es der Zufall wollte, nippte der Ritter gerade anseinem Espresso (der in Wirklichkeit nur eine Tassevoll Sumpfschlamm war), und er spuckte ihn aus.

»Dann dürfen wir keine Barbaren werden!«, sagteer. »Wenn wir Barbaren werden, na, dann ess' ich mei-nen Hut!«

An dieser Stelle floh Zilindar der Kobold schließ-lich aus dem Königreich, um sich einen besseren Jobzu suchen.

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Augie und der Grüne Ritter

"Kompromiss«, sagte Augie. Dann ging sie zu einerder Steinwände und schrieb:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN.

Sie drehte sich zum Riesen und lächelte hoffnungs-voll.

»Das ist okay«, sagte der Grüne Ritter. »Er verdientein Köpfen. Ein großes spektakuläres. Er war sehr tap-fer.«

»Das ist nicht, was ich meinte!«, sagte Augie.»Menschen mögen es nicht, geköpft zu werden. Des-halb kannst du das auch nicht einfach machen. Dumusst auf die richtige Situation warten.«

»WAS? Die richtige Situation? Aber wir nutzendoch schon bestimmte Situationen. Wie in diesem

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Fall, da ist die Situation, dass ich wirklich ehrlich denRitter köpfen möchte. Also WIRKLICH ehrlich.«

»Nein, ich meine, ich glaube, wir sollten auf einespezielle Situation warten!«

»Ohhhhhh!«, sagte der Ritter. »Du meinst Weih-nachten!«

Augie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Siestöhnte einmal sehr laut und missbilligend, tigertedann mit den Händen auf dem Rücken hin und her undwälzte das Problem in ihrem Kopf. Sie betrachtete denRitter, der fröhlich den »Börsenbericht«, den er ver-kehrt herum hielt, »las«. Und da verstand sie.

Sie hatte den Grünen Ritter dazu gebracht, einzuse-hen, dass Regeln existieren sollten, doch er verstandnicht, warum diese Regeln existierten. Er sah keinenZusammenhang zwischen den einzelnen Regeln. Undes war schwer, mit ihm zu diskutieren, weil er in dieserverrückten Welt voller Hexen und sprechender Blu-men und Magie aufgewachsen war. Wie, so fragte siesich, sollte sie ihm die Erziehung eines ganzen Lebensin nur wenigen Monaten geben?

Und dann fühlte sie eine seltsame Wärme in ihrerTasche. Dort fand sie das goldene Amulett, das BabaYaga ihr gegeben hatte. Einer der drei blauen Steinesandte jetzt einen kleinen aber starken blauen Licht-

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strahl aus. Der Grüne Ritter schaute von seinem Bör-senbericht auf, und eine geisterhafte Stimme vibriertein dem kleinen Edelstein.

»Geh zum großen Wacholder und finde die großenDenker.«

»Was bedeutet das?«, fragte sie. Doch der ersteQueststein war bereits verschwunden und hatte nurein Rauchwölkchen hinterlassen und einen schwa-chen sauberen Geruch wie von einem gechlortenSchwimmbad.

Augie rief nach dem Hofmenschen. »FRANK!«Frank der Mensch kam um eine Ecke gelaufen und

trug einen Geschäftsanzug, wie es sich für einen zi-vilisierten Diener ziemte. Unglücklicherweise warenGeschäftsanzüge hier Mangelware, daher war einfachein Geschäftsanzug auf einen Leinensack gemalt wor-den, den er trug. Und mit »gemalt« meine ich, dass je-mand »Geschäftsanzug« darauf geschrieben hatte.

»Ich muss auf eine Quest gehen! Ich hörte, es gebeeinen großen Baum, wo die größten Denker des Lan-des leben«, sagte Augie. »Wo sind sie?«

»Das ist einfach«, sagte Frank. »Die Zedernkäfer.Sie leben in einem riesigen Baum in den Wäldern di-rekt vor der Stadt.«

Augie drehte sich zum Riesen.

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»Herr Ritter! Ich wünsche, Euch auf eine Reise mit-zunehmen, die Euch zu einem noch gerechteren Herr-scher macht, als Ihr es bisher seid!«

Der Ritter griff nach seiner Axt und stand auf. »Nundenn«, sagte er. »Man soll mir nicht nachsagen, ichwäre nicht an Gerechtigkeit interessiert. Mehr noch,wenn das irgend jemand sagt, ab mit seinem Kopf!«

Glücklicherweise hatte Frank den Raum bereits ver-lassen, daher verhallte der Befehl in der Luft der Gro-ßen Halle.

Augie ritt auf dem Rücken des Grünen Ritters, lehn-te sich an seine große, kalte Axt und hielt sich an sei-nem seilartigen Haar fest. Von dort oben konnte siehinabblicken auf die gesprenkelten braunen und rotenund grünen Baumwipfel – der Flickenpulli, den die Er-de trägt, wenn es kalt wird. Als die Sonne sank undpink erblühte, warf sie lange Schatten auf die hohenBäume, so dass die kleinen Waldgeschöpfe daruntermit dem spärlichen Licht befleckt wurden, das seinenWeg unter die Blätter fand. Voraus sah sie den großen

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Augie und der Grüne Ritter

Baum – einen Wacholder-Riesen, verdreht und knor-rig.

Als sie sich gerade fast nach ihm ausstrecken undihn berühren konnte, beugte der Riese die Knie, undsie sanken durch das Blätterdach. Am Fuße des Bau-mes waren große Wurzeln, die um ein sehr altes Stein-gebäude gewachsen waren, das inzwischen halb imBoden versunken war. Augie stieg ab. Der Stein wardunkelgrau und mit Wurzeln und Moos bedeckt, undkleine Rinnsale füllten viele seiner Spalten.

»Ich gehe voraus«, sagte Augie. Das war eine ihrerLieblingsformulierungen, allerdings sollte diese dazuführen, dass sie zwölf Jahre später beinahe von einemMegalodon gefressen werden würde.

Augie und ihr Grüner Ritter schauten in die Dun-kelheit. Am Ende eines kleinen Ganges war eine riesi-ge Tür. Auf einem Schild davor stand: »Du musst SOVERNÜNFTIG SEIN, um einzutreten«, und ein Pfeilwies auf ein Gemälde von Aristoteles.

»Pfft«, sagte Augie und ging zu der Tür. »Was fürein Denker glaubt denn, dass in einem Vakuum zweiObjekte gleich schnell fallen. Hab ich recht?«

Der Grüne Ritter war unsicher.»Wir sind hier neu, also wollen wir nicht mit der

Tür ins Haus fallen.«

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Augie und der Grüne Ritter

Unnötig zu erwähnen, dass der Ritter, als sie dassagte, bereits die Tür eingetreten hatte. Licht drangdurch die Lücke und füllte den Durchgang, und als dieAugen der beiden Abenteurer sich angepasst hatten,sahen sie einen gewaltigen zylindrischen Raum vollerspinnenartiger Kreaturen, die aus Holz gemacht wa-ren, jede mit einem runden Körper und langen hölzer-nen Beinen.

Tausende der Zedernkäfer starrten die beiden Neu-ankömmlinge an. Augie musste daran denken, wie siein Camelot eingedrungen waren, und entschied, dasssie diesmal die Vorstellung übernehmen würde.

»Wie würdest du gerne von mir vorgestellt wer-den?«, fragte sie.

Der Grüne Ritter dachte einen Moment nach undsagte dann: »Der Grüne Ritter, nein – sag Sir der Grü-ne Ritter. Sir.«

»Verstanden«, sagte Augie. Sie räusperte sich.»DARF ICH VORSTELLEN! Doktor Augusta Frank-

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macher und der von ihr beratene … Sir der Grüne Rit-ter.«

Die Zedernkäfer trippelten mit sanften, vorsichti-gen Schritten auf sie zu. Es gab tausende von ihnen,und sie bewegten sich in unheimlichem Gleichtakt.Der Grüne Ritter wirkte leicht verstört und lehnte sichzu Augie hinüber.

»Warum hast du nicht gesagt ›Der Grüne RitterNein Sag Sir Der Grüne Ritter Sir‹, wie ich dich ge-beten hatte?«

Bevor sie antworten konnte, kam einer der Zedern-käfer bis auf einen Meter heran und lehnte sich her-ab, so dass sein augenloser Körper sich ihrem Gesichtnäherte. »Was wollt Ihr, Doktor Augusta Frankma-cher?«, fragte er in seinem sonoren Einklang, der aneine Klarinette erinnerte.

»Euren Anführer treffen«, sagte sie.»Diese Tür war unsere Anführerin. Ihr habt sie zer-

stört!«»WAS?«, rief Augie. »OH NEIN! ES TUT MIR SO

LEID! ICH WUSSTE NICHT –«»Ich mach nur Spaß.«»Nur … Das war ein Witz? Wenn es ein Witz war,

warum habt Ihr nicht gelacht?«»Schweigen ist, wie wir lachen.«

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Augie und der Grüne Ritter

»Oh«, sagte sie. »Lacht Ihr jetzt gerade?«»Jetzt nicht mehr. Schweigen ist auch, wie wir still

bleiben.«Tausende der Zedernkäfer nickten im Einklang.»Nun gut, denn«, sagte sie und erholte sich von dem

Schock. »Uh … oh! Richtig. Seid Ihr die logischsteSpezies hier im Land?«

»Ja.«»Also wenn mein Freund hier eine Frage zu etwas

hätte, dann würdet Ihr die richtige Antwort geben?«»Ja.«Augie wandte sich zu dem Ritter, lächelte selbstge-

fällig und formte mit dem Mund die Worte: »Schaugut zu.« Sie erinnerte sich an das Debakel mit Frankder Butterblume. Jetzt war es an ihr, Recht zu behal-ten.

»Stellt Euch vor, Ihr hacktet einem Ritter den Kopfab«, sagte sie.

»Nun gut«, sagte der Zedernkäfer.»Würdet Ihr einen Gerichtsprozess abhalten, um zu

entscheiden, ob er wirklich verdient, dass man ihm denKopf abschlägt?«

Sie wandte sich an den Grünen Ritter und hob wis-send die Augenbrauen. Der Grüne Ritter verschränktedie Arme und wartete auf die Antwort.

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»Nein«, sagte der Zedernkäfer.»Gena… MOMENT, WAS?«, rief Augie. »NA-

TÜRLICH WÜRDET IHR DAS!«Der Grüne Ritter streckte den Hals vor, und sein

Grinsen war so breit wie tausend Zähne.»AHAHAHAHAHAHAHA!«, sagte der Grüne

Ritter. »HAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA.«»Nur damit Ihr's wisst«, sagte der Zedernkäfer, »wir

alle lachen Euch auch gerade aus.«Dies war alles ziemlich unangenehm für Augie, die

sich jetzt all die stillen hölzernen Kreaturen anschaute.Sie hatte angenommen, sie hätte Recht mit dem Pro-

zess. Sie nahm eigentlich immer an, dass sie Recht hat-te, denn eigentlich hatte sie auch immer Recht. Tat-sächlich hatte sie bei den wenigen Malen in ihrem Le-ben, wo sie angenommen hatte, dass sie Unrecht hatte,damit dann wieder Recht gehabt.

»Was tut Ihr denn, wenn jemand etwas Böses tut?«»Was ist böse?«, antwortete der Zedernkäfer.»Aha!«, rief das kleine Mädchen. Darin lag das Pro-

blem. Augie hatte Recht gehabt, was die Notwendig-keit von Gerichtsprozessen anging, zumindest, solan-ge sich die Frage an normale Leute richtete. Aber inder ameisenartigen Perfektion der Zedernkäfer waren

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Augie und der Grüne Ritter

Konzepte wie »verdient« nicht von Bedeutung. Siewandte sich an den Grünen Ritter.

»Hör zu! Sie versuchen nicht, zu ergründen, werwas verdient, denn das brauchen sie gar nicht! Wennsie alle perfekte Logikmaschinen sind, dann mussniemandem etwas erklärt werden, niemand muss fürschlechtes Verhalten bestraft oder für gutes belohntwerden. Solche Sachen passieren dann einfach nicht.Aber Leute wie wir sind nicht derart perfekt. Wir kön-nen nicht immer erkennen, was richtig oder falsch ist.Darum brauchen wir Gerichtsprozesse.«

Der Grüne Ritter starrte sie einen Moment lang an,nickte, als würde er zustimmen, und rief dann in ei-nem triumphalen Singsang: »ICH HAB RECHT UNDDU LIEGST FALSCH! ICH HAB RECHT UND DULIEGST FALSCH!«

Augie überlegte, ob sich so die Bürger des Römi-schen Weltreichs gefühlt hatten, als ihre Zivilisationzugrunde ging. Ihre Augen verengten sich verärgert,als die Zedernkäfer wieder zu ihrer Arbeit stöckelten.Sie hörte das Echo vom schleimigen Gegacker desGrünen Ritters: »BAHAHAHA!« und war sehr ver-stimmt.

Sie bemerkte, dass der Grüne Ritter gerade auf ei-nem Ende einer langen Betonbrücke saß, die über die

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weite Mitte der Kammer gebaut worden war. Er warso groß, dass der Boden unter ihm aussah, als wollteer nachgeben. Augie ging zu einem Riss, wartete, bissie dachte, dass niemand herschaute, dann gab sie demBoden einen mächtigen Tritt.

Kracks! Der Beton brach, die Brücke zerfiel, undder Grüne Ritter fiel über dreißig Meter nach unten,wo er mit einem so heftigen Aufschlag landete, dassdie gesamte Kammer erzitterte.

Augie machte sich nicht allzu viele Sorgen um ih-ren Freund; sie hatte gesehen, wie er eine Enthaup-tung überlebt hatte, da wirkte eine kleine Rutschpartieein paar Felsen hinab nicht besonders gefährlich. Siehockte sich auf ihre Hacken und rutschte selbst in diewannenförmige Senke hinab, wo der Riese auf seinemRücken lag.

Sie rollte einen großen Stein vom Gesicht des Rie-sen und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Er schiel-te, spuckte ein paar Kieselsteine und grauen Staub ausund sagte: »Ist diese Quest jetzt erledigt?«

»Einen Moment noch«, sagte sie.Genau in diesem Augenblick erschienen tausende

von Zedernkäfern. Sie staksten um sie herum und vor-sichtig über den Körper des Grünen Ritters, währendsie die Gegend erkundeten. Jetzt waren so viele da,

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dass er nicht einmal aufstehen konnte. Ein Zedernkä-fer ging zum Gesicht des Riesen und fragte: »Warumhabt Ihr unsere Brücke zerstört?«

Der Riese schaute ängstlich und zögerte. Die Kam-mer war mucksmäuschenstill.

»Oh, Moment, lacht Ihr gerade?«, fragte der GrüneRitter.

»NEIN!«, schimpfte der Zedernkäfer. Es klang fastwütend.

»Beraterin?«, sagte der Grüne Ritter und schautebittend zu Augie.

»Keine Sorge«, sagte sie und drehte sich zu denZedernkäfern um. »Ähm. Darf ich vorschlagen: Ihrsolltet den Grünen Ritter zerstören, damit er das nichtnoch einmal tun kann.«

»Du bist aber keine gute Beraterin!«, rief der Rie-se. Der zurückhaltende aber freundliche Aal in seinemBart warf Augie einen bösen Blick zu.

Die Zedernkäfer fingen an, auf ihre typische Artherumzuwirbeln und skandierten: »Ja! Ja! Ja!« Siefanden sich zu einem abstoßenden Klumpen zusam-men, der sich höher und höher aufrichtete, bis er wieder Schwanz eines Skorpions aussah. Die Spitze desSchwanzes bog sich herab zum Grünen Ritter, bis siefast seine Stirn berührte.

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»Wartet!«, rief Augie. »Ich habe eine noch bessereIdee. Statt ihn zu zerstören, sollten wir die Situationnoch einmal überdenken.«

Die Zedernkäfer zogen sich ein wenig zurück.»Der Grüne Ritter würde lieber nicht zerstört wer-

den«, sagte Augie.»Richtig!«, rief der Ritter.»Und Ihr wollt ihn zerstören, um ihn los zu sein.

Wie wäre es, wenn er stattdessen verspräche, Leute zuschicken, die die Brücke reparieren und dann nie mehrzurückzukommen?«

Die Zedernkäfer waren still.»Lacht Ihr gerade?«, fragte Augie.

Wenn ihr von außen zugeschaut hättet, dann hättetihr jetzt den Grünen Ritter wie eine Kanonenkugel zurVordertür herausfliegen sehen. Ihr hättet gesehen, wieihm ein kleines Mädchen folgte, das sehr selbstzufrie-den aussah.

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Augie und der Grüne Ritter

Der Grüne Ritter spuckte etwas Staub aus und sag-te: »Okay, ich beginne die ganze Situationen-Sache et-was besser zu verstehen.«

Die beiden kehrten an diesem Abend zur GrünenKapelle zurück. Der Grüne Ritter bestellte sich eineTasse Espresso, und Augie ging zu der Steinwand, andie sie geschrieben hatte:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN.

Das ergänzte sie nun zu:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT.

»Also gut«, sagte der Grüne Ritter, klopfte seinenBart aus und nippte an seinem Sumpfschlamm.

»Also sollten wir Gawain nicht köpfen«, sagte Au-gie.

Der Grüne Ritter blieb still. Augie wartete einigeSekunden auf eine Erwiderung, die aber nicht kam.

»Entschuldige«, sagte der Riese. »Ich habe auf Ze-dernkäferart gelacht. HAHAHAHAHAHA!«

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Augie schaute erbost.»Gawain hat mich geköpft!«, rief der Riese. »Auf

welche andere Art könnten wir ihn denn entlohnen?«Er strich behutsam mit der Hand über die Klinge

seiner Axt. Augie presste sich die Faust gegen dieStirn. Sie würde gründlicher nachdenken müssen.

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Kapitel 13Die Burg war sehr groß und strahlend und sehr

schön mit blassblauen Ziegeln, die das Mondlicht re-flektierten. Als Gawain und Molchael sich näherten,senkte sich die Zugbrücke der Burg sanft auf das Grasherab. Zu Molchaels Erstaunen standen sofort einLord und eine Lady in dem Torbogen, umgeben voneiner Schar Wachen, die alle in blaues Satin gekleidetwaren. Der Lord war füllig, hatte eine rosa Haut, ei-ne hohe goldene Krone und einen gewaltigen baum-wollweißen Bart, der aus seinem Gesicht zu quellenschien. Die Lady hatte helloranges Haar, Sommer-sprossen und ein grandioses Lächeln, und man konn-te ihren kräftigen gebräunten Armen ansehen, dass siegerne draußen war.

Molchael bemerkte, dass es ungewöhnlich war, ei-nen Lord und eine Lady am Burgtor zu sehen, aber

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Augie und der Grüne Ritter

Gawain bemerkte etwas Subtileres. Er wusste nicht,was es war, doch er fühlte in seinem Herzen, dass die-se Lady seltsam war. Das Gehirn ist das vielseitigereOrgan, doch das wohlgestimmte Herz ist das feinfüh-ligere.

Gawains großes Herz sagte ihm, dass die Lady so-wohl verlockend als auch gefährlich war. Das warziemlich schlecht, denn Gawain fand Verlockungengefährlich und Gefährlichkeit verlockend. Aber Ga-wain war vorsichtig genug, nicht zu sehr auf sein Herzzu hören. Ein Ritter von großer Ehre muss sich davorin Acht nehmen, zu sehr auf sein Herz zu hören, sonstfindet er sich alle zehn Minuten in einem Duell wie-der. Er verbeugte sich tief und sagte: »Ich bin Gawain,Ritter der Tafelrunde.«

Der Lord lächelte. »Und wir sind Lord und LadyBertilak. Bitte tretet ein und seid unser Gast! Wir emp-fangen fast nie Besucher. Unsere Burg hat eine furcht-bare Lage, aber die Grundsteuer ist unschlagbar.«

Gawain war nicht sicher, was er tun sollte, dochdann sagte Lady Bertilak: »Wir haben Kuchen.«

»Er möge gegessen werden!«, sagte Gawain.1

1 Das Hirn mag vielseitig sein und das Herz feinfühlig, dochim Bauch werden die meisten Entscheidungen gefällt.

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Augie und der Grüne Ritter

»Warte!«, sagte Molchael mit heiserem Flüstern.»Wir sind auf einer Quest! Und wir haben nur nochwenig Zeit!«

»OH! Oh, richtig«, sagte Gawain. Er wandte sich anden Lord. »He, habt Ihr einen riesigen grünen Rittergesehen auf einem riesigen grünen Pferd, die in einerriesigen grünen Burg wohnen?«

»Natürlich!«, sagte der Lord. »Der Grüne Ritter.Hübscher Bursche. Opulenter Bart. Er lebt ein paarBlöcke weiter den Weg entlang. Wann seid Ihr mitihm verabredet?«

»Weihnachten«, sagte Gawain.»Es sind nur noch ein paar Tage bis Weihnachten«,

sagte die Lady.Molchael und Gawain schauten einander an. Waren

sie länger in dem Wald gewesen, als sie gedacht hat-ten? Gawain vermutete, es müsse eine Art Waldmagiegewesen sein, doch Molchael bedauerte, sich vor ih-rem Aufbruch auf Gawains selbstgemachte Kalenderverlassen zu haben.

Der Lord lächelte und sagte: »Wenn Ihr einige Tagebei uns als unser Gast verweilt, so werden wir Euchrechtzeitig zu Weihnachten zur Grünen Kapelle brin-gen.«

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Gawain mochte Kuchen, und der Molch hatte sichinzwischen damit abgefunden, den Dingen ihren Laufzu lassen, daher stimmten sie zu, in der Burg Bertilakzu übernachten.

Der Lord und die Lady machten kehrt, und ihreblauen Satinwachen gaben den Weg frei. Gawain undMolchael folgten ihnen in die Burg, die reizvoll, aberspartanisch eingerichtet war. Das Innere enthielt vie-le hölzerne Hütten, die alle nicht beleuchtet zu seinschienen. Eigentlich war das gesamte Gelände dunkel,außer dort, wo das Mondlicht von den Wänden undDecken und vom Schnee auf dem Gras reflektiert wur-de. Das war etwas schmerzlich für Gawain, der nur dieheitere und bezaubernde Burg Camelot kannte, aber erhielt sich an glückliche Gedanken, wie Kuchen sehen,Kuchen serviert bekommen, Kuchen essen und sichgenüsslich daran erinnern, Kuchen gegessen zu haben.

Sie erreichten bald ein hohes, kaltes Marmorge-bäude. Seine Steintüren öffneten sich, und zur freudi-gen Überraschung der Wanderer war die Einrichtungwarm und einladend, gesäumt von prasselnden Feuernund mit Tischen, bereit für winterliche Köstlichkei-ten. Aber auf einem Tisch saß eine koboldartige Krea-tur mit Kochmütze und Schürze und jaulte mit hoherStimme.

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Augie und der Grüne Ritter

»Was ist los?«, fragte Lord Bertilak.»Diebe!«, heulte der Koch. Bratenentführer! Es

wird keinen Braten für unsere Weihnachtsfestlichkei-ten geben!«

»Wer stiehlt Braten?«, fragte Molchael.Gawains Schwert gab ein metallisches Vibrieren

von sich, als er es in der Scheide lockerte.»Ich werde die Diebe finden. Bei meinem Blut, ich

werde nicht ruhen, bis ich ihre Köpfe habe! Und ichkann das auch. Ich bin zäh. Ich kann glatt hundert Lie-gestütze in zwei Minuten machen.«

»Das wird nicht nötig –«, begann der Lord zu sagen,doch es war zu spät.

»Der Trick liegt im Handgelenk«, schnaufte Ga-wain. »Den Druck aufs Handgelenk, nicht auf dieHand. Das wirkt auf den ganzen Körper. Wirkung!WUUH!«

Gawain kam zum Ende und sagte: »Seht Ihr das?Kein Schweiß. Hab ich Euch ja gesagt. Ihr habt's allesehen können.«

Die Lady sagte: »Beidhändige Liegestütze sind jagar nichts! Schau mal hier zu!«

Was folgte, war ein Wettstreit duellierender Kraft-übungen. Die Lady machte einhändige Liegestütze,daraufhin machte Gawain Ein-Finger-Liegestütze, al-

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so machte die Lady Liegestütze nur auf dem Gesicht,woraufhin Gawain welche machte und nur sein halbesGesicht benutzte.

»Sapperlot!«, rief die Lady. »Das habe ich noch niegesehen.«

Gawain lächelte, obwohl die rechte Seite seinesKopfes plattgedrückt und rosig war.

»Sehr imposant«, sagte der Lord gütig und nicktegerade genug, um die rötliche Stelle an seinem Kopfunter seiner Krone zu entblößen. »Ich glaube nicht,dass wir Eurer Dienste mit dem Dieb bedürfen. Darfich vorschlagen, Eure beträchtlichen Fähigkeiten zunutzen, um einen neuen Braten zu erbeuten?«

Gawain beratschlagte sich kurz mit Molchael, wo-bei es vor allem um das Wort »beträchtlich« ging undob das ein Kompliment war. Als das geklärt war, sagteGawain zu, in Lord Bertilaks Auftrag jagen zu gehen.

Dies war die Übereinkunft, die sie trafen: Lord Ber-tilak erlaubte Gawain, in seinem Privatwald zu jagen,und Gawain würde alles zur Burg zurückbringen, waser auf dieser Jagd erlangte. Lady Bertilak würde Ga-wain begleiten, um ihn zu führen und ihm Gesellschaftzu leisten.

Diese Vereinbarung machte Gawain ziemlich ner-vös. Wisst ihr, in der Welt der Lords und Ladys sind

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die Regeln sehr eigenartig. Normale Leute wie duund ich schütteln sich häufig die Hände oder tauschenUmarmungen und Küsse aus. Doch die Körper vonLords und Ladys werden als heilig angesehen und dür-fen daher nur von bestimmten Personen berührt wer-den. Es ist in etwa so, wie wenn ihr auf einer lan-gen Reise seid und euer Bruder oder eure Schwestereinfach nicht aufhören will, euch anzufassen, und ihrdann irgendwann sagt: »HÖR AUF, MICH ANZU-FASSEN!« Wenn ihr allerdings eine Lady oder einLord wärt, dann könntet ihr euer Geschwister dafürköpfen lassen. Das kommt euch jetzt vielleicht wun-derbar vor, aber auf lange Sicht könntet ihr das dochbedauern.

Als Ritter war Gawain verpflichtet, Lord BertilaksGastfreundschaft anzunehmen, auch wenn sie ihn ban-ge machte. Und so kam es, dass an diesem Nachmittager und Lady Bertilak und Molchael in den Wald umdie Burg ausritten. Sie waren auf der Suche nach einerseltenen Phytozooan.23

2 Eine Phytozooan ist eine Pflanze, die sich wie ein Tier ver-hält, womit klar wäre, dass sie das Gegenteil eines Computer-programmierers ist.3 Nicht zu verwechseln mit einem Phytozoon, das ein Tier ist,das einer Pflanze ähnelt! – Anm. d. Übers.

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Diese bestimmte Phytozooan wurde »Gemüse-lamm« genannt. Sie war eine eigentümliche invasivePflanze, die über einen nahen Hafen aus der Tatareigekommen war. An ihrer Basis hatte sie große lan-zenförmige Blätter, zwischen denen ein dicker brau-ner Stängel wuchs mit einer Oberfläche irgendwo zwi-schen Bambus und Gummi. An der Spitze wuchs ei-ne Frucht, die sehr einem Lamm ähnelte. Wenn dieFrucht heranreifte, bog sich der Stängel nach vorne,so dass das »Lamm« das nahe Gras abweiden konnte.Das erlaubte es ihm, größer und größer zu werden, bises eines Tages groß genug war, um sich abzutrennenund ins Unterholz zu laufen.4

Wie sie so durch den Wald ritten, konnte Gawainnicht anders, als zu bemerken, dass Lady Bertilak aufihrem weißen Pferd anmutig und edel aussah. Sie trugein weites Kleid aus weißer Seide und Taft mit kurzenÄrmeln und einem grünen Hüftgürtel. Ihr Haar glit-

4 Es war sehr gut, dass Augie nicht auf diesem Jagdausflug da-bei war, denn sie hätte sicherlich bemerkt, dass das Gemüselammeine evolutionäre Unmöglichkeit war, nur um dann von demGemüselamm über horizontalen Gentransfer belehrt zu werden,woraufhin sie eine DNA-Probe verlangt hätte, was fast überallals unhöflich gilt.

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zerte in der Sonne und umspielte ihr Gesicht mit gra-zilen Ringellocken.

Die Lady machte Gawain nervös. Er konnte an ih-rer Haltung erkennen, dass sie gebildeter war als er.Die meisten der früheren Unterhaltungen in seinemLeben hatten sich darum gedreht, wie viel Stein er drü-cken oder wie viel Bier er trinken konnte oder überdas Ekligste, das je in seiner Nase gewesen war. Ervermutete, Edelfrauen waren nicht an den ersten bei-den Sachen interessiert, und auch wenn sie vermutlichan dem dritten interessiert waren, wären sie durch ihrehohe Stellung gezwungen, es zu bestreiten.

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Daher ritten die beiden ihre Pferde in Schweigenund lächelten sich nur gelegentlich an. Lady BertilaksLächeln war schelmisch, so wie das Gesicht, das manmacht, wenn man einen Eimer voll Kröten hinter demRücken versteckt, während einen der Vater fragt, woman denn den ganzen Tag gesteckt habe. Gawains Lä-cheln war ein komisches Quetschen seiner rechten Ge-sichtshälfte, bei der seine Wange fast sein Auge zu-drückte.

»Mir kam zu Ohren«, sagte die Lady, »dass Ihr derstärkste aller Ritter seid.«

»Da habt Ihr mehr oder weniger richtig gehört«,sagte Gawain und dachte nervös an Lancelot.

Molchael fand das alles ziemlich dumm und öde,daher drehte er sich in seiner Satteltasche herum, umin die andere Richtung zu schauen. Er mochte es nicht,seinen Begleiter mit dieser seltsamen Lady zu teilen.

Als er sich umwandte, bemerkte er einen kleinenFlecken Gemüsewölfe, die eine Art Phytozooan sind,mit der ihr vermutlich schon vertraut seid. Gemüse-wölfe sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass auchGemüselämmer in der Nähe sind. Molchael entschiedgegen besseres Wissen, Gawain zu helfen, die Ladyzu beeindrucken, indem er in sein Ohr flüsterte: »Gehnach links.«

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Gawain drehte sich unmerklich zu Molchael. Mol-chael zwinkerte. Gawain nickte, lächelte verstohlenund zwinkerte zurück.

»Mylady, ich glaube, wir sollten uns nun nach linkswenden.«

Gawain drehte nach rechts und stieß mit dem Pferdder Lady zusammen.

Bald schon luden sie sich große, saftige Gemüse-lämmer auf. Lady Bertilak war beeindruckt von Ga-wains Fähigkeiten als Spurenleser. Sie war sogar der-art beeindruckt, dass sie ihm eine dicke Umarmunggab.

Er erstarrte. Jeder Muskel in seinem Körper zogsich zusammen. Gawain fühlte sich wie ein Frosch voreinem zu schnell fahrenden Auto. Eine Edeldame aufdiese Weise zu umarmen, war eine gewaltige Indis-kretion. Aber wäre es nicht auch eine Indiskretion, sienicht zurück zu umarmen? Die starken Arme von La-dy Bertilak fühlten sich an wie die Umarmung einerBoa. In den meisten Fällen besiegte Gawain böse Din-

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ge, indem er sein Schwert schwang. Aber selbst, wenner es jetzt hätte greifen können, wäre unklar gewesen,was er damit hätte erstechen sollen, um aus dieser Si-tuation heraus zu kommen.

Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.Er tätschelte sie auf den Rücken und murmelte:

»Äh … danke gleichfalls«, dann löste er sich undsprang auf sein Pferd, von dem er meinte, dass es sohoch war, dass die Lady ihn dort nicht erreichen konn-te.

Als sie durch den Wald trabten, kletterte Molchaelzu Gawains Ohr hoch.

»WAS WAR DAS DENN?«, flüsterte er.»Was denn?«, fragte Gawain, ebenfalls flüsternd.

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»Der KUSS. Du kannst dich doch nicht von ei-ner Adligen KÜSSEN lassen! UND SIE IST AUCHNOCH EINE VERHEIRATETE ADLIGE!«

»Ich wollte den KUSS nicht!«»Du hast ihn aber bekommen. Jetzt musst du ihn

Lord Bertilak geben!«»Was?«»Du hast eingewilligt, alles, was du auf diesem Aus-

ritt bekommst, Lord Bertilak zu geben. Und du hasteinen Kuss bekommen!«

Das war ein solcher Schock, dass Gawain vergaß,zu flüstern und rief: »NEIN, ECHSE5, NEIN!«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Lady.»BESTENS!«, rief Gawain.»Wenn du das nicht machst«, sagte der Molch,

»hast du den Ritterkodex gebrochen.«Gawain flüsterte zurück: »Ich kann Lord Bertilak

nicht küssen! Das wäre total peinlich! Und es würdeauch den Ritterkodex verletzen.«

»Nein, würde es nicht! Der Lord hat dem zuge-stimmt. Die einzig mögliche ritterliche Handlung ist,zu dem Lord zu gehen, ihn zu küssen und zu hoffen,dass er nicht fragt, warum.«

5 Natürlich ist ein Molch eine Amphibie, keine Echse.

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Daraufhin begann Gawain vor Furcht zu zit-tern und schaute sich gehetzt um. Er fühlte sichkrank und schwindelig. »VERFLUCHT SEI DEINEWEISHEIT, KLEINER FREUND!«, rief er.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Lady Bertilak.Sie sah jetzt besorgt aus.

»ALLES BESTENS!«, sagte Gawain. Er wechsel-te das Thema zum Ersten, was ihm in den Sinn kam.»Hey, wollt Ihr wissen, was das Ekligste war, das ichje in meiner Nase hatte?«

Der Molch seufzte und schloss die Satteltasche überseinem Kopf.

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Kapitel 14Augie tigerte vor der Wand hin und her, auf der

stand:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT.

Wie sollte man wissen, ob eine andere Möglichkeitakzeptabel war? Ihrer Meinung nach war eine andereMöglichkeit vermutlich immer besser, außer vielleichtbei Leuten, die »nuklear« als »nukular« aussprechen.Aber es war nicht ausreichend, dass ihre Meinung dasKöpfen verbot. Sie musste andere Leute dazu bringen,das auch so zu sehen. Es musste eine andere Methodegeben, die nicht einfach nur darin bestand, dass derGrüne Ritter »so machen wir's!« sagte.

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»Wir brauchen einen ordentlichen Prozess!«, riefsie. »Eine Probe, um zu entscheiden, ob Gawain ent-hauptet werden soll oder nicht!«

»Wie wäre es mit einer Münze?«, bot der Riese an.»Eine … Münze? Wie um alles in der Welt soll das

ein guter Prozess sein?«»Na ja, eine Münze hat einen Kopf auf einer Sei-

te, wodurch man viele Wortspiele rund um Köpfe ma-chen kann.«

Augie musste zugeben, dass das ein exzellentes Ar-gument war, aber es war vermutlich doch keine solideBasis für eine Enthauptung.

»Zu zufällig«, sagte sie.Der Grüne Ritter grübelte lange. »Und wenn wir

zwei Münzen werfen?«Es war offensichtlich, dass der Grüne Ritter kein

guter Regelmacher war. Aber Augie konnte sich auchnicht für eine Regel entscheiden. Den Spionen desGrünen Ritters zufolge hatte Gawain sich noch nichtauf den Weg gemacht, weil er zu beschäftigt damitwar, sich mit einer winzigen Amphibie zu unterhal-ten, aber er würde vermutlich bald aufbrechen. Augielief hin und her, aber ihr fiel kein gutes Verfahren einoder wie sie den Riesen dazu bringen sollte, sich dar-auf einzulassen.

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In eben diesem Moment des Kopfzerbrechens be-gann das Amulett in ihrer Tasche erneut zu glühen.Das blasse blaue Licht schien durch ihre Kleidung,und sie holte das Amulett hervor, das beinahe zu heißzum Festhalten war.

Der Grüne Ritter lehnte sich herüber, als eine geis-terhafte Stimme aus dem Amulett flüsterte: »Geh zumMeer und finde die wundersamen Baumeister!« DieStimme wehte davon, und der Stein verschwand.

»Frank der Mensch!«, rief sie.Frank rannte hervor. Er trug ein Fass, auf dem

»Smoking« stand.»Ich bin zu einer Abendgesellschaft eingeladen«,

sagte er.»Ich muss auf eine zweite Quest gehen. Wer sind

die größten Baumeister in diesem Land? Ich hörte, sieleben am Meer.«

Frank rieb sich den Stoppelbart und tippte auf denKupferriemen des Fasses.

»Ach, natürlich! Ihr meint die Seewichte! Ah, dasist ein faszinierendes Völkchen. Sie leben draußen beiden Kreidefelsen. Jeder ist ungefähr so groß wie einReiskorn und lebt nur etwa hundert Sekunden.«

»Sekunden? Wie können die dann irgendetwasschaffen?«

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»Ihre Wahrnehmung der Zeit unterscheidet sich vonunserer. Dadurch erscheinen wir ihnen sehr langsamund sie uns sehr schnell. Außerdem machen sie keineMittagspause.«

Augie konnte sich nicht so recht vorstellen, dasMittagessen auszulassen, und entschied, dass die See-wichte tatsächlich faszinierend sein mussten.

Sie wandte sich zum Grünen Ritter, der gerade be-gann, die Füße hochzulegen und sich zu entspannen.

»Eine weitere Quest steht an!«, rief sie.Der Grüne Ritter spuckte seinen gesamten Espresso

über Franks Fass.»Der ist nur geliehen!«, rief Frank.

Eine kühle Brise zerrte an der Kleidung von Au-gie und dem Riesen, als sie von den Kreidefelsen aushinabblickten. Das Moos oben auf den Klippen ließdiese wie große weiße Kuchenstücke mit grünem Zu-ckerguss aussehen, die vom Regen über Millionen vonJahren zerteilt worden waren.

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Eine breite Treppe, weiß wie Knochen, war in dieSeite einer der Klippen geschlagen worden und führtenun über hundert Meter in die Tiefe.

Augie strich mit der Hand über die kreideweißenWände. Sie wusste, dass Formationen wie diese nichteinfach so und auch nicht schnell entstanden. Sie wa-ren die Skelette von Milliarden von Milliarden vonKalkflagellaten. Wenn ihr noch nie einen gesehenhabt, ist das nicht ungewöhnlich, denn menschlicheAugen können die gar nicht sehen. Aber wenn man einRastertunnelmikroskop hat, dann sieht man, dass siewie Kugeln aussehen, bedeckt mit runden Schilden.Hier hatte jede Kugel aus Schilden ihr kurzes Lebengelebt und dann ein winziges Skelett hinterlassen, dasweitaus länger Bestand haben würde als die Gebeineder meisten Menschen. Mit ihrem kleinen Finger be-rührte Augie tausende von ihnen.

Hinab, hinab, hinab gingen sie die Stufen zumStrand der Seewichte. Der Strand war riesig, mit wei-ßem Sand und einem sanft schäumenden Meer, dasdas Ufer liebkoste. Es war fast schon unheimlichschön – ohne jeglichen komischen Geruch oder ange-spültes Zeug aus dem Wasser. Einen Augenblick langfürchtete sie, die Bewohner seien ausgestorben.

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Aber als sie sich dem Strand näherten, sah sie tau-sende spiralförmiger Hügel, jeder ein paar Fingerbreithoch und etwa einen Fuß breit, und alle waren dichtaneinander gedrängt. Jede Spirale kam aus einer Mit-te, wand sich mehrmals und endete in einem winzigenkleinen Turm von der Größe eurer Daumen. In dieseneigenartigen kleinen Spiralen wohnten die Meisterar-chitekten – die Seewichte.

Augie wusste nicht, was sie sagen sollte, aber siewar es leid, Vorstellungen zu versuchen, daher rief sieeinfach heraus: »Hallo! Ich möchte mit dem Herrscherder Seewichte sprechen!«

Sie hörte ein sehr kurzes Quieken. Es klang in etwawie »Hwwp!« Später würde klar werden, dass das einelange Rede gewesen war, in Versen gedichtet, aber siewar viel zu schnell für Augies Ohren vorgetragen wor-den. Sie war recht ausführlich, aber hier ist ein Aus-zug, um euch einen Eindruck davon zu geben:

Du bist zu groß, du Riesenbiest! Es tut uns leid, es gibt kein Fest! Und sowieso bin ich gestorben, Eh' mir die Antwort kommt zu Ohren.

Doch hör die Worte, die ich sag,

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Und bitte tu das was ich mag: Sandalen bleiben fern dem Strand. Denn Du bist hier auf unsrem Land.

Natürlich konnte Augie das nicht verstehen. Siehörte nur »Hwwp!« Aber erinnert euch, die See-wichte waren große Baumeister, und sie entwar-fen schnell eine Lösung. Jeweils ein Seewichtzur Zeit würde eine halbe Sekunde seines Le-bens (das entspricht etwa sechs Monaten eures Le-bens) damit verbringen, langsam einen Buchsta-ben eines Wortes auszusprechen. Das war nichteinfach. Stellt euch vor, ihr sagtet sechs Monatelang »OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO-OOOOO« zu einem riesigen Gesicht, das nicht re-agiert. Es war langsame, mühsame Arbeit, aber genaunach dem Geschmack von Seewichten.

Nach einem Moment hörten Augie und der Grü-ne Ritter eine gestückelte Stimme sagen: »Hallo undwillkommen auf dem Strand der Seewichte. DieserSatz wurde begonnen vom großen und alten König

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Bathos Bathyerg IV, dem großen Führer des edlenGeschlechts der Bathyergs, sein Mittelteil wurde hin-zugefügt durch Erlass seiner großen und alten Toch-ter Königin Bathetta II aus dem edlen Geschlecht derBathyergs, und er möge vollendet werden durch ihreTochter Sally, die große und alte Führerin des edlenGeschlechts der Bethyergs.«

»Das ist cool!«, sagte Augie.Sie musste schnell denken. Jede Sekunde war ein

Jahr in der Seewicht-Zeit. Aber sie hatte so viele Fra-gen. Wenn sie so schnell waren, wie funktioniertendann ihre Gehirne? Menschliche Gehirne übertragenSignale ziemlich schnell, aber sie arbeiten mit Chemi-kalien, daher hat das Grenzen. Seewichte mussten et-was Besseres haben, wie Gehirne aus Metall oder pu-rer Energie oder wer weiß was. Und wie funktionier-ten ihre Körper? Wenn Röhren zu klein werden, pas-sieren seltsame Dinge. Hatten ihre Körper Kapillarenwie die menschlichen? Und wie entwickelten sie sich?Und wie würden sie von Nahem aussehen?

Bevor sie etwas sagen konnte, platzte es aus demGrünen Ritter heraus: »Warum Spiralen?« Normaler-weise wäre Augie jetzt verärgert gewesen, aber daswar in der Tat eine ziemlich gute Frage.

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»Das ist eine schöne Form für ein Zuhause«, sagtendie Seewichte.

»Aber … das ist doch eine furchtbare Form für einHaus!«, sagte Augie.

»Warum?«, fragte die kleine Stimme.»Nun, nehmen wir mal an, du bist in der Mitte der

Spirale und du willst nach draußen, um den Strand vondem kleinen Turm aus zu sehen. Dann musst du deinganzes Leben lang wandern, nur, um dorthin zu kom-men! Es wäre doch viel vernünftiger, sagen wir, kon-zentrische Kreise mit vielen Pfaden dazwischen zu ha-ben.«

Augie lächelte ein großes Lächeln, sehr mit sich zu-frieden. Hier waren die größten Baumeister des Lan-des, die schon Millionen von Generationen genutzthatten, um zu einem optimalen Architekturstil zu ge-langen, und sie und ihr Freund hatten sie gerade vor-geführt. Gut, der Grüne Ritter hatte sagen wollen: »Ihrsolltet Eure Häuser wie mein Gesicht formen«, aberglücklicherweise hatte er dazu nie die Gelegenheit be-kommen.

Die Seewichte antworteten nicht sofort. Die Pausedauerte etwa ein halbes Seewichtleben lang. Dann be-gannen die Spiralen, sich zu verändern, langsam, fastunmerklich, in Kreise innerhalb von Kreisen, so wie

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Augie vorgeschlagen hatte. Die Kreise stülpten sichineinander aus, so dass jeder Ring an vielen Punktenmit anderen verbunden war.

Dann verschwand plötzlich einer der Ringe. Danntauchte er wieder auf. Dann verschwand er wieder. Siebeobachtete, wie das wieder und wieder und wiedergeschah, an verschiedenen Stellen, bis der Strand wieein Schachbrett aussah, dessen Felder ständig die Far-be wechselten.

»Was passiert hier?«, fragt sie. Nach etlichen Se-kunden sprach eine Stimme.

»Die Spiralen …«, sagte sie. »Die waren … gut.Wir hätten sie nicht aufgeben sollen. Wir werden inder Mitte der Spiralen geboren. Wenn man den großenTurm vor seinem Tod erreichen will, muss man die ge-samte Spirale ablaufen. Das war nicht effizient, aber esbedeutete, dass jeder jeden kannte. Doch als die Kreisegebaut wurden, war es nicht mehr nötig, jeden zu tref-fen. Es gab immer Abkürzungen. Mit der Zeit zerfieldas Volk, und die Leute entfernten sich voneinander.Wurden Volksstämme. Wurden Feinde. Jetzt sind wiram Kämpfen. Wir sind jetzt alle im Krieg.

»MACHT DAS RÜCKGÄNGIG!«, rief sie.»RÜCKGÄNGIG!«

Sogar der Ritter wirkte bestürzt.

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Die Kreise begannen zu zerbrechen, sich neu zuverbinden und ihre Formen zu ändern. Wenn eineranwuchs, schrumpfte sein Nachbar. Wenn einer grö-ßer wurde, dann nur, um anschließend zu zerfallen.Und dann, auf einmal, war der Strand flach und bewe-gungslos.

Augie starrte mit offenem Mund. Ihre Zunge fühl-te sich sehr trocken an, und ihre Hand krallte sich soheftig in ihre Schärpe, dass sie Löcher hinein riss. Siefühlte sich traurig und dumm und schuldig, so wie mansich bei Nachbarn fühlt, wenn man etwas Wertvolleszerbricht.

»REINGELEGT!«, rief eine hohe Stimme.»WAS?!«, riefen Augie und der Riese zugleich.Der flache Strand formte sich zu seiner ursprüngli-

chen Form mit den Spiralen.»Ha!«, sagte die Stimme. »Wir haben Euch reinge-

legt. Wir haben Euch denken lassen, Ihr hättet eine ur-alte Zivilisation durch eine Unachtsamkeit zerstört.«

»NICHT LUSTIG«, rief Augie.»Ein bisschen lustig«, sagte der Riese.»Ihr dachtet, Ihr wüsstet es besser als wir«, sagte die

Stimme. »Aber Ihr habt Euch keine Zeit genommen,diese Welt zu verstehen, bevor Ihr versuchtet, sie zu

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ändern. Ihr dachtet, ein Haus wäre nur ein Schutz. Ihrhabt nur mit den Augen gesehen.«

Augie hatte sich noch nicht ganz erholt, daher drangdie poetische Sprache nicht ganz zu ihr durch.

»ES WAR EIN STREICH?«, rief sie, die Augen ge-weitet.

»Ja, ein sehr guter«, sagte die Stimme.»Wie … wie viele Generationen habt Ihr dafür ge-

braucht?«»Fünfzehn«, sagte die Stimme. »Ah, ich wünschte

nur, der Opa vom Opa vom Opa meines Opas könntejetzt sehen, was Ihr für Gesichter macht!«

Augie strich sich durchs Haar und seufzte durch zu-sammengebissene Zähne. Das würde ein ungewöhnli-cher Tag werden.

»Ich kam her, weil ich Hilfe suche beim Entwurf fürein Gesetz«, sagte sie.

»Und du hast deine Hilfe erhalten«, sagte die Stim-me.

Auf einmal hob sich der Sand vor ihr wie eine rie-senhafte Welle. Er spülte Augie und den Grünen Ritterfort vom Strand, zurück auf die grünbedeckten Klip-pen. Sie landete im weichen, moosigen Haar des Rie-sen.

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Der Grüne Ritter klopfte den Staub von seinen Kni-en ab. »Das nächste Mal, wenn wir auf eine Quest ge-hen, dann bringe ich eine Matratze für die Landungmit.«

Zurück in der Grünen Kapelle starrte Augie auf dieTafel.

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT.

»Wir müssen noch einmal darüber nachdenken, wasder Grund für das Köpfen-Spiel war«, sagte sie halbzu sich selbst. »Das ist die Lehre der Seewichte. Wirkönnen nicht einfach irgendeine Lösung wählen. Siemuss Zeit und Ort berücksichtigen. Also was war derGrund?«

»Ah! Aha!«, rief der Riese. »Das ist etwas, das ichweiß. Der Grund war, herauszufinden, wer am bestenköpft!«

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»Das ist der augenscheinliche Grund für die Probe«,sagte sie. »Aber was tut die Probe?«

Der Riese schaute verwirrt.Augie fuhr fort. »Was ist, wenn es in der Probe nicht

um das Köpfen geht, sondern um den Ritterkodex?Verstehst du?! Beim Wert des ritterlichen Ehrenkodexgeht es darum, nicht zu schwanken. Wenn der Rittersein Wort gibt, muss er es halten. Wenn wir Gawainlaufen lassen, brechen wir den Kodex!«

»Und wir kommen nicht dazu, ihn zu köpfen«, sagteder Ritter.

Augie ignorierte das.»Gawain hat sich tapfer im Kampf geschlagen und

hatte keine Ahnung, was für Konsequenzen ihn erwar-ten würden. Aber er gab sein Wort und hat nun vor,es zu halten. Verstehst du? Das Köpfen-Spiel hat ei-nen Wert, den wir respektieren müssen. Es zeigt, dassder Ritterkodex über den momentanen Wünschen desEinzelnen steht. Wenn Gawain jetzt nicht durchhält,dann zerbricht der Kodex, was sehr schlecht für allewäre. DARUM existiert das Spiel!«

»Bei einer Sache bin ich mir ziemlich sicher«, sagteder Grüne Ritter. »Das Köpfen-Spiel ist da, um Weih-nachten lustiger zu machen.«

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»Also auch deine Zivilisiertheit kann das Spiel nichteinfach stoppen. Das Spiel ist nützlich. Aber wennwir das Spiel wirklich in seinem Kern verstehen, dannkönnen wir es verbessern. Wir können das Spiel än-dern, damit es … harmloser wird.«

Dem Grünen Ritter kam das vor, als sagte man:»Wir sollten Schokomilch ändern, so dass sie wenigerSchoko und weniger Milch enthält.«

»Was schlägst du also vor?«, fragte er.Sie lief zur Wand und änderte die Regel:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT,

DIE DAS KÖPFEN ANGEMESSENERSETZEN KANN.

»Wenn wir den ritterlichen Ehrenkodex einhaltenkönnen, ohne Gawain zu köpfen, haben wir es ge-schafft. Wir müssen ihm die Gelegenheit geben, seineRitterlichkeit auf eine andere Art zu beweisen.«

»Wie?«, fragte der Riese.»Ich weiß nicht, wie«, sagte Augie. »Es war schon

schwer genug, herauszufinden, warum!«

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Kapitel 15Gawain und Lady Bertilak stiegen direkt vor dem

Speisesaal von Lord Bertilak von ihren Pferden ab.Der Himmel war purpurn vom Sonnenuntergang, undein paar träge Wolken zogen westwärts zum Horizont.Schneeflocken huschten im Dunkel wie verwehte Pus-teblumensamen, und es war die Sorte Abend, an dersich alles weich anfühlt und verschwommen und lieb-lich, aber auch ein wenig traurig. Alle schönen Din-ge sind ein wenig traurig, wie eine Sandburg, die manzurücklassen muss.

Der Speisesaal wurde von zwei Männern in blau-em Satin bewacht. Sie öffneten ihre gekreuzten Hel-lebarden, verbeugten sich und öffneten die Tür. LadyBertilak ging auf Zehenspitzen, die Sehnen und Mus-keln ihrer Fesseln bewegten sich mit der Perfektion ei-ner Raubkatze. Gawain ging eher wie ein Ochse. Also,

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wie ein Ochse, der zum ersten Mal versucht, auf zweiBeinen zu gehen, während er einige hundert PfundBraten schleppt.

Lord Bertilak trat vor, gefolgt von eifrigen Dienernund Köchen, die sich das Gemüselamm griffen.

»Willkommen zurück, edler Ritter«, sagte LordBertilak. »Ich vertraue darauf, dass Ihr mir alles gege-ben habt, das Ihr bekommen habt.«

Gawain schürzte die Lippen, seufzte tief, trat dannvor und gab Lord Bertilak einen dicken fetten Kuss.

»Ja, Mylord«, sagte Gawain. »Das habe ich.«Lord Bertilak wirkte verwirrt und sagte: »Ich …

nun, ist dies Brauch an König Artus' Hof?«»Äh … ja?«, fing Gawain an. Dann flüsterte Mol-

chael ihm etwas ins Ohr. Gawain fügte hinzu: »Ja,doch sie änderten die Tradition kurz nach meiner Ab-reise, daher versucht das nicht, wenn Ihr einmal dort-hin kommt.« Der Molch flüsterte erneut. »Es sei denn,Ihr seid von Adel, was Ihr zweifellos seid, dann mages in Ordnung sein.« Der Molch flüsterte noch einmal,und Gawain sagte: »Ich möchte Euch auch kurz daraufansprechen, ob Ihr etwas Molchnahrung habt.«

»Ich werde in meinen Gemächern sein«, sagte derMolch mit einem Seufzer, bevor er sich in seine Sat-teltasche verkroch.

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Der Lord strahlte Gawain glücklich an. »Ihr seid einguter Ritter, Sir Gawain. Wir haben Nahrung für jedenEurer Freunde!«

Gawain lächelte. Er hatte es geschafft, den Lordnicht anzulügen, und als Zugabe – würde er jetzt denversprochenen Kuchen bekommen.

Das Fest und die Gesellschaft waren prächtig. Eswurde reichlich ausgeschenkt und viel Braten ver-speist. Der Lord war ausgelassen und die Lady witzig,und als die Nacht länger wurde, wurden die schweig-samen Satinwachen gelöster und stimmten in die Spie-le und die Lustbarkeiten mit ein. Gawain fand, sehrzu seiner Überraschung, dass auch er recht charmantwurde. Dass er keine Strafe für die Umarmung desLords erfahren hatte, ließ ihn sich fühlen, wie ihr euchvermutlich fühlt, wenn ihr eine besonders hohe Ach-terbahn überlebt habt. Und als es für ihn an der Zeitwar, einen Trinkspruch zu bringen, flüsterte Molchaelihm eine Passage des großen Dichters Paul LaurenceDunbar zu:

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»Den breitesten Rücken, die weiteste Brust, Doch ist dies denn mehr als nur Schein? Ein Streich oder Stoß oder Stolpern und just Ist das Ende des Weges schon mein. Dann ist's aus mit den Dingen, die mir war'n ein Spaß Die Mutter im Trauerballett, Doch gebt mir mein Pferd und den Hund und mein Glas, Und ein leuchtendes Aug' am Bankett.«

Jedermann erhob sein Glas, und in diesem Momentfiel Gawains Blick auf das leuchtende Auge von La-dy Bertilak. Sie war schön und verboten und sogleichhallte der alte Spruch »Noli me tangere!«1 durch sei-nen Geist. Dummerweise sprach er kein Latein, daherhatte er keine Idee, was das bedeutete. Er hätte weg-blicken sollen, aber er war wie gefangen.

»GAWAIN!«, rief Lord Bertilak.Die Feiernden verstummten und wandten sich zu

dem Ritter, dem der Schweiß unter den Armen und amHals ausbrach.

1 »Berühre mich nicht!« Aber das klingt auf Latein natürlichbesser.

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Lord Bertilak nahm einen tiefen Schluck aus seinemKelch voll Wein und knallte ihn auf den Tisch.

»Werdet Ihr uns die Ehre erweisen, am Morgen er-neut auf die Jagd zu gehen?«, fragte er.

Gawain atmete aus und lächelte. »Die Ehre ist ganzmeinerseits«, sagte er. »Doch muss ich etwas Schlafbekommen, wenn ich morgen jagen soll. Habt Dankfür Eure Gastfreundschaft, und ich verspreche Eucheinen noch zarteren Braten für morgen.« Gawain nick-te und ging aus dem Saal, wobei er darauf achtete,nicht dem Blick der rothaarigen Lady zu begegnen.

Am Morgen ritten Lady Bertilak und Gawain einweiteres Mal aus, um ein Gemüselamm zu erlegen.

»Ist es nicht diese Richtung?«, fragte die Lady. Siewies in die Richtung, in der sie das letzte Mal einenBraten gefunden hatten.

»Ich denke … Ich denke, es wäre vielleicht heraus-fordernder, anderswo zu suchen.«

»Wie kann an einer Pflanze etwas herausforderndsein?«, fragte sie mit einem Lachen.

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Gawain wusste, dass sie recht hatte, aber er woll-te, dass der Ausritt länger dauerte. Er fürchtete sichverzweifelt vor einer weiteren Umarmung durch dieschöne Lady, und wenn es eine kurze Jagd wäre, dannhätten sie noch viel Zeit, bevor man sie wieder amHof zurückerwarten würde. Schlimmer noch, Molcha-el schnarchte in Gawains Satteltasche und würde nichtverfügbar sein, um ihm auf diesem Ritt Gesellschaftzu leisten und ihn zu beraten.

Gawain schluckte und benetzte seine Lippen, wobeier darauf achtete, nicht den Augen der Lady zu begeg-nen.

»Wohlan, Mylady!«, sagte er, und sie ritten los.Nach einer kurzen Weile kamen sie zu einer kleinen

Lichtung, auf der sie Dutzende reifer Gemüselämmerfanden.

»Perfekt!«, sagte die Lady und stieg ab.Gawain tat es ihr nicht gleich.»Warum steigt Ihr nicht ab?«, fragte sie.Normalerweise hätte Gawain sich nun auf Molcha-

el verlassen, die richtigen Worte zu finden, doch Mol-chael schlief noch immer fest.

»Ladies first«, sagte er.Sie hob eine Augenbraue und schaute ihn an.»Ich bin bereits abgestiegen«, sagte sie.

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»Gut denn, wie ich sehe, seid Ihr eine hervorragen-de Reiterin«, sagte er und stieg ab.

»Ihr seid ein seltsamer Vogel«, sagte Lady Bertilakmit einem Lächeln.

»Ein seltsamer Vogel? Warum sagt Ihr das?«, frag-te Gawain, der sofort seine Satteltasche schüttelte undin einem rauen Flüster-Schreien rief: »WACH AUF,SPRECHENDE ECHSE! WACH AUF, SPRECHEN-DE ECHSE!«

»Holen wir uns den Braten!«, sagte die Lady.Gawain seufzte. Es war so ein schöner Tag für ei-

nen Ausritt, und wenn die Dinge ihren Lauf so nah-men, wie sie oft für Ritter verliefen, dann würde ernur noch eine Woche leben. Der Wind blies über diekalten verschneiten Äste, die sich auf ihre schläfrigeWinterart bewegten. Die Luft war so klar, dass sie ki-lometerweit in jede Richtung hätten blicken können,wären die Bäume nicht gewesen. Ein schmaler Bachplätscherte in der Nähe und erinnerte Gawain an dieKanäle, die er als Junge gegraben hatte, um Flüsse fürdas Regenwasser zu machen. Er schaute die Lady an.

»Ja, holen wir uns den Braten!«, sagte er, seineStimme das erste Mal an diesem Tag ungezwungen.

Er machte sich daran, die Gemüselämmer von ih-ren gummiartigen Stängeln zu sammeln. Das war kei-

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ne einfache Aufgabe, aber Gawain war einer von denMenschen, die Arbeit lieben, weil sie wissen, dass einkrummer Rücken das beste Bett macht.2

Als er einen Stängel straff zog, um ihn abzuschnei-den, rutschte sein Griff ab, und er schnitt sich in denKnöchel seines Daumens. Gawain war ein vornehmerMann, doch er verspürte den plötzlichen Drang, ei-nen Strom von so abgrundtiefen Flüchen zu entfes-seln, dass der Landstrich für Äonen frei von tierischemLeben wäre. Doch da war eine Lady in Sichtweite, da-her sagte er stattdessen: »Herrje, ich scheine mich ge-schnitten zu haben.« Dann zuckte er ein wenig.

"Oh-oh«, sagte die Lady. Sie kam mit Gawains Sat-teltasche herbei, öffnete sie und zog ein langes StückLeinen heraus, das sie um die Wunde band.

Inzwischen war Molchael am Aufwachen, wennauch mit schweren Kopfschmerzen. Er steckte seinenKopf aus dem Beutel und blickte finster in das grelleLicht der Sonne, das durch die Äste schien und vomSchnee reflektiert wurde.

Gawain war von der Zärtlichkeit der Lady beein-druckt. Sie stoppte vorsichtig den Blutfluss, ohne die

2 Ich persönlich kann das weder bestätigen noch bestreiten. Ichbevorzuge Kissen.

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Schmerzen zu verstärken. Gawain blickte herab, umzu schauen, wie schlimm es war. Die Lady missver-stand die Geste und küsste ihn auf die linke Wange.

Er erstarrte.Sie küsste die andere Wange.»NEIIIIIIIIN!«, rief Gawain.»NEIIIIIIIIIIIN!«, rief der Molch.»Hm?«, fragte die Lady.»AaaAAAAaaaAAAAAaAH!«, antwortete der

Ritter.»AAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!«, sagte der

Molch, als Gawain den Braten auflud.»AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!«,

sagte Gawain, als er auf sein Pferd stieg.»AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA-

AAAH!«, sagten beide, als sie zurück zur Burg ritten.Lady Bertilak saß auf und folgte ihm. Sie schau-

te verwirrt, als er den Molch aus seiner Satteltaschenahm und mit ihm flüsterte.

Eine halbe Stunde später erreichte Gawain die BurgBertilak, ritt hinein, stieg ab, ging in den Thronsaal desLords und gab ihm einen dicken Kuss auf jede Wange.

»Fröhlichen dreiundzwanzigsten Dezember!«, riefer. Molchael gab ihm ein Daumen-Hoch.

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Bevor der Lord reagieren konnte, zog Gawain eini-ge große Säcke voll Gemüselamm hervor und legte sieauf die Festtafel.

Der Lord berührte seine Wangen und hob seineBrauen so hoch, dass sie unter seiner Krone ver-schwanden. »Ihr Leute aus Camelot habt fürwahr einpaar komische Sitten.«

Die Nacht war hereingebrochen, und es gab ein wei-teres großes Fest, das das erste mit seiner Herrlichkeitin den Schatten stellte. Der Tisch war mit allen mögli-chen wundersamen Speisen gedeckt. Die Gesellschaftund die Gespräche waren entzückend. Drei dressier-te Amphisbaenas skorgelten auf höchst unterhaltsameWeise. Es war das erste Mal, dass Gawain ein Skor-geln genießen konnte.

Doch er genoss es nicht sehr, denn er war zu erfülltvon dem Drang, seine Pflicht zu tun. Er wollte ehrbarsein, doch er fühlte Liebe in sich aufwallen, wie sie-dendes Wasser in einem abgedeckten Kochtopf. Sei-ne Finger zitterten, seine Nase fühlte sich taub an, und

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Schweiß stand auf seiner Stirn. Daher war er völlig un-vorbereitet, als er gebeten wurde, einen Trinkspruchzu bringen. Er schaute sich nach Molchael um, dochMolchael versuchte gerade, ein kleines grünes Cha-mäleon mit seinem Wissen um gute Weine zu beein-drucken.

Gawain ergriff sein Glas, stand auf und schaute sichim Saal um. Es gab überall Wachen in blauem Satin,sowie all die Edelleute, die zum Hofe gehörten. AmKopf der Tafel waren Lord und Lady Bertilak, die ihnanlächelten.

»Freunde!«, rief er. »Ich glaube, ihr seid alle groß-artig. Wirklich, hey, wirklich großartig. Besondersgroßartig ist der Lord. Die Lady ist auch großartig, undihre Begleitung genieße ich auch wirklich, aber dasist keine große Sache, denn ich mag viele Frauen undMänner und auch Echsen, also ihr seht, ich habe vieleFreunde.«

Gawains Mund war jetzt trocken, und er hätte bei-nahe an seinem Glas genippt, bevor er seinen Trink-spruch beendet hatte. Die Lady sah, dass er in Schwie-rigkeiten war, darum stand sie auf.

»Ein wunderbarer Trinkspruch, Ritter Gawain!«,sagte sie. Alle jubelten und tranken. »Da Ihr alles zu-

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rückgabt, was Ihr erhieltet, wissen wir, dass Ihr einehrbarer Ritter seid.«

Gawain nickte, vermied aber den Blickkontakt.»Und daher«, fuhr die Lady fort, »bitten wir Euch,

für ein weiteres Abendmahl zur Jagd zu reiten.«»Ich war noch nie so glücklich, wie in diesem Mo-

ment!«, rief Gawain und sah aus, als hätte er Gallen-steine. »Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich mussein weiteres Mal früh zu Bett gehen, auf dass ich mor-gen erfolgreich sein werde.«

Damit stand Gawain so schnell auf, wie er nur konn-te, riss den Molch aus seinem Gespräch mit dem Cha-mäleon (das ohnehin schlecht lief, da Chamäleonsnicht sprechen können) und rannte in sein Schlafge-mach.

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Kapitel 16Wir kehren zu Augie vor einigen Monaten zurück,

die sich bemühte, einen Weg zu finden, wie Gawaineinen Gerichtsprozess bekommen könnte. Wieder ein-mal tigerte sie vor den Worten hin und her, die sie andie Wand gekritzelt hatte.

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT,

DIE DAS KÖPFEN ANGEMESSENERSETZEN KANN.

Lange hatte sie auf diese Proklamation gestarrt,aber ihr war keine Idee gekommen, wie sie in eine Ak-tion umzusetzen wäre, die den Ritterkodex achten undGawains Leben schonen würde. Die Zeit drängte. Wo-

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chen verstrichen. Die Spione des Grünen Ritters be-richteten, dass Gawain gerade von Camelot aufgebro-chen war. Doch bisher war Augie noch keine Lösungeingefallen. Sie behielt die Hoffnung, dass der drit-te Queststein aufleuchten würde, doch der blieb stör-risch.

Nebenbei konnte sie beobachten, wie die Zivilisati-on wieder von dem Riesen abfiel. Er trug keinen Zy-linder, echt oder unecht. Er trank Sumpfschlamm stattzu Espresso erklärten Sumpfschlamm. Am schlimms-ten war, dass er statt Börsenberichtsimitaten jetzt Bou-levardzeitungsimitate las.

Augie sah ihn an und seufzte.Sie ging hinaus, durch den üppigen Innenhof der

Grünen Kapelle, die breiten Prachtstraßen hinab, aufdenen Elfen und Kobolde arbeiteten und spielten. Siesah ein Elfenpärchen Arm in Arm und dachte an ih-re Eltern und daran, dass sie sie ein ganzes Jahr nichtgesehen hatte. Sie fragte sich, wie sie sich wohl ver-ändert hätten in dieser Zeit. Eltern veränderten sichso schnell. War Papas Haar inzwischen grauer gewor-den? Oder Mamas? Wie viele Falten würden sie jetztin ihren pummeligen Bäckchen haben?

Sie erinnerte sich daran, wie warm ihr Haus in Win-ternächten gewesen und wie manchmal Opa zu Be-

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such gekommen war und Kürbiskuchen für alle geba-cken hatte. Sie konnte den Sirup und den Kardamomriechen. Sie begann, sich Sorgen zu machen. Ob siesie wohl vermissten? Hatten sie sie vergessen? Hattensie daran gedacht, ihr alle Geschenke aufzuheben, dieihr zum Geburtstag und zu den Feiertagen in diesemJahr zustanden?

Sie war es müde, hier zu sein. Sie war es leid, all ihreZeit mit Planungen zu verbringen. Sie war in den Walddavongelaufen, um ein wildes Abenteuer zu erleben,und stattdessen war sie hier gelandet, wo sie ein Jahrlang versuchte, diesen Riesentrottel davon zu überzeu-gen, etwas Schreckliches nicht zu tun! Sie sollte ei-gentlich fantastische Reisen unternehmen und nichtin dieser einen merkwürdigen Burg eingepfercht sein!Sie zog das goldene Amulett aus ihrer Tasche und warfes gegen die Burgwand.

»Das ist nicht fair!«, rief sie. »Es ist nicht …«Das Amulett lag umgedreht auf dem Boden, doch

ein wenig Licht war sichtbar unter seiner goldenenOberfläche.

Augie rannte hin, hob es auf und wischte den Staubab. Endlich war die Stimme ein letztes Mal zu hören,entfernt und geisterhaft. »Quest des Ruhmes, auf derObsidianinsel«, flüsterte sie. Der letzte Stein verblass-

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te und hinterließ ein Amulett mit drei leeren Fassun-gen.

Augie stopfte es in ihre Tasche und rannte zur Gro-ßen Halle, wo der Riese den Kopf über irgendein er-fundenes Prominentengerücht schüttelte. »Wie konn-test du das nur tun, Brad?«, sagte er.

»FRAAAANK!«, rief Augie.Frank lief herbei, gekleidet in einen Sack, auf dem

»Badeanzug« stand.»Er ist nicht zu freizügig, oder?«, fragte er.Der Sack bedeckte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.»Nicht im mindesten.«Er seufzte erleichtert.»Erzähl mir von der Obsidianinsel.«»Die Obsidianinsel?«, sagte er mit weit aufgerisse-

nen Augen. »Sie sagen, dort lebt eine böse Jungfer, dieeinen edlen Drachen entführt hat, und … oder war esanders herum? Ich erinnere mich nicht mehr, aber dortist ein Schatz, den Ritter seit Jahrzehnten zu erlangenversuchen.«

»Was geschieht mit ihnen?«, fragte Augie.Frank zog ernst einen Finger über seinen Hals.»Ihnen wird in den Hals gepiekt?«, fragte der Riese.

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»Sie werden getötet!«, rief Frank. »Ich meine, viel-leicht wird ihnen auch in den Hals gepiekt, was weißich. Aber es ist gefährlich.«

Das war genug Empfehlung für Augie.»Hol deine Axt«, sagte sie zum Grünen Ritter. »Es

ist Zeit für Ruhm und Schätze!«

Augie stand am Bug eines langen Holzbootes, derWind zerrte an ihrem Schal, und der Grüne Ritterruderte mit seinen gewaltigen grünen Händen. Derschwarze Kegel einer Vulkaninsel ragte über den Ho-rizont. Bevor sie das Ufer erreichten, sahen sie einkleines Segelboot, viel kleiner als ihres, das auch zuder Insel fuhr. In dem Boot war ein Mann. Er war einwirklich schöner Mann mit einem perfekten schwar-zen Kinnbart, langem gewelltem schwarzem Haar undschimmernder schwarzer Rüstung mit goldenen Ver-zierungen. Er bemerkte sie und verbeugte sich mit vie-len Schnörkeln.

»Seid Ihr in Gefahr, Mylady?«, rief er herüber.»Ich?«, fragte sie und zeigte auf sich selbst.

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»Ja! Entführt Euch dieser Riese?«»Ohhh, oh, nein. Er ist mein Freund.«»Er hat Euch offenbar gezwungen, das gegen Euren

Willen zu sagen!«Das ärgerte den Riesen, der hinüber reichte und das

Boot des Mannes mit seiner Faust zerschlug.Jetzt glaubt ihr vielleicht, der Mann wäre daraufhin

hin und her geschwommen, doch er trug eine vierzigKilo schwere Rüstung, daher ging er einfach unter.

»Hol ihn wieder raus!«, sagte Augie.»Warum?«»Weil du zivilisiert bist und wir uns einig waren,

dass Gerichtsprozesse vor Exekutionen wichtig sind.«Der Riese griff ins Wasser, fischte herum und zog

den seltsamen Mann heraus. Er sah aus wie eine ei-gentlich schicke Katze, der man gerade ihr erstes Badverpasst hatte, und er hustete und spuckte und spritzteAugie voll mit Meerwasser.

Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er:»Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen.«

»Ganz meinerseits«, sagte Augie. Sie stupste denRiesen an.

»Äh, ganz meinerseits, ja.«Der Riese stellte den durchnässten kleinen Mann in

den Bug ihres Bootes. Der Mann sagte: »Mein Name

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ist Sir Glistnir! Ich bin der größte Ritter, der je gelebthat.«

»Wie kommt es dann, dass ich noch nie von Euchgehört habe?«, fragte Augie.

Das Lächeln verschwand von Glistnirs Lippen. Erließ den Kopf hängen und ballte die Fäuste wie imSchmerz. »Ich muss viele Geheimnisse für mein Landbewahren, daher habe ich meine Taten nicht öffentlichgemacht.«

»Welche Taten?«, fragte sie.Er schaute wieder auf. »Erinnert Ihr Euch, als Ga-

lahad den Heiligen Gral fand?«»Sicher«, sagte sie.»Das war ich.«»Nein, das war Galahad.«»Das ist nur, was sie Euch glauben machen wollen.«An dieser Stelle ließ der Riese einen lauten äch-

zenden Seufzer hören, woraufhin Sir Glistnir seinSchwert zog und sich kampfbereit machte.

»Wollt Ihr spotten mir, Glistnir? Wenn Spott es ist,dann –«

Der Riese schnippte ihm das Schwert aus der Handund in die Wellen.

»Ich bin zufrieden, dass Ihr Eure Lektion gelernthabt«, sagte der Mann.

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Augie und der Grüne Ritter

Der Grüne Ritter war im Begriff, Glistnir selbst indie Wellen zu schnippen, also wechselte Augie dasThema.

Was tut Ihr hier draußen auf hoher See?«, fragte sie.»Ich komme, um den Schatz zu holen! Den golde-

nen Schatz der Obsidianinsel.«»Oh, gut!«, sagte Augie. »Wir tun dasselbe.«Glistnirs Augen leuchteten. »Und wir haben den

Riesen auf unserer Seite?«, fragte er.Der Grüne Ritter nickte.Glistnir machte einen kleinen Freudentanz, bevor er

sich wieder aufrichtete, ernst blickte und sagte: »Ja,es ist wohl. Ein kleines Mädchen wie du wäre keinegroße Hilfe auf einer Quest wie dieser.«

Der Grüne Ritter schickte sich an, Glistnir wiederwegzuschnippen, aber Augie zog ihren Freund beisei-te.

»Geduld«, sagte sie. »Wir haben sein Boot zerbro-chen, also müssen wir ihm helfen.«

Sie schauten hinüber zu Glistnir, der sich in zweiHandspiegeln zugleich bewunderte.

»Vielleicht lassen wir ihn auf der Insel«, fügte siehinzu.

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Der Bug des Schiffes fuhr in den feuchten Sandder Insel, und die drei Reisenden sprangen heraus.Der Strand war flach, es gab viele Felsen, und daseinzige offensichtliche Leben auf der Insel war ange-schwemmter Seetang und ein gelegentlicher FleckenMoos. Vor ihnen ragte ein hoher schwarzer Berg mitsteilen Obsidianflanken auf.

»Wie kommen wir dort hinauf?«, fragte Augie.»Ich könnte Stücke mit meinen bloßen Händen aus

der Wand schlagen!«, rief Glistnir.»Wirklich?«, sagte der Riese. Das hätte er gerne ge-

sehen.»Ja, meistens«, sagte Glistnir. »Hier jedoch nicht.

Dieser Berg ist nur etwa dreihundert Meter hoch, unddas habe ich schon einmal getan, und Sir Glistnir tutnichts zweimal.«

»Was?«, rief Augie. »Nichts zweimal? Was ist mitgehen? Ihr seid schon oft gegangen, viele verschiede-ne Male.«

Glistnir dachte einen Moment nach.

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Augie und der Grüne Ritter

»Nie jedoch auf dieselbe Weise!«, verkündete er.Dann begann er auf eine wackelige seitliche Art zu ge-hen. »Es ist Euch vielleicht nicht gleich aufgefallen.«

Augie und der Grüne Ritter verdrehten gleichzeitigdie Augen.

Bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie ein abscheu-liches Geräusch, als hätte jemand ein langes Donner-grollen aufgenommen und nun in zu hoher Geschwin-digkeit abgespielt.

»SKRIIIIIIIIIIIII!«, hallte der Drachenschrei.Die Luft um sie herum wurde sehr heiß. Augie dreh-

te sich, um aufzublicken, wurde aber umgeworfen. Al-les wurde schwarz. Sie dachte, sie wäre ohnmächtiggeworden, doch dann roch sie den muffigen, moosigenGeruch des Riesen und wusste, dass er sie abschirmte.Sie hörte ein weiteres gedämpftes »SKRIIII!«, dannstand der Riese auf.

Augie sprang auf die Beine und sah, dass der Rü-cken des Riesen in Flammen stand.

»Spring doch ins Meer!«, rief sie.Der Grüne Ritter dachte, sie beleidige ihn, und er-

widerte: »Ach ja? Du kannst ja in einen See springen.«

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Augie drehte sich und sah den Drachen davon-schwirren. Es war ein imposanter großer Drache mitriesigen gefiederten Schwingen und langen Zähnen.1

»SKRIIII!«, kam der entsetzliche Schrei des Dra-chen, als er seine Flügel ausbreitete und das Licht derSonne einfing.

»Er wird langsamer werden müssen, um zu wen-den!«, rief Augie. »Wirf einen Stein, bevor er nochmalüber uns hinweg fliegt!«

Der Grüne Ritter griff sich einen nahen Brocken,holte weit aus und schleuderte ihn gegen den Drachen.Er traf ihn genau am Kopf, und der Drache fiel vomHimmel auf den Strand.

Der Grüne Ritter brannte noch immer, und das Feu-er breitete sich aus. Augie rief: »He, ich wette, ichkann bessere Sandengel machen als du!« Dann warfsie sich auf den Rücken in den feuchten Schnee undbewegte ihre Arme und Beine so schnell wie möglich.Der Riese tat es ihr gleich und löschte so die Flammen.

Augie blickte sich nach Glistnir um und sah ihn reg-los am Boden liegen. Sie rannte zu ihm und berührtebehutsam seine Rüstung. Sie war noch kalt. Sie hob

1 Ihr stellt euch Drachen vielleicht grün und schuppig vor, aberdiese Vorstellung ist aus evolutionärer Sicht kaum vertretbar.

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das Visier und fühlte den Puls. Der große Sir Glistnirwar ohnmächtig geworden.

Augie lächelte den Grünen Ritter an.»Drachen!«, sagte sie. »Schatz!«»Sind wir uns einig, dass ich den schönsten Sand-

engel gemacht habe?«, fragte der Grüne Ritter.»In Ordnung!«, sagte sie. »Aber beeil dich!«Sie rannten den Strand hinab zu der Stelle, wo die

Bestie gelandet war. Der Riese hielt auf halber Streckean. Augie verstand nicht, warum, also lief sie weiter.Als sie sah, was der Riese gesehen hatte, wurde siesehr traurig.

Da lag das große Tier, die Augen vor Schmerz ge-schlossen, einen Flügelarm unnatürlich verbogen undeinen der langen Zähne ausgeschlagen. Eine mütter-liche Frau mittleren Alters in einem alten Kleid, daseinmal schön gewesen war, beugte sich vor und strei-chelte den großen gefiederten Kopf.

»Seid Ihr der böse Drache?«, fragte Augie. »Oderist es die Jungfer, die die Böse ist?«

Gewöhnlich ist die böse aussehende Person in Ge-schichten auch die Böse. Aber der Drache sah nur ver-letzt aus, und die Prinzessin hatte das falsche Alter,um böse zu sein. Wenn man Bücher liest, dann sinddie Schurken eher im Alter fünfunddreißig bis fünf-

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undvierzig oder aber über siebzig. Augie vermutete,die jüngeren Schurken zogen kleine böse Kinder auf,und diejenigen dazwischen waren zu beschäftigt da-mit, böse Darlehen abzuzahlen und Geld für böse Uni-versitäten zu sparen. Diese Frau sah aus, als wäre siein ihren Fünfzigern.

»Böse?«, rief die Frau mittleren Alters. »BÖSE? Ihrkommt hier her, schmeißt meinem Hausdrachen einenStein an den Kopf und fragt uns, wer hier der Böseist?«

»Er hat versucht, uns zu verbrennen!«, sagte Augie.Die Frau schaute sie garstig an. »Er ist ein Drache!

Er ist wie ein großes Hündchen. So geben DrachenKüsschen!«

Augie schritt ein wenig zur Seite des Drachen-mauls. »Wir können seinen Arm richten«, sagte sie.»Er sieht gebrochen aus.«

Die Frau zögerte. Der Drache wandte den Kopf,um Augie anzusehen, und durch die Bewegung dreh-te sich der gebrochene Arm. Das große Tier jammerteauf eine kehlige und fast menschliche Weise.

Die Frau betrachtete den verletzten Drachen, dessenblutunterlaufene Augen hinter einer dünnen Nickhautverborgen waren. Sie schaute zu Augie, zögerte, dannbedeutete sie ihr, zu kommen.

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Augie ließ den Grünen Ritter ein langes StückTreibholz vom Strand holen, und sie benutzte ein altesSeil aus dem Bart des Riesen, um es an den gebroche-nen Flügel zu binden. Es war eine mühsame Arbeit.

»Ich bin Gyda«, sagte die Frau. Sie ballte ihre Hän-de zu Fäusten, und Augie sah, wie ihre Kiefermusku-latur arbeitete, um nicht noch mehr zu sagen.

»Ich bin Augie, und das ist der Grüne Ritter.«Gyda nickte, ohne den Blickkontakt zu brechen.»Warum seid Ihr hier?«, fragte sie langsam.»Ich …« Augie versuchte, sich zu erinnern. »Für

Ruhm und Reichtum, schätze ich.« Es fühlte sich jetztalbern an.

»Wenn das alles ist, was Ihr wollt, nehmt es!«, riefdie Frau. »Es gibt haufenweise Gold oben auf demBerg. Nehmt es! Nehmt Euren Ruhm und geht. Nehmtden Zahn, den Ihr meinem Freund aus dem Kopf ge-schlagen habt und zeigt ihn Euren Freunden! Er kanndamit ohnehin nicht mehr essen. Da habt Ihr EurenRuhm!«

Augie war ein guter Mensch, und sie wusste, dassaus Gyda im Moment der Schmerz sprach, doch dieVersuchung war sehr groß. Mit dem Gold würde sieso viel tun können. Sie würde ihren Eltern ein besseresHaus kaufen können, und sie würde den Teilchenbe-

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schleuniger bauen können, den sie seit Jahren machenwollte. Und man darf auch nicht vergessen, dass derTauschkurs von Gold zu Schokolade bei eins zu tau-sendzweihundert liegt.

Und dann gab es da noch den Zahn. Sie bedauer-te, was passiert war, aber es hatte so ausgesehen, alswürde der Drache sie angreifen. Und hier war diesergroßartige Zahn, der wie ein Fossil aus der Kreidezeitaussah. Man musste sich einmal vorstellen, wie es ih-ren Ruf beim Naturkundemuseum verbessern würde.Stellt euch eine Genanalyse an einem echten Drachen-zahn vor!

Aber dann schaute sie zu dem Drachen hinüber,dessen Gesicht noch immer besorgt war. Ihr wurdeschlagartig klar, dass er ein alter Drache sein musste,da die Jungfer jetzt ja im mittleren Alter war.

Sie atmete aus, biss sich auf die Lippen und grub ei-nen Stiefel tief in den Sand. Und sie traf die Entschei-dung, die sie nicht treffen wollte.

»Hört zu«, sagte sie. »Wir sind mit einem Ritter na-mens Glistnir hergekommen. Er ist der größte Ange-ber, der mir je begegnet ist, und jetzt gerade liegt erohnmächtig am Strand.«

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Glistnir schnarchte hörbar von der anderen Seite desStrandes. Er schlief tief und murmelte vor sich hin, zu-nächst mit einem tiefen Bariton: »Mein Name ist SirGlistnir, holde Maid, ich bin gekommen, Euch zu ret-ten«, dann in einer hohen Fistelstimme: »Potztausend!Ritter Glistnir, Ihr seid so ansehnlich und mutig, undist Euer Bart von Natur aus so üppig?« Dann machteer Kussbewegungen mit seinem Mund.

»Uähh«, sagte Augie.»Wie kann der uns helfen?«, fragte Gyda.Der Grüne Ritter lauschte gebannt auf die Antwort.»Wir machen Folgendes«, sagte Augie mit der An-

deutung eines Seufzens. »Wir sagen ihm, dass er den

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Drachen sah und daraufhin in eine rechtschaffene Ra-serei verfiel. Er besiegte den Drachen und nahm sichden Schatz. Er konnte die Prinzessin nicht retten, docher konnte diesen Zahn als Beweis bergen. Wir wer-den ihm sagen, er habe so wild gekämpft, dass er ohn-mächtig geworden sei. Wir werden ihn mit Schätzenbeladen und fortbringen. Er wird es allen überall er-zählen und sein Gold und den Zahn herumzeigen. Unddann wird Euch niemand mehr hier belästigen.«

Während Gyda überlegte, rief der Grüne Ritter aus:»Aber er ist ein furchtbarer Lügner! Niemand wirdihm glauben!«

Augie schaute ihn an. »Ich verstehe nicht ganz«,sagte sie. »Haben die beiden Aussagen etwas mitein-ander zu tun? Liest du nie etwas über Politik?«

Bevor der Riese antworten konnte, hielt Augie ihreHand hoch. »Wir müssen das Richtige tun. Wir müs-sen das Richtige tun, auch wenn wir das nie jemandemerzählen oder Ruhm dafür erlangen können. Liebe undschweig. Auch wenn es weh tut.«

In diesem Moment machte Glistnir mehr Knutsch-geräusche.

»Und es tut sehr weh«, fügte sie hinzu.

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Nach einigen Stunden war das kleine Boot mit Goldund Juwelen beladen. Der Grüne Ritter ließ eine letzteLadung hineinfallen und Augie ging, um Lebewohl zusagen und sich ein weiteres Mal bei der Frau zu ent-schuldigen.

Gyda schaute das kleine Mädchen ernst an. In ih-ren faltigen Händen hielt sie einen grünen Gürtel ausschöner Seide. Anders als ihr Kleid sah der Gürtel sau-ber und unversehrt aus.

»Komm mal her«, sagte Gyda mit einer zuckersü-ßen Stimme, die Augie an ihre Oma erinnerte.

Augie ging zu Gyda hinüber, woraufhin Gyda ihrkräftig auf die Nase schlug.

»Au!«, sagte Augie.Gyda schlug ihr erneut auf die Nase, diesmal noch

härter.»AU!«, schrie Augie.»Ihr habt meine Insel überfallen«, sagte Gyda, »da-

für der erste Schlag. Dann habt Ihr meinen geliebtenDrachen verletzt, dafür der zweite Schlag. Dann habtIhr meinen Schatz genommen.«

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Gyda starrte das kleine Mädchen an und ballte dieFaust.

»Dafür …?«, sagte Augie und hielt sich die Handvor die Nase.

»Aber dann habt Ihr mir geholfen. Ich denke, dashebt eins wieder auf. Ihr habt zwei von drei bekom-men, das muss genügen.« Dann machte Gyda den Gür-tel von ihrer Hüfte ab und hielt ihn Augie hin.

»Das ist für Euch, denn Ihr könntet uns vor einerMenge Ärger bewahrt haben.« Gyda schaute verdrieß-lich. »Zaudert nicht zu lange. Nehmt ihn, bevor ich esmir anders überlege, denn ich werde sicher nicht auchnoch Danke sagen!«

Augie nahm den Gürtel. Er war weich und einfachentzückend. Sie nickte Gyda zu, doch die hatte sichbereits abgewandt.

Das kleine Mädchen ging zurück zum Boot, den sei-denen Gürtel fest in den Händen, damit er nicht davonfliegen konnte. Ihre Augen waren weit offen, und sieging mit tapsigem Schritt. Ihre Gedanken überschlu-gen sich.

Der Grüne Ritter warf Glistnir auf das Gold. SeinKopf machte ein metallisches Pläng, als er von einemgoldenen Zepter abprallte. »Diese Sache mit den zweivon drei war Glück«, sagte er.

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»Brüche! Hahahaha! Warum habe ich nicht früherdaran gedacht?«, sagte Augie.

So etwas zu sagen, war ziemlich ungewöhnlich, so-gar für Augie. Doch inzwischen war der Riese an dieseltsamen Ausbrüche des kleinen Mädchens gewöhnt.

Der Grüne Ritter legte vom Ufer ab, und just als sieweit genug von der Insel entfernt waren, so dass keineGefahr mehr drohen konnte, erwachte der schlafendeRitter. Ich erspare euch, wie Augie ihm von seinen hel-denhaften Taten berichtete. Um euch aber nicht völ-lig die Abscheulichkeiten vorzuenthalten, sind hier ei-nige Verse aus dem Vierzehntausend-Zeilen-Gedicht»Glistniriad«.

Hurra auf den Ritter der erhabenen Ära! Ja, Ritter Glistnir der Ritter fürwahr! Hurra singen Helden und Weise und Lehrer, Wahrlich perfekt! Und so ein Kinnbart!

Dereinst fuhr Sir Glistnir hinaus auf die Quest. Sein Gefolge voll Angst die Flucht schon gewählt Den Feind, den erschlug er und feiert ein Fest Und hey! Hab ich von seinem Bart schon erzählt?

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Sie schmissen Glistnir am Ufer hinaus und wandtensich anschließend heimwärts.

Der Grüne Ritter war angenehm überrascht, wie gutes sich anfühlte, ohne Schatz oder Ruhm nach Hau-se gekommen zu sein. Gutes zu tun erzeugt ein tiefesGefühl der Genugtuung, auch ohne Lob oder auch nurAnerkennung zu erwarten. Es ist so ähnlich wie sehrreich zu sein, ohne sich um schicke Kleidung oder gro-ße Häuser zu kümmern. Das war es, was der GrüneRitter empfand, als er in seinen großen weichen Thronneben dem Kaminfeuer sank. Es war ein neues Gefühlfür ihn, und er gab sich ihm ganz hin, und lächelndstrich er sich über den Bart.

Augie lächelte auch, als sie zu der Wand rannte, aufder stand:

MAN DARF NUR LEUTE KÖPFEN, DIE DAS VERDIENEN,

WENN MAN KEINE ANDEREMÖGLICHKEIT HAT,

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DIE DAS KÖPFEN ANGEMESSENERSETZEN KANN.

»Hör zu!«, rief sie. »Ich weiß jetzt die Alternati-ve! Hahahaha!«, rief Augie. Wir müssen ihn nur da-zu bringen, zu beweisen, dass er den ritterlichen Ko-dex einhalten wollte. Dann wird gar nichts gebrochen!Und was ist das Wesen des Ritterkodex'? Da geht esum Selbstaufgabe. Es geht darum, auf Dinge zu ver-zichten, um Gutes zu tun! Das ist die Alternative. Ermuss zeigen, dass der Ritterkodex ihm so wichtig istwie sein Leben. Wenn er das schafft, dann können wirihn verschonen UND den Kodex einhalten.«

Der Grüne Ritter war sich nicht sicher, dass ihm die-se Idee gefiel.

»Wenn es funktioniert, dann kannst du dich genauso integer wie jetzt fühlen, und die Gesellschaft wirdnicht in Anarchie versinken!«

Der Grüne Ritter kannte keines dieser Wörter. Ei-gentlich dachte er, »Anarchie« wäre eine Art Boot.Aber er fühlte sich im Moment ziemlich gut, daherhörte er seiner sonderlichen kleinen Beraterin zu.

»Wenn Gawain sich uns nähert, werde ich ihm ent-gegentreten als ein mysteriöser Reisender und ihm sa-

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gen, dass es gefährlich ist. Wenn er weitergeht, zeigtdas, dass er tapfer ist.

Dann werden wir dafür sorgen, dass er einem mys-teriösen Lord und seiner Lady begegnet. Sie werdennatürlich Hamster oder so sein, und wir werden Magienutzen, um sie wie ein Lord und eine Lady aussehenzu lassen. Gawain wird aus Gründen der Gastfreund-schaft bei ihnen übernachten müssen, und sie werdenihn losschicken, Essen für die Festlichkeiten zu besor-gen. Und sie werden ihm auftragen, alles dem Königabzuliefern, was er auf der Jagd erhält. Aber die Ladywird mit ihm gehen und ganz sein Typ sein.«

»Sie wird also einen hübschen Bogen und solchesZeug haben?«, fragte der Grüne Ritter.

»Quatsch. Wer will denn sowas?«, sagte Augie.Wie ihr seht, war Augie auf bestimmte Weise gar nichtso verschieden von Gawain. Sie fuhr fort mit ihremPlan. »Sie reiten also aus, und sie gibt ihm einen Kuss.Ich weiß, das ist eklig, aber hör erstmal weiter zu.

Danach wird er durch sein eigenes Versprechen ge-zwungen sein, dem Lord den Kuss zu geben, auchwenn es sich sehr unangebracht anfühlen wird. Und erwird die Lady nicht zurückküssen dürfen, auch wennsich das dann sehr verlockend anfühlen dürfte. Ver-stehst du?! Gawain wird auf Liebe und Bequemlich-

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keit verzichten müssen, um den Ritterkodex einzuhal-ten!

Wenn er drei Nächte davon durchsteht, mit mehrKüssen an jedem Tag, dann haben wir noch eine letz-te Prüfung für ihn. Er wird ein magisches Artefakt er-halten, das den Träger vor Schaden bewahrt. Auch dasmuss er zurückgeben, obwohl es ihn vor der Enthaup-tung bewahren würde.

Wenn er der Liebe, der Bequemlichkeit und der Si-cherheit entsagen kann, nur um den Ritterkodex ein-zuhalten, dann wissen wir, dass der Kodex steht. Dannist das Köpfen nicht notwendig.«

Der Grüne Ritter erwog den Vorschlag. Einerseitsmochte er die Idee, ein würdevoller und zivilisierterHerrscher zu sein. Andererseits war das Köpfen dasBeste an Weihnachten. Dann kam ihm ein Gedanke.

»Was, wenn er die Prüfung nicht besteht?«»Äh …«, sagte Augie.Der Grüne Ritter lächelte, sprang auf und griff sich

seine Axt.»Dann gibt es ein zivilisiertes Köpfen!«, rief er und

begann einen Freudentanz.

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Kapitel 17Es war am Morgen vom vierundzwanzigsten De-

zember, zurück auf Burg Bertilak. Lady Bertilak undGawain ritten ein weiteres Mal aus und kamen ein wei-teres Mal zu der lauschigen Stelle mit den Gemüse-lämmern nahe dem Bach. Dieses Mal wusste Gawain,dass die Küsse kommen würden, also stählte er sich,als sie die Lämmer aufluden.

Als sie sich ihm näherte, schloss er die Augen undbedeckte seinen Mund, nur für den Fall.

»Sind meine Küsse so schrecklich?«, fragte die La-dy.

»Sie sind wie Feuer«, sagte Gawain.»Insofern, dass sie verlockend und gefährlich

sind?«, fragte sie.

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Gawain dachte mehr daran, dass er kein Feuer insGesicht bekommen wollte, aber die Metapher wardeutlich besser, also nickte er.

Dreimal küsste sie seine Wange, und dreimal wurdeer rot.1 Und dann trat er beiseite.

Nachdem er dies erduldet hatte, grinste Gawainbreit. Er widerstand der schönen Lady, und er war zu-frieden mit seiner Kraft und seiner Ritterlichkeit. Eratmete aus.

»Sollen wir zurückreiten?«, fragte er.»Natürlich!«, sagte sie. »Doch zunächst möchte ich

Euch ein Geschenk geben. Ich weiß, dass Ihr morgenzur Grünen Kapelle reisen müsst, um Eurem Schicksalzu begegnen.«

An ihrer Hüfte sah er jetzt einen seidenen grünenGürtel. Sie machte ihn los und überreichte ihn demRitter.

1 An dieser Stelle müssen wir vielleicht erwähnen, dass mansich wirklich nicht wie Lady Bertilak benehmen und herumge-hen und Leute küssen sollte, die das nicht wollen. Lady Bertilakwar ein wenig entschuldigt, da sie in diesem Moment erst seitein paar Wochen menschlich war, und außerdem versuchte sie,Gawain vorm Enthaupten zu bewahren.

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»Dieser Gürtel beschützt seinen Träger vor Scha-den. So lange Ihr ihn am Körper tragt, kann Euch kei-ne Waffe etwas antun.«

Molchael schaute aus Gawains Satteltasche, undseine Augen wurden groß. Die kleine Amphibiewünschte, sie könne helfen, aber auch sie wusste nicht,was nun zu tun sei. Gawain begehrte dieses Objekt. Eswar alles, das er im Leben wollte – ein Liebespfandvon einer schönen Lady, die Liegestütze auf ihrem Ge-sicht machen konnte, und ein Weg, seinen Kopf aufseinen Schultern zu behalten.

Hier schwankte der große Ritter. Er fühlte sich wieein Einbrecher, als er nach dem Gürtel griff und ihnsich unter dem Hemd um die Hüfte band. Er wusstenicht, dass hinter einem nahen Baum ein kleines Mäd-chen mit Grausen zusah.

An diesem Abend fand in der Burg Bertilak ein drit-tes prunkvolles Fest statt. Gawain wusste, es könnteseine letzte Nacht auf Erden sein, daher verbrachte ersie mit guter Unterhaltung und gutem Essen. Als das

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Fest im vollen Gange war, ging er zu Lord Bertilakund sagte: »Ich möchte Euch etwas geben.«

Der Lord hatte an diesem Abend etwas zu viel Biergetrunken, daher rief er einfach zurück: »Gib es her,Ritter!« Gawain küsste ihn ein, zwei, drei Mal. Dergesamte Saal brach in freudiges Lachen aus. Gawainlächelte, aber er fühlte den Gürtel um seine Mitte, alswürde er sich zusammenziehen.

Es wäre ritterlich, den Gürtel zu übergeben. Aberwenn er das täte, würde er morgen vermutlich ent-hauptet werden. Wenn er enthauptet würde, müssteer vermutlich aufhören, ein Ritter zu sein. Gab es ir-gendwelche Ritter ohne Kopf in Camelot? Er dachtedarüber nach, doch niemand fiel ihm ein. VielleichtYwain? Nein, warte, das große runde Ding auf YwainsHals war ein Kopf.

Als sich die Räder in Gawains Kopf langsam dreh-ten, stoppten die in Lord Bertilaks Kopf auf einmal.Er verlor das Bewusstsein, fiel mit seinem Getränk zuBoden und begann sofort, zu schnarchen. Eine blaueSatinwache legte ein blaues Satinkissen unter seinenKopf. Jetzt gab es keine Gelegenheit mehr, ihm dieganze Beute der Jagd zu geben.

Gawain schaute sich nach der Lady um. Möglicher-weise konnte er ihr den Gürtel geben. Oder vielleicht

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konnte er ihn für nur einen Tag ausborgen und demLord später geben. Das würde das Versprechen bre-chen, jeden Abend zu übergeben, was er bekommenhatte, aber es wäre nur ein kleiner Bruch. Nicht einmalein richtiger Bruch. Mehr ein kleiner Riss. Ein Knick.Ein Kratzer.

Sie war weg. Er blickte sich im gesamten Speise-saal um, aber er sah nur die fröhlich Feiernden und diekalten Steinwände.

Am nächsten Morgen erwachte Gawain in seinemGemach. Es war sehr kalt außerhalb seiner Decken,und er fühlte sich sehr leicht, wie ein Blatt, das jeder-zeit vom Wind weggeweht werden konnte. Er zog sei-ne Rüstung an, um sich fester und stabiler zu fühlen.

Er sammelte seine Sachen auf, setzte Molchael aufseine Schulter und ging nach unten. Er hatte erwar-tet, den Lord und die Lady in der Großen Halle zu se-hen, doch dort war nur eine einzelne blaue Satinwa-che mit einem Schleier vor dem Gesicht. Die gesam-te Burg war kalt und zugig, als wäre sie seit langem

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unbewohnt. Gawain war schlicht genug, um das nichtunheimlich zu finden.

»Viel zu tun heute?«, fragte er.Der Mann von der Satinwache antwortete nicht. Er

stand auf und ging an dem Ritter und Molchael vorbei.Sie folgten ihm. Nach einem kurzen Marsch kamen siezum Haupttor, das sich von alleine vor der Satinwacheöffnete. Davor stand ein fremdes Pferd ohne Reiter.Die Wache zeigte auf das Pferd.

»Das ist ein Pferd«, sagte Gawain.Die Satinwache seufzte und zeigte noch einmal.»Das wird Pferd genannt.«Die Wache zeigte auf Gawain, dann auf das Pferd.»Nein, ich bin ein Mann«, sagte Gawain.»Ich glaube, er will, dass wir auf das Pferd steigen«,

sagte Molchael.Die Satinwache zeigte mit ihrer anderen Hand auf

Molchael. Gawain zuckte die Schultern und schüttelteden Kopf.

»Ich verstehe nicht, warum du so seltsam und ge-heimnistuerisch sein musst«, sagte Gawain.

Die gesichtslose Wache seufzte und ging zurück indie Burg, deren Tor sich schloss.

Molchael hüpfte auf Gawains Schulter, als dieserdas Pferd bestieg, das sofort zwischen die Bäume trab-

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te. Bald schon waren sie tief im Wald, und das Blätter-dach war so dicht, dass wenig Licht hinein drang. DerWald war sehr neblig, so dass Molchael und Gawainkaum mehr als ein paar Armlängen in jede Richtungblicken konnten.

Tief im Wald kam das Pferd zu einer sehr großenEiche. Am Fuße der Eiche lag eine kleine Box mitBroten, und darauf stand »iss mich«. Gawain erinner-te sich gut an die Regel, die seine Mutter ihn gelehrthatte – dass man nie Essen von Fremden annehmensoll. Allerdings kannte Gawain eine Menge Eichen,und noch nie hatte eine ihm ein schlechtes Brot ge-macht, daher dachte er, dieses Mal könnte er eine Aus-nahme machen.

Molchael kam gerade aus seiner Satteltasche, alsGawain Krümel von seinem Visier wischte, und sag-te: »Hast du … hast du gerade ein Brot gegessen, vondem du nicht weißt, wo es herkam?«

»Nein!«, sagte Gawain. »Ich hab drei Brote geges-sen, von denen ich nicht weiß, wo sie herkamen.«

»Du kannst doch nicht einfach Brote essen, die duirgendwo findest. Was ist, wenn mit denen etwas nichtin Ordnung ist?«

»Och, das dritte war tatsächlich ein wenig trocken,aber das ist ja kein Grund, es nicht zu essen.«

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»Aber was, wenn die vergiftet wären?«»Dann würde ich sie nicht essen.«»Aber nimm mal an, sie wären vergiftet und du

wüsstest das nicht.«»Wer würde denn ein Brot vergiften? Das würde es

doch völlig verderben. Dann könnte man es nicht es-sen, aus Angst, sich zu vergiften.«

Gawain hatte einen gehörigen Respekt vor demMolch, aber heute war seine Logik einfach lausig.

»Sag Bescheid, wenn du Bauchschmerzen be-kommst«, sagte der Molch.

Gerade als Gawain die letzten Krümel seiner Broteverspeiste, drehte das Pferd sich unter ihnen um undtrabte direkt den Weg zurück, den sie gekommen wa-ren.

»Entschuldige mal, Pferd!«, sagte Gawain. »Ent-schuldige mal!«

Das Pferd antwortete nicht.»Entschuldige mal«, sagte Gawain, »ich glaube,

dieser Weg führt zurück.«»Pferde sprechen nicht«, sagte der Molch.»Richtig. Richtig«, sagte Gawain.Und so trabten sie weiter. Soweit sie sagen konn-

ten, waren sie unterwegs zurück auf dem Weg, den siegekommen waren. Zwar hätte jede Richtung in etwa

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gleich ausgesehen, da sie durch dichten Nebel ritten.Aber Gawain hatte einen hervorragenden Richtungs-sinn, und er war praktisch sicher, dass sie wieder inder Burg Bertilak ankommen würden. Dann wäre eszu spät für das Köpfen.

»Mach nicht zu schnell«, sagte er zu dem Pferd.Das Pferd schritt voran durch den Nebel. Molchael

wollte mit Gawain reden, aber jedes Gespräch, das erhätte beginnen können, wäre entweder zu lapidar, umangemessen zu sein, oder zu gewichtig, um noch an-genehm zu sein. Daher ritten sie in Schweigen durchden Nicht-Raum ununterscheidbarer Bäume.

Bald – viel zu bald – kamen sie auf eine Lichtung.Eine gewaltige Burg erhob sich vor ihnen. Sie wargroß und grün und sah Burg Bertilak sehr ähnlich, nurmit schönem Blätterwerk bedeckt.

Während er sich näherte, senkte sich die Zugbrü-cke der Burg mit einem mächtigen RUMMS. Dort, imTor, standen Augie und der Grüne Ritter. Augie blick-te nervös. Der Grüne Ritter wirkte eifrig und streichel-te seine Axt, als wäre sie ein Hündchen.

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Kapitel 18Jetzt denkt ihr vermutlich, dass Ritter Gawain

Angst gehabt hätte, aber obwohl er ein wenig bangewar, fühlte er vor allem Scham wegen des Gürtels umseine Hüfte. Es fühlte sich an, als wäre er enger ge-worden, seit er ihn das erste Mal getragen hatte, und erschien auch ein wenig zu jucken, also kratzte er sichsinnlos in der Mitte seiner Rüstung.

»Willkommen, Ritter Gawain!«, sagte der GrüneRitter und verbeugte sich vor dem Erschienenen.

Gawain stieg vom Pferd ab und verbeugte sichebenfalls.

»Seid Ihr bereit, Euren Teil der Abmachung einzu-halten?«, fragte der Grüne Ritter.

»Das bin ich«, sagte Gawain.Der Grüne Ritter lächelte und trat beiseite. Gawain

griff sich die Satteltasche mit Molchael darin und be-

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trat die Grüne Kapelle. Als er ging, schaute ihn einvertraut wirkendes kleines Mädchen finster an, und erwusste nicht, warum.

Der Grüne Ritter hob Augie auf seine Schultern, sowie Gawain den Molch auf seine hob.

Augie flüsterte dem Grünen Ritter zu: »Wir könnendas Köpfen immer noch überspringen!«

»Was ist mit all deinem früheren Philosophieren?«,antwortete er. »Was ist mit der Bedeutung des Köp-fen-Spiels?«

»Ich hab nur Quatsch erzählt! Quatsch! Manchmalmach ich nur so aus Spaß Literaturkritik!«

Das war offensichtlicher Unsinn, und der GrüneRitter lächelte einfach nur.

»Ich fürchte, ich muss tun, was die Situation ver-langt«, sagte der große grüne Riese. »Die Prüfung isterfolgt, und sie wurde nicht bestanden.«

Gawain unterhielt sich nebenbei mit dem Molch.»Ich werde den Gürtel abnehmen«, sagte Gawain.»WAS?«, fragte Molchael. »Du meinst, … wenn du

das nächste mal unter die Dusche gehst?«»Vor dem Köpfen.«»Du verstehst schon, dass das Köpfen ohne den

Gürtel nicht mal ansatzweise so gut ausgehen wird,ja?«

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»Ich bin ein Ritter, Molch! Wenn ich geköpft wer-de, dann war ich ein Ritter. Wenn ich hier und jetztdurch Magie gerettet werde, dann war ich nie irgend-etwas!«

»Ich habe das Gefühl, dass dir nicht klar ist, dass dirgleich der Kopf abgeschlagen wird.«

Gawain hätte weiter diskutieren können, aber er wargeneigt, dem Molch den Sieg in der Debatte zuzuge-stehen. Er verfiel in Schweigen und verschloss sich inseine Gedanken. Er grübelte und grübelte, aber er fandfür sich keine Rechtfertigung, den Gürtel zu tragen.

Molchael kannte Gawain inzwischen recht gut undwusste, dass er ein guter und schlichter Mann war. Erwusste, dass Logik hier fehl am Platze war, denn esging um eine Frage der Ehre. Er wusste, Gawain wür-de den Gürtel nicht behalten, auch nicht, um seinenHals zu retten. Daher versuchte der Molch etwas we-niger Logisches.

»Wenn du weg wärst«, sagte er, »würde ich dichvermissen.«

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Augie und der Grüne Ritter

Augie und der Grüne Ritter und Gawain und derMolch gingen durch die Grüne Kapelle, und die Son-ne begann zu sinken. Um sie herum gingen die vie-len Kobolde und Elfen und Gnome ihrer Arbeit nach,aber sie alle hielten inne, wenn die vier vorbei kamen.Gawain und Augie runzelten die Stirn, während derMolch und der Riese lächelten.

Bald schon waren sie an den großen Türen der Gro-ßen Halle. Der Grüne Ritter schlug die Tür in Stückeund ließ Gawain den Vortritt.

Dort sah Gawain ein wundersames Bild. Die GroßeHalle, die wie gesagt fast ausschließlich aus Pflanzenerbaut war, wurde durch das blasse grüne Glimmenvon biolumineszenten Pilzen und langsam brennendenKaminscheiten erhellt. Irgendwie erinnerte es ihn anCamelot, doch die Halle hier war viel ruhiger und vielfremdartiger und viel kälter.

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»Hab Euch einen Platz freigehalten!«, sagte derGrüne Ritter und zeigte auf den Richtblock.

Augie schnippte gegen das Ohr des Grünen Rittersund sagte: »Nicht lustig!«

Die Klinge seiner Axt war so scharf wie eine Glas-scherbe. Als der Grüne Ritter sie herauszog, nahm Ga-wain seinen Helm ab, ging auf das Podest und setz-te sich. Vor ihm war ein eiserner Amboss, auf den erseinen Hals legen sollte. Unter dem Amboss war einKissen, um seinen Kopf aufzufangen.

Der Grüne Ritter setzt Augie ab, und sie setzte sichin einen der holzgewirkten Stühle der Großen Halle.Sie verspürte den Drang, zu weinen, doch sie fühltesich leer und trocken, und ihre Muskeln taten vor An-spannung weh. Der Molch ging zu dem Tisch nebenihr. Der Richtung seines Kopfes nach hätte man mei-

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nen können, er blicke Gawain an, aber die Augen vonMolchen sind an den Seiten, also schaute er in Wirk-lichkeit weg.

Gawain schluckte und legte seinen Kopf auf denAmboss. Er fühlte die Wärme seines Körpers in daskalte Metall fließen, als der Schatten des axtschwin-genden Riesen vor ihm aufragte. Er schloss die Augen.Er schürzte die Lippen. Er ballte die Fäuste.

Und dann zuckte er mit den Schultern, als er dasZischen der Axt durch die Luft hörte.

WUUSCH!Doch die Klinge fiel nicht. Gawain blickte über sei-

ne Schulter und sah, dass der Grüne Ritter auf halbemWege angehalten hatte.

»Ha!«, sagte der Grüne Ritter. »Ihr habt gezuckt!«»Entschuldigung! Entschuldigung!«, sagte Gawain.

»Ich muss ein Jucken oder so gehabt haben.«Wenn euch diese Reaktion seltsam vorkommt, dann

seid ihr in guter Gesellschaft, denn Augie und derMolch waren auch überrascht. Aber erinnert euch,dass Gawain großen Wert auf seine Ehre legte, daherwar es ihm peinlich, zu zucken.

»Wiederholung!«, rief Gawain. Molchael schau-te ungläubig und murmelte: »Oh, um alles in derWelt …«

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Noch einmal legte Gawain seinen Kopf auf denAmboss und blickte auf das weiche grüne Kissen da-runter. Noch einmal ragte der Schatten des GrünenRitters über ihm auf. Noch einmal hörte er das plötz-liche Zischen der Luft.

WUUSCH!Seine Arme flogen unwillkürlich zur Seite.»IHR HABT WIEDER GEZUCKT!«»Hab ich nicht!«»Habt Ihr doch!«»Hab ich nicht!«Der Grüne Ritter drehte sich zu Augie und rief:

»Sag ihm, dass er gezuckt hat!«Augie, die zu diesem Zeitpunkt kaum noch spre-

chen konnte, quetschte hervor: »Ja, aber Ihr –«»HA!«, sagte der Grüne Ritter.»Okay, okay, noch einmal«, sagte Gawain. »Ich hab

es jetzt.«Augie wurde fast ohnmächtig, weil sie in den letz-

ten zwei Minuten nicht mehr eingeatmet hatte. Sienahm einen sehr tiefen Atemzug, als der Riese seineAxt ein weiteres Mal hob. Molchaels Körper spanntesich so sehr an, dass er zitterte.

Dieses Mal schaute Gawain nicht auf den Schat-ten der Axt. Er schloss die Augen. Er versuchte, sich

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etwas Angenehmes vorzustellen, doch alles, woraner denken konnte, waren Verzweiflung und Schandewegen des grünen Gürtels um seine Hüfte. Aber alser diese Schande empfand, dachte er auch an seinenFreund Molchael und die Verpflichtung, die er ihmgegenüber hatte. Denn wisst ihr, Verpflichtungen sindnicht einfache Verhaltensregeln, sondern Verbindun-gen zwischen Leuten und Ideen, und oft bewirkt dasLösen einer davon eine Spannung in anderen. Und Ga-wain zuckte nicht aus Angst um seinen Kopf. Er zuck-te jedes Mal, wenn er das Zischen der Axt hörte, weilsich dann der grüne Gürtel um seine Mitte wie Stachel-draht anfühlte. Aber für einen Freund würde er dieseStacheln ertragen.

Daher dachte Gawain dieses Mal, als die Axt sichhob, nicht an seine verlorene Würde, sondern an denkleinen grünen Molch, der sein einsamer Begleiter indiesem schweren Jahr gewesen war. Er verlor sich indieser Erinnerung, und daher hörte er nicht das Rut-schen von Schuhen auf Holz, als der Riese seine Axtniedersausen ließ, und er hörte nicht das Zischen derKlinge durch die Luft, als sie sich seinem Hals näher-te, und er machte sich nicht bewusst, was passierte, biser etwas sehr Kaltes an seinem Hinterkopf spürte. Unddann spürte er etwas sehr Warmes.

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Ihm war klar, dass er jetzt ein Kissen spüren sollte,aber da war nichts. »Oh, MIST«, dachte er. »Ich binnicht nur enthauptet, ich bin auch noch falsch gelan-det. Ich wette, jetzt sehe ich ziemlich lächerlich aus.«

Aber er schaute sich um und erkannte, dass er nochimmer auf dem Amboss war. Er befühlte sein Genick.

»AU!«, sagte er. Er schaute seine Hand an, und dawar ein kleiner Blutfleck auf ihr.

»Nur ein kleiner Kratzer im Genick«, sagte der Grü-ne Ritter.

Augie lächelte breit.»Ihr seid nun frei, Euch zu verteidigen«, sagte der

Riese.Gawain stand jäh auf und zog sein Schwert aus der

Scheide. Doch in diesem Augenblick änderte der Rie-se seine Form in die von Lord Bertilak. Gawain schau-te erstaunt, und dann dämmerte es ihm. Der Grüne Rit-ter lächelte und änderte sich zurück in seine große grü-ne Form.

»Ihr wart Lord Bertilak«, sagte Gawain. »Das warein Trick.«

Gawain wandte sich an Augie.»Und du warst Lady Bertilak!«, rief er.

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»Nein«, sagte sie. »Uähh. Ich war der mysteriöseReisende. Die Lady war ein verzauberter Hamster.«Sie hielt einen Hamster hoch.

»Na, wer ist ein guter Hamster?«, säuselte sie undgab dem Hamster ein paar Körner.

»Hmm«, sagte Gawain und rieb sich das Kinn.»Und ich schätze, Ihr wart auch diejenigen, die dieBrote bereit legten.«

»Brote?«, fragte Augie.»Die im Wald«, sagte Gawain. »Ich habe ein paar

Brote gefunden und aufgegessen.«»Ihr könnt doch nicht gefundene Brote essen«, sag-

te Augie.»Genau was ich gesagt habe!«, rief Molchael.

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Das störte Gawain jedoch nicht besonders, dennihm war gerade etwas klar geworden. Er wandte sichan den Grünen Ritter, der noch immer die große Axthielt. »Ihr wusstet von dem Gürtel …«

»Ja«, sagte der Riese. »Ihr habt den ersten Kuss zu-rückgegeben, weil Ihr ehrbar wart, und die zweitenzwei Küsse, weil Ihr noch ehrbarer wart. Doch in derdritten Nacht, auch wenn Ihr die drei Küsse zurück-gabt, behieltet Ihr den grünen Gürtel, der, wie Ihr andem Kratzer in Eurem Genick sehen könnt, überhauptnicht wirklich magisch war.«

»Ups«, sagte der Molch.»Aber«, sagte der Riese, »ich bin ein zivilisierter

Herrscher, wisst Ihr.« Er lächelte Augie an. »Ihr habtdrei und zwei und einen Kuss zurückgegeben und nurden Gürtel behalten. Das ist sechs von sieben, daherhabe ich Euch sechs Siebtel Eures Halses gelassen.«

»Brüche«, sagte Augie. »Damit geht einfach alles!«Gawain wurde ein wenig rot, als Frank der Mensch

herüber kam, um ihm den Nacken zu verbinden. Mol-chael sprang vom Tisch, um zu helfen. Als kleineKreatur konnte er die Details besser handhaben.

»Ich habe als Ritter versagt«, sagte Gawain. »UNDich habe einen Hamster geküsst.« Gawain sah sehr

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traurig aus. Er schloss sein Visier, damit niemand sah,wie er ein wenig weinte.

Augie ging zum Grünen Ritter hinüber und flüsterteihm etwas zu. Der Grüne Ritter lächelte und nickte,und Augie rannte zu Gawain und klappte sein Visierhoch.

Gawain gab sich große Mühe, sein Weinen zu ver-bergen, und sagte mit seiner tiefsten Stimme: »Für-wahr, mein Visier!« Dann schob sich seine Unterlippevor und begann zu zittern.

»Nicht weinen!«, sagte Augie. »Wir haben ent-schieden, Euch mit zwei magischen Dingen auszustat-ten. Als erstes müsst Ihr den grünen Gürtel mit Euchnehmen. Er wird Euch daran erinnern, Euch in Zu-kunft immer an Euren Ritterkodex zu halten.«

»Der Lohn ist Schande?«, fragte Gawain.Augie fuhr fort: »Wir haben ihn mit echter Magie

ausgestattet, so dass er Euch wirklich vor Schaden be-wahrt, so lange Ihr ihn tragt.«

Während sie das sagte, fühlte Gawain, dass der Gür-tel sich um seinen Körper lockerte.

»Als zweites …«, sagte sie mit einem Lächeln.Dann drehte sie sich um und präsentierte Lady Ber-tilak, jetzt wieder in ihrer menschlichen Form. Un-glücklicherweise hatten sie sie wieder in einen Men-

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schen verwandelt, gerade nachdem sie sich die Hams-terbacken mit Körnern vollgestopft hatte. Sie brauchteein paar Minuten zum Essen, daher konnte sie vorerstnur mit den Händen ein »Ich liebe dich« gestikulieren.

Das war alles etwas seltsam, aber Gawain überlegtesich, wenn er Freundschaft mit einem Molch schließenkonnte, dann könnte er auch einen Hamster lieben, derin einen Menschen verwandelt worden war. Und wieoft begegnete man schon einer Lady, die Liegestützeauf ihrem Gesicht machen konnte?

»Danke«, sagte Gawain. Er fühlte noch immer denStich seines Versagens, doch er wusste, er hatte füreinen Freund gefehlt. Und darin lag auch Ehre.

Der Grüne Ritter lächelte, und dann, wie er es voreinem Jahr im Augustawald getan hatte, drückte ersich ein Nasenloch zu und blies durch das andere. DerKlang war irgendwo zwischen einem Horn und einemDidgeridoo.

»WABBA-WABBA-WABBA-WIIIIII!«In den zwölf Feuerstellen der Großen Halle loder-

ten Flammen auf, beleuchteten die Wände und diehohe Decke. Die vielen Diener des Grünen Ritterserschienen mit Tabletts voller schmackhafter Dinge,sehr vielfältig, wenn auch alles grün war.

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Augie, Molchael, Gawain und der Riese nahmen ih-re Plätze als Hofgäste ein, und ein weiteres Fest, aus-gelassener als alle zuvor, begann.

»Ahh«, sagte Gawain. »Es ist nicht wirklich Weih-nachten, bis etwas Magisches passiert, hm?«

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Kapitel 19Nach einigen Tagen des Feierns und der Lustbar-

keiten reisten Gawain und Molchael und der Hams-ter, der in eine Lady verwandelt worden war (und derin Wirklichkeit Strubbel hieß), ab. Die Grüne Kapellekehrte zur Normalität zurück, und Augie wusste, dasses für sie an der Zeit war, nach Hause zu gehen.

Sie war nun seit einem Jahr fort, daher war es wahr-scheinlich, dass ihre Eltern ihre Abwesenheit inzwi-schen bemerkt hatten. Sie hatte wahrscheinlich aucheine Liste an nachzuholenden Hausaufgaben, die biszum Neptun reichte. Obwohl, wenn sie nach diesemJahr in diesem seltsamen Land darüber nachdachte,dann wünschte sie sich nichts weiter als einen ruhigenAbend, an dem sie eine Buchrezension bei einer hei-ßen Tasse Kakao schreiben würde.

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Sie wusste auch, dass ihre Macht über dieses Landbegrenzt war. Sie war selbst ein Wildfang, doch siefand, dass diesem Königreich ein bisschen wenigerWildheit gut täte, aus Sicherheitsgründen. Und dochhatte sie bemerkt, dass der Grüne Ritter aufgehört hat-te, so zu tun, als lese er den Börsenbericht, und dasser wieder angefangen hatte, mit den Händen zu essen.Und, um ehrlich zu sein, das stand ihm auch besser.1

Denn manches ist für Menschen und manches ist fürandere Geschöpfe, und man kann genauso wenig daseine in das andere verwandeln, wie man das Meer vomStrand wegdrängen konnte. »Zumindest noch nicht«,dachte Augie und machte sich eine Notiz, zu untersu-chen, ob sie das Meer vielleicht mechanisch vom Uferwürde wegdrängen können.

1 Man fühlt sich erinnert an Oliver St. John Gogartys Gedicht,das, wie viele große Gedichte, an eine anonyme Gans gerichtetist. Es endet folgendermaßen: Oh, hast du ganz vergessen, Des Flugs so laut Gedanken? Ein Heim umfing dich bald Gezähmt die Flügelhand. Als Berg und Stern stattdessen Nur waren deine Schranken, Und wo der Nordwind kalt Dort war dereinst dein Land.

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»Es ist an der Zeit«, sagte sie zu ihrem Riesen-freund.

»Ich weiß«, antwortete er.

Bald schon waren sie zurück im grünen Augusta-wald, und Augie konnte am Blätterwerk erkennen –die Blaubeerbüsche, die Farnblätter, die Papierbir-ken – dass sie ihrem Zuhause schon recht nahe war.

»Lass mich hier herunter«, sagte sie. Der Grüne Rit-ter pflückte das Mädchen sanft von hinter seinem Na-cken und setzte sie auf den schwammigen Boden.

»Werde ich dich wiedersehen, Seltsame?«, fragteder Riese.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Aber ich würde michsehr freuen.«

Der Grüne Ritter lächelte. Eine Ranke wuchs unterihm, verwob sich mit sich selbst, bis sie einen festenBlock bildete, der schließlich sein großes grünes Pferdwurde.

»Lebewohl«, sagte der Riese, und sein Pferd wandtesich um und galoppierte in den Wald. Sie hätte einen

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langsameren Abschied gewollt, doch sie wusste, dassjedes weitere Wort nur an den Wald gerichtet wäre undnicht an ihren seltsamen grünen Freund.

Und einfach so war Augie mit einem Mal wiederallein, lauschte dem Summen und Schwirren und Plät-schern und Zirpen des Waldes.

Nahebei sah sie eine vertraute Butterblume stehen,und sie kniete sich neben sie.

»Du bist Ranunculus Bulbosus«, sagte sie. »Aberdu bist auch Frank.«

Die Butterblume schien zu nicken, aber vielleichtwar es auch nur der Wind.

Als Augie aufstand, sah sie ihre alte Spur im Schneehinter sich, und wusste, dass sie nicht weit entfernt warvon dem Heim, das sie vor einem Jahr verlassen hatte.Sie folgte der Spur und nahm die schneefeuchte brau-ne Oberfläche wahr und die hohen, süßlich duftendenKiefern. Die Nostalgie, die sie empfand, verlieh demganzen einen Hauch von Magie, noch tiefer als jegli-cher Zauber, den sie im Land des grünen Riesen ver-spürt hatte. Denn Erinnerungen sind auch magisch. Siesind der Zauberstab, den die Gegenwart über der Ver-gangenheit schwingt.

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Augie folgte der Spur, und während sie ging, wur-de die Umgebung weniger verschneit und nahm diesanften feurigen Farben des Herbstes an. Sie liebte dasGeräusch knirschender Blätter unter ihren Füßen, undsie fühlte, wie ihre Schritte größer und ungeduldigerwurden. Als sie zu ihrem Zimmerfenster kam, war sieüberrascht, dass es noch offen stand. Als sie hinein-kletterte, waren alle ihre Dinge noch da. Ihre Bachlin-ge schwammen noch immer, mit unveränderter Grö-ße. Ihre Gesamtausgabe von Chaucer lag noch immerramponiert auf dem Boden. Sie prüfte ihren Computerund sah, dass heute derselbe Tag war, an dem sie voreinem Jahr aufgebrochen war. Sie ging hinüber zu derWand, an der sie Änderungen ihrer Köpergröße mar-kierte, nur um zu erkennen, dass sie keinen Millimetergewachsen war.

Es kam ihr in den Sinn, dass sie ein Erinnerungs-stück von ihrem großen Abenteuer hätte mitnehmensollen. »Ah!«, rief sie. Sie griff in ihre Tasche undsuchte nach dem goldenen Amulett, das die Queststei-ne enthalten hatte. Doch dort fand sie nur ein kleinesAhornblatt. Sie lächelte. Es war ein wenig zerknittertund ein bisschen zerbrochen, aber es war noch immergut und herbstlich. In ihrem Buch gepresster Blumenwürde es noch eine lange Zeit so bleiben.

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Augie und der Grüne Ritter

Sie ging zu ihrem Fenster zurück und schaute hin-aus. Dort standen die hohen Kiefern, sich sanft imWind wiegend, dunkel und unbekümmert. Sie fühlteetwas Neues, wie sie so dastand und starrte. Sie hör-te das Auto von Mama und Papa die Einfahrt herauf-kommen. Sie war irgendwie traurig, doch mit einemsüßen Beigeschmack. Sie wollte fort und zugleich zuHause sein.

Es war nicht nur die Spannung zwischen zwei Wün-schen, die sie fühlte, die jeder mal spürt. Nein, es warein bestimmtes Gefühl, das keinen Namen hat – dasVerlangen danach, zurückzukehren und doch auch zubleiben, beide Wünsche verbunden durch das Wissen,dass man beides nicht wirklich tun kann. Dieses Ge-fühl ist das kleine Erbe verstrichener Jahre, und es isttraurig, wenn ein Kind das spürt. Doch es ist viel trau-riger, wenn man es nie spürt, bis man alt ist.

Und so erlangte Augie in der Märchenwelt einenersten Geschmack vom Erwachsensein.

Es schmeckte okay.

Ende

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Zach Weinersmith

Appendix

In diesem Appendix untersuchen wir eine Lösung für dasSalomon-Problem, die Dr. Steven Brams in seinem Buch Bi-blical Games vorgeschlagen hat. Wir werden hier die Lö-sung für zwei Mütter in einfacher Sprache erklären und siedann für eine beliebige Anzahl Mütter erweitern.

Aus Vereinfachungsgründen nehmen wir an, dass Elternsich rational verhalten.

Für zwei Mütter

Nehmen wir an, wir hätten zwei Mütter, die behaupten,Mutter eines bestimmten Kindes zu sein. Eine Mutter lügtund eine sagt die Wahrheit, aber ihr wisst nicht, welche wel-che ist. Wir nehmen außerdem an, dass wir keinen Zugangzu irgendwelcher Gentest-Ausrüstung haben, und ihr seidauch zu beschäftigt, um zu prüfen, wessen Haus mehr nach

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Windeln riecht. Ihr braucht eine Möglichkeit, beide Mütterdazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen, indem ihr ihnen dierichtigen Anreize gebt.

Dann habt ihr eine gute Idee.Ihr sagt ihnen, wenn nur eine Mutter das Kind fordert,

bekommt sie es. Wenn aber beide Mütter das Kind fordern,dann geht das Kind in ein schickes Waisenhaus, und beideMütter müssen für seine Unterbringung zahlen. Das führt zuvier möglichen Ergebnissen:

1) Nur die wahre Mutter fordert das Baby, dann erhält siees auch. Problem gelöst.

2) Beide fordern das Baby, dann geht es in das schickeWaisenhaus. Das ist schlecht für die wahre Mutter, aber esist extrem schlecht für die falsche Mutter. Sie muss jetzt fürdie Unterbringung des fremden Kindes bezahlen, ohne et-was davon zu haben. Die wahre Mutter hingegen schickt ihrKind zum halben Preis in ein schickes Waisenhaus!

3) Nur die falsche Mutter fordert das Baby, dann erhältes die falsche Mutter. Zugegeben, diese Möglichkeit ist einwenig seltsam, aber wenn diese Situation entsteht, ist dasErgebnis vielleicht nicht allzu schlimm.

4) Niemand fordert das Baby, was natürlich nicht passie-ren würde, denn Babys sind wertvoll.

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Die Fälle (3) und (4) sind irrelevant, wenn wir annehmen,dass Mütter ihre Kinder um sich haben wollen. Wenn diewahre Mutter ihr Kind immer fordern wird, müssen wir nurdie Fälle (1) und (2) berücksichtigen. In diesen Fällen istdie einzige sinnvolle Wahl für die falsche Mutter, das Kindnicht zu fordern.

Für drei Mütter

Das Drei-Mutter-Problem ist sehr ähnlich, nur hat manneun Lösungen. Wenn wir allerdings wieder annehmen, dassdie wahre Mutter immer das Kind fordern wird, reduziertsich die Anzahl der verschiedenen Lösungen auf drei:

1) Nur die wahre Mutter fordert das Baby.

2) Die wahre Mutter und nur eine falsche Mutter forderndas Baby.

3) Alle drei fordern das Baby.

Wenn alle falschen Mütter ungefähr gleich sind, dann ha-ben sie alle die gleiche Wahl: Bezahle für die Unterbringungeines fremden Kindes oder bekomme nichts. Daher sollten

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die falschen Mütter (rational entschieden) ihre Forderungfallen lassen, was uns wieder zu der Lösung führt, dass diewahre Mutter das Baby erhält.

Für noch mehr Mütter

Man sieht leicht, wie dieses Problem erweitert werden

kann. Für jede neue Forderin gibt es 2n mögliche Ergebnis-se, aber für jede falsche Mutter gibt es nur eine Wahl: Zahlefür ein fremdes Kind oder ziehe dich zurück.

Ein Problem: Der Grenzwert für die Anzahl der Müttergegen unendlich

Nehmen wir an, die jährlichen Kosten der Unterbringung,k, seien konstant. Dann folgt, dass die jährlichen Kosten derUnterbringung pro Mutter einfach ausgedrückt werden kannals:

C(m) = k/m,

wobei C die individuellen jährlichen Kosten sind und mdie Anzahl der Mütter.

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Wenn wir den Grenzwert von C bilden für m gegen un-endlich (d. h. die Matrilarität beginnt), kommen wir zu ei-nem beunruhigenden Ergebnis – die jährlichen Unterbrin-gungskosten pro Mutter gehen gegen null. Das bedeutet,je mehr Forderinnen da sind, desto geringer ist die Strafefürs Lügen. Wenn die Anzahl der Mütter sehr groß wird(zum Zwecke der Visualisierung stellt euch die Tribünen beiSchulvolleyballturnieren vor), dann hören die falschen Müt-ter auf, eine sinnvolle Strafe für ihre Forderung zu bezahlen.

Dieses Problem mag technisch nicht lösbar sein. Schautman sich aber den Stand im Bereich der Quantencompu-ter und die Grenzen der Künstlichen Intelligenz an, dannscheint es wahrscheinlich, dass die Matrilarität zumindest indiesem Jahr noch kein großes Problem sein wird.

Wenn allerdings zu irgendeinem Zeitpunkt unendlich vie-le Mütter ein einzelnes Kind fordern, dann kann das Pro-blem gelöst werden, indem für k einfach eine lineare Funk-tion von m verwendet wird, so dass k/m nie außer Kontrol-le gerät. Was genau diese Funktion in der wirklichen Weltbedeuten würde, ist offen für Vermutungen, aber alles, dasjeder Mutter abverlangt, eine weitere Leistung zu erbringen,würde funktionieren. Zum Beispiel könnte jeder Mutter alsTeil der Unterbringungskosten abverlangt werden, der ers-ten Person, die sie am 1. Januar sieht, eine Portion Kekse zuschenken. Das würde möglicherweise in einem »Problem«unendlich vieler Kekse resultieren, das zu beheben ich gernebereit bin.

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