Zanon gehört den Arbeitern Eine Fabrik in Patagonien · Zanon gehört den Arbeitern 1 Vorneweg....

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1.50 Euro Beilage zur #68 Eine Fabrik in Patagonien Zanon gehört den Arbeitern

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1.50 EuroBeilage zur #68

Eine Fabrik in Patagonien

Zanon gehört den Arbeitern

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Vorneweg 1

Zanon gehört den Arbeitern 3

Zum Produzieren braucht es keine Chefs 5

„dass wir uns kennengelernt haben...“ 8

Neue Horizonte 8

Brukman und Zanon: Projekte von trotzkistischen Parteien? 10

Von der Arbeiteraristokratie zur Arbeiteravantgarde:Die ArbeiterInnen von Zanon und die Arbeitslosen 11

„Das hat alles damit angefangen, dass wir hierin der Fabrik ganz langsam vorgegangen sind...“ 13

Immer wieder Versammlungen 17

SOECN – Gewerkschaft der Arbeiter und Angestellten

der Keramikindustrie in Neuquén 17

„Die da oben...“ 19

Räumung verhindert: „Zanon schreibt Geschichte“ 21

Wir wollen mehr 22

Klassenkämpfe in Argentinien 24

Kooperativen – Verstaatlichung – Arbeiterkontrolle?Anmerkungen zum Dilemma der Selbstverwaltung im Kapitalismus 26

Chronologie 28

Gracias a tod@s que colaboraron de una u otra manera en este proyecto.Gracias a Sebastian, de Indymedia.Argentina, gracias a los demás fotógrafos solidarios,

por poner sus fotos a disposición de todos.

Gracias, compañeros y compañeras de Zanon:por todo – por lo que están haciendo – por mostrar que se puede.

www.obrerosdezanon.orgwww.nuestralucha.org

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1Zanon gehört den Arbeitern

Vorneweg.

Ein ganzes Heft zu Zanon? So viele Wortezu einer einzigen Fabrik, irgendwo in Süd-amerika? Ja, denn wir denken, dass dieseungewöhnliche Fabrikbesetzung minde-stens diese Aufmerksamkeit verdient.

Zanon ist keine Handwerksklitsche, son-dern eine hochmoderne automatisierteFabrik. Kaum jemand hätte den Produkti-onsarbeitern zugetraut, dass sie dieseAnlagen unter Eigenregie ans Laufen brin-gen können. Sie haben gezeigt, dass esgeht. Statt in der Krise um Arbeitsplätzezu betteln oder sich in informellen Ni-schen durchzuschlagen, haben sie sichdie wertvollen Produktionsmittel einfachangeeignet und die Arbeit so organisiert,dass neben der laufenden Kachelproduk-tion immer Zeit für Mate und Gesprächebleibt. Da geht es den Arbeitern von Za-non besser als ihren compañeras in derTextilfabrik Brukman in Buenos Aires. Diemüssen an ihren Nähmaschinen viel här-ter arbeiten, um ihr Einkommen sicherzu-stellen.

Die Arbeiter von Zanon haben nicht nur ge-zeigt, dass sie die automatisierte Fabrik›unter Arbeiterkontrolle‹ selbst betreibenkönnen. Sie konnten auch so viel Solidari-tät mobilisieren, dass alle Räumungsver-suche bislang gescheitert sind. Diese Be-setzung war nicht eine kurze Episode, wieso viele andere. Seit inzwischen zwei Jah-ren findet in dieser Fabrik ein Prozess vonSelbstorganisierung und Basisdemokratiestatt, mit ständiger Diskussion und Ver-änderung. Die ArbeiterInnen von Zanonsind nicht bei dem einmal Erreichten ste-hen geblieben. Sie wollen mehr. In dieserFabrik wird heute darüber diskutiert, wieeine andere Gesellschaft aussehen soll-te, und wie wir da hinkommen könnten.

Mit der grundlegenden Veränderung siehtes auch in Argentinien schwierig aus. DerAufstand vom 19./20. Dezember 2001war das Signal für einen gesellschaftli-chen Aufbruch. Es war ein Aufstand gegendie Politik: Staat und Politiker hatten ihreLegitimation verloren. Überall begannenMenschen, ihre Sache selbst in die Handzu nehmen. Argentinien wird seitdem alsLaboratorium für soziale Bewegungen be-zeichnet. Leider ist es aber ein Labor ge-blieben. Der Virus blieb im Reagenzglasgefangen; er hat sich bislang nicht überdie Grenzen hinaus ausgebreitet. In ganzLateinamerika brodelt es, aber die Bewe-

gungen bewegen sich noch überwiegendin nationalen Grenzen. Knapp zwei Jahrenach dem Aufstand scheint die traditionel-le Politik in Argentinien wieder Punkte zumachen. Der neue Präsident Kirchner lädtsämtliche Bewegungen an seinen großenrunden Tisch ein. Die Umgarnungspolitikdieses Peronisten, der sich als Linker dar-stellt, zeigt Erfolge. Und wer nicht mit-spielt, bekommt die alte Repression zuspüren.

Für die Zukunft von Zanon wird es ent-scheidend sein, wie sich die Situation ins-gesamt entwickelt. Wenn die Bewegungenstagnieren, wenn die FabrikbesetzerInnenalleine bleiben, dann werden sie esschwer haben, die Dynamik und Radikali-tät aufrechtzuerhalten. Ohne die politi-sche Dynamik besteht aber die Gefahr,dass auch diese Selbstverwaltung wiedervom kapitalistischen Alltag eingeholt wird(siehe »Die da oben«, S. 19). Übrig bliebedann vielleicht eine Einkommensmöglich-keit für die beteiligten ArbeiterInnen – washeute in Argentinien schon sehr viel ist –aber eben kein zukunftsweisendes Projektmehr.

Trotzdem: Die ArbeiterInnen von Zanon ha-ben ein Beispiel gegeben, das nicht nurfür die Bewegungen in Argentinien von gro-ßer Bedeutung ist. Denn der Krisenein-bruch in Argentinien war kein landesspezi-fischer Unfall. Dieser Absturz war ein Aus-druck der globalen Krise kapitalistischerEntwicklung. Die Fragen, vor denen dieArbeiterInnen von Zanon stehen, stellensich vielleicht schon bald in viel größeremRahmen. Da kann es nicht schaden, dasswir uns die Erfahrungen aus dem fernenPatagonien schonmal genauer angucken.

Brukman und Zanonunter Arbeiterkontrolle

In Argentinien sind mehr als 150 Betriebebesetzt, von Handwerksklitschen überDienstleistungsbetriebe und Fabriken bishin zu einem Vier-Sterne-Hotel. Die mei-sten waren pleite gegangen oder standenkurz davor. In all diesen Betrieben hat esenorme Veränderungsprozesse und Ent-wicklungen gegeben. Aber nur wenige ge-hen den Konflikt so politisch an wie dieArbeiterInnen von Zanon und Brukman.Viele BesetzerInnen sind vollauf damit be-schäftigt, den eigenen Betrieb zu organi-sieren. Für politische Aktion bleibt ihnennicht viel Raum.

Die ArbeiterInnen von Brukman und Zanonmachen immer wieder klar, dass es ihnenum mehr geht als nur um die Rettung ihrer

Arbeitsplätze, und sie fordern, dass ihnendie Produktionsmittel einfach so überlas-sen werden. Das ist der Kern der Forde-rung ›Verstaatlichung unter Arbeiter-kontrolle‹, die sich Brukman und Zanonauf die Fahnen geschrieben haben.

Die meisten besetzten Betriebe gründenKooperativen. Kooperative klingt nachmehr Autonomie und Selbstbestimmungals Verstaatlichung. Tatsächlich ist »Ko-operative« aber zur Zeit in Argentinien dasModell, mit dem der Staat die Bewegungder Betriebsbesetzungen eindämmen will.Die BesetzerInnen sollen sich einen recht-lichen Rahmen geben, sie sollen sich be-triebswirtschaftlich verhalten, und sie sol-len das Eigentum anerkennen. Denn letzt-endlich sollen sie den eigenen Betriebdem Unternehmer abkaufen, falls es ih-nen gelingt, ihn wieder ans Laufen zu brin-gen. Viele lassen sich auf diese Form derLegalisierung ein, weil sie damit wenig-stens den Räumungsdruck abwendenkönnen.

Die Arbeiterinnen der Textilfabrik Brukmanin Buenos Aires sind im April geräumt wor-den. Nach monatelangen Protestaktionenauf der Straße haben sie nun doch eineKooperative gegründet, als Voraussetzungfür ein Enteignungsverfahren. Vor wenigenTagen, am 30.10. hat das Stadtparlamentvon Buenos Aires beschlossen, den Be-trieb zu enteignen und für zwei Jahre denArbeiterinnen zu überlassen. Nach einemhalben Jahr auf der Straße werden sie inKürze wieder in die Fabrik zurückkehrenkönnen. Zanon produziert immer noch ›un-ter Arbeiterkontrolle‹, ohne jeglichen recht-lichen Status.

(Zu den Enteignungsverfahren und zur Diskus-sion um ›Kooperativen oder Arbeiterkontrolle‹siehe den Artikel ›Zum Dilemma...‹, S. 26).

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Im Labor

Im April 2002 war ich zum ersten Mal inArgentinien, um die neuen Bewegungenkennenzulernen. Vier Wochen in BuenosAires, und kein Tag ohne Demonstratio-nen, Blockaden oder Versammlungen.Rentner und Mieterinnen, Nachbarinnenund Arbeitslose, alle möglichen Gruppendemonstrierten und blockierten, undselbst bislang unbekannte Demonstran-tengruppen wie die ›Betrogenen Sparer‹randalierten vor Banken. Aber aus den Be-trieben war in diesem Land mit seiner gro-ßen Tradition von Klassenkämpfen (siehe›Klassenkämpfe in Argentinien‹, S. 24) indieser Zeit wenig zu hören. Mit einer Aus-nahme: von der besetzten TextilfabrikBrukman gingen mehrfach Aktionen aus,und dort fand auch das erste von Bruk-man und Zanon organisierte ›Treffen zurVerteidigung der besetzten Fabriken‹ statt,mit 700 TeilnehmerInnen mitten auf derStraße.

Im Februar/März diesen Jahres war ichwieder in Argentinien, diesmal mit demPlan, Näheres über die besetzten Betrie-be zu erfahren, die immer mehr wurden.Ich hatte vor, eine Zeit lang in einem derBetriebe mitzuarbeiten, da man so erfah-rungsgemäss am ehesten versteht, wasdort wirklich vor sich geht. Auf Nachfragenhiess es, dass das bei Brukman nicht gin-ge, wohl aber bei Zanon. Nach anfängli-chen Zweifeln, ob es so eine gute Ideewäre, in eine weit entfernte Provinz zu fah-ren, wo ich niemanden kannte, und in eineFabrik, wo fast nur Männer arbeiten, warich dann doch neugierig genug, und binnach Neuquén gefahren.

Schon bei dem ersten Rundgang durch dieFabrik wurde mir klar, dass das mit demArbeiten wohl nichts werden würde. Alsunqualifizierte Jobberin, ohne Erfahrung inder Kachelproduktion, hätte ich da allen-falls fegen können (keine schöne Aufgabe

in einer dermaßen staubigen Fabrik). Aberdie compañeros hatten nichts dagegen,mich als Besucherin an ihrem Experimentteilhaben zu lassen. Mit einer Matratzewurde ein Teil des Labors zum Besucher-raum umfunktioniert, und so habe ich dreiWochen in dieser ungewöhnlichen Fabrikverbracht.

In diesem Heft kommen dreizehn com-pañeros und compañeras von Zanon direktzu Wort. Mit ihnen habe ich Interviews undGespräche aufgenommen. Es waren vielmehr, die mir die Fabrik gezeigt, die mirSachen erklärt und Geschichten erzählthaben, und mit denen ich über alles Mög-liche und Unmögliche diskutiert habe. Mit-genommen habe ich aus diesen Begeg-nungen vor allem eine große Portion Opti-mismus. ›Se puede‹ haben mir diecompañer@s immer wieder gesagt: Esgeht, es geht doch, zusammen können wiralles schaffen, nichts ist unmöglich. Unddas sind in diesem Fall keine Sprüche,sondern Erfahrungen. Zanon war frühereine Fabrik, in der Grabesstille herrschte,und in der sich die Chefs jede Willkür er-lauben konnten. Solidarität war ein unbe-kanntes Wort. Die ersten compañeros, die

Rosa und Delia, zwei der wenigen Frauenin der Produktion, arbeiten beide amEnde der Produktionslinie, in der Quali-tätskontrolle, seit vierzehn bzw. zwanzigJahren. Sie haben keine gewerkschaftli-chen Funktionen, treten aber als Spre-cherinnen bei öffentlichen Veranstaltun-gen und Presseterminen auf. Ana arbei-tet seit Ende 2002 in der Kantine; sie istdie Mutter von Daniel Ferrás, der im Juli2000 in der Fabrik gestorben ist. Mariound Eugenio sind Mechaniker, beide seitelf Jahren im Betrieb. Sie sind Einrichteran den Pressen, hatten mit der Organi-sierung vor der Besetzung nichts zu tunund sind von dem Konflikt eher über-rascht worden. Ricardo ›Fredy‹, seit sie-ben Jahren bei Zanon, war früher Produk-tionsarbeiter und arbeitet jetzt in der Ab-teilung, in der die Siebe für den Glasur-aufdruck gemacht und spezielle Kachelnvon Hand hergestellt werden. Den Com-puter seiner Abteilung hat er genutzt, umaus Presseartikeln eine genaue Chrono-logie des Kampfes zusammenzustellen.Rolando ist seit 21 Jahren im Betrieb; erist Produktionsarbeiter, ohne gewerk-schaftliche oder sonstigen Funktionen.Natalio ›Chicho‹ war Produktionsarbeiterund arbeitet heute im Labor, wo die Gla-suren gemischt und neue Kachelmodelle

compañer@s

Das spanische Wort compañero hat ver-schiedene Bedeutungen: Freund, Genos-se, Kollege, Kampfgefährte, Kumpel ...Wenn die Arbeiter von Zanon von ihrencompañeros reden, dann hat das heuteeine andere Bedeutung als früher, alssie Kollegen waren, die sich kaum kann-ten. In diesem Kampf sind manche zuGenossen geworden, andere zu Freun-den, Kollegen sind sie immer noch – unddeswegen lasse ich das Wort compañe-ros an vielen Stellen stehen. Die weibli-che Form ist compañera, und com-pañer@s entspricht dem deutschen -Innen.

entwickelt werden. Daniel hat 1981 beiZanon angefangen. Er ist Betriebsme-chaniker und nimmt an den Treffen vonKoordinatoren und Gewerkschafternteil, ohne selbst eine Funktion zu ha-ben. Julian ist seit sieben Jahren im Be-trieb, er war Produktionsarbeiter amGlasurband, und wurde nach der Beset-zung zum Koordinator seiner Abteilunggewählt. Carlos ›Manotas‹ ist ehemali-ger Vorarbeiter, er hat sich in dem Kon-flikt auf die Seite der Arbeiter gestelltund ist zum Hauptkoordinator des Be-triebes gewählt worden. Eduardokommt aus der Jugend der MTD, derBewegung arbeitsloser Arbeiter. Er hatMitte 2002 bei Zanon angefangen, mitder ersten Gruppe der MTD, die nachder Besetzung in die Belegschaft inte-griert wurde. Raúl hat ‘93 bei Zanon an-gefangen, als Produktionsarbeiter an ei-ner besonders ungünstigen Stelle,gleich unter dem Glaskasten der Be-triebsleitung und neben dem Büro derunternehmertreuen Gewerkschaft. Ergehört zu der ersten Gruppe von Zanon-arbeitern, die sich organisiert und denBetriebsrat übernommen haben, und istheute Vorsitzender der SOECN, der Ke-ramikgewerkschaft von Neuquén.

ArbeiterInnen von Zanon, die in diesem Heft zu Wort kommen:

daran was ändern wollten, waren oft ver-zweifelt: ›Mit diesen Kollegen werden wirnie irgendwas hinkriegen, mit dieser Arbei-terklasse kommen wir nirgendwo hin‹.Heute stehen sie mit denselben Kollegenan der Spitze einer Bewegung. Sie habenzuerst den Betriebsrat übernommen unddann die Gewerkschaft. Sie haben in derFabrik Versammlungen durchgesetzt undangefangen, sich zu wehren. Gegen diedrohende Schließung haben sie die Fabrikbesetzt und ans Laufen gebracht. Sie ha-ben die Unterstützung der Bevölkerung er-reicht, Einkommensmöglichkeiten ge-schaffen und ein Netz von BesetzerInnen,kämpferischen ArbeiterInnen und Arbeits-losen geknüpft. Sie haben Räumungenverhindert. Sie sind immer noch da.

Dies ist ein Teil der Geschichteder ArbeiterInnen von Zanon,

erzählt von ihnen selbst.

alixKöln, im November 2003

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3Zanon gehört den Arbeitern

F ünfzehn Stunden Busfahrt sind esvon Buenos Aires aus, durch die end-

losen Weiten der argentinischen Pampa.Die letzte Strecke nach Neuquén, demnördlichsten Teil Patagoniens, führtdurch riesige Apfelplantagen im Tal desRío Negro. Dahinter staubige wüstenar-tige Ebenen und Tafelberge. Am Bus-bahnhof erwartet mich wie abgesprochenein compañero von Zanon, leicht zu erken-nen an der braunen Arbeitskleidung mitdem Gewerkschaftslogo. Nochmal achtKilometer mit dem Bus Richtung Cente-nario: an dieser Landstraße liegt die Fa-brik, daneben eine weitere Kachelfabrik,ein paar andere Betriebe, ein Knast undam Fuße eines Abhangs eine kleine Sied-lung – sonst nichts. Das große Firmen-schild verkündet, dass Zanon den Arbei-tern gehört.

In einem kleinen Bürogebäude im Hofhaben die Zanonarbeiter ihre Abteilung›Presse und Öffentlichkeitsarbeit‹ einge-richtet. Hier ist ein ständiges Kommenund Gehen zwischen Computern undTelefon, Trommeln und anderem Demo-zubehör, Stapeln von Plakaten und Zei-tungen. In einer Ecke wird Mate getrun-

ken und diskutiert, zwei compañeros ver-fassen eine Erklärung zur Besetzung derkleinen Ziegelfabrik Cerámica del Valle,die sie am nächsten Tag mit einer Stra-ßenblockade unterstützen werden.

Die Arbeiter von Zanon haben denKonflikt um die Fabrik von Anfang annach außen getragen. Seit dem erstengroßen Streik im März 2001, bei dem siedurch sämtliche Stadtteile von Neuquénund Centenario gezogen sind, um Le-bensmittel zu sammeln, sind sie immerwieder auf die Straße gegangen, haben ihrProjekt bekannt gemacht und sich mitanderen Bewegungen zusammenge-schlossen. In der automatisierten Fabrikkönnen sie es sich leisten, mehrere Arbei-ter für Politik und Öffentlichkeitsarbeitfreizustellen.

Die ArbeiterInnen können immerwieder staunende BesucherInnen durchdie weitläufige und hochmoderne Fabrikführen. Die meisten tun das gerne, mitgroßer Sachkenntnis, mit einem gewis-sen Besitzerstolz und mit Begeisterungfür das politische Projekt. ›Cepillo‹, dermir die Fabrik zeigt, hat früher an denMühlen gearbeitet. Damals kannte er nur

die Arbeit in dieser einen Abteilung.Durch seine Tätigkeit im Betriebsrat hater Überblick über die Produktion bekom-men, und in der besetzten Fabrik wurdeer zum Koordinator gewählt. Gemeinsammit einem anderen compañero koordinierter heute den gesamten Produktionspro-zess – »... und dabei habe ich noch nichtmalAbitur!« Diesen Satz werde ich in den fol-genden Wochen noch häufiger hören.

Daniel: Erst heute, mit diesem Konflikt,lerne ich die Fabrik wirklich kennen. Wennich vorher meine Abteilung verlassen habe,kam ein Ingenieur an und fragte, was ich dazu suchen hätte. Und wenn man dann keinegute Erklärung hatte, konnte das sogar eineAbmahnung zur Folge haben. Heute laufeich durch die ganze Fabrik und lerne allekennen. In den zwanzig Jahren, die ich hiergearbeitet habe, hatte ich noch nie gesehen,wie an den Atomisatoren und an den Müh-len da hinten gearbeitet wird! Heute laufeich bei den compañeros da rum und kann siefragen, wie das funktioniert. Aber ich frage,als hätte ich gerade erst hier angefangen. Erstheute begreifst du die Dimension davon, wodu gearbeitet hast.

Zanon gehört den Arbeitern

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4 Beilage Wildcat 68

Zanon produziert auf hohem technolo-gischen Niveau glasierte Kacheln fürFußböden und Wände, und Porcellanato(Feinsteinzeug). Die Fabrik ist 1980 ein-geweiht worden. Die Porcellanato-Linie,die modernste der zwölf Produktionsli-nien, ist erst 1993 eingerichtet und 1997noch erweitert worden.

Der Produktionsprozess beginnt mitriesigen Mühlen, in denen die Erde ge-mahlen wird. Von dort aus gelangt derTon über ein System von Röhren, Sieben,Becken, Pumpen, Trockenanlagen undGebläsen in Silos, die die Pressen mit

Material versorgen. Aus den Pressen fah-ren die Kachelrohlinge in eine Trocken-vorrichtung, von dort aus über Bänderdurch verschiedene Stationen, wo auto-matisch Glasur aufgetragen und per Sieb-druck Muster aufgedruckt werden, unddie Rückseite mit einem Stoff bestrichenwird, der das Ankleben in den Öfen ver-hindert. Von den Bändern geht es in Fün-ferreihen in Gestelle, die sich auf Schie-nen automatisch durch die Halle bewe-gen, und die sowohl als Transportmittelwie auch als Zwischenlager dienen.Nächste Station sind die Öfen, und dieletzte Abteilung ist Endkontrolle undVerpackung: aus den Gestellen laufen dieKacheln einzeln hintereinander auf einBand, wo mechanisch auf Bruchfestigkeitund ebenfalls maschinell die Abmessun-gen kontrolliert werden. Nachdem derganze bisherige Produktionsprozess fastnur aus Überwachen, Warten, Einrich-ten oder Nachfüllen besteht, gibt es indieser Abteilung ein paar feste Arbeits-plätze. Hier arbeiten die wenigen Frauen,die in der Produktion zu finden sind. Siesitzen am Kontrollband, klassifizieren dievorbeifahrenden Kacheln in 1., 2. und 3.Wahl, und versehen sie mit entsprechen-den Leuchtstiftmarkierungen. Die Mar-kierungen werden wiederum maschinellgelesen, die Kacheln werden entspre-chend gestapelt, automatisch verpackt,und mit Modellname, Klassifizierungs-und Kontrollnummer bestempelt. An ei-nem Band werden die Kartons per Handvom Band genommen und auf Palettengestapelt, an einem anderen gibt es auchdafür einen Roboter.

Im Gegensatz zu dem politischen Ak-tionismus im Bürogebäude ist in der Fa-brikhalle keinerlei Hektik zu bemerken.An diesem Tag wirkt sie fast verlassen, dawegen einem fehlenden Rohstoff nur eineLinie in Betrieb ist. Aber auch in den fol-genden Wochen ist die Ruhe bei der Ar-beit auffällig. Es herrscht ein angeneh-mes, freundschaftliches, solidarischesKlima.

Rolando: Hier macht dir niemand Stress.Das ist eine der grundlegenden Veränderun-gen, die es hier gegeben hat. Vorher war dasschlimm. Der Chef saß dir im Nacken, dieVorarbeiter. Je mehr du gemacht hast, destomehr wollten sie haben.

Eugenio: Du musstest das Produktionssollerfüllen, und die Qualitätsnormen, und da-bei solltest du dann auch noch sicher arbei-ten. Sie haben uns viele Stunden arbeitenlassen. Nach acht Stunden musstest du trotz-dem noch länger bleiben. Sie haben dich dazugezwungen.

Mario: Wir waren ständig verfolgt. Wennsie dich eine halbe Stunde lang nicht gesehenhaben, haben sie dich gesucht. Die Vorarbei-ter waren hinter uns her. Die konnten dasnicht mit ansehen, wenn du rumgestandenbist.

Die compañeros haben sich in den HallenSitzecken zum Matetrinken eingerichtet– was früher strengstens verboten war. ImSchatten der Bäume auf dem Fabrikge-lände wird diskutiert, über Probleme derProduktion, über Politik, und natürlichauch über Fußball. Nach der Besetzunghaben sie den alten Gärtner des Betriebsaufgesucht und ihn gefragt, ob er nichtwieder mitmachen wollte. Jetzt kümmerter sich um den Rasen und die Bäume undbekommt dafür den neuen Einheitslohn.Alle ArbeiterInnen von Zanon bekom-men 800 pesos (etwa 270 US$) – die Pro-duktionsarbeiter, die Arbeiter im Labor,die Freigestellten, der Gewerkschaftsvor-sitzende, die Frauen in der Küche, diecompañeros der ArbeitslosenorganisationMTD, die inzwischen in der Fabrik ar-beiten, die Pförtner, und auch der Anwalt.

Im Oktober 2001 haben die Arbeitervon Zanon die Fabrik besetzt. Im März2002 haben 270 compañer@s angefangen,›unter Arbeiterkontrolle‹ zu produzieren(262 Männer und acht Frauen). Inzwi-schen konnte die Belegschaft auf 320compañer@s erweitert werden. Aus demFabrikknast ist ein Experimentierfeld fürArbeiterselbstverwaltung und Basisde-mokratie geworden.

Delia: Als wir im Streik waren und dasStreikzelt vorm Tor hatten, bin ich einesabends mit meiner Tochter dort hingegan-gen. Wir haben Mate getrunken und unsunterhalten: das wäre ein Traum, das hierans Laufen zu bringen. Und wenn wir ein-fach reingingen und das in Gang bringenwürden, die Mühlen, die Pressen, die Pro-duktionslinien? Es war ein Traum. Wirhatten alle Zweifel, ob wir das tun sollten.

Neuquén, die Hauptstadt der gleichnamigen Pro-vinz Argentiniens liegt im Nordwesten Patagoniens.Ureinwohner waren die Mapuche, die heute nochauf beiden Seiten der Anden, in Chile und Argenti-nien leben. 1980 hatte Neuquén 90 000 Einwoh-nerInnen, heute mehr als 200 000. Ein Bauboomdurch Staudammprojekte hat viele MigrantInnenangezogen, auch aus dem nahen Chile. Heute bil-den arbeitslose Bauarbeiter aus der ehemals kämp-ferischen Baugewerkschaft die Basis der Arbeitslo-senorganisationen. In dem Städtchen Cutral Co,etwa 100 km von Neuquén entfernt, hat 1996 dererste Arbeitslosenaufstand stattgefunden. Der Pro-test gegen die Privatisierung der Ölgesellschaft YPFgilt als Geburtsstunde der piqueter@s, der organi-sierten Arbeitslosen mit ihrer neuen Aktionsform,der Straßenblockade. In der Erdölprovinz Neuquénhatte die Provinzregierung viel Geld zu verteilen,und viele Leute lebten gut vom Öl. Eine verarmteMittelschicht gibt es nicht in dem Ausmaß wie inBuenos Aires. Stadtteilversammlungen sind in Neu-quén nicht entstanden. Es gab aber mehr Kämpfevon ArbeiterInnen, Angestellten im ÖffentlichenDienst und Arbeitslosen. Der Kampf um Zanon fandbei den Mittelschichten viel Sympathie. Die allge-meine Wut in der Gesellschaft mündete in Neuquénin die Unterstützung der Arbeiterkämpfe.

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5Zanon gehört den Arbeitern

Im Oktober 2001 besetzen die Arbeite-rInnen von Zanon die Fabrik – nachdemwieder einmal die Lohnzahlung ausge-blieben war und sich die Anzeichen füreine Betriebsschließung häuften. Vordem Arbeitsgericht erreichen sie ein au-ßergewöhnliches Urteil: Der Unterneh-mer Zanon wird wegen ungerechtfertig-ter Aussperrung verurteilt, und den Ar-beitern spricht das Gericht 40 Prozentder Lagerbestände als Ersatz für nicht ge-zahlte Löhne zu. Im Januar legt Zanoneinen Plan zur Wiederaufnahme der Pro-duktion mit nur 62 Arbeitern vor. DieFabrikbesetzerInnen lehnen das ab. Bis-her haben sie von Spenden und dem Ver-kauf der Lagerbestände gelebt. Ende Fe-bruar 2002 beschließen sie, die Produkti-on selbstverwaltet in Gang zu bringen.

Von den ehemals 370 ArbeiterInnensind noch 270 dabei. Nicht mehr dabeisind die Spezialisten, die Techniker undIngenieure, die Verwaltung, sowie die ge-samte Hierarchie. Nur zwei Vorarbeiterstellen sich auf die Seite der Arbeiter.

›Manotas‹: Ich war einer der 82 Vorarbei-ter. 1999 hatte es schon eine Reihe von Pro-testen gegeben, es ging um das Einfordernvon Rechten und um Arbeitssicherheit, umProbleme bei der medizinischen Versorgungim Betrieb. Das war mit dem ersten kämp-ferischen Betriebsrat, den es in dieser Fabrikgab. Als Vorarbeiter konnten wir da nichtmitmachen, sie hätten uns einfach rausge-schmissen.

Dann fingen die Probleme mit den ver-späteten Lohnzahlungen an. Sie gaben unsirgendwann mal hundert Pesos, der Zahltagwar nicht klar, du wusstest nie, wann du wasbekommen würdest. Ich war das dann leidund habe mit anderen Vorarbeitern darübergeredet. Erst haben sie zugestimmt, wir soll-ten Maßnahmen ergreifen, aber wir solltendas als Vorarbeiter machen, wir könnten unsnicht mit den anderen Arbeitern zusam-menzutun. Sie haben dann aber einen Rück-zieher gemacht.

Außerhalb der Arbeitszeit habe ich ange-fangen, mit einigen aus dem Betriebsrat zureden. Hier drin ging das nicht. Wenn sie

gesehen haben, dass du mit einem vom Be-triebsrat geredet hast, haben sie dich sofortrausgeschmissen. Im Dezember 2000 bin ichin die Gewerkschaft eingetreten. Sie habenmich deswegen zur Geschäftsleitung zitiert,wo ich das geleugnet habe, weil ich keinenrechtlichen Schutz hatte, aber die compañe-ros von der Gewerkschaft wussten, dass ichMitglied war.

Die Probleme gingen all die Monate wei-ter. An den Zahltagen gab es kein Geld. ImMärz 2001 war ich es dann leid, ich hatteschon zehn Monate Lohnrückstand. Es gabhier eine Versammlung wegen der Lohnzah-lungen, und ich habe darum gebeten, dabei-sein zu dürfen. Das gab einen Aufruhr inder Fabrik, denn dass ein Vorarbeiter bei dencompañeros sein wollte, das war eine schwie-rige Sache. Ich habe ihnen gesagt, dass ichmit ihren Forderungen einverstanden wäreund mich dem Kampf anschließen wollte.Und auch, dass ich damit allein stand, dassda keiner außer mir war. Dann kam nochein Vorarbeiter dazu. Vonden 82 haben wir zweiuns dem Kampf ange-schlossen.

Die Produktionslinienin Betrieb zu nehmen,war für die Arbeiterkein Problem. Die feh-lenden Vorarbeiter undMeister hat niemandvermisst. Im Gegenteil.

Fredy: Die wichtigsteVeränderung ist, dass wirjetzt die Pläne machen.Wenn wir Arbeiter frü-her Vorschläge hatten undden Arbeitsablauf än-dern wollten – nicht ausLust und Laune, sondernweil wir selbst die Arbeit,die wir machen, am be-sten kennen – dann kamder Vorarbeiter oder einDirektor und sagte›Nein, so nicht‹. Allesmusste so laufen, wie sie

das sagten. Heute machen wir Sachen, diewir schon lange machen wollten, aber es gingnicht, weil der Chef uns nicht ließ, der Chefund all die Meister und Vorarbeiter, die aufseinen Befehl handeln.

Heute beruht das auf Gegenseitigkeit. Ichhatte gestern ein kleines Problem mit demMaterial. Da bin ich zu dem Band gegan-gen, an dem ich früher gearbeitet habe undhabe die compañeros gefragt, was da los war.Dann hab ich meinen Teil von Wissen bei-gesteuert, und sie meinten: ›Gute Idee, sokönnen wir das machen‹. Sie haben das an-genommen. Dann kam noch ein anderercompañero und meinte: ›Warum verbessernwir das nicht auch gleich an dieser Stellemit?‹

Früher war das anders: Du hast dieMappe gesehen mit den Laufzetteln für dieProduktion. Der Kapo, ein Ingenieur, hatdie immer durchgeblättert und unterschrie-ben, ohne irgendwas zu kontrollieren. Ein-mal ging eine große Menge Rohstoff von

Zum Produzierenbraucht es keine Chefs

»Ohne Chefs zu arbeiten, das ist wie die Flügel aufspannenund anfangen zu fliegen.« (›Manotas‹)

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6 Beilage Wildcat 68

hohem Wert verloren, weil da ein Buchstabefalsch war. Statt 15 g stand da 15 kg – undes ging um Pigmente! Die compañeros wuss-ten, dass das falsch war. Wenn du das jedenTag machst, dann weißt du was 15 Grammund 15 Kilo sind. Aber wir hatten schon sooft ihre Fehler ausgebügelt ... Also: ›EinenSack von 15 Kilo sollen wir da reinschütten?Na gut, dann tun wir das!‹ Und ab in dieProduktion. Sie haben dann nachgeforschtund fanden die Unterschrift des Ingenieursunter den 15 Kilo ...

Julian: Als wir die Arbeit wieder aufgenom-men haben, wusste jeder, was er zu tun hat-te. Aber wir mussten eine Menge Dinge ler-nen, die wir vorher nicht gemacht hatten.Da hat man die Kreativität der Keramik-arbeiter gesehen. Wir haben gezeigt, dass wirkreativ genug sind, um ganz verschiedeneAufgaben zu übenehmen, um neue Produk-tionsmodelle und neue Kachelmodelle zuentwickeln. Das war eine enorme Verände-rung. Wir sind dabei besser geworden. Nichtin dem Sinn von Konkurrenz, sondern in-dem wir für alle gearbeitet haben, und ver-sucht haben, das Beste zu geben, für alle. Wirhaben geheime Fähigkeiten entwickelt, diewir vorher allenfalls zuhause gezeigt haben,in der Familie. Diese Kreativität wird un-terdrückt, wenn dir ein Chef die Anweisun-gen gibt, immer nur mehr von dir verlangt,ohne was dafür zurückzugeben. Dann hältstdu dich zurück und sagst dir: ›Mehr gebe ichdem nicht‹. In dieser neuen Phase ist all dieseKreativität aufgeblüht, die Lust, Sachen zu

machen, neue Sachen zu lernen. Denn wirmussten viel lernen. Wir mussten lernen, unszu strukturieren. Wir mussten lernen, dasswir nicht alle als wilde Kugeln durcheinan-derrollen können. Wir konnten nicht im Be-trieb rumlaufen, ohne zu wissen, was zu tunwar.

Wir haben gelernt, alles zu machen.Du hast mit den alten Sachen angefangen,aber dann wolltest du mehr lernen, die Ver-waltung, den Verkauf. Wenn die Firma dasvorher von dir verlangt hat, hast du gesagt:›Nein, ich mache meine Arbeit, und den Restkönnt ihr regeln. Ich bin schon genug unter-drückt, ich übernehme nicht noch mehr Ver-antwortung, damit ihr mich dann noch mehrfertig macht.‹ Diese Kreativität ist dannaufgeblüht. Wir haben eine Menge gelernt.

Nachdem die ArbeiterInnen die Produk-tion zunächst ohne jegliche hierarchischeFunktionen aufgenommen haben, be-schließen sie einige Monate später, in al-len Abteilungen Koordinatoren zu wäh-len.

Fredy: Das ist ein grundlegender Schritt,den wir gemacht haben. Die Koordinatorenbringen uns die Informationen, und auf derBasis machen wir die Produktion. Wenn esein Treffen der Koordinatoren gibt, wo es umdie Produktion geht, dann kommt danachder Koordinator zu uns fünfen und sagt:›Jungs, wir stoppen jetzt die Produktion weilein Rohstoff fehlt, ein Pigment. Wie sieht’saus, können wir morgen mit der anderen

Sorte weitermachen?‹ Jeder Koordinatorklärt das in seiner Abteilung und bringt dasauf ’s Koordinatorentreffen. Bei dem Koor-dinatorentreffen sind auch Arbeiter. Wer dahingehen will, kann da hingehen.

›Manotas‹: Jeder einzelne kannte seine Ar-beit und wusste, was er zu tun hatte. Aberdas war nicht organisiert. Wie sollten wiruns in der Fabrik bewegen, wie sollten wirdas alles regeln, damit nicht jeder für sich sei-ne Arbeit so gut wie möglich macht und amEnde kommt doch nichts dabei raus? Im Juliletzten Jahres wurde klar, dass wir uns besserorganisieren mussten. In einer Versammlunghaben wir beschlossen, Koordinatoren für dieverschiedenen Abteilungen zu wählen. DieFabrik ist in verschiedene Abteilungen auf-geteilt – Pulverisierung, Pressen, Öfen,Qualitätskontrolle, Verkauf. Und weil jedernur über die Arbeit in seiner Abteilung Be-scheid wusste, haben wir gesagt: eine Pro-duktionslinie hat z.B. pro Schicht zwölfcompañeros, und die sollen einen Koordina-tor wählen. Dasselbe bei der Pulverisierung,bei den Öfen, im Verkauf, usw. Wir Koordi-natoren haben angefangen, uns zweimal proWoche zu treffen, und die Veränderung warsehr schnell spürbar. Die Produktion lief vielbesser. Wir konnten besser planen. Ich binHauptkoordinator geworden. Das hat dieVersammlung beschlossen. Das ist eine großeVerantwortung, die einige Stunden mehr anEinsatz bedeutet, aber ich mache das mitStolz.

Julian: Ich bin Koordinator für den BereichPressen und Glasur. Ich bin von meinencompañeros demokratisch gewählt worden,und ich bin immer noch einer von ihnen. Daswar vorher anders. Wenn da einer auf derLeiter aufgestiegen ist, dann hat er auf dieanderen runtergeguckt.

Schwieriger als die Arbeit an den Produk-tionslinien waren die Bereiche der Spe-zialisten, zu denen ArbeiterInnen früherüberhaupt keinen Zugang hatten: dieVerwaltung mit Einkauf und Verkauf, dieSiebdruckwerkstatt oder das Labor.

›Chicho‹: Im Labor hatten wir das Pro-blem, dass die Techniker, die für Zanon ge-arbeitet haben, nicht mehr da waren. Wirhaben uns mit compañeros, die früher hiergearbeitet haben, in Verbindung gesetzt, undeinige von ihnen waren bereit, mitzuma-chen. Weil ich sie kannte, habe ich angefan-

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7Zanon gehört den Arbeitern

gen, mit ihnen im Labor zu arbeiten. Vorherwar ich in der Produktion. Wir sind immernoch am Lernen. Das Basiswissen haben wirinzwischen, aber jeden Tag tauchen neueProbleme auf. Wir lernen das alles mit derZeit.

Eduardo: Ich habe noch nie in einem Laborgearbeitet. Ich habe be- und entladen, habeKühlschrankteile zum recyceln in Mühlengeschmissen, ich habe Briefe ausgetragen.Und dass ich jetzt hier bin, und darübernachdenken kann, welche Produktnummernich mischen muss, also kreativ arbeite ...

Daniel: Fast keiner von uns hatte vorher inder Organisation der Firma gearbeitet. Wirsind alle Produktionsarbeiter. Das ist eineschwierige Rolle für uns. Aber wir habenTreffen gemacht und darüber geredet, undwir hatten Unterstützung von Leuten vonaußen, die sich mit dem Thema auskennen.Verschiedene Buchhalter und Verwaltungs-leute sind gekommen, um den Kampf zu un-terstützen. Wir haben daraus unsere Schlüs-se gezogen, und haben uns organisiert.

Für den Einkauf der Rohstoffe bekom-men sie Unterstützung von den Mapu-che. Diese hatten schon vorher Kontaktmit den Zanonarbeitern aufgenommen,weil der Unternehmer Zanon die Ton-erde auf ihrem Gebiet ausbeutete, ohnedafür zu bezahlen. Nach der Besetzungbieten sie den compañeros Rohstoffliefe-rung und Zusammenarbeit an. Die be-danken sich mit der neuen Kachelserie›Mapuche‹.

Der Verkauf findet am Fabriktor statt.Da Zanon bis heute keinen legalen Sta-tus hat, können sie keine Rechnungenschreiben und deshalb keine Großkun-den beliefern. Für Abhilfe sorgt die Men-schenrechtsorganisation ›Mütter der Pla-za de Mayo‹, die ihren Verein für die Ab-wicklung der Bürokratie zur Verfügungstellt.

Rolando: Wer weiß, wie viele Säcke vollGeld Zanon auf unserem Rücken gemachthat. Selbst mit den paar Maschinen, die jetztlaufen, haben wir unser Auskommen. Wennwir alles in Gang bringen würden, hättenwir total viel Geld. Wir könnten bis zu 1000Arbeiter hier haben, und würden alle gutverdienen. Denn da kommt viel Geld rein,das haben wir gesehen. Bei Zanon gingenbis zu zwanzig LKWs pro Tag raus. Derhat nur an Großhändler verkauft. ZwanzigPaletten pro LKW, am Morgen um 6 Uhrwurde beladen und abends um 22 Uhr im-mer noch. Es wurde auch exportiert. Undheute leben wir davon, dass wir paketweiseverkaufen.

Der bis heute illegale Status bringt einer-seits eine Menge bürokratische Schwie-rigkeiten und vor allem die große Unsi-cherheit wegen der Räumungsdrohungmit sich. Andererseits hat er für die com-pañeros auch Vorteile: sie haben sich diewertvolle Maschinerie angeeignet, undmüssen für dieses Kapital, das auf

Seit der Besetzung haben die Arbeiter mehrere neue Kachelmodelle entwickelt: die Serie Mapuche, in Zusam-menarbeit mit der Mapuche-Koordination und als Dank für die Unterstützung, das Modell Hebe, benannt nachder Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Madres de la Plaza de Mayo, und das Modell Obrero, Arbeiter:widerstandsfähig und preiswert. Die Zanon-Kacheln werden heute unter einem neuen Namen vertrieben: FASIN-PAT. Etwas versteckt wird damit klar gemacht, wo sie produziert wurden: in einer Fabrik ohne Chefs, einer FÁbricaSIN PATrón.

120 Mio US$ geschätzt wird, keine Zin-sen zahlen. Diesen kapitalistischenZwang zur Kapitalverwertung konntensie bisher umgehen. Eine Legalisierung,die in irgendeiner Form die Profite desEigentümers Zanon wieder herstellenwürde, würde für die compañeros eineenorme Steigerung des Arbeitsdrucks be-deuten. Sie haben bewiesen, dass es mög-lich ist, einen hochkomplizierten Pro-duktionsprozess ohne Chefs zu leiten,mit einer basisdemokratischen Koordi-nations- und Versammlungsstruktur.Eine Steigerung des Arbeitsdrucks (fürMarkt und Profit) würde aber sicherlichdie Gefahr beinhalten, dass sich alteHierarchien wieder durchsetzen. DieZukunft dieser Produktion ohne Chefs,mitten im Kapitalismus, ist in höchstemMaße ungewiss.

Fredy: Wenn die Typen (Zanon) wiederherkommen wollen, dann wollen wir allewieder hier arbeiten, alle von früher, genaudieselben. Wenn sie das akzeptieren, kannman darüber diskutieren. Wir werden in ei-nigen Punkten nachgeben müssen, aber dieGrundlage muss sein, dass wir alle wiederhier arbeiten. Aber das würde dem Unter-nehmer nicht passen, denn er würde nie wie-der sein Ziel erreichen, über die Leute zubestimmen und sie so zu bezahlen, wie er daswill, oder sie rauszuschmeißen, wie es ihmgefällt. Heute haben wir hier ein ganz an-deres Gewicht.

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... war eine der häufigsten Antworten aufdie Frage, was die wichtigsten Verände-rungen nach der Besetzung gewesen wä-ren.

Daniel: Ich gehörte zu dieser Halle, und vonhier aus durften wir nicht in die andere. Alleswar nach Abteilungen getrennt, wir hattenArbeitskleidung mit unterschiedlichen Far-ben, damit sie uns identifizieren konnten.

Julian: Du konntest dich noch nicht mal fünfMinuten mit einem compañero unterhalten.Sie wollten nicht, dass wir uns kennenler-nen. Wenn du deine compañeros nichtkennst, führt das zu Individualismus. Siehaben nicht zugelassen, dass wir uns näher-kommen.

Fredy: Was durch den Kampf passiert ist:Wir sind vereint und wir kennen uns besser.Vorher hast du gestempelt und bist in deineAbteilung gegangen. Du kanntest nur diecompañeros aus deiner Abteilung. Vielleichtmal durch Zufall, weil du in eine andereAbteilung gehen musstest, hast du jemandanders gesehen. Heute gehst du auf Ver-

sammlungen, stehst da neben dem einen oderdem anderen. Wir gehen als Gruppe wo hinund lernen uns dabei kennen. Du lernst diecompañeros kennen und bist dir einig in demPunkt, dass wir mit diesem Kampf weiter-kommen müssen.

Nach der Besetzung haben sie als erstesdie Trennwände zwischen den Abteilun-gen beseitigt. Aus unbekannten Arbeits-kollegen sind compañeros geworden, undaus der verhassten Fabrik ein Ort, an demman sich gerne aufhält. Der Weg vomArbeitsplatz bis zum Tor dauert manch-mal Stunden – weil man unterwegs nochmit so vielen compañeros was zu bespre-chen hat oder in eine Materunde gerät,oder weil im Labor jemand Fleisch mit-gebracht hat und die Bunsenbrenner zumGrill umfunktioniert werden. Oft erfor-dern allerdings auch Probleme der Pro-duktion, dass die compañeros länger blei-ben.

In der Produktion haben sie nach derBesetzung das alte Dreischichtmodellbeibehalten. Die Nachtschicht ist not-wendig, da die Öfen nicht abgeschaltet

»dass wir unskennengelernt haben ...«

werden können; sie ist nur dünn besetzt.Früh- und Spätschicht arbeiten imWechsel, die Frühschicht arbeitet jeweilsden Samstag. Spezialabteilungen, Hand-werker und Koordinatoren sind im Prin-zip von 8 bis 16/17 Uhr in der Fabrik,aber faktisch oft länger.

Daniel: Früher habe ich meine acht Stun-den abgerissen und bin gegangen. Das warmonoton. Das war nur Pflicht, um ein Ein-kommen nachhause zu bringen.

Heute ist es schwierig, wegen der Situa-tion, in der wir uns befinden. Bei den Tref-fen reden wir viel darüber, dass manche com-pañeros nicht mehr können. Bei mir ist dasumgekehrt. Mich motiviert das. Manchmalsagen mir compañeros: ›Guck mal, wie spätes ist, und du bist immer noch hier‹. Aber mirgefällt das: Wenn ich ein Problem habe, dasich heute lösen kann, dann mache ich dasheute fertig. Auch wenn ich dafür 15 oder 16Stunden hier sein muss. Andere compañerosgehen nach acht Stunden. Sie sagen, dass siedas nicht länger aushalten. Wir sind eben alleverschieden, wir denken unterschiedlich undhaben unsere Eigenheiten.

Basisdemokratische Strukturen und im-mer wieder Versammlungen haben dazugeführt, dass Politik nicht das Werk vonein paar Kadern ist, sondern Sache vonallen.

Der Horizont hat sich erweitert. Auchnach außen entstehen neue Kontakte. Be-sucherInnen aus anderen Städten und an-deren Ländern kommen nach Neuquénin die Provinz, und die ArbeiterInnen vonZanon gehen auf Reisen.

Daniel: Zum Treffen in Rosario wird eineDelegation von hier fahren. Die Gewerk-schafter sagen immer, dass auch andere com-

Neue HorizonteDie compañeros vonZanon waren vor demKonflikt um die Fabrik›ganz normale Arbei-ter‹. Im Betrieb wurdeüber Fußball geredet,für Politik haben sichdie wenigsten interes-siert. Heute ist die Fa-brik ein Ort der Dis-kussion. Worte wieKlassenkampf oderRevolution werden mitgrößter Selbstver-ständlichkeit benutzt.

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pañeros fahren sollen, um Erfahrung zu be-kommen. Dass sie nach außen gehen sollen,um zu sehen, wie der Konflikt wahrgenom-men wird. Sonst besteht die Gefahr, dass wiruns hier einigeln und gar nicht mitbekom-men, wie das von außen gesehen wird. Vielecompañeros, die rumgefahren sind, in ver-schiedene Landesteile, haben von ihren Er-fahrungen berichtet: Wir hätten nicht ge-dacht, dass sich so viele Leute für uns interes-sieren würden, dass sie uns als Idole sehen,weil wir hier praktisch eine Revolution ma-chen!

›Chicho‹ war Ende 2002 zusammen mitMariano, dem Anwalt von Zanon, in Ita-lien, London und Paris.

›Chicho‹: Die Reise nach Italien war einegroße Sache. Wir waren jeden Tag in eineranderen Stadt, ohne ein Wort zu verstehen.Es war ziemlich schwierig, sich zurechtzu-finden. Wir haben in den Veranstaltungenüber die Geschichte unseres Konfliktes gere-det, über die Übernahme der Gewerkschaft,über die anderen Fabriken, über die Regio-nalkoordination, die wir hier mit der Coor-dinadora del Alto Valle haben, über die Zu-sammenarbeit mit Brukman, über die Tref-fen der besetzten Fabriken. Es ging um dieFrage: warum Arbeiterkontrolle statt Ko-operativen? Wir haben unseren Vortrag ge-halten, dann fing die Diskussion an, sie ha-ben uns nach der Situation in Argentiniengefragt, wie lange wir so weitermachenkönnten. Alles mögliche. Wir haben Leuteaus verschiedensten Bereichen kennenge-lernt. Veranstaltungen, die von der FIOM,von großen Gewerkschaften organisiert wa-ren, bis hin zu COBAS, zu Centros Sociales,verschiedensten Gruppen.

Ab der Mitte der Reise war schon be-kannt, wer wir waren und was wir zu er-zählen hatten. Die Debatte wurde dannimmer interessanter, von den Fragen undBeiträgen her. Es wurden Informationenausgetauscht. Unsere Reise wurde in denMedien verbreitet. Es kamen immer mehrLeute und die Veranstaltungen verändertensich.

Dann waren wir bei FIAT in Sizilien.Danach bekamen die Veranstaltungen eineandere Richtung, dann wurde es internatio-nalistisch. Ich hätte nicht gedacht, dass es sowerden würde, aber das kam so, mit dencompañeros von FIAT. Sie standen in einemgroßen Streik. Sie hatten die Fabrik nicht be-setzt, aber sie waren im Streik. Das war kein

Kampf von 270 Arbei-tern, sondern von Tau-senden. Das ist schon einkleiner Unterschied. Einkleiner Unterschied inder Anzahl der Arbeiter,aber nicht in dem, wasgemacht wurde. DerStreik war wegen einervon FIAT behauptetenKrise, und hier ging esum eine angebliche Kri-se von Zanon. In diesemSinn ging es um dasgleiche. Wir haben aneiner Versammlung vonihnen teilgenommen.Das kam in einigen Zei-tungen und Radios. Abdiesem Zeitpunkt frag-ten sie uns, ob manFIAT auch besetzenkönnte. Es gab also dieDiskussion, ob sie beiFIAT dasselbe machenkönnten, wie wir beiZanon. Und: was wirden FIAT-Arbeiternraten würden. Wir ha-ben ihnen gesagt: wirkönnen unsere Erfah-rung erzählen, unsereBotschaft ist die Einheit,wenn sie den Kampfweiter führen wollten, müssten sie das ge-meinsam tun, dass die Chefs sicher versu-chen würden, sie zu spalten – das ist unserewichtigste Botschaft.

Wir waren 30 Tage in Italien. Jeden Tageine Veranstaltung, manchmal sogar zwei,sogar an Sonntagen haben wir Veranstal-tungen gemacht. Das war Wahnsinn. Wirhaben mit vielen Gruppen geredet, die gutfinden, was wir hier machen, und die auchMöglichkeiten sehen, sich zu organisierenund zu koordinieren, ohne die großen Ge-werkschaften und Apparate.

Delia, eine der wenigen compañeras beiZanon, war Anfang 2003 zusammen mitAlejandro López, einem der Gewerk-schaftsvorsitzenden der SOECN, beimWeltsozialforum in Porto Alegre.

Delia: Die compañeros haben mich tatsäch-lich als ihre Repräsentantin auf dem Weltso-zialforum gewählt! Das Wichtige für michwar nicht die Reise, sondern die Tatsache,

März 2003: Die Demonstration zum Jahrestag des Militärputsches 1976 wirdzu einer Demonstration gegen den Irakkrieg. Die ArbeiterInnen von Zanon, Bruk-man, dem besetzten Supermarkt Tigre in Rosario und der Arbeitslosenorgani-sation MTD aus Neuquén mit ihrem Transparent ›Nein zum Krieg. Für die Zer-schlagung der Repressionstruppen des Imperialismus‹.

dass meine compañeros mich gewählt haben.Die erste Überraschung war für mich, dasssie mich vorgeschlagen haben. Und wenn eseine andere Frau gewesen wäre, irgendeinevon den anderen, dann wäre ich genauso frohdarüber gewesen, denn wir sind so wenige.Das ist ein großer Fortschritt.

Auf der Versammlung wurde gesagt, dasseine Reise ansteht, und dass jemand dencompañero Alejandro López begleiten soll.Dafür wurden sechs Männer und eine Frauvorgeschlagen. Es sollten nicht zwei aus derGewerkschaftsleitung fahren, sondern einervon der Gewerkschaft und ein compañerovon der Basis. Dann fragte ein compañero:›Könnte das nicht auch eine Frau sein?‹›Warum nicht‹, haben sie gesagt. Dann hater mich vorgeschlagen.

Für mich hat sich der Horizont enorm er-weitert. Ich komme aus einer Familie, wonicht über Politik gesprochen wurde. Heutenerven mich die Ungerechtigkeiten. Vorherhabe ich dazu geschwiegen. Heute würde ichgerne noch mehr dagegen tun.

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Wer sich mit den Bewegungen in Argenti-nien beschäftigt, kommt an der Vielzahltrotzkistischer Avantgardegrüppchennicht vorbei. Traditionell hat der Trotzkis-mus in der argentinischen Linken großesGewicht, und so trifft man dort, wo sichetwas bewegt, selbstverständlich auchMenschen, in deren Politisierung trotzki-stische Schulungen eine Rolle gespielthaben. In den sozialen Bewegungen kön-nen die organisierten compañeros sichin der Regel besser artikulieren, und siefallen dadurch mehr auf als andere, diegerade ihre ersten Schritte in politischenBewegungen unternehmen. Oberfläch-lich betrachtet, scheint eine Bewegungdann das Werk einer Partei zu sein.

Die trotzkistischen Parteien in Argen-tinien versuchen alle, aus den sozialenBewegungen und den Kämpfen von Ar-beiterInnen parteipolitisches Kapital zuschlagen. Dabei haben sie eine MengeSchaden angerichtet. Diskussionsortewie die Interbarrial, das wöchentlicheTreffen der Stadtteilversammlungen, dasnach dem Aufstand jeden Sonntag in ei-nem Park in Buenos Aires stattfand, sinddurch die Parteienkonkurrenz zerstörtworden. Die meisten TeilnehmerInnenhat das entsprechende Gehabe der Ka-der so abgeschreckt, dass sie nichtmehr gekommen sind.

Gegen Brukman und Zanon gibt esimmer wieder die Polemik, diese Beset-zungen seien das Werk von Parteikadernder trotzkistischen PTS. Es ist richtig undkein Geheimnis, dass Raúl Godoy Mit-glied der PTS ist, und ein paar weiterecompañeros von Zanon ebenfalls. In

Buenos Aires haben zwei ArbeiterInnenvon Brukman bei den Provinzwahlen imSeptember 2003 als Parteilose auf denListen der PTS und einer anderen Parteikandidiert.

Es ist jedoch eine absurde Vorstellung,dass ein paar Parteikader 300 ArbeiterIn-nen ihre Linie aufdrücken könnten. DerEinfluss organisierter compañeros ist inder Parole ›Verstaatlichung unter Arbeiter-kontrolle‹ erkennbar, und auch in man-chen Diskussionen über Arbeitermachtund Revolution in der Fabrik. Man mussdie Vorstellungen trotzkistischer Parteienüber den Aufbau sozialistischer Staatennicht teilen – aber darum geht es auch garnicht. Das Wichtige ist, dass hier solcheFragen überhaupt diskutiert werden: Wiesoll eine andere Gesellschaft aussehen,und wie kommen wir da hin? Brauchen wirfür die Revolution eine Partei, wollen wireine Arbeiterregierung, oder geht es umden Aufbau von Gegenmacht in eigenenStrukturen? Klassenkampf oder Multitu-de? Diskussionen, die normalerweise inhöchst akademischem Jargon in exklusi-ven Zirkeln geführt werden, finden bei Za-non neben der laufenden Produktion statt,und sehr konkret an der Frage, welcheStrategie die Arbeitslosenorganisationenverfolgen sollten, und wie es bei Zanonweitergeht. Was unter den altbekanntenBegriffen verstanden wird, ist ebenfallsGegenstand vieler Diskussionen. ›Ver-staatlichung unter Arbeiterkontrolle‹ und›Arbeiterregierung‹ gehören einerseitszum Repertoire trotzkistischer Übergangs-vorstellungen. Andererseits bekommendiese Begriffe in der besetzten Fabrik ei-

gene Bedeutungen. ›Wir haben gezeigt,dass wir die Produktion selbständig lei-ten können, ohne Chefs, also können wirauch das Land leiten, die Politiker brau-chen wir genauso wenig wie die Chefs‹.Und ›Verstaatlichung unter Arbeiterkon-trolle‹ heisst für viele compañeros ein-fach: ›Wir wollen die Produktionsmittelnicht kaufen, wir wollen keine Eigentü-mer werden, der Staat soll sie uns zurVerfügung stellen‹.

Aus einer Fabrik, in der sich niemandgetraut hat, den Mund aufzumachen, istein Ort für solche Diskussionen gewor-den. Diesen Ort hat keine Partei ge-schaffen – egal wie viele Parteien versu-chen, sich mit diesem Ruhm zu schmük-ken. Diesen Raum haben sich die Arbei-terInnen selbst erobert. Wie Raúl es indem Interview sagt: ›Wenn wir einenRaum für Demokratie schaffen, dannwerden die compañeros selber sagen,wie es weiterlaufen soll‹. Und das tunsie, auch gegen die Vorstellungen ihrerorganisierten compañeros.

Bei den Provinzwahlen in Neuquén imMärz hatten sämtliche linken Parteiendie Zanonarbeiter auf ihren Flugblättern.Es gab Angebote, Kandidaten zu stellen.In einer Versammlung hatten die Arbei-terInnen beschlossen, dies nicht zu tun.Die PTS rief bei diesen Wahlen zum Boy-kott auf (aus taktischen Erwägungen,nicht aus einer grundsätzlichen Ableh-nung heraus). Sie klebte in Neuquén einWahlboykottplakat, auf dem ein Arbeitervon Zanon mit einem Arbeitslosen derMTD zu sehen war, die bekannten Hem-den mit den Logos. Dieses Plakat lösteim Betrieb große Empörung aus. Die Za-nonarbeiter hatten beschlossen, keineKandidaten aufzustellen, aber sie hat-ten keinen Boykottbeschluss gefasst,wie es mit dem Plakat suggeriert wur-de. Diese Frage war Thema einer Son-derversammlung beim Schichtwechselauf dem Hof. Hier machten die Arbeite-rInnen ihren compañeros von der PTSunmissverständlich klar, dass sie sichnicht für Parteiinteressen benutzen las-sen. Von niemandem.

Wenn Kritiker von Avantgardekonzep-ten die besetzten Fabriken Brukmanund Zanon als ›Avantgardeprojekte‹ dif-famieren, dann spielen sie genau dasSpiel der Möchte-gern-Avantgarden: Siekonzentrieren sich nur auf die Führungs-personen. Dieses Heft soll dazu beitra-gen, den Blick auf die Prozesse unterden ArbeiterInnen selbst zu lenken, aufdie Prozesse an der Basis.

Brukman und Zanon: Projekte von trotzkistischen Parteien?

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11Zanon gehört den Arbeitern

Die Zanonarbeiter gehörten früherzur gutbezahlten Arbeiterelite.

Viele Arbeiter wohnen in eigenen Häu-sern, die nach einem Sozialwohnungs-plan gebaut wurden. Wer einen Arbeits-platz hatte, konnte ein solches Häuschenfür relativ geringe monatliche Zahlungenerwerben. Auf dem Firmenparkplatzzeugen ein paar schwere Motorräder unddie immer noch recht zahlreichen Autosvon vergangenem Wohlstand. Heutezahlen viele die Raten für ihre Häusernicht mehr – ohne dass es bisher zu Räu-mungen gekommen wäre – und niemandkann es sich mehr leisten, vollzutanken.Aber bevor ihr Chef anfing, mit demKonkurs zu drohen, fühlten sich die Ar-beiterInnen von Zanon abgesichert undals Angehörige der Mittelschicht.

Eugenio: Als die Fabrik voll produzierthat, ging es den Arbeitern von Zanon gut.Du hattest keine Probleme, einen Kredit zubekommen. Als Arbeiter von Zanon warstdu gut angesehen. Und dann plötzlich derNiedergang ...

Daniel: Früher haben wir überall um unsherum Konflikte gesehen, aber wir arbeite-ten ja bei Zanon. Wir hatten keine Geldpro-bleme, wir haben über die geschimpft, diewelche hatten. Ich habe oft geflucht: ›Ich musszur Arbeit, und ihr blockiert hier die Stra-ße!‹ Meine einzige Sorge war, dass ich nichtzur Arbeit komme. Ich habe mich nicht ge-fragt, warum das so war, warum sie da dieStraße blockiert haben.

Rosa: Vor diesem Konflikt hier habe ich nochnie irgendwas politisch gemacht. Im Gegen-teil: wenn die Arbeitslosen die Straße blok-kiert haben, habe ich gesagt, dass sie sich neArbeit suchen sollten und aufhören, so nenScheiß zu machen. Als es uns dann an denKragen ging, habe ich gemerkt, dass wir unsgegenseitig unterstützen müssen.

Delia: Der Mittelschicht musste es erst ansGeld gehen. Wenn sie heute eine Straßenblok-

kade sehen, dann verstehen sie das, weil sieauch betroffen sind. Aber leider musste unsall das erst passieren, damit uns das klarwurde. Wir hatten vorher Kreditkarten undBankkonten. Und dann losziehen und umLebensmittel betteln! Das war heftig für uns.Ich habe mich als Mittelschicht gesehen, dasheißt, ich wollte dahin kommen. Ich habe

meiner Tochter eine Privatschule bezahlt.Ich habe keinen Luxus, aber ich wollte fürmeine Tochter eine gute Ausbildung. Es hatmich nicht interessiert, für bessere Bildungzu kämpfen. Ich habe dafür bezahlt.

Rosa: Am Anfang war es schwierig, auf dieStraße zu gehen, zu demonstrieren. Irgend-wie peinlich, man kommt sich komisch vor.Aber es ging ja um unsere Rechte, um unsereWürde. Am Anfang waren wir nur wenige,die den Kampf aufnehmen wollten. Ich warder Meinung, dass der Moment gekommenwäre, aber sonst niemand in meiner Abtei-lung. Die alten Gewerkschafter hast du nieim Betrieb gesehen, die haben nichts ge-macht.

Im Oktober 2001 besetzen die Arbeite-rInnen von Zanon die Fabrik, und Ar-beitslose organisieren sich als MTD Neu-quén.

Eduardo: Der Konflikt hat am 1. Oktober2001 angefangen. Und die MTD hat sicham 4. Oktober gegründet. Vorher hieß das

›Arbeitslosenkommission des Stadtteils SanLorenzo‹. Dann hat sich das auf andereStadtteile ausgeweitet und bekam den Na-men MTD, Bewegung arbeitsloser Arbeiter.Die compañeros von Zanon machten damalsStraßenblockaden im Zentrum, und schließ-lich haben sie die Brücke blockiert, die Neu-quén mit Cipolletti verbindet. Die MTDfand den Kampf der Arbeiter wichtig, weilwir sagen: wir wollen nicht noch mehr Ar-beitslose, wir wollen Arbeitsplätze. Sie ha-ben um ihre Arbeitsplätze gekämpft, undwenn sie da verloren hätten, dann wäre esihnen wie uns gegangen, dann wären sie zurMTD gekommen. Wir haben sie unter-stützt, damit sie ihre Arbeit nicht verlieren,denn wir wollen nicht, dass es noch mehr Ar-

Von der Arbeiteraristokratiezur Arbeiteravantgarde:

Die ArbeiterInnen von Zanon und die Arbeitslosen

MTD – Movimiento de Trabajadores Desocupados – Bewegung arbeitsloser Arbeiter

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beitslose gibt. Bei einer Brückenblockade sindwir hingegangen, um sie zu unterstützen.Das gab am Anfang einige Diskussionen,denn compañeros von der MTD sagten:warum sollen wir die Arbeiter unterstützen,die ihre Arbeit haben und ihren Lohn. Undcompañeros hier in der Fabrik sagten: wa-rum sollen wir die Arbeitslosen unterstüt-zen, die sind doch arbeitslos. Am Anfanghaben sie auf uns runtergeguckt. Aber wennwir eine Straße blockiert haben, dann ka-men sie, und wenn sie blockiert haben, gin-gen wir hin. So haben wir angefangen, unskennenzulernen.

Raúl: Die Ausweitung nach außen warschwierig. Das war nichts Natürliches, mitden Lehrern zu demonstrieren, oder zu se-

hen, dass ein Arbeitsloser dein compañero ist.Dafür haben wir lange Zeit hier drin alsMinderheit gekämpft. Am Anfang habenwir Abstimmungen in der Versammlungverloren – wie es uns auch vor kurzem wie-der passiert ist. Alle unsere Vorschläge wur-den abgelehnt, aber als sich das Problemdann in der Praxis stellte, gab es dafür schoneine Grundlage, und dann lief das.

Dass Arbeiter nichts mit Arbeitslosen zutun haben wollen, das kommt von der Re-gierung und von der Gewerkschaftsbürokra-tie. Die meisten Gewerkschaften betrachtendie arbeitslosen compañeros von oben herab.Sie sehen sie nicht als Teil unserer Klasse. Eshat uns sehr geholfen, dass hier in Neuquéneine wirklich unabhängige Arbeitslosenbe-wegung entstanden ist, und eine sehr pro-gressive. Denn es ist auch bei den Arbeitslo-sen nicht einfach, compañeros zu finden, dieden Kampf der Fabrikarbeiter unterstützenwollen. Da gibt es leider nur wenige. Diemeisten führen eher korporative Kämpfe,jede Gruppe mit ihrer Forderung.

Daniel: Am Anfang lehnten viele die MTDab, denn das war eine Organisation von sehrgewalttätigen Leuten. Nach den ersten ge-meinsamen Aktionen war das oft Thema aufden Versammlungen: dass wir keine solchenVerbündeten haben wollen. Die Leute vonder Gewerkschaft haben gesagt, dass sie da-für sorgen würden, dass es nicht zu Gewalt-tätigkeiten kommt. Sie haben denen von derMTD gesagt, wenn sie den Kampf wirklichunterstützen wollten, müssten sie der Linie

der Arbeiter folgen. Das haben sie akzeptiert,sie haben nie Bedingungen gestellt.

Heute bilden die ArbeiterInnen von Za-non und die Arbeitslosen der MTD einestrategische Einheit. Das gemeinsameAuftreten der Arbeiterhemden mit demGewerkschaftslogo und der Westen mitdem Schriftzug der MTD ist inzwischenein gewohntes Bild – bei Demonstratio-nen, bei Blockaden oder bei Koordinati-onstreffen auf regionaler und landeswei-ter Ebene, mit denen sie versuchen, eineneue unabhängige Bewegung von Arbei-terInnen in Gang zu bringen.

Eduardo: Eine Demo, die ich sehr schönfand, war auf der Brücke, als die compañerosvon Zanon mal wieder beschlossen hatten,die Brücke zu blockieren, und wir hingegan-gen sind, um sie zu unterstützen. Die com-pañeros blockierten schon die Brücke, undwir kamen mit unserem Demozug, mit denweißen Westen der MTD, die wir bei De-mos immer tragen. Wir sangen das Lied, dasjetzt schon fast zur Hymne geworden ist:»Komm her, komm her, sing mit mir, duwirst einen Freund finden. Als Arbeitsloseund Beschäftigte werden wir gemeinsam denKampf immer gewinnen«. Das haben diebeiden Gruppen gemeinsam gesungen, undals sich die beiden Züge treffen, mit Umar-mungen und hüpfend – das war schön, diebraunen Hemden und die weißen Westen,die sich in einer Fusion umarmt haben, ge-sungen haben. Das war richtig schön. Ichglaube, da haben wir wirklich zur Einheitgefunden. Und die konkrete Synthese wardann, dass wir Arbeitslosen hier in die Fa-brik gekommen sind.

Mehr als fünfzig Arbeitslose sind seit derBesetzung in die Belegschaft integriertworden. Die ArbeiterInnen von Zanonhaben einen Einheitslohn von 800 pesosbeschlossen. Wenn die Produktion mehrabwirft, wird das Geld nicht für eineLohnerhöhung, sondern für die Auswei-tung benutzt. 800 pesos sind heute inArgentinien ein vergleichsweise guterLohn, aber trotzdem zum Leben sehrwenig. Manche compañeros sind von da-her der Meinung, dass vor allzuviel Soli-darität doch erstmal eine Lohnerhöhungangesagt wäre. Bisher hat noch niemanddieses Thema auf einer Versammlungeingebracht, sodass der alte Beschlussweiterhin gilt.

Koordinationstreffen in der Fabrikhalle von Zanon

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13Zanon gehört den Arbeitern

Die Besetzung und die selbstorganisierteProduktion bei Zanon haben eine langeVorgeschichte. Da es unter der Kontrollevon Geschäftsleitung und alter Gewerk-schaft nicht möglich war, im Betrieb of-fen miteinander zu reden, mussten sichdie Arbeiter außerhalb des Betriebes or-ganisieren. Eine kleine Gruppe fing an,ein Fußballturnier zu organisieren, umsich bei diesen sonntäglichen Treffen mitden anderen compañeros besprechen zukönnen. Das Turnier lief ein Jahr lang.Jede Abteilung hatte eine Mannschaft,und jede Mannschaft einen Delegierten.So konnten sie Kontakt zu allen Abtei-lungen aufnehmen. Hieraus entstandeine Oppositionsliste, der es 1998 über-raschend gelang, den Betriebsrat (Comi-sión Interna) zu übernehmen, und da-nach Versammlungen im Betrieb durch-zusetzen.

Raúl: Zuerst haben wir uns mit ein paarcompañeros, die ähnlich gedacht haben,draußen getroffen, zum Bier trinken oderFußball spielen. So hat das angefangen.Dann hat sich die Situation draußen geän-dert. Die Arbeiterklasse hat angefangen zureagieren. Hier in Neuquén gab es 1996 dieersten Arbeitslosenaufstände des Landes, inCutral Co, paar Kilometer von hier. Das istselbst in dieser Fabrik angekommen, wo sieuns so unter Kontrolle hatten. Da wurdedrüber geredet. Die Meinungen gingen aus-einander: von dem Üblichen, dass das alles

schlecht wäre, dass das Faulpelze wären, dieGeld von der Regierung wollen, ohne zu ar-beiten, bis hin zu unserer Meinung, dass sieein Teil der Arbeiterklasse sind, und dass ihrKampf auch unserer ist. In dieser Fabrik waraber damals noch die Gewerkschaftsbürokra-tie am Werk, hier gab es dazu keine Aktio-nen, gar nichts, nicht mal eineErklärung.Es war also eine Kombinationdieser zwei Dinge, als wir dieersten Schritte gemacht habenund die Situation in der Fabrikanfing, sich zu ändern.

Schon als kleine Gruppe ha-ben wir angefangen, an denDemonstrationen der Lehrer,der Beschäftigten im Öffentli-chen Dienst oder der Arbeitslo-sen teilzunehmen. Am Anfangwaren wir dabei nur zu zweit,zu dritt oder zu fünft. Da ka-men zwei mit einem Transpa-rent, jeder auf einer Seite – undniemand dahinter. Aber wirhaben damit gesagt: Hier sindwir. Und danach haben wir dashier in der Fabrik erzählt undmit den compañeros darüber ge-redet.Wir haben uns hier drinnenden Freiraum genommen, we-nigstens Versammlungen ab-halten zu können. Das hat unseiniges gekostet. Die Geschäfts-

leitung hat uns gedroht, es gab Prozesse. DieVersammlungen in der Fabrik waren verbo-ten, die durften nur im Gewerkschaftslokalund außerhalb der Arbeitszeit stattfinden.Rechtlich ist das umstritten. Alles was wirerreicht haben, haben wir aber nur erreicht,weil wir die Regeln gebrochen haben.

»Das hat alles damit angefangen,dass wir hier in der Fabrikganz langsam vorgegangen sind ...«

Fredy: Als es hieß, dass wir die Unterstüt-zung von mehr Leuten brauchen und Ar-beitslose mit reinnehmen sollten, haben vieledas nicht so gesehen. Gerade für die Älterenwar das schwierig. Sie hatten sowas noch nieerlebt. Bis dann auf einer Versammlung guterklärt wurde, warum das wichtig ist. Soverstanden die Leute, dass es in erster Liniegut für uns wäre, diese Unterstützung zu

haben, und dass es außerdem ein politischerErfolg wäre: dass die Arbeiter von Zanonunter Eigenregie Arbeitslose einstellen, wäh-rend die Regierung nichts macht.

Raúl: Klar, dass es darum Diskussionen ge-geben hat. Aber wir haben nicht so sehr überdieses Detail geredet, ob wir den Lohn einbisschen erhöhen könnten, um auf die Höhe

des Warenkorbs zu kommen, der etwas höherliegt als unser Lohn. Es ist für alle die größteFrage, was mit der ganzen Fabrik passiert.Die Fabrik läuft jetzt nur auf zehn Prozentder Kapazität. Wenn wir auf hundert Pro-zent kommen, dann kommt da wirklich Ge-winn raus. Und das ist das Konzept: dassdieser Gewinn kein individuelles Projekt ist,sondern für die Allgemeinheit.

Gedenkkachel für Darío Santillán und Maximiliano Kosteki, com-pañeros der unabhängigen Arbeitslosenorganisation MTD Aní-bal Verón, die am 26.6.2002 bei einer Brückenblockade inBuenos Aires von der Polizei erschossen wurden.

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14 Beilage Wildcat 68

Es war ein langer Kampf, hier drin Ver-sammlungen durchzusetzen. Wir haben zu-erst die halbe Stunde Pause in der Kantinegenutzt, um mit den Leuten zu reden. JedeSchicht hatte eine halbe Stunde Pause, undin der halben Stunde haben wir mit ihnengeredet. Die Pausen waren versetzt, wäh-rend die einen essen gingen, mussten die an-deren die Maschinen überwachen. Als wirdann schon besser verankert waren, habenwir die gemeinsame Pause für alle gefordert.Das war ein Schlag für die Firma, sie habendagegen geklagt. Die gemeinsamen Pausendurchzusetzen, war unsere erste Errungen-schaft. Das klingt im nachhinein nach we-nig, aber das war ein enormer Erfolg. Daswaren die ersten Schritte, klein aber wichtig.Danach gab es Versammlungen von einerStunde, oder eben so lange, wie wir für dieTagesordnung gebraucht haben. Das warendann schon Kampfmaßnahmen.

Die ArbeiterInnen fangen an, sich gegendie üblichen Schikanen und Entlassun-gen bei Zanon zu wehren. Gegen denDruck, den Zanon mit befristeten Ver-trägen macht, entdecken sie einen Para-grafen, der besagt, dass eine Kopie überdas Ende eines Arbeitsvertrages an dieGewerkschaft geschickt werden muss.Da dies nicht passiert ist, erklären sie dasVertragsende der betroffenen compañerosfür illegal, fordern deren Festeinstellung,und setzen sie mit einer Arbeitsniederle-gung durch.

Zum ersten Streik kommt es im Juli 2000,nachdem der 22-jährige Daniel Ferrás inder Fabrik an einem Herzstillstand ge-

storben war, weil es keine Vorkehrungenfür Erste Hilfe mehr gab. Nach neun Ta-gen Streik setzen die compañeros durch,dass der Medizinische Dienst wieder ein-geführt wird.

Rosa: Auslöser für den Kampf war der Todvon Daniel. Das kann doch nicht sein, dasseine solche Firma kein Geld für medizini-sche Versorgung hat! Wenn du dich krank ge-meldet hast, dann haben sie einen Arzt zudir nachhause geschickt, um nachzugucken,ob du wirklich krank bist. Dafür hatten sieGeld! Es hatte schon vorher Unfälle gegeben.Ein compañero ist von oben auf die Mühlengefallen, und von da gegen die Wand ge-schleudert worden. Der ist jetzt gelähmt.

Ana: Als das mit meinem Sohn passiert ist,haben sie die Produktion gestoppt. Danielwar mein Sohn. Er ist wegen fehlender me-dizinischer Versorgung gestorben. Damalshaben, glaube ich, 600 Leute hier gearbeitet.Der Arzt kam nur für zwei Stunden, undder für Erste Hilfe zuständig war, wusstenicht, was er tun sollte. Es gab kein Sauer-stoffgerät. Dann haben sie einen Rettungs-wagen gerufen, denn den hatten sie auchnicht. Als dann der Rettungswagen ausNeuquén ankam, da war es schon zu spät.

Daniels Mutter Ana gehört seit Ende2002 zur Belegschaft von Zanon. Sie ar-beitet mit zwei weiteren compañeras in derKüche, wo sie für die Früh- und Spät-schicht zum Selbstkostenpreis Brötchenund Gebäck herstellen, und für die Tag-schicht ein Mittagessen kochen.

Ana: Vorher habe ich in den Hallen gearbei-tet, wo das Obst verarbeitet wird.. Ich habe26 Jahre in einem Verpackungsbetrieb gear-beitet. Das war Saison-arbeit. Man hat da nurvier oder fünf Monategearbeitet, in der Ernte-zeit. Der Betrieb wurdevor zehn, elf Jahren voneinem auf den anderenTag geschlossen. Ich hat-te dort 26 mal währendder Saison gearbeitet.Alle, die wir dort gear-beitet hatten, wurdenarbeitslos. Und in letz-ter Zeit ist es sehrschwierig, Arbeit zu fin-den. Wenn du über 40

bist, dann bist du schon alt, dann stellen siedich nirgendwo mehr ein. Als sie mir das hierangeboten haben, habe ich mich sehr gefreut.

Ich hab die Jungs hier in der Fabrik im-mer unterstützt. Als sie hier waren, bin ichimmer hergekommen. Als sie von der Fabrikaus Demonstrationen bis nach Centenariogemacht haben, bin ich mitgegangen. Immerwenn sie was gemacht haben, war ich dabei.Sie haben auch immer den Kontakt mit mirgehalten. Sie haben mich besucht, haben ge-guckt, wie es mir geht, ob ich irgendetwasbräuchte. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar,denn sie haben nie aufgehört, mich zu besu-chen.

›Du warst der Anstoß, uns zu der Kraftzu machen, die wir heute sind‹ – stehtunter dem Bild von Daniel, das an meh-reren Stellen in der Fabrik hängt. SeinTod hat den Kampf gegen mörderischeArbeitsbedingungen auf die Tagesord-nung gesetzt. Denn die Kehrseite des re-lativ guten Verdienstes bei Zanon warenneben dem knastähnlichen Klima ein un-erträglicher Arbeitsdruck und ständigeArbeitsunfälle.

Raúl: Wir haben mit Zeitverträgen ange-fangen, vier Verträge von sechs Monaten,und wenn du dich geweigert hast, Überstun-den zu machen, wurdest du entlassen. Wenndu einen Unfall hattest, bist du rausgeflogen,und wenn du wegen Krankheit gefehlt hastebenso. Diese Fabrik ist während der Dik-tatur gegründet worden, und in der Fabrikherrschte ein diktatorisches Regime. KeineGruppe, die irgendwas mit Politik zu tunhatte, hatte eine Chance. Eine gelbe polizei-mässige Gewerkschaft hatte das Sagen. Abervon außen gesehen war es ein Privileg, indieser Fabrik zu arbeiten.

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15Zanon gehört den Arbeitern

Die ersten sechs Monate waren für mich ar-beitsmäßig die schlimmsten meines ganzenLebens – und ich habe mit elf Jahren ange-fangen zu arbeiten. Zunächst wegen demSchock, den die automatisierte Maschineriefür mich bedeutet hat, wegen dem ohrenbe-täubenden Lärm, bei dem du dich nur schrei-end unterhalten konntest. Das höllische Ar-beitstempo führte dazu, dass es alle zweiTage einen Arbeitsunfall gab, vor allemHandverletzungen. Und wenn du einenUnfall hattest, dann warst du immer selberschuld. Sie haben dich dann ins Büro ge-bracht, dort haben sie dich fertig gemacht,und wenn du darauf irgendwie reagiert

hast, warst du entlassen. Sie haben uns Dop-pelschichten arbeiten lassen, sechzehn Stun-den, von morgens um 6 bis um 22 Uhr. SechsMonate lang hatte ich praktisch keinen frei-en Tag. Für mich waren das in jeder Bezie-hung die schlimmsten Hundejahre. In derFabrik haben dich die eigenen Kollegen an-getrieben, weil es eine Produktivitätsprämiegab. Deshalb haben sie es gemeldet, wenn dieneuen Leute wegen irgendwelchen Fehlernöfters die Maschine angehalten haben. Dieeigenen Kollegen sagten: »die Produktionläuft nicht, weil der da nicht gut arbeitet«.Das war ein extremer Druck. Ich glaube, dieUntergrundarbeit in der Fabrik war das re-volutionärste, was ich in meinem Leben ge-macht habe.

Fredy: Der Firma ging’s gut, sie hat vielverkauft. Die haben uns die Überstundenbezahlt, aber sie haben viel an uns verdient.Aber dann wollten sie die Stunden runter-fahren und einführen, dass wir nicht mehrmit verschränkten Armen rumsitzen könnenund nichts machen. Sie wollten ein neuesArbeitssystem einführen, die flexible Pro-duktion. Wenn ich da oben nichts mehr zu

tun habe, muss ich hier runterkommen unddie Glasur anrühren. Oder einem compañe-ro helfen. Oder fegen. Und nachdem sie daserreicht hatten, leisteten sie sich den Luxus,Leute rauszusetzen. Weil sie keine Überstun-den mehr bezahlen wollten, wollten sie dieLeute aufs höchste mit Arbeit belasten. Dafingen die Zusammenstöße zwischen derGeschäftsleitung und den Arbeitern an.

Julian: Der Tod von Daniel hat uns sehrin unserem Kampf zusammengeschweißt.Heute gibt es kaum noch Unfälle. Das liegtan unserer Situation und der Art wie wirarbeiten. Wenn man unter Druck arbeitet,

gibt es viele Unfälle. Un-ter unserer Kontrolle sinddie Unfälle um 99 Pro-zent zurückgegangen.Manchmal kommen nochUnfälle vor, aber nur nochleichte. Vorher gab es Ver-stauchungen, viele Hand-verletzungen. Alles durchden Druck. Du hattestständig im Kopf, dass dudeine Arbeit schaffenmusst, dass du sonst eineAbmahnung bekommst,dass sie dich rausschmeis-sen können.

Nach dem Streik wegen dem Tod vonDaniel leitet Zanon ein Konkursverfah-ren ein. Er will die aufmüpfig gewordeneBelegschaft loswerden. Die Lohnzahlun-gen werden unregelmäßiger und spärli-cher. Die compañeros glauben dem Unter-nehmer sein Krisengejammer nicht.Schließlich sehen sie, wieviele Palettenvon Kacheln die Fabrik verlassen. Sie for-dern die Offenlegung der Bilanzen. Nachmehreren kleinen Streiks beginnt imMärz 2001 der ›34-Tage-Streik‹ um dieausstehenden Löhne. Die ArbeiterInnenbauen ein Streikzelt vor der Fabrik aufund halten sich mit Lebensmittelspendenüber Wasser.

Rolando: Das was wir hier heute erleben,hat es in Argentinien noch nicht gegeben.Wir sind auf die Straße gegangen, haben dieStraße blockiert und haben mit einer DoseMünzen gesammelt, um was zu essen zuhaben. Wir sind in die Stadtteile gegangen,da haben uns die Leute sehr viel geholfen.Wir sind mit dem Lieferwagen in die Stadt-teile gefahren, von Haus zu Haus, und ha-

ben die Leute um Lebensmittel gebeten. Da-nach haben wir die unter den compañerosaufgeteilt. Wir haben auf der Straße Flug-blätter verteilt und Geld gesammelt. Ich warnie Gewerkschafter oder irgend sowas. Ichbin immer nur Arbeiter gewesen, aber dieseGeschichte fand ich richtig, und deswegenhabe ich mitgemacht.

›Manotas‹: Der Konflikt, der 34 Tage ge-dauert hat, war der erste, an dem ich direktteilgenommen habe. Sehr hart. Für mich derhärteste von allen. Es war damals sehr kalt,viel Wind und Regen. Wir hatten keine Le-bensmittel und kein Geld. In einer Versamm-lung haben wir beschlossen, uns in Kommis-sionen aufzuteilen. Ich war in der Kommis-sion, die durch die Stadtteile gezogen ist,durch sämtliche Stadtteile Neuquéns. Ande-re haben den Konflikt landesweit bekanntgemacht. Unsere Aufgabe war es, Flugblät-ter gegen Lebensmittel zu tauschen, den Leu-ten hier die Problematik nahe zu bringenund ihre Solidarität zu erreichen. Die Leutehaben selbstverständlich auf die denkbar be-ste Weise reagiert. Wir sind jeden Tag miteinem Auto voll Lebensmittel zurückgekom-men. Jeder compañero konnte dann wenig-stens eine Tüte Lebensmittel mit nachhausenehmen, denn Geld gab es nicht. Wir hatteneine Streikkasse eingerichtet, aber da kamnur Kleingeld rein. Es war eine sehr schwie-rige Situation.

Die Arbeiter greifen zu den Methodender piqueteros, der organisierten Arbeits-losen. Sie blockieren Straßen undschließlich den kritischsten Punkt derStadt Neuquén, die zwischen zwei Flüs-sen eingeschlossen ist: die Brücke in dieNachbarprovinz Río Negro.

›Manotas‹: Wir sind jeden Tag ins Zentrumvon Neuquén gegangen, haben jeden Tag dieStraßen blockiert. Da wo die Banken sind,haben wir alles blockiert, mit dem Ziel, dassdie Regierung sich um die Situation der Ar-beiter kümmern sollte. Denn die haben nichtsgemacht. Eines Tages haben wir beschlossen,die Brücke von Neuquén zu blockieren. Daswar die größte Herausforderung, die wirbringen konnten. Wir sind alle zusammenhingegangen und haben um acht Uhr mor-gens die Brücke dicht gemacht. Um siebenUhr abends haben sie uns benachrichtigt,dass es ein Treffen bei der Arbeitsbehörde ge-ben würde, und dass die Firma verhandelnwollte. Um elf Uhr nachts erklärten die Fir-

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ma und die Provinzregierung, die selbstver-ständlich auf Seiten der Firma stand, dasssie die Lohnschulden begleichen würden. Wirhaben bis drei Uhr morgens vor dem Streik-zelt gefeiert. Wir hatten das erreicht, wofürwir gekämpft hatten. Wir waren sehr stolz.

Wir sind dann in die Fabrik zurückge-kehrt. Im Juni / Juli fing die Firma wiederdamit an, dass der Verkauf schlecht liefe. Wirwussten, dass die Firma monatlich500 000 m2 verkaufte und viele MillionenDollar Umsatz machte. Aber sie bestandendarauf, dass sie kein Geld hätten. Wir hattenin der Versammlung beschlossen, dass wirsofort in den Streik treten, wenn am Zahl-tag kein Geld da ist. Und so kam es dann.Am 1. Oktober gab es wieder kein Geld. DieProduktion wurde gestoppt. Wir haben ge-dacht: das letzte Mal haben wir 34 Tage ge-braucht, diesmal vielleicht zwei Monate.Und wir haben wieder dasselbe gemacht wiein dem 34-Tage Streik. Wir haben Lebens-mittel gesammelt, haben den Konflikt be-kannt gemacht, compañeros sind nach Bue-nos Aires gefahren. Viele Organisationenhaben uns unterstützt. Compañeros wie ihr,die sich für den Konflikt interessiert und ihnverbreitet haben, was uns sehr geholfen hat.

Als Zanon die Öfen abstellt, sehen dieArbeiter das als Anzeichen einer drohen-den Schließung. Im Oktober 2001 beset-zen sie die Fabrik. Durch ein Gerichtsur-

teil gegen Zanon wegen Aussperrungwird der erste Räumungstitel ungültig.Ende November schickt Zanon Entlas-sungsschreiben an alle 380 Beschäftigten.Am 30.11.2001 ziehen die ArbeiterInnenin einer Demonstration zum Sitz der Pro-vinzregierung. Sie verbrennen ihre Ent-lassungsschreiben. Das Regierungsge-bäude geht fast in Flammen auf. Eskommt zu einer brutalen Hetzjagd durchdie Stadt, bei der 19 Zanon-Arbeiter fest-genommen werden. Aber sie haben dieUnterstützung der Bevölkerung bereitsgewonnen. Am Nachmittag gehen fast3000 Menschen auf die Straße; die Ar-beiter werden noch am selben Tag freige-lassen.

Im Dezember fangen sie an, die Lagerbe-stände, die ihnen das Gericht als Ersatzfür ausstehende Löhne zugesprochen hat,zu verkaufen.

›Manotas‹: Als wir am Verkaufen waren,haben wir uns gefragt, wie weit wir damitkommen würden. Wir konnten nur die La-gerbestände verkaufen. Die Leute haben unsmit Lebensmitteln unterstützt, aber wirwollten uns nicht ewig von ihnen aushaltenlassen. So haben wir im Februar 2002 aufeiner Versammlung beschlossen, die Produk-tion aufzunehmen, und dass wir alle densel-ben Lohn haben sollten, einen Lohn von 800

pesos. Die Abstimmung war einstimmig. Esgab keinerlei Spannung oder Ablehnung.Mit einem Teil des Erlöses aus dem Verkaufder Lagerbestände haben wir nach und nachdie Produktion in Gang gebracht. Wir ha-ben mit 20 000 m2 angefangen. Heute ma-chen wir zum Glück schon mehr als100 000 m2 im Monat. Aber immer, ohnedie Politik zu vernachlässigen. Ich denke,dass die Produktion und die Politik Hand inHand gehen. Das kann man nicht trennen.

Die Vorgeschichte dieser ungewöhnli-chen Besetzung hat eher traditionell an-gefangen: mit der Übernahme des Be-triebsrats (Comisión Interna) und späterder Leitung (Comisión Directiva) derkleinen Gewerkschaft SOECN. Ausdem ehemals bürokratischen Gewerk-schaftsapparat ist im Laufe des Konfiktsetwas anderes geworden.

Fredy: Das ist heute schwer zu erklären.Jetzt, wo wir diesen Konflikt haben, merktman nicht mehr so, was jedes einzelne Gre-mium macht. Heute sind wir alle ein Kern,von dem alle Aktivitäten ausgehen. Norma-lerweise wäre das so: Die Leitungskommis-sion ist im Gewerkschaftslokal, und küm-mert sich um alle möglichen Probleme ausallen Fabriken; der Betriebsrat arbeitet inder Fabrik, und nimmt sich seine Zeit imBetriebsratsbüro. So würde das normaler-

weise aussehen. Aber heute sindwir alle ein Kern. Jeder hat sei-ne Arbeit, sowohl die von derLeitungskommission wie dievom Betriebsrat, jeder hat einebestimmte Aufgabe wie Öffent-lichkeitsarbeit, Gewerkschaft,andere Aktivitäten.

Eduardo: Ein compañerowurde mal gefragt ›Seid ihr einelinke Gewerkschaft?‹ ›Nein‹,hat er gesagt, ›keine linke, aberwir sind auch keine Rechten.Wir sind eine revolutionäreGewerkschaft!‹ Er will sichnicht als links bezeichnen, weildie Linke selbst dazu beigetra-gen hat, solche Prozesse mit ih-rem Apparate-Gehabe kaputt-zumachen. Wir sind gegen so-was. Wir haben das Vertrauen,dass wir Arbeiter das selber ma-chen können.

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17Zanon gehört den Arbeitern

In Argentinien gibt es zwei peronistischeGewerkschaftsdachverbände (CGT undCGT-d), bürokratische staatstragendeApparate mit korrupten Funktionären.Der dritte Dachverband CTA, der vor zehnJahren als Alternative mit kämpferischerRhetorik gegründet wurde und vor allemim Öffentlichen Dienst vertreten ist, un-terscheidet sich inzwischen kaum noch.Die Gewerkschaften werden von Arbeite-rInnen nur als ›Gewerkschaftsbürokra-tie‹ oder kurz als ›die Bürokratie‹ be-zeichnet.

Die SOECN war eine dieser unterneh-merfreundlichen peronistischen Gewerk-schaften. Sie organisiert 400 ArbeiterIn-nen aus vier Fabriken – die Kachelfabri-ken Creámica Zanon und die benachbar-te Cerámica Neuquén, sowie die Ziegel-fabriken Cerámica del Valle, die im Fe-bruar 2003 nach langen Auseinander-setzungen von den verbliebenen siebenArbeitern ebenfalls besetzt worden ist,und Cerámica Stefani in Cutral Co.

Heute ist die SOECN eine unabhängi-ge Gewerkschaft. Die Gruppe von Zanon-

Arbeitern, die 1998 den Betriebsrat über-nommen hatte, ist jetzt in der Gewerk-schaftsleitung. Im Dezember 2000 ist esihnen gelungen, den Bürokraten die Ge-werkschaft abzunehmen. Die meisten Ar-beiterInnen sehen das als wichtigenSchritt in ihrem Kampf. Die Geschichteder entscheidenden Versammlung wirdimmer wieder erzählt: die Bürokraten hat-ten die Versammlung an einem Freitag um13 Uhr in Cutral Co anberaumt, in derHoffnung, dass die ArbeiterInnen von Za-non dann nicht teilnehmen könnten. IhreVerhandlungen mit Zanon, den Tag freizu-bekommen und nachzuarbeiten, scheiter-ten. Daraufhin beschlossen sie, trotzdemzu fahren. Mehrere Busse brachten die Ar-beiterInnen von Zanon ins 100 km ent-fernte Cutral Co, wo sie die Abstimmunggewannen. Manche fuhren nicht mit, gin-gen aber an dem Tag aus Solidarität nichtarbeiten.

Durch die Fabrikbesetzung hat die Ge-werkschaft eine andere Rolle bekommen.Sie ist nicht mehr eine Arbeitervertretung,die mit dem Unternehmer verhandelt, son-

SOECN – Gewerkschaft der Arbeiter und Angestelltender Keramikindustrie Neuquéns

dern sie leitet, zusammen mit den neu-en Strukturen von Versammlungen undKoordinatoren, eine Fabrik und einenpolitischen Prozess. Aber auch wennjetzt ›alle ein Kern sind‹, gibt es weiter-hin Gewerkschaftsfunktionäre und Be-triebsräte. Manche von ihnen haben seitder Besetzung keine Stunde mehr ander Maschine verbracht. Auch in der be-setzten Fabrik bedeutet eine solche Ar-beitsteilung die Gefahr von Funktionär-stum und Bürokratisierung. Die Kritikgegen ›die da oben‹ richtet sich wenigergegen die Koordinatoren, die in der Pro-duktion mitarbeiten, als gegen Gewerk-schafter, die ihre Funktion dazu benut-zen, nicht mehr zu arbeiten und statt-dessen in den Büros rumzuhängen. Dencompañer@s bei Zanon ist das Problembewusst. Zur Zeit wird in der SOECNüber eine Änderung der Statuten disku-tiert. Es gibt den Vorschlag, die Aus-übung von Funktionen auf zwei Jahre zubefristen.

Das wichtigste Mittel, den Konfliktin der Fabrik zu verallgemeinern

und zur Sache aller zu machen, sind undwaren die Versammlungen: Abteilungs-versammlungen und Schichtversamm-lungen, wöchentliche Koordinatorenver-sammlungen und Vollversammlungen.Gelegentlich veranstalten die ArbeiterIn-nen Diskussionstage, bei denen sie dieProduktion auf das Minimum runterfah-ren und sich zum Diskutieren in Arbeits-gruppen aufteilen. Sämtliche Entschei-dungen zu Produktion und Politik wer-den in diesen Strukturen getroffen.

Mario: Da fehlt sicher noch einiges, das kannnoch besser werden. Aber so wie wir es ma-chen, mit den Versammlungen, ist das schongut. Es läuft alles über die Versammlung, dasist die Basis. Alle Entscheidungen werdendort getroffen. Das ist das beste, dass allesvon allen entschieden wird. Die Mehrheitentscheidet, und so wird es gemacht.

›Manotas‹: Wenn dieser Kampf was vor-angebracht hat, dann liegt das meiner Mei-nung nach an der demokratischen Art mitder er geführt wurde und wird. Die einzigeAutorität ist die Versammlung, die Gesamt-heit der Arbeiter. Nicht ich als Koordinatorentscheide, nicht Raúl Godoy als Generalse-kretär der Gewerkschaft, sondern die Ver-sammlung aller Arbeiter entscheidet, wasgemacht wird, und was nicht. Das hat dieheutige Gewerkschaftsleitung hier einge-führt. Das muss man anerkennen. Glückli-cherweise waren das keine Bürokraten.

Wir hatten keine Erfahrung damit. Daslief über die Leute vom Betriebsrat, die nach-her die Gewerkschaftsleitung übernommenhaben. Die haben die Versammlung als de-mokratische Entscheidungsmethode einge-führt. Das ist bis heute so, und so ist das vieleinfacher. In der Versammlung haben wiralle das Recht, unsere Meinung zu sagen, ab-zustimmen – nicht in geheimer Wahl, wiedas die Herrschenden machen, die sich nach-

her an nichts mehr erinnern. Hier wirdnichts vergessen. Hier stimmt die Versamm-lung ab, und die Mehrheit entscheidet. Ichhabe auch schon Abstimmungen in der Ver-sammlung verloren. Daran muss man sichdann halten. Das ist egal, ob jemand eineAbstimmung gewinnt oder verliert. DasWichtige ist, dass wir es gemeinsam beschlos-sen haben. Das ist die Art, wie wir gearbei-tet haben und weiter arbeiten. Und dann dieDiskussionstage. Die Versammlungen sindsehr wichtig, aber manchmal kam da keineflüssige Kommunikation zustande. Bei denDiskussonstagen haben wir uns 270 in fünfGruppen aufgeteilt. Wir haben über alleThemen gesprochen, wie bei den Treffen derKoordinatoren: über die Politik, über dieProduktion. Das hat uns geholfen, Bewußt-sein zu bilden. Das ist sehr wichtig. Dennwir haben hier in Argentinien ein sehr gro-ßes kulturelles Problem: sie haben uns unsereWurzeln in den 70er Jahren umgebracht,mit der Militärdiktatur.

Immer wieder Versammlungen

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Julian: Überall gilt, dass sich niemand aufeinem Posten festsetzen kann. Und es gibtkeine Geheimgespräche. Wenn es was zu dis-kutieren gibt, dann wird das ausdiskutiert.Mir ist das schon passiert, dass ich in politi-sche Diskussionen reingeraten bin, wo siemich aufgefordert haben, mich dazuzuset-zen. Und diese Möglichkeit haben alle. Dukannst dich beteiligen, und dann fühlst dudich nützlich. Du merkst, dass deine Mei-nung gefragt ist. Du kannst sagen, wie esdeiner Meinung nach besser gemacht wer-den könnte. Deshalb werden auch die Abtei-lungsversammlungen gemacht. Die Leute inden Abteilungen sollen sich Gedanken ma-chen, wie die Sache laufen soll. Der Verkaufz.B.: da gab es einen Plan, aber die Leutewollten es anders machen. In den Abteilun-gen wird darüber geredet, die Leute sagen,was ihnen nicht passt, und dann gibt es eineallgemeine Versammlung, wo all diese Mei-nungen zusammengetragen werden, und wowir gucken, was das beste für uns alle ist. Esgeht nicht darum, was gut für die Gewerk-schaft ist, oder für bestimmte Leute, sondernwas gut für alle ist.

Daniel: Alle zwei bis drei Monate machenwir Diskussionstage. Da trauen die com-pañeros sich eher, zu sprechen. Es werdenkleine Gruppen aus den Abteilungen gebil-det, dahin gehen compañeros aus der Ge-werkschaftsleitung, Koordinatoren und De-legierte, die diese Gruppen leiten. Sie halteneinen Vortrag, die Leute fragen nach, ziehen

ihre Schlüsse, sagen ihre Meinung, und alldas wird aufgeschrieben. Dann gibt es eineVollversammlung, wo die Ergebnisse aus al-len Gruppen zusammengetragen werden.

Das ist ziemlich demokratisch. Jetzt gehtes gerade darum, dass viele Beschlüsse, diewir auf Versammlungen gefasst haben, nichtumgesetzt worden sind, aus verschiedenenGründen. Wir versuchen weiter, möglichstdemokratische Formen zu finden, damit dieBeschlüsse umgesetzt werden. Der letzteDiskussionstag war am 15. November. Jetzthaben wir bei verschiedenen Treffen darübergeredet, dass wir bald wieder einen Diskus-sionstag machen, wahrscheinlich im März.Ich erkenne das an, was die Jungs gemachthaben, die den Betriebsrat und die Gewerk-schaftsführung übernommen haben. Die ha-ben viele sehr gute Sachen gemacht, hier inder Fabrik und auch nach außen. Deshalbmache ich bei der Koordinatorenrunde mit.Denn die muss auf einer Linie mit der Ge-werkschaft sein. Die Diskussionen, die esdort mit Leuten von der Gewerkschaft gibt,darüber dass wir uns besser organisierenmüssen um weiter zu kommen, die führendazu, dass wir alle besser werden.

Da sagen Leute: ›So geht das nicht‹. Dannsagen wir: ›Gut, suchen wir eine andere Lö-sung, wie das gehen kann.‹ Und dann läuftdas. Man darf sich nicht auf eine Positionversteifen. Viele compañeros, aus der Ge-werkschaftsleitung, Delegierte oder com-pañeros von der Basis haben dasselbe Be-dürfnis wie ich, immer nach neuen Lösun-gen zu suchen. Wenn was schief geht, setzen

wir uns hin, reden darüber, und alle sagenihre Meinung, wie es besser gehen könnte.

Die Koordinatorenversammlung hat sicham Anfang nur mit den Fragen der Pro-duktion beschäftigt, wurde dann aber umdie compañeros mit Gewerkschaftsfunk-tionen erweitert.

›Manotas‹: Wir haben dann versucht, nochorganisierter zu arbeiten. Das Treffen derKoordinatoren war gut, aber es war sehr ge-trennt von den politischen Fragen. Davonwaren wir abgeschnitten. So entstand dasBedürfnis, dass an den Treffen der Koordi-natoren auch die Gewerkschaft teilnimmt.Jetzt treffen wir uns jeden Montag um neunUhr morgens. Der Anfang ist festgelegt, dasEnde nicht, denn manchmal dauern be-stimmte Themen sehr lange. Da wird beidesbesprochen, die Produktion und die Politik:die landesweite Situation, Lokalpolitik, wiewir den Konflikt angehen, und schließlich,was in der Produktion los ist. Über die Ko-ordinatoren werden alle diese Themen an diecompañeros vermittelt. An den Treffennimmt auch noch aus jeder Abteilung einweiterer compañero teil. Das hat uns sehrgeholfen, viel organisierter zu arbeiten.Denn wir sind einfache Arbeiter. Wir müs-sen diese Fabrik verwalten, und das istmanchmal nicht so einfach.

Abteilungs- und Schichtversammlungenwerden in der Regel von Koordinatorenund Gewerkschaftern einberufen.

Mario: Die aus der Gewerkschaftsleitungkommen normalerweise schon mit Vorschlä-gen für die Tagesordnung. Sie berufen eineVersammlung ein, weil es eine Reihe vonThemen zu besprechen gibt. Aber es bestehtimmer die Möglichkeit, dass du dich meldestund redest und fragst, was du willst. Du hastdie Freiheit, nicht beim Thema zu bleiben,sondern über irgendwas anderes zu reden.Das passiert auch. Die Leute haben sich dar-an gewöhnt. Da wird über alles geredet. Unddie Versammlung dauert so lange, wie es nö-tig ist, zwei, drei, vier Stunden, so lange, bisniemand mehr was zu sagen hat.Da geht es auch um politische Themen. Man-chen gefällt das mehr, anderen weniger. Ichmag Politik nicht. Aber andere schon. Danngehen Diskussionen los. Manche mischen sichda mehr ein, andere weniger. Manchmalmusst du dich plötzlich einmischen, ohne dassdu das wolltest.

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19Zanon gehört den Arbeitern

Bei aller Begeisterung für das politische Projekt ist das, was hauptsäch-

lich in der Fabrik stattfindet, doch immernoch Arbeit – eine lästige Notwendigkeit,der auch die compañer@s von Zanon ger-ne entfliehen. Bei Zanon gibt es Werk-schutz, Stempeluhren und Taschenkon-trollen – Symbole des Fabrikregimes, dieman in einer selbstverwalteten Fabrik ei-gentlich nicht erwartet. Die Wachen ha-ben in erster Linie die Aufgabe, das Ge-lände nach außen hin gegen Angriffe ab-zusichern. In der Anfangszeit gab es aberauch Fälle von Sabotage, wie durchge-schnittene Antriebsriemen. Nicht alleArbeiterInnen sind von der Politisierungbei Zanon begeistert. Sie machen auch inder selbstorganisierten Fabrik nur ihrenJob. Die Stempeluhren wurden gar nichterst abgeschafft, sensible Bereiche wer-den nach wie vor abgeschlossen, und dieTaschenkontrollen auf Beschluss der Ver-sammlung wieder eingeführt, nachdemaus der besetzten Fabrik zu viele Werk-zeuge und Putzmittel verschwunden wa-ren.

Rosa: Manche compañeros kapieren nochnicht, dass das jetzt unser Betrieb ist, unddass sie damit allen schaden. Die denken,dass irgendwann Zanon wiederkommt, unddass das deswegen egal ist.

Daniel: Auf lange Sicht wird nicht mehr injeder Abteilung ein Koordinator nötig sein,damit die Arbeit läuft. Das ist eine Frageder Mentalität. Das ist nicht mehr wie frü-her, wo hinter jedem Arbeiter ein Vorarbei-ter stehen musste, damit die Arbeit läuft.Das Bewusstsein darf nicht mehr sein: Ichmache meine Arbeit, um meinen Lohn zuverdienen, sondern: wir machen alle unsereArbeit, um den Lohn von allen zu verdie-nen, die alle das gleiche verdienen. Bei man-chen ist das noch nicht so richtig angekom-men. Die bedenken nicht, dass wir alle be-troffen sind, wenn er seine Arbeit nichtmacht. Er verdient dann zwar genau so viel,aber sein compañero muss doppelt so viel ar-beiten. Aber das sind nicht mehr viele. Undmanche sind einfach müde.

Fredy: Das passiert nicht oft, aber es gabFälle von compañeros, die sich schlecht be-nommen haben. Sie gehen vorzeitig von derArbeit weg, ohne Bescheid zu sagen, oder siemachen nicht ihre Arbeit, sondern gehen ineine andere Abteilung. Und dann das Pro-blem des Mangels an Respekt. Das kommt

vielleicht, weil wir alle ziemlich angespanntsind. Es gibt Leute, die sehr angespannt sind,die das alles nicht aushalten und das dannan den eigenen compañeros auslassen.

Wegen Problemen mit der Arbeitsdiszi-plin haben die ArbeiterInnen einenSanktionskatalog beschlossen. Wer häu-fig zu spät kommt, unentschuldigt fehltoder nach dem Stempeln nicht am Ar-beitsplatz auftaucht, muss mit Lohnab-zügen rechnen. Der Katalog hängt alsDrohung im Schaukasten, ist aber bislangwohl noch nicht angewendet worden. Esgab aber Suspendierungen wegen der Be-drohung anderer compañeros.

›Cepillo‹, der als einer der beiden Haupt-koordinatoren für die Produktion ge-wählt wurde, berichtet, dass er durch die-se Aufgabe in eine hierarchische Position

geraten ist. Er verbringt viel Zeit damit,durch die Fabrik zu laufen, um Konfliktedurch Reden zu schlichten und Unstim-migkeiten zu regeln, bevor sie zum gro-ßen Problem oder zu einer Frage vonSanktionen werden. Trotz aller Basisde-mokratie wird an den Produktionslinien

immer noch über ›die da oben‹ geredetund geschimpft.

Mario: Ich hab manchmal ein paar Pro-blemchen mit denen da oben, mit den Ge-werkschaftsfunktionären. Nicht mit dencompañeros hier in der Abteilung, und mitden Koordinatoren gibt es auch keine Pro-bleme. Die sind genauso compañeros, die ar-beiten mit dir in der Abteilung, an deinerSeite. Aber die Gewerkschaftsführer sind wasanderes, die machen eine andere Arbeit. Undda gibt es einige... Das sind zum Glück nichtalle, nur eine Minderheit.Sie haben selbst vorgeschlagen, dass einFunktionär, der nicht gut arbeitet, einfachvon der Versammlung abberufen werdenkönnte. Aber das ist hier noch nicht passiert.Es ist noch nie ein solcher Fall auf einer Ver-sammlung diskutiert worden. Meiner Mei-nung nach müsste das diskutiert werden.

»Die da oben ...«

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Theoretisch hat jede/r die Möglichkeit,sämtliche Kritiken und Vorschläge aufden Versammlungen einzubringen. Aberauch in der besetzten Fabrik wird übermanche Ärgernisse doch eher im kleinenKreis geschimpft. Denn auch hier erfor-dert es ein gewisses Selbstvertrauen, un-angenehme Themen auf der Versamm-lung zur Sprache zu bringen.

Fredy: Wenn ich eine Kritik habe, kann ichhingehen und das erklären, aber das hat auchseine schwierigen Seiten. Es ist nicht allesrosig, wie wir hier sagen. Es kann Streit ge-ben, wenn ich hingehe und etwas kritisiere.Gestern bei dem Treffen ging es um ein Pro-blem, und dann sagt mir ein compañero:›Wenn es dieses Problem schon seit zweiMonaten gibt, warum bist du dann nichtvorher gekommen, dann hätten wir dasschon längst klären können.‹ Und ich sageihm ›Nein, das war so und so‹ – und schonfängt der Streit an. Weil ich was gesagt habe,was wirklich so ist. Wenn man die Sachen sooffen ausspricht, kann das zu Auseinander-setzungen führen. Aber man kann auch nichtden Mund halten, und am Ende geht dannalles schief.

Der Anfang des Jahres war eine eher ru-hige Zeit bei Zanon. Bis zur erneutenRäumungsdrohung im März 2003 gab eswenig Druck von außen, und es fandenrelativ wenig politische Aktionen statt.Die internen Auseinandersetzungen be-kamen in dieser Zeit um so größeres Ge-wicht. ›Ich hab keinen Bock mehr, mir stän-

dig von allen das Gejammer anzuhören, dassdie andere Schicht zu wenig arbeitet odernicht sauber macht‹, meint ›Cepillo‹ ge-nervt nach einem seiner Rundgängedurch die Fabrik. Immer wieder musstenderartige Streitigkeiten um die Arbeit aufVersammlungen geklärt werden.

Die Dynamik der Besetzung, die sie zueinem vorwärtsweisenden politischenProjekt macht, liegt weniger daran, dasshier selbstverwaltet ohne Chefs gearbei-tet wird, als dass die besetzte Fabrik zumKristallisationspunkt der Bewegung ge-worden ist. Sobald die Bewegung an Dy-namik verliert, holen die Nervereien desArbeitsalltags die compañeros auch beiZanon wieder ein. Die Selbstverwaltungsolcher Probleme ist ermüdend. Manchecompañeros würden die ganze Verantwor-tung lieber wieder abgeben, vor allem an-gesichts der Tatsche, dass sie in Argenti-nien als kleine Minderheit ständig be-droht sind.

Eugenio: Wenn du mich nach der Zukunftfragst ... ich möchte, dass sich das hier regelt,dass der Chef kommt, der Besitzer, und alleswieder in Gang bringt. Dass wir nicht mehrvon dem Verkauf der Kacheln abhängig sind,um den Lohn zu bekommen. Dass ich dieseSorge abgeben kann. Wir haben heute diedoppelte Sorge. Vorher hast du dich nur umdeine Familie gesorgt. Heute musst du dichauch noch um die Firma sorgen, dass siefunktioniert, damit du was für deine Fami-lie nachhause bringst. Du hast diese doppelteSorge im Kopf.

Mario: Es wäre gut, wenn es irgendeineLösung gäbe – egal ob mit Zanon, oder ei-nem anderen Besitzer, oder mit der Regie-rung – dass wir uns nur noch um das küm-mern müssen, was wir können, ums Arbei-ten. Und dass qualifiziertere Leute als wirdie Geschäftsleitung machen. Mal abgesehendavon, dass wir das trotz allem schon ziem-lich gut hingekriegt haben.

Eugenio: Ja, aber man wird auch müde.Das ist schon ein so langer Kampf. Und wirkämpfen immer noch weiter. Das Rad drehtsich langsamer. Wenn du mir diese Frage ge-stellt hättest, als das Rad sich voll gedrehthat, dann hätte ich gesagt: ›Chefs, haut ab,wir kriegen das hier gut hin, wir verdienenunseren Lohn.‹ Aber nachdem das hier solangsam vorwärts geht, ist das etwas ermü-dend.

Mario: Sie lassen uns einfach nicht in Ruheproduzieren und verkaufen. Es gibt immerirgendjemanden, der dir Steine in den Weglegt, sei es Zanon, oder die Regierung. Siewerden uns nie einfach so weitermachen las-sen. So sehe ich das. Obwohl das sehr gutwäre, wenn wir weiter so arbeiten könnten.Aber sie werden uns nicht lassen, sie werdenuns nicht in Ruhe lassen. Das passt ihnennicht, all die Veränderungen.

Wenn wir zu einer besseren Einheit kä-men, wenn sich noch viel mehr Fabriken derBewegung anschließen würden, wenn dashier mehr Kraft bekommen würde, dannginge das. Aber das ist nicht einfach, wir sindsehr wenige.

Kurze Zeit nach diesen Gesprächen wirdein neuer Räumungstitel gegen die Ar-beiterInnen von Zanon erlassen. Dieständige Unsicherheit macht vielencompañer@s ziemlich zu schaffen. Siekönnen weder langfristig planen, noch fi-nanzielle Entscheidungen treffen. DerKampf erfordert einen hohen persönli-chen Einsatz; einige Ehen sind darüberin die Brüche gegangen. Aber trotz alle-dem sind die compañeros und compañerasvon Zanon überzeugt, dass sie das Rich-tige tun, und sie sind entschlossen, ihrProjekt zu verteidigen.

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Delia: Keiner von uns wird sich einfachnachhause schicken lassen. Wer die Entschei-dung trifft, uns hier rauszuschmeißen, musswissen, dass wir nicht einfach gehen werden.Sie werden uns rausholen müssen, und dieKosten ...

Fredy: Hier gibt es viele die entschlossensind, ihren Arbeitsplatz zu verteidigen. DasGute wäre, wenn wir alle hier wären, fallsirgendwas passiert. Aber ich hoffe, dass dasnicht passiert, denn dann könnte etwas sehrschlimmes passieren. Viele sind bereit, ihrLeben zu opfern, um ihre Sache zu verteidi-gen. Nicht das Materielle, sondern die Wür-de.Dass die Zanonarbeiter bereit sind, ihreFabrik notfalls auch mit Gegengewalt zuverteidigen, haben sie zuletzt im Oktober2002 bewiesen, bei einem Angriff vonehemaligen Zanonarbeitern aus der altenGewerkschaftsbürokratie, die schon im-mer und bis heute auf der Seite des Besit-zers Zanon standen, und mithilfe bezahl-ter Kids aus den Vororten den Betriebzurückerobern wollten. Mit einemSchutzwall aus Kachelpaletten haben siesich und die Fabrik geschützt, und dieAngreifer wurden mit Zwillen und einemAusfall der MTD auf die Straße vertrie-ben. Danach gehörten die Zwillen eineZeit lang zum festen Bestandteil derArbeitskleidung. Das Schussmaterialkommt aus der Produktion: in den Erd-mühlen rotieren Steinkugeln, die sich da-bei bis auf Murmelgröße abschleifen – die

berühmten weißen Kugeln, die zum be-liebten Souvenir von BesucherInnen derFabrik geworden sind.

Mitte März 2003 ergeht ein neues Ur-teil zu Zanon, das den Konkursverwalterndie Wiederinbesitznahme des Betriebes

erlaubt. Die compañer@s von Zanon be-ginnen sofort, gegen die drohende Räu-mung zu mobilisieren. Zu einem Akti-onstag in der Fabrik am 29. März kom-men drei Busse voll von UnterstützerIn-nen aus Buenos Aires, angeführt von den›Müttern‹ (Madres de Plaza de Mayo) undihrer Vorsitzenden Hebe Bonafini. Dieseerklärt, dass sie im Falle einer Räumungselbst in der Fabrik sein wird, um diese zuverteidigen. Die CTA, einer der drei ›bü-rokratischen‹ Gewerkschaftsdachverbän-de, gibt bekannt, dass sie gegen eine Räu-mung in der gesamten Provinz zum Streikaufrufen wird. Nach Führungen durchdie Fabrik, einer Pressekon-ferenz und einer offenenDebatte demonstrieren1500 Leute im Zentrumvon Neuquén. Trotz derbreiten Unterstützung, dievon Arbeitslosenorganisa-tionen bis hin zu Promi-nenten, Abgeordneten unddem Bischof von Neuquénreicht, wird die Räumungfür den 8. April anberaumt.

Die Nacht davor ver-bringen sämtliche Arbeite-

rInnen von Zanon in der Fabrik. Sie ha-ben erklärt, dass sie die Fabrik mit ihremLeben verteidigen werden. Das Tor istmit Paletten von Kacheln verbarrikadiert.Auf dem Dach halten Arbeiter hinter Pa-letten Wache. Gruppen mit Zwillen ma-chen Rundgänge auf dem Fabrikgelände.Trotz der Kälte in Patagonien sind auchvor der Fabrik schon nachts zahlreicheUnterstützerInnen anwesend. Im Laufedes Vormittags wächst die Menge vor derFabrik auf mehr als 3000 Menschen an.LehrerInnen und Angestellte des Öffent-lichen Dienstes streiken. Als um ein Uhrbekannt gegeben wird, dass die Konkurs-verwalter sich auf den Weg zur Fabrik ge-macht haben, verstummen die Trommelnund Gesänge. Aber die Vertreter des Un-ternehmers kommen ohne Polizei undmüssen nach einer kurzen Diskussion mitden Arbeitern und ihren Anwälten wie-der abziehen. Angesichts der Entschlos-senheit der ArbeiterInnen und der brei-ten Unterstützung hat der Provinzgou-verneur erklärt, dass er wegen der unvor-hersehbaren Konsequenzen keine Polizeifür die Räumung zur Verfügung stellenwürde. Nachdem schließlich klar wird,dass auch dieser Räumungsversuch ge-scheitert ist, endet der historische Tag miteinem großen Fest. ›Zanon schreibt Ge-schichte‹ titeln die Lokalzeitungen amnächsten Tag, und so sehen es auch dieArbeiter: ›Ich glaube, wir schreiben hier ge-rade eine Seite im Geschichtsbuch, und ichhoffe, dass sie nach dem Umblättern gut aus-geht‹, meint ein Arbeiter von Zanon wäh-rend dieses Tages.

Räumung verhindert:»Zanon schreibt Geschichte«

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Bei Zanon geht es längst um mehr als nurum die Rettung von Arbeitsplätzen. Indieser Fabrik wird über eine andere Ge-sellschaft diskutiert, die compañer@skämpfen dafür, und sie nehmen ersteSchritte in diese Richtung vorweg. Zielder Produktion soll nicht mehr der Profitsein, sondern nützliche Güter und besse-res Leben für alle. Die ArbeiterInnen vonZanon spenden regelmäßig einen Teil ih-rer Produktion an Schulen, Krankenhäu-ser, Volksküchen und soziale Projekte.Dies ist auch ein Dank für die große So-lidarität, die sie erfahren haben. Sogar dieGefangenen aus dem benachbarten Knasthaben den ArbeiterInnen von Zanon inder Anfangsphase ihres Kampfes einen

Teil ihrer knappen Lebensmittelrationenüber eine Menschenrechtsorganisationzukommen lassen. Zum Dank gibt es in-zwischen einen gekachelten Unterstandfür die BesucherInnen der Gefangenen.

›Manotas‹: Wir versuchen, der Allgemein-heit durch Spenden etwas zurückzugeben.Nächste Woche machen wir eine Spende füreine Schule für ›Kinder mit anderen Fähig-keiten‹. Die brauchen auch Hilfe, und wirhaben hier einen compañero, der eine solcheTochter hat. Mal sehen, ob wir die mit einemFußboden unterstützen können. Aber wirwerden auch gucken, dass sich andere mitihnen solidarisieren. Denn von der Regie-rung werden sie selbstverständlich nichts be-

kommen.Wir haben auch eine Spendean das Krankenhaus gemacht,um der Gemeinschaft etwaszurückzugeben, nach allem,was sie uns gegeben haben.Die Solidarität der Pflegeroder Ärzte, die hier ohne ir-gendwelche finanziellen In-teressen gearbeitet haben, eh-renamtlich, um sich mit unszu solidarisieren. Die sindhier teilweise hochgetramptoder zu Fuß gekommen. Dasalles vergessen wir nicht.

Raúl: Diese grundlegenden Fragen wurdenals Grundlage des Kampfes verstanden, undzwar im richtigen Moment, als wir für dieVerteidigung der Fabrik kämpfen mussten.Da ist allen bewusst geworden, dass wir dasnicht alleine können. Das kam aus der Ge-meinschaft, und deshalb müssen wir die Fa-brik in den Dienst der Gemeinschaft stellen.Da haben die Leute das zu ihrer Sache ge-macht.

Allen compañeros hier in der Fabrik istklar, dass wir alleine nichts erreichen kön-nen, dass das ein ganz großer Kampf ist.Einige wollen viel mehr, andere wollen eherbeim Erreichten stehen bleiben, wieder an-dere sagen ›bis hierhin gehe ich mit‹. Aber wirsind uns alle darüber einig, dass das eineSache der Allgemeinheit ist, und dass wirohne die Allgemeinheit keine Chance haben.Nicht alle haben dieses Bewusstsein, nichtalle finden das mit der Einheit von Arbeits-losen und Arbeitern richtig, oder dass wir dieRegierung stürzen müssen, oder eine Arbei-terregierung aufbauen. Das sehen nicht alleso, das ist klar, aber allen ist klar, dass wiruns gemeinsam verteidigen müssen.

Die compañer@s von Zanon sind eine win-zige Minderheit: die besetzten Betriebesind mit etwa 15-20 000 ArbeiterInnennur eine Minderheit unter den acht Mil-lionen Lohnabhängigen in Argentinien,

Wir wollen mehr

Nach dem guten Ausgang dieser Geschichtewollen die ArbeiterInnen mehr. ›Die Ereignisse von heute zeigen uns, dass wiran einem Wendepunkt unseres Kampfes ange-kommen sind. Nach der Unterstützung, die wirvon den Leuten bekommen haben, haben wir kei-ne Angst mehr vor einer möglichen Räumung.Wir fordern die einzig mögliche dauerhafte undzuverlässige Lösung für diesen Konflikt: die Ver-staatlichung von Zanon‹. ›Zuerst wollten wir denBetriebsrat übernehmen und dann die Gewerk-schaft. Und nach der Gewerkschaft wollten wirdie Fabrik für die Arbeiter haben. Heute wollenwir eine gerechtere Gesellschaft für alle Arbeiter,und wir werden keinen Schritt zurückweichen‹ (Raúl Godoy und Alejandro López, Zanon-Arbeiter und Vorsitzende der GewerkschaftSOECN, am 8.4. vor der Fabrik).

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und die kämpferische Fraktion von Bruk-man, Zanon und ein paar weiteren Be-trieben ist eine Minderheit innerhalb die-ser Bewegung.

Eduardo: Am ersten Jahrestag des 19./20.(dem Aufstand im Dezember 2001) warenwir mit 100 000 Leuten auf der Straße. Wirsind aber 35 Millionen! Die beschäftigteArbeiterklasse sind acht Millionen, die Ar-beitslosen fünf Millionen – und dann nur100 000 auf der Plaza de Mayo. Und diese100 000 haben keine einheitliche Linie.Brukman, Zanon, MTD, der besetzte Su-permarkt Tigre, und dann noch die eine oderandere Stadtteilversammlung oder Partei ...wir kriegen gerade mal 2-3000 Leute aufdie Straße. Das ist alles schwierig, aber es istnicht unmöglich. So oder so, wir müssen esversuchen.

Die Arbeiter waren beim Aufstand am19./20. nicht dabei, und sie fühlen sich des-halb nicht als Teil der Bewegung, die die Re-gierung De La Rúa gestürzt hat, wie dieMittelschichten oder die Jugendlichen. DieMittelschicht hat gesagt ›Basta, es reicht‹, sieist mit einer riesigen Mobilisierung losgezo-gen und hat De La Rúa gestürzt. Die Mit-telschicht ist die soziale Basis der RadikalenPartei. Die Arbeiterklasse ist die Basis desPeronismus, und sie hat noch nicht mit demPeronismus gebrochen. Für einen solchenBruch wäre mehr Bewegung nötig, Zusam-menstöße mit den Bullen, Duhalde stür-zen ...

Neulich habe ich mit einem compañerogeredet, der mir erzählt hat, dass er in den70er Jahren in einer sehr kämpferischen pe-ronistischen Gewerkschaft war. Er sieht sichimmer noch als Peronist. Letztens ist er zumParteilokal der Peronisten gegangen und hatsie beschimpft, weil sie sich nicht für Zanoneinsetzen. Er hat sie als Hurensöhne be-schimpft und ist dann gegangen. Obwohl ersich als Peronist bezeichnet, flucht er auf diePartei. Aber ein Bruch mit dem Peronismuswürde bedeuten, dass er sich nicht mehr alsPeronist sieht. Was sie uns mit dem Peronis-mus in den Kopf gesetzt haben, das müssenwir loswerden. Bei der Jugend gibt es diesesProblem nicht, bei der Arbeiterklasse schon.

Die compañer@s von Zanon versuchen, dieeigene Aktion zum Ausgangspunkt einerbreiteren Bewegung zu machen. In Neu-quén gibt es bereits die Regionalkoordina-tion Coordinadora Regional del Alto Valle,ein Bündnis von besetzten Betrieben,

Arbeitslosen, oppositionellen Arbeite-rInnen, sozialen Bewegungen und linkenGruppen oder Parteien. Ähnliche Koor-dinationsversuche gibt es auch auf Lan-desebene. Dies sind erste Ansätze, zu ei-ner Kraft zu werden, die nicht nur in derLage ist, in marginalisierten Bereichenmit Selbstverwaltung zu experimentieren,sondern das Kapitalverhältnis anzugrei-fen.

Eduardo: Wir sehen das nicht so, dass wireinen normalen Arbeitsplatz bekommen ha-ben, sondern dass wir in einem historischenProzess stehen. Wir sind Arbeiter von Za-non und außerdem von der MTD, das istwie eine doppelte Belohnung. Hier drin seinzu können, hier zu arbeiten, zu den Demon-strationen zu gehen, Teil davon zu sein, dasist für mich ... ich weiß, dass ich ein Teil derGeschichte bin. Egal ob wir gewinnen oderverlieren, wir wollen, dass die Leute, dienach uns kommen, wissen: das haben dieArbeiter von Zanon gemacht. Sie haben dieUnterstützung der Bevölkerung gewonnen,sie haben die Offenlegung der Bilanzen ge-fordert, sie haben die Fabrikbesetzt und ans Laufen ge-bracht, sie haben Arbeits-plätze geschaffen. Wie es dercompañero López auf derPlaza de Mayo gesagt hat:Wir zeigen im Kleinen, dasswir die Fabrik leiten kön-nen, warum sollen die Ar-beiter dann nicht auch dasLand leiten können. Unddas hat ein compañero ge-sagt, der in keiner Parteiaktiv ist.

Raúl: Wir sind optimi-stisch, weil wir, obwohl wirnur eine kleine Gruppe sind,doch viel bei anderen ange-stoßen haben und mit Sym-pathie aufgenommen wer-den, mit Sympathie undRespekt. Die Botschaft, diewir rüberbringen wollen,heißt nicht einfach: Besetztdie Fabriken und bringt sie

ans Laufen wie wir – denn das erscheintanderen als sehr schwierig. Aber wir schla-gen ihnen vor, dass wir anfangen, uns zu or-ganisieren, ein Netz aufzubauen. Und wirversuchen rüberzubringen, dass das allesdoch geht. Dass wir anfangen müssen, unsden Raum dafür zu erobern. Wie diese halbeStunde Pause, die wir am Anfang durchge-setzt haben: lasst uns anfangen, sowas durch-zusetzen. Wenn wir einen Raum für Demo-kratie schaffen, dann werden die compañerosselber sagen, wie es weiterlaufen soll. Aberwir müssen anfangen, den Raum für Selbst-bestimmung zu erobern, für eigene Entschei-dungen.

Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Manmuss das verbreiten, das läuft nicht automa-tisch. Aber den Rest erledigen oft die Um-stände. Das läuft nicht so, dass eine kleineGruppe anfängt, und dann werden wir mehrund mehr und mehr. Es gibt spontane Auf-stände, da entsteht was Neues. Man mussdarauf vorbereitet sein.

Eduardo: Nach dem 19./20. ist in Argen-tinien etwas sehr Großes passiert. Das hat

Die ‘Mütter der Plaza de Mayo’ bei Zanon, im Oktober 2002. Die ‘Madres’ waren die ersten, die Wider-stand gegen die Diktatur geleistet haben. Seit 1977 gehen sie jede Woche auf die Straße, um Aufklärungüber das Schicksal der 30 000 ‘Verschwundenen’ und die Bestrafung der Täter zu fordern.Kurz vor ihren Besuch bei Zanon hatten ehemalige Arbeiter aus der alten Gewerkschaftsclique versucht,mit Hilfe von Kids aus den Vorstädten die Fabrik zurückzuerobern. Danach gehörten die Zwillen beiZanon zum festen Bestandteil der Arbeitskleidung.

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mich schwer beeindruckt, ich war an denzwei Tagen in Buenos Aires. Und auch da-nach, bei der großen Mobilisierung, mit derRodriguez Sáa gestürzt wurde. Ich glaube,das hat das Bewusstsein der Leute sehr ver-ändert. Auch wenn es jetzt eher ruhig ist.

Bei den Jugendlichen hat sich viel verän-dert. Da setze ich sehr drauf. Es ist seit dem19./20. nicht mehr wie vorher, wo man unsdie Generation X genannt hat, die nur Fern-sehen guckt, auf Konsum aus ist und berühmtwerden will. Ich war im Januar in BuenosAires, bei einem Treffen von 170 Jugendli-chen, dem Anfang der Bewegung NoPasarán. Da waren Jugendliche von linkenParteien, Unabhängige, Gymnasiasten,Jungs, die sich einfach so getroffen haben, dieeine Rockgruppe haben, und weil sie rebel-lisch sind, haben sie sich da zusammengetan.

Die sind politisiert. Im Herzen des Auf-stands hat eine wahnsinnige Politisierungstattgefunden. Sie wollen was machen. Nachdem Treffen sind sie losgezogen, haben Flug-blätter gemacht, sie sind im Internet – umJugendliche zu organisieren, um die tausen-den von Jugendlichen in den Stadtteilen, denSchulen, den Fabriken zu erreichen. Jetzt istder Krieg (im Irak). Darüber wird unterJugendlichen viel geredet.

Wir verteidigen die besetzten Fabriken.Zanon und Brukman sind bei den besetztenFabriken die Avantgarde. Wenn es uns nichtgelingt, die übrigen Arbeiter zu erreichen,dann hat das hier keine Zukunft. Die Zu-kunft liegt bei den Arbeitern, denen heutenoch der bürokratische Gewerkschaftsappa-rat auf dem Kopf rumtrampelt. Aber dasLand ist in der Krise. Die da oben können

nicht mehr wie früher regieren. Und wir hierunten wollen nicht mehr so weiterleben wiebisher.

Es muss einen neuen 19./20. geben, aberim großen Stil. Da darf kein weitererDuhalde bei rauskommen. Danach muss eineArbeiterregierung kommen. Das liegt nochnicht unmittelbar an, wie viele gedacht ha-ben. Das war keine Revolution. Das wareine Art Vorbereitung. Etwas, das dir sagt,dass danach was wirklich Großes kommt. Ichbin jetzt 28 und ich weiß, dass ich noch vielgrößere Bewegungen erleben werde – abge-sehen davon, dass ich jetzt schon bei Zanonbin. In der Zukunft wird es große Erschütte-rungen geben. Lateinamerika ist auf diesemWeg.

Argentinien hat eine lange Geschichtevon Arbeiterkämpfen. Ende des 19. Jahr-hunderts brachten Immigranten aus Eu-ropa anarchistische und sozialistischeIdeen mit und gründeten am Río de la Pla-ta die ersten Gewerkschaften Lateiname-rikas. Argentinien hat aber auch eine lan-ge Geschichte von Diktaturen und staatli-chen Massakern. Ein spezielles argentini-sches Phänomen ist der Peronismus, be-nannt nach dem Militär Perón, der 1943mit einem Putsch an die Macht kam unddrei Jahre später gewählt wurde. Mit ei-ner Mischung aus Nationalismus und ge-schickter Sozialpolitik wurde er mit seiner

Frau Evita zum Idol von ArbeiterInnen undArmen. Es gelang ihm, die Arbeiterbewe-gung in den Staat einzubinden und dieGewerkschaften zu korrupten bürokrati-schen Apparaten zu machen.

Ab Ende der 60er Jahre rebellierten Ar-beiterInnen gegen Gewerkschaftsappara-te und Diktatoren. 1969 kam es in derIndustriestadt Córdoba zum Aufstand vonArbeiterInnen und StudentInnen gegenden Diktator Onganía. In den folgendenJahren organisierten ArbeiterInnen wildeStreiks und Fabrikbesetzungen. Sie setz-ten Versammlungen und Basisdemokra-tie durch. Vierzig Prozent der Großindu-

strie waren damals noch Staatsbetriebe.Die Arbeiterkämpfe bekamen dadurchschnell eine politische Dimension. Aufden Straßen kämpften Arbeiter und Stu-denten gemeinsam. »Weder Putsch, nochWahlen – Revolution!« war die Parole derGewerkschaften bei FIAT, die von Arbeiter-aktivisten übernommen worden waren.Verschiedene Guerillagruppen entstan-den, darunter die linksperonistischenMontoneros. Der Peronismus war seit1955 verboten. Nun sollte er die verfah-rene Situation retten: Perón wurde ausdem Exil geholt. Fast eine Million Men-schen erwarteten ihn auf dem Flughafen.

Klassenkämpfe in Argentinien

Bolivien 2003

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25Zanon gehört den Arbeitern

Die peronistische Rechte richtete dort einMassaker unter den Montoneros an, un-ter dem Vorwand, sie hätten ein Attentatauf Perón geplant. Perón wurde im Sep-tember 1973 mit großer Mehrheit wieder-gewählt, und begann sofort, die Linke zuillegalisieren und zu verfolgen. Perónstarb 1974, und im März 1976 kam eserneut zu einem Militärputsch, mit demdie brutalste Diktatur in Lateinamerikabegann. Bis 1983 ließen die Militärs30 000 Menschen ›verschwinden‹. Diemeisten Opfer waren politisch und ge-werkschaftlich aktive ArbeiterInnen. DieSchatten der Diktatur sind in Argentinienbis heute spürbar, als allgemein verbrei-tete Angst.

Die Militärs hatten zunächst Unterstüt-zung von den Mittelschichten, die sicheine Stabilisierung der Lage und wirt-schaftlichen Aufschwung erhofften. Ge-gen die ständigen Verhaftungen gab eskaum Proteste. ›Irgendwas wird der schongemacht haben‹, lautete die allgemeineEntschuldigung. Unter den Militärs wur-den einige wenige sehr reich, aber einbreiterer Wirtschaftsaufschwung bliebaus, und so schwand das Vertrauen in dieDiktatur. Diese versuchte 1982 mit dem›Falklandkrieg‹, dem Krieg gegen Englandum die Malwinen-Inseln ihr Image zu ret-ten. Das Unternehmen ging schief, derWiderstand in der Bevölkerung nahm zu,und so ließen die Militärs im Oktober1982 wieder Wahlen zu.

Die folgenden zivilen Präsidenten set-zen den neoliberalen Kurs der Militärsfort. Sie privatisieren die ÖlgesellschaftYPF, die Telefongesellschaft und andereStaatsbetriebe. Die Arbeitslosigkeit steigtbis Mitte der 90er Jahre auf nie dagewe-sene 20 Prozent. 1993, zehn Jahre nachdem Ende der Diktatur kommt es in derStadt Santiago del Estero wieder zu ei-nem Aufstand, nachdem Staatsangestell-ten die Löhne gekürzt worden waren. AlsGeburtsstunde der piquetes, der Straßen-blockaden, nach denen die organisiertenArbeitslosen piqueteros genannt werden,gilt der Aufstand in Cutral Co, in der Pro-vinz Neuquén. Aus Protest gegen die Ent-lassung von Ölarbeitern blockieren dieEinwohnerInnen 1996 tagelang dasStädtchen. Mit dem Kriseneinbruch 1998nehmen Straßenblockaden und lokaleAufstände weiter zu. Im Dezember 2001kommt es dann zum Argentinazo, zum all-gemeinen Aufstand.

Am 19./20. Dezember 2001 wird dieAngst, die das Land seit der Diktatur be-herrscht, kollektiv überwunden. Trotz Aus-nahmezustand gehen die Leute massen-haft auf die Straße, stürzen mehrere Re-gierungen und fangen an, ihr Leben

selbst zu organisieren. In Stadtteilver-sammlungen experimentieren sie seit-dem mit Basisdemokratie und entwickelnsolidarische Selbsthilfeprojekte. Es ge-lingt aber noch nicht, an die Arbeiter-kämpfe der 70er Jahre anzuknüpfen. Inden Betrieben bleibt es ruhig. Seit demAufstand ist es zu keinen größerenStreiks gekommen. Die ArbeiterInnen ste-hen weiterhin unter Kontrolle der Gewerk-schaftsapparate. Bis heute hat der Pero-nismus – die Hoffnung, dass der Staatoder der richtige Mann an der Spitze fürein besseres Leben sorgen kann – in Ar-gentinien starken Einfluss.

Selbstverständlich sind an den Bewe-gungen auch ArbeiterInnen beteiligt – alsNachbarInnen in den Stadtteilversamm-lungen, als DemonstrantInnen auf derStraße – aber ihre eigentliche Macht, alsArbeiterInnen die Produktion lahmzule-gen, haben sie noch nicht wiedergefun-den. Diese Stärke wird bislang nicht imZentrum der Verwertung, sondern nur anden Rändern demonstriert. OrganisierteArbeitslose und BetriebsbesetzerInnensind heute in Argentinien die stärksteKraft im Klassenkampf.

„Ich war bei dieser unvergesslichen Versammlung dort in Neuquén, im Freien, bei Wind und Kälte. Mit diesenKämpfern, diesen wunderbaren Rednern ... Das hat mich an die anarchistischen Versammlungen vom Anfang desletzten Jahrhunderts erinnert, zu denen die Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern kamen. Was für eine Einheit,was für ein Gefühl von Poesie, von Schönheit, von Kampf! Lasst uns das Beispiel aufnehmen ...“

Osvaldo Bayer, im April 2002 beim ersten Treffen der besetzten Fabriken,auf der Straße vor der Fabrik Brukman in Buenos Aires

Weitere Artikel und Materialienzu den Bewegungen in Argentinien:

Argentinien – Aufstand gegen die PolitikDie Situation der Migranten in Buenos AiresZirkular Nr. 64, Juli 2002

Massenmobilisierung gegen die RepressionZur Ermordung von Darío Santillán und Maximilia-no Kosteki durch die Polizei, am 26.6.2002 imBahnhof Avellaneda nach einer Brückenblockade.

„Wir sind alle piqueteros“Übersetzung von vier Artikeln zu den Bewegun-gen arbeitsloser ArbeiterInnen

H.I.J.O.S. – Den Tätern keine Ruhe lassenÜber die Organisation von Nachkommen der inder Diktatur ‘Verschwundenen’ und ihre spezielleAktionsform, die ‘escraches’aus ILA 259, Oktober 2002

Zum 19./20. Dezember,ein Jahr nach dem Aufstand:Revolutionäre Situation in Argentinien?Zirkular Nr. 65, Februar 2003

Die Bourgeosie ist schneller als das ProletariatÜbersetzung von La Lettre de Mouvement Com-muniste, Numéro 6, Jan. 2003

Zwei Beiträge zu besetzten Betriebenaus: Colectivo Situaciones u.a., ¡Que se vayantodos! Krise und Widerstand in Argentinien,Assoziation A, März 2003

Räumung verhindert – Zur gescheitertenRäumung von Zanon am 8.4.2003

Studentinnen sind Praktikantinnen sindArbeiterinnen – der Kampf bei Telefónicaaus Wildcat Nr. 66, Juli 2003Interview mit einer Aktivistin im Call Center derTelefónica

Alle Artikel im Dossier

Aufstand in Argentinien

www.wildcat-www.de

Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Klas-senkämpfe in Argentinien, des Aufstands vom Dezem-ber 2001 und seiner Vorgeschichte ist nachzulesen inder Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 63, März 2002:El Argentinazo – Aufstand in Argentinien

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Über die Hälfte der Industriekapazität inArgentinien liegt brach. In dieser dramati-schen Krise entschließen sich immermehr ArbeiterInnen, Betriebe zu besetzenund in Eigenregie weiterzuführen. Die Be-setzungen entstehen als Überlebenspro-jekte in einer defensiven Situation. Abersie werfen Fragen auf, die weit über dasunmittelbare Ziel, den Erhalt der eigenenArbeitsplätze, hinausgehen. Mehr als10 000 ArbeiterInnen stellen zur Zeit inArgentinien das Privateigentum praktischin Frage, und sie müssen sich teilweisehandgreiflich gegen die Staatsgewaltdurchsetzen. Sie machen die Erfahrung,dass sie in der Lage sind, die Produktionselbst zu organisieren. In einer Fabrikohne Chefs ist plötzlich nichts mehrselbstverständlich, nichts muss als gege-ben hingenommen werden. Es gibt keineVorarbeiter und Meister mehr; die Arbei-terInnen verändern Arbeitszeiten und -or-ganisation entsprechend ihrer eigenenBedürfnisse und entscheiden in Ver-sammlungen, was und wie produziertwird. Nicht mehr Profit und Gewinnmaxi-mierung sind das Ziel der Produktion, son-dern Einkommen für möglichst viele Men-schen und die Herstellung nützlicher Din-ge unter erträglichen Bedingungen. Dasklingt schon fast nach einem kleinen bis-schen Kommunismus.

Selbstverwaltete Betriebe als Inselnim Meer der kapitalistischen Krise sindjedoch ein widersprüchlicher Versuch, derleicht in der Selbstverwaltung des Man-gels steckenbleiben kann. Dass ein paartausend ArbeiterInnen in verlassenen Fa-briken auf eigene Rechnung arbeiten,muss nicht unbedingt weitergehende Fol-

gen haben. Das Kapitalblatt The Econo-mist (9.11.2002) macht sich zwar etwasSorgen wegen der »Erosion der Eigen-tumsrechte«, gibt sich aber ansonstenzuversichtlich: »Diese Bewegung ist keineBedrohung für kapitalistische Unterneh-men« – denn die Wiedereröffnung von Fir-men unter Arbeiterkontrolle würde nichtnur den Arbeitern, sondern auch den Ka-pitalgebern helfen, da sie die Maschine-rie vor Verfall und Vandalismus bewahre.Diese Einschätzung haben die Economist-Journalisten sich nicht selbst ausge-dacht; sie zitieren damit zwei Vertreterder MNER, der Nationalen Bewegung in-standbesetzter Betriebe.

In der MNER sind etwa achtzig selbst-verwaltete Kooperativen mit insgesamt8000 Beschäftigten organisiert. Die mei-sten besetzten Betriebe haben sich dafürentschieden, Kooperativen zu gründen.Damit konnten sie wenigstens drohendeRäumungen und Zwangsversteigerungenverhindern. Bedingung für diese Legalisie-rung ist aber oft, dass die ArbeiterInnendie Schulden des ehemaligen Besitzersübernehmen. Entsprechend groß ist dannder Druck, produktiv und marktgerecht zuproduzieren. Noch ist kein selbstverwal-teter Betrieb völlig gescheitert, aber vieleKooperativen können nur geringe Löhneauszahlen und sehen sich gezwungen,Abstriche an Arbeitsbedingungen und So-zialleistungen zu machen oder gar Arbei-terInnen zu entlassen. Bei einigen rei-chen die Löhne kaum für das Überleben.Die BesetzerInnen können das kapitalisti-sche Kommando innerhalb ihrer Betriebeaußer Kraft setzen, aber sie haben keineKontrolle über den Markt. Dort sind sie

der Konkurrenzmit anderen Un-ternehmen aus-gesetzt, die sienur unterbietenkönnen, indemsie die eigeneAusbeutung er-höhen. Für dieTendenz von Ko-operativen, unterdem Druck derVerhältnisse denArbeitsdruck zuerhöhen und ka-p i t a l i s t i s c h eStrukturen zu re-

produzieren, gibt es in der Geschichte lei-der zahlreiche Beispiele.

Angesichts der Vielzahl und Hartnäk-kigkeit der Besetzungen sind in derHauptstadt und in der Provinz BuenosAires Verordnungen für Enteignungsver-fahren erlassen worden, nach denen Be-triebe »enteignet« und den neu gegründe-ten Kooperativen überlassen werden kön-nen. Diese Enteignungsverfahren sind je-doch zweischneidig. Das Privateigentuman den Produktionsmitteln, das die Arbei-terInnen mit der Besetzung in Frage ge-stellt haben, wird dadurch letzten Endeswieder bestätigt. Den BesetzerInnen wer-den Gebäude und Maschinerie für einenbefristeten Zeitraum überlassen (in derRegel für zwei Jahre, in Einzelfällen län-ger). Währenddessen garantiert der Staatden Eigentümern eine Miete. Nach Ablaufder Frist sollen die ArbeiterInnen ein Vor-kaufsrecht für ihren Betrieb bekommen.Der verbleibt derweil unter Aufsicht einesRichters und eines Konkursverwalters,die die Interessen der Gläubiger wahren.Im Gegensatz zu den Eigentümern be-kommen die ArbeiterInnen keinerlei Sub-ventionen. Sie sollen mit ihrer Arbeit ausdem wertlosen Schrott, der in den Fabri-ken rumsteht, wieder Kapital machen.Wenn ihnen das gelingt, dürfen sie esdanach kaufen (womit sich die Gläubigerihre Arbeit wiederaneignen). In dieser Zeitsind sie keine BesitzerInnen, tragen aberdas ganze Risiko, und haben keinerleiRechte oder Lohnansprüche als Arbeite-rInnen.

Die MNER fordert einen Treuhand-fonds und eine Änderung des Konkursge-setzes, um solche Enteignungsverfahrenzu institutionalisieren. Sie wird von Kir-chenkreisen, von Teilen der staatstragen-den Gewerkschaftsbürokratie, von Peroni-sten und Mitte-Links-Parteien unterstützt.Bei solchen Kräften liegt der Verdachtnahe, dass sie mit ihrer Unterstützung inerster Linie verhindern wollen, dass dieBewegung den Rahmen der Legalität ver-lässt. Sie legen den ArbeiterInnen der be-setzten Betriebe nahe, sich als Koopera-tiven zu legalisieren und sich auf ›realisti-sche Lösungen‹ einzulassen.

Raúl: Die MNER ist eine Mischung aus Ge-schäften, Abkommen mit der Regierung,und viel Aufopferung – auf Seiten der Ar-beiter, nicht von denen, die da an der Spit-ze stehen. Als mehr Betriebe besetzt wur-

Kooperativen – Verstaatlichung – Arbeiterkontrolle?Anmerkungen zum Dilemma der Selbstverwaltung im Kapitalismus.

Die Straße Jujuy in Buenos Aires, vor der Fabrik Brukman:„Bruckman kämpft um Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle, arbeitet und verkauft“

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27Zanon gehört den Arbeitern

den, machte die Regierung eine Politik, diedas eindämmen sollte. Da kam von obenein ganzer Apparat, mit Richtern, Abgeord-neten, Beamten, Anwälten. So wie sie dieBewegungen der Arbeiter mit der Gewerk-schaftsbürokratie ausbremsen, oder auchdie piqueteros – sie verhandeln mit einemTeil von ihnen und bilden eine piquetero-Bürokratie – passiert dasselbe mit demPhänomen der besetzten Fabriken. Sie ver-suchen, eine Bürokratie aufzubauen, dieverhandlungsbereit ist und weit von den Ar-beitern entfernt. Die MNER erfüllt in etwadiese Funktion. Am Anfang, als das nochnicht so klar war, haben wir ihnen vorge-schlagen, gemeinsame Treffen abzuhalten.Aber die wollten sich nicht mit den Rebel-len zusammentun, die Chaos machen. Siesetzen mehr auf den Rechtsweg. Obwohlsie oft von Kampf reden, aber ihre Praxissieht anders aus.

Die meisten Betriebe sind aus einer Not-lage heraus besetzt worden. Da gab es kei-nen Plan. In den meisten Fällen waren dakeine organisierten Leute oder compañe-ros mit klaren Vorstellungen. Aus der Notla-ge heraus und aus der Wut haben sie spon-tan gehandelt. Am nächsten Tag wusstensie dann nicht, was sie tun sollten, ob siezum Beispiel einen Antrag beim Arbeitsmi-nisterium stellen sollten. Die erste Reakti-on von Arbeitern ist in solchen Fällen oft,zu einem Anwalt zu gehen. Und wenn es daAnwälte gibt, die ihre Visitenkarten vertei-len und sagen: ›Wenn es irgendein Problemgibt, dann bin ich für euch da‹ ... Sie stell-ten einen ganzen Apparat zur Verfügung,der sich sehr um das alles gekümmert hat.

Aber es gibt eine Menge compañeros,die zwar zur MNER gehören, die aber indivi-duell oder als Gruppen an unseren Treffenteilnehmen. Sie treten nicht aus der MNERaus, aber sie sind sich darüber im Klaren,dass wir diesen Kampf nur gemeinsam füh-ren können. Ob Kooperative oder nicht, wirsind alle vom Markt abhängig. Du musstdich der Konkurrenz stellen, die Löhne sen-ken, die Kosten senken, du wirst zum Kon-kurrenten der anderen Arbeiter. Deshalbfordern wir die Verstaatlichung, nicht weilwir denken, dass der Staat was Schöneswäre. Das ist ein Staat der Unternehmer,ein kapitalistischer Staat, ein Repressions-apparat gegen die Arbeiter und das Volk,aber wir sagen, dass sie die Grundlage derProduktion sicherstellen sollen, damit wirweiter arbeiten und uns organisieren kön-nen – eben um diesen Staat zerstören zukönnen und einen anderen aufzubauen.

Zanon und einige weitere Betriebe fordernanstelle der Kooperativenbildung die ›Ver-staatlichung unter Arbeiterkontrolle‹. Siewollen nicht zu Unternehmern werden,

aber auch nicht zu Staatsangestellten.Vom Staat verlangen sie, dass er die not-wendigen Rahmenbedingungen schafft:er soll Gebäude, Maschinerie und Paten-te ohne Entschädigung und endgültig ent-eignen, und ihnen den Betrieb überlas-sen, damit sie dort in Selbstverwaltunggesellschaftlich nützliche Produkte her-stellen können. Sie wollen die Produkti-onsmittel nicht kaufen; der Staat soll siezur Verfügung stellen und sich ansonstenraushalten, denn die Produktion könnendie ArbeiterInnen schon selber regeln. Diepropagierte Produktion von ›Gütern für dieAllgemeinheit‹ ist nicht nur eine morali-sche Forderung. Denn wenn der Staat dieAbnahme von Produkten für öffentlicheProjekte garantiert, ist der Druck derMarktkonkurrenz zumindest verringert.

Unter dem Druck der Verhältnisse ha-ben die compañeras der Textilfabrik Bruk-man nun doch die ›Kooperative 18. De-zember‹ gegründet, nach dem Datum ih-rer Besetzung am 18.12.2001, einen Tagvor dem Aufstand in Argentinien. Ostern2003 sind sie geräumt worden. Die Fa-brik im Stadtteil Once, mitten in BuenosAires, war seitdem von Metallgittern ab-gesperrt und rund um die Uhr von Polizeibewacht. Ein Versuch, die Fabrik wieder-zubesetzen, endete in einer Straßen-schlacht. Danach installierten die Arbei-terinnen ein Streikzelt auf der Straße.Den ganzen argentinischen Winter überhaben sie dort ausgeharrt und mit vielfäl-tigen Aktionen für die Rückgabe der Fa-brik demonstriert. Gleichzeitig betriebensie auf dem Rechtsweg ein Enteignungs-verfahren gegen Brukman. Das war anzwei Voraussetzungen gebunden: die Ar-beiterInnen mussten eine Kooperativegründen, und für die Firma Brukmanmusste der Konkurs erklärt werden. Bei-des ist geschehen, und das Stadtparla-ment von Buenos Aires hat am30.10.2003 beschlossen, den Betrieb zuenteignen. Nachdem die Arbeiterinnenvon Brukman diese Form der Legalisie-rung lange verweigert und radikalere Pro-jekte vorgeschlagen haben, ist es einer-seits ein großes Zugeständnis, dass aus-gerechnet eine der exponiertesten Fabri-ken ›unter Arbeiterkontrolle‹ nun doch zurKooperative geworden ist. Aber anderer-seits ist es ein großer Erfolg, dass es denArbeiterinnen nach so langer Zeit dochnoch gelingt, in die symbolträchtige Fabrikim Zentrum der Hauptstadt zurückzukeh-ren. Sie haben sich nicht in die Außenbe-zirke vertreiben lassen, und sie könnengemeinsam weitermachen. Ohne ihrehartnäckigen Aktionen wäre das sichernicht passiert. Sie hätten aber auch nichtauf unbestimmte Zeit weiter im Streikzelt

sitzen und von Spenden leben können. Ir-gendeine Regelung musste gefunden wer-den, und so war der Jubel über die Parla-mentsentscheidung riesig – auch wennden compañer@s sicher klar ist, dass daskeine ›Lösung‹ ist.

Für die Zukunft der Bewegung ist dieRechtsform, die sich die einzelnen Betrie-be geben, sicher weniger entscheidendals die Frage, inwieweit die Ausweitunggelingt. Bleiben die selbstverwalteten Be-triebe allein, bleiben sie Inseln, oder wer-den sie Teil einer breiteren (internationa-len ...) Bewegung, die in der Lage ist, Pri-vateigentum und Produktionsverhältnissegrundsätzlich in Frage zu stellen? Es wirdnicht nur von der Entwicklung in Argentini-en abhängen, ob die besetzten Betriebeirgendwann als schöne Episode in denGeschichtsbüchern auftauchen, oder alsAnfang von etwas Neuem. Aber eines ha-ben die ArbeiterInnen sowieso schon ge-wonnen: die Erfahrungen, die sie mit ih-ren Besetzungen machen, kann ihnen nie-mand mehr nehmen – und wir können da-von eine Menge lernen.

Julian: Ich glaube, das Wichtigste ist, dasswir demonstriert haben, dass das hierüberhaupt geht. Sie haben uns immer dis-kriminiert. Sie haben uns immer gesagt,dass ein Arbeiter überhaupt nichts kannaußer arbeiten. Wir haben aber bewiesen,dass wir alles selbst hinkriegen, wenn wirzusammenarbeiten. Das hier hat mit demKampf um den Erhalt unserer Arbeitsplät-ze angefangen, mit dem Kampf für einewürdige Art von Arbeit statt mieser Unter-stützungszahlungen. Und das soll für dieanderen Arbeiter rüberkommen: dass derVerlust des Arbeitsplatzes und der Kampfdarum nicht bedeuten muss, einen sinnlo-sen Kampf zu führen. Diese Botschaft istunabhängig davon, wie die Geschichte beiZanon ausgeht. Da können die verschie-densten Dinge bei rauskommen: vielleichtkommt der Besitzer wieder, vielleicht ver-kauft er die Fabrik, da kann noch eine Men-ge passieren. Aber unser Ziel ist klar: wirwollen die Fabrik in den Dienst der Allge-meinheit stellen, wir wollen so produzieren,dass es das Leben von allen verbessert.Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre,wenn es viele Zanons gäbe, in diesemLand und anderswo. Das wäre eine völligandere Realität, denn wir würden alle analle denken, egal ob wir zehn Straßen von-einander entfernt wohnen, zehn Kilometer,oder zehntausend Kilometer...

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels, derAnfang des Jahres geschrieben wurde, als Beitrag fürdas Buch ¡Que se vayan todos! Krise und Widerstand inArgentinien. Colectivo Situaciones. Verlag Assoziation A.

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28 Beilage Wildcat 68

1980 Eröffnung der Fabrik Cerámica Zanon in Neuquén.

1983 Ende der Militärdiktatur in Argentinien.

1993 Mit der neuen Porcellanato-Linie wird die fortgeschrittenste Technologie bei Zanon eingeführt.

1996 Aufstand in Cutral Co, Provinz Neuquén, gegen die Privatisierung der Erdölgesellschaft YPF.Beginn der piquetes, der Straßenblockaden als Aktionsform der Arbeitslosen.

Oktober 1998 Bei Zanon übernimmt die oppositionelle Liste Marrón den Betriebsrat (Comisión Interna).

Juli 2000 Der Zanonarbeiter Daniel Ferrás stirbt wegen fehlender medizinischer Versorgung in derFabrik. Mit dem ‘Neun-Tage-Streik’ wird die Wiedereinführung des Medizinischen Dienstesdurchgesetzt.

Dezember 2000 Die oppositionelle Liste übernimmt die Leitung (Comisión Directiva) der Gewerkschaft SOECN.

Januar 2001 Sechs Tage Streik wegen ausstehender Löhne

März 2001 Gegen das Krisengejammer von Zanon fordern die ArbeiterInnen die Offenlegung derBilanzen.

April / Mai 2001 Der ’34-Tage-Streik’ wegen Lohnrückständen, nach dem sich Unternehmer undProvinzregierung verpflichten, die ausstehenden Löhne zu zahlen.

Juni - September Lohnrückstände, Arbeitsniederlegungen, staatliche Lohnsubventionierungen.

September 2001 Zanon beginnt, Teile der Fabrik stillzulegen.

Oktober 2001 Besetzung der Fabrik. Die selbstorganisierte Produktion wird durch die Sperrung derGasversorgung gestoppt.

November 2001 Urteil gegen Zanon wegen Aussperrung. Die ArbeiterInnen erhalten Lagerbestände als Ersatzfür ausstehende Löhne.

28.11.2001 Zanon schickt Entlassungsschreiben an die gesamte Belegschaft.

30.11.2001 Demonstration zum Regierungssitz, mit heftigen Auseinandersetzungen und Festnahmen.Freilassung der festgenommenen Arbeiter nach einer weiteren Demonstration am selben Tag.

Dezember 2001 Beginn des Kachelverkaufs am Fabriktor.

19.12.2001 Die Zanonarbeiter spenden Kacheln für das Regionalkrankenhaus in Centenario, die von denarbeitslosen Arbeitern der MTD verlegt werden.

19./20.12. Aufstand in Argentinien

Chronologie

Mate, Ton und ProduktionZanon – eine Fabrik unter Arbeiterkontrolle

D./Arg. 2003, AK KRAAK, 55 min.

„Ohne Hierarchien zu arbeiten, so horizontal wie möglich. Viele Leute sagen, das sei unmöglich.Aber es schien auch unmöglich, eine Fabrik zu besetzen und viele Sachen,die wir hier verwirklichen.“Christian gehört zu den über 300 Arbeitern und Arbeiterinnen der besetzten Kachelfabrik Zanon in Patagonien. Seit über 1 1/2 Jahren produzieren sie ihre Fliesen in eigener Verantwortung.Der Kampf um Zanon wurde zum Symbol der neuen sozialen Bewegungen in Argentinien.Der Film taucht ein in die Welt der komplexen Herstellung von Keramikfliesenauf eigene Faust. Zwischen Matetee und Produktion berichten die Besetzervon ihren persönlichen, alltäglichen Kämpfen und Erfahrungen.

www.akkraak.squat.net

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29Zanon gehört den Arbeitern

Januar 2002 Der Vorschlag von Zanon, die Fabrik mit nur 62 Beschäftigten und gekürztem Lohnwiederzueröffnen, wird von den ArbeiterInnen abgelehnt.

27.2.2002 Die Versammlung der ArbeiterInnen beschließt, die Produktion aufzunehmen, mit gleichemLohn von 800 pesos für alle. Sie teilen sich in drei Schichten auf und bilden dieKommissionen Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Einkauf, Verkauf, Verwaltung, Sicherheit,Produktion, Planung, Arbeitssicherheit.

März 2002 Aufnahme der Produktion ‘unter Arbeiterkontrolle’. Die Mapuche bieten den Zanonarbeiterndie Tonerde von ihrem Land als Rohstoff an.

April 2002 Erstes Treffen der besetzten Fabriken bei Brukman in Buenos Aires. Erste Ausgabe dergemeinsamen Arbeiterzeitung ‘Nuestra Lucha’.

Mai 2002 Erster Räumungsversuch. Das Gericht erlaubt den Konkursverwaltern die Inbesitznahme derFabrik, die ArbeiterInnen lassen sie nicht rein.

Juni 2002 Nach der neuen Serie Obrero (Arbeiter) bringen die Zanonarbeiter die Serie Mapuche raus,vier Modelle, die sie in Zusammenarbeit mit den Mapuche-Gemeinden entwickelt und nachMapuche-Kämpfern Kalfukura, Meripan, Lexfaru und Puran benannt haben.

26.6.2002 Das Massaker in Avellaneda: Nach der Blockade einer Brücke in Buenos Aires durchArbeitslosenorganisationen erschießt die Polizei im Bahnhof von Avellaneda die beidenpiqueteros Maximiliano Kosteki und Darío Santillán.

August 2002 Zwanzig Mitglieder der Arbeitslosenorganisation MTD Neuquén fangen an, bei Zanon zuarbeiten.

Zweiter Räumungsversuch.

Erstes Treffen der Coordinadora Regional del Alto Valle.

September 2002 Zweites Treffen der besetzten Fabriken bei Brukman.

Oktober 2002 Dritter Räumungsversuch von ehemaligen Gewerkschaftern des Betriebes mit Hilfe vonangeheuerten Jugendlichen.

Antrag auf Enteignung und Verstaatlichung von Zanon.

Februar 2003 Dreissig Neueinstellungen in der besetzten Fabrik.

März 2003 Erneute Räumungsdrohung durch ein neues Gerichtsurteil. Aktionstag in der Fabrik und inNeuquén, mit Unterstützung durch eine Karawane aus Buenos Aires mit den ‘Müttern derPlaza de Mayo’. Drittes Treffen der besetzten Fabriken in Rosario.

8.April 2003 Der vierte und bislang letzte Räumungsversuch wird abgewehrt.

Juni 2003 Die Produktion ist auf 120 000 m2 pro Monat gestiegen. Das entspricht 15% derGesamtkapazität der Fabrik und 50% der Produktion von Zanon, bevor der Unternehmer dieFabrik verließ.

Impressum

Wildcat:Shiraz e.V.Postfach 30 12 0650782 Kö[email protected]

Shiraz e.V.Postfach 60 13 2814413 Potsdam

Welt in Umwälzung:[email protected]

Regionale Kontakte:[email protected]@[email protected]@[email protected]

Archiv und Aktuelles:www.wildcat-www.deAbo: 6 Ausgaben für 15 Euro –Einzelheft 3 Euro – Förderabo30 Euro – aktuelles Heft fürWeiterverkäufer: 8 Exemplarefür 10 Euro (Ausland 16 Euro) –alle Preise inkl. Porto.Bestellung per Brief, Mail oderdas Formular auf der Webseite:

V.i.S.d.P.: P. Müller

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»Am Anfang waren wir nur zu zweit, zu dritt oder zu fünft.Da kamen zwei mit einem Transparent, jeder auf einer Seite– und niemand dahinter. Aber wir haben damit gesagt:Hier sind wir. Und danach haben wir das hier in der Fabrikerzählt und mit den compañeros darüber geredet.«

»Ein compañero wurde mal gefragt ›Seid ihr eine linke Gewerkschaft?‹›Nein‹, hat er gesagt, ›keine linke, aber wir sind auch keine Rechten. Wir sind einerevolutionäre Gewerkschaft!‹ Er will sich nicht als links bezeichnen, weil die Linkeselbst dazu beigetragen hat, solche Prozesse mit ihrem Apparate-Gehabekaputtzumachen. Wir sind gegen sowas. Wir haben das Vertrauen,dass wir Arbeiter das selber machen können.«

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