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ZBVR Zeitschrift für B E T R I E B S V E R F A S S U N G S R E C H T online ISSN 1862-6610 3/2017 Rechtsprechung zum Betriebsverfassungsrecht 02 Zuständige Interessenvertretung bei nicht nur vorübergehender Überlassung von Leiharbeitnehmern BAG, Beschluss v. 24.8.2016 – 7 ABR 2/15 – 04 Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes als schwerbehinderter Mensch/ Hinweispflicht des Arbeitgebers nach erfolgter Betriebsratsanhörung BAG, Urteil v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15 – 07 Ausgleich für Stundenguthaben auf dem Arbeitszeitkonto eines freigestellten Betriebsratsmitglieds BAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 248/14 – 10 Betriebsratsschulung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement/ Erforderlichkeit nur eines Teils der Schulungsveranstaltung BAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 699/14 – 14 Mitbestimmung bei Versetzung/Unzutreffende Unterrichtung des Betriebsrats BAG, Beschluss v. 8.11.2016 – 1 ABR 56/14 – Rechtsprechung zum Tarifrecht 16 Begriff des wissenschaftlichen Personals/Lehrkraft für besondere Aufgaben BAG, Urteil v. 20.4.2016 – 7 AZR 614/14 – 19 Ermittlung der regelmäßigen Arbeitszeit bei fehlender Angabe im Arbeitsvertrag BAG, Urteil v. 2.11.2016 – 10 AZR 419/15 – 21 Altersdiskriminierung bei tariflicher Urlaubsstaffelung BAG, Urteil v. 15.11.2016 – 9 AZR 534/15 – Rechtsprechung in Leitsätzen Aufsätze und Berichte 25 Gestaltungsbefugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG Aktuelles

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ZBVR Zeitschrif t für B E T R I E B S V E R F A S S U N G S R E C H T

online

ISSN 1862-6610

3/2017

Rechtsprechung zum Betriebsverfassungsrecht02 Zuständige Interessenvertretung bei nicht nur vorüber gehender Überlassung

von LeiharbeitnehmernBAG, Beschluss v. 24.8.2016 – 7 ABR 2/15 –

04 Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes als schwerbehinderter Mensch/ Hinweispflicht des Arbeitgebers nach erfolgter BetriebsratsanhörungBAG, Urteil v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15 –

07 Ausgleich für Stundenguthaben auf dem Arbeitszeitkonto eines freigestellten BetriebsratsmitgliedsBAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 248/14 –

10 Betriebsratsschulung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement/ Erforderlichkeit nur eines Teils der SchulungsveranstaltungBAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 699/14 –

14 Mitbestimmung bei Versetzung/Unzutreffende Unter richtung des BetriebsratsBAG, Beschluss v. 8.11.2016 – 1 ABR 56/14 –

Rechtsprechung zum Tarifrecht16 Begriff des wissenschaftlichen Personals/Lehrkraft für besondere Aufgaben

BAG, Urteil v. 20.4.2016 – 7 AZR 614/14 –

19 Ermittlung der regelmäßigen Arbeitszeit bei fehlender Angabe im ArbeitsvertragBAG, Urteil v. 2.11.2016 – 10 AZR 419/15 –

21 Altersdiskriminierung bei tariflicher UrlaubsstaffelungBAG, Urteil v. 15.11.2016 – 9 AZR 534/15 –

Rechtsprechung in Leitsätzen

Aufsätze und Berichte25 Gestaltungsbefugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG

Aktuelles

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Zuständige Interessenvertretung bei nicht nur vorüber­gehender Überlassung von Leiharbeitnehmern 1. Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs ist nicht zur Wahrnehmung sämtlicher betriebsverfassungsrechtli­chen Rechte und Pflichten der dort eingesetzten Leih­arbeitnehmer zuständig. Dies gilt auch dann, wenn die Leiharbeitnehmer nicht nur vorübergehend im Betrieb des Entleihers eingesetzt sind. 2. Die Zuständigkeit des Betriebsrats im Verleiherbe­trieb oder des Betriebsrats im Entleiherbetrieb für die Wahrnehmung von Mitbestimmungsrechten in Bezug auf Leiharbeitnehmer bestimmt sich nach dem Gegen­stand des geltend gemachten Mitbestimmungsrechts und der darauf bezogenen Entscheidungsmacht des Verleihers oder des Entleihers.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Beschluss v. 24.8.2016 – 7 ABR 2/15 –

Zum Sachverhalt

Die Beteiligten streiten darüber, ob Leiharbeitnehmer bei einer nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmer­überlassung betriebsverfassungsrechtlich vollständig als Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs anzusehen sind.

Antragsteller ist der für den Betrieb der zu 2. beteiligten Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat. Die Arbeitgeberin betreibt ein Krankenhaus für Psychiatrie und Psycho­therapie. Dort setzt sie auch Leiharbeitnehmer ein, die bei der Sgesellschaft mbH (S) angestellt sind. Die S ver­fügt über eine unbefristete Erlaubnis zur Arbeitnehmer­überlassung und gehört – ebenso wie die Arbeitgeberin – zur sog. A Gruppe.

Der Betriebsrat hat geltend gemacht, die von ihm na­mentlich benannten, von der S überlassenen Arbeitneh­mer würden nicht nur vorübergehend im Betrieb der Arbeitgeberin eingesetzt, sondern seien länger als zwei Jahre, zum Teil unbefristet, dort tätig. Eine dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung sei unzulässig und führe ent­sprechend § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG zur Begründung von Arbeitsverhältnissen mit der Arbeitgeberin. (…)

Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuwei­sen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Anträge des Betriebsrats seien unzulässig. Ein Statusverfahren mit dem Ziel festzustellen, dass die bei ihr tätigen Leihar­beitnehmer als Arbeitnehmer iSd. § 5 BetrVG anzuse­hen seien, werde durch das Betriebsverfassungsgesetz nicht vorgesehen. Ein solches Feststellungsbegehren betreffe auch kein feststellungsfähiges Rechtsverhält­nis. Zudem fehle dafür das erforderliche Feststellungs­interesse. Jedenfalls seien die Anträge unbegründet, weil Leiharbeitnehmer in betriebsverfassungsrechtli­cher Hinsicht nicht einheitlich dem Entleiher zuzuord­nen seien.

Das Arbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebs­rats zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde ver­folgt der Betriebsrat seine Anträge weiter. Die Arbeit­geberin beantragt die Zurückweisung der Rechtsbe­schwerde.

Aus den Gründen

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesar­beitsgericht hat die Anträge zu Recht abgewiesen.

I. Die Anträge sind nach der gebotenen Auslegung zu­lässig. Sie sind hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und erfüllen die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO.

1. Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge zutreffend dahin verstanden, dass es dem Betriebsrat nicht ledig­lich um eine Klärung des Rechtsstatus der überlassenen Arbeitnehmer geht. Sein Begehren zielt vielmehr auf die Feststellung ab, dass die Betriebsparteien nicht nur für einzelne, sondern für sämtliche betriebsverfassungs­rechtlichen Rechte und Pflichten und für alle denkbaren betriebsverfassungsrechtlichen Sachverhalte in Bezug auf die in den Anträgen bezeichneten Arbeitnehmer zuständig sind.

2. Die so verstandenen Anträge sind zulässig.

a) Die Anträge sind hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. (…)

b) Für die Anträge besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Fest­stellungsinteresse.

aa) Nach § 256 Abs. 1 ZPO ist für die Zulässigkeit eines Feststellungsbegehrens ein rechtliches Interesse daran erforderlich, dass das Bestehen oder Nichtbestehen ei­nes Rechtsverhältnisses durch eine gerichtliche Ent­scheidung alsbald festgestellt werde.

(1) Ein Antrag nach § 256 Abs. 1 ZPO muss sich nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis als Ganzes erstre­cken. Er kann sich auch auf daraus folgende einzelne Beziehungen, Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken. Bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses kön­nen jedoch ebenso wie abstrakte Rechtsfragen nicht Gegenstand eines Feststellungsantrags sein. Das liefe auf die Erstellung eines Rechtsgutachtens hinaus, was den Gerichten verwehrt ist.

(2) Ein Feststellungsinteresse ist nur gegeben, wenn durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag

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der Streit der Beteiligten insgesamt beseitigt werden kann. Es fehlt, wenn durch die Entscheidung kein Rechtsfrieden geschaffen wird. Die Rechtskraft muss weitere gerichtliche Auseinandersetzungen über die zwischen den Beteiligten strittigen Fragen um densel­ben Fragenkomplex ausschließen. Für die Frage, ob be­stimmte Beschäftigtengruppen als Arbeitnehmer iSv. § 5 Abs. 1 BetrVG anzusehen sind, besteht deshalb nur dann ein Feststellungsinteresse, wenn die begehrte Feststel­lung eine einheitliche Anwendung der in Betracht kom­menden betriebsverfassungsrechtlichen Bestimmun­gen zulässt.

bb) Diese Voraussetzungen erfüllen die Anträge. Sie zielen auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses, das einheitlich mit Rechtskraftwirkung für die Anwen­dung des gesamten Betriebsverfassungsrechts beant­wortet werden soll, ohne dass eine unterschiedliche Betrachtung nach dem Zweck der in Betracht kommen­den Norm anzustellen ist. Würde den Anträgen entspro­chen, wäre damit die zwischen den Beteiligten strittige Frage der betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsbezie­hungen abschließend geklärt. Das Interesse des Be­triebsrats an einer alsbaldigen richterlichen Entschei­dung ergibt sich daraus, dass die Arbeitgeberin in Ab­rede stellt, dass es sich bei den in den Anträgen bezeich­neten Personen ausschließlich um Arbeitnehmer ihres Betriebs handelt und der Betriebsrat in Bezug auf sämt­liche betriebsverfassungsrechtlichen Rechte und Pflich­ten hinsichtlich dieses Personenkreises zuständig ist.

II. Die Anträge sind als Globalanträge unbegründet. Der Betriebsrat ist nicht zur Wahrnehmung sämtlicher be­triebsverfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten hin­sichtlich der in den Anträgen bezeichneten Leiharbeit­nehmer zuständig. Entgegen der Auffassung des Be­triebsrats sind dauerhaft überlassene Arbeitnehmer nicht insgesamt als Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs anzusehen.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesar­beitsgerichts geht das Betriebsverfassungsgesetz in § 5 Abs. 1 Satz 1 vom allgemeinen Arbeitnehmerbegriff aus, den es in § 5 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, Abs. 2 und Abs. 3 erweitert sowie einschränkt. Danach ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Diens­te eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zwischen einem Arbeitnehmer und dem Inhaber eines Betriebs genügt allein allerdings nicht in jedem Fall, um die Beurteilung zu rechtfertigen, der Arbeitnehmer sei auch im betriebsverfassungsrechtlichen Sinn Arbeit­nehmer „des Betriebs“. Erforderlich ist hierzu vielmehr die betriebsverfassungsrechtliche Zuordnung des Ar­beitnehmers zu einem bestimmten Betrieb. Diese setzt regelmäßig voraus, dass der Arbeitnehmer in die Be­triebsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert ist. Im Falle der Arbeitnehmerüberlassung ist die Arbeitge­

berstellung aufgespalten. Der zum „Verleiher“ in ar­beitsvertraglicher Beziehung stehende Arbeitnehmer ist in den Betrieb des „Entleihers“ eingegliedert. Die Anwendung der sog. „Zwei­Komponenten­Lehre“, nach der zu den konstitutiven Merkmalen der Betriebszuge­hörigkeit einerseits ein Arbeitsverhältnis zum Betriebs­inhaber, andererseits die tatsächliche Eingliederung in dessen Betriebsorganisation gehört, führt in Fällen des drittbezogenen Personaleinsatzes nicht zu sachgerech­ten Ergebnissen. Ihre uneingeschränkte Anwendung hätte vielmehr zur Folge, dass der Arbeitnehmer einer­seits dem Betrieb seines Vertragsarbeitgebers mangels Eingliederung nicht zugeordnet werden könnte, wäh­rend es andererseits zum Betriebsarbeitgeber an einem arbeitsvertraglichen Band fehlt. In derartigen Fällen der aufgespaltenen Arbeitgeberstellung bedarf es daher einer differenzierten Beurteilung der betriebsver­fassungsrechtlichen Zuordnung von Arbeitnehmern. Diese hat zum einen zu beachten, dass der Gesetzgeber die betriebsverfassungsrechtliche Behandlung des dritt­bezogenen Personaleinsatzes bereits zu einem nicht unbeträchtlichen Umfang teils im Betriebsverfassungs­gesetz, teils in anderen Gesetzen geregelt hat. Zum an­deren gilt es zu berücksichtigen, dass im Betriebsver­fassungsgesetz in ganz unterschiedlichem Zusammen­hang auf den „Arbeitnehmer“ abgestellt wird. Daher sind beim drittbezogenen Personaleinsatz und einer aufgespaltenen Arbeitgeberstellung differenzierende Lösungen geboten, die zum einen die ausdrücklich nor­mierten (spezial­)gesetzlichen Konzepte, zum anderen aber auch die Funktion des Arbeitnehmerbegriffs im jeweiligen betriebsverfassungsrechtlichen Zusammen­hang angemessen berücksichtigen. Dabei ist eine norm­zweckorientierte Auslegung der jeweiligen auf den oder die Arbeitnehmer abstellenden Vorschrift geboten.

Leiharbeitnehmer sind nach § 14 Abs. 1 AÜG betriebs­verfassungsrechtlich grundsätzlich Teil der Belegschaft des Verleiherbetriebs und bleiben auch während der Dauer ihrer Überlassung in die dortige Betriebsorgani­sation eingegliedert. Gleichwohl folgt aus dieser Zuord­nung nicht die Zuständigkeit des für einen Verleiherbe­trieb gewählten Betriebsrats in allen die Leiharbeitneh­mer betreffenden sozialen, personellen und wirtschaft­lichen Angelegenheiten. Denn für die Dauer einer Überlassung sind die Leiharbeitnehmer zusätzlich in die Organisation des Entleiherbetriebs eingegliedert und unterstehen dort dem Weisungsrecht des Entleihers. Die das Leiharbeitsverhältnis kennzeichnende Aufspal­tung der Arbeitgeberfunktion zwischen dem Verleiher als dem Vertragsarbeitgeber und dem Entleiher als dem­jenigen, der die wesentlichen Arbeitgeberbefugnisse in Bezug auf die Arbeitsleistung innerhalb der von ihm vorgegebenen Betriebsorganisation ausübt, setzt aber nicht die Schutzfunktion der Betriebsverfassung außer Kraft. Demnach bestimmt sich die Zuständigkeit für die Wahrnehmung von Mitbestimmungsrechten in Bezug auf Leiharbeitnehmer nach dem Gegenstand des gel­tend gemachten Mitbestimmungsrechts und der darauf

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bezogenen Entscheidungsmacht des jeweiligen Arbeit­gebers.

2. Danach hat das Landesarbeitsgericht zu Recht ange­nommen, dass für die betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen der in den Anträgen bezeichneten Leiharbeitnehmer nicht ausschließlich der für den Be­trieb der Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat zuständig ist. Die Leiharbeitnehmer sind zwar in den Betrieb der zu 2. beteiligten Arbeitgeberin eingegliedert, sie stehen jedoch nicht in einem Arbeitsverhältnis zu dieser, son­dern zur S. Die Arbeitsverträge mit der S als Verleiherin sind auch bei einem dauerhaften Einsatz der im Antrag bezeichneten Leiharbeitnehmer in dem Betrieb der Ar­beitgeberin nicht unwirksam mit der Folge, dass Arbeits­verhältnisse mit der Arbeitgeberin begründet würden. Deshalb sind die Leiharbeitnehmer betriebsverfas­sungsrechtlich nur nach Maßgabe der jeweils anzuwen­denden betriebsverfassungsrechtlichen Norm dem Be­trieb der Arbeitgeberin zugeordnet.

a) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenom­men, dass zwischen den in den Anträgen bezeichneten Arbeitnehmern und der Arbeitgeberin kein Arbeitsver­hältnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG zustande gekommen und somit ein drittbezogener Personaleinsatz gegeben ist.

aa) § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG fingiert das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher aus­schließlich bei Fehlen einer Erlaubnis des Verleihers zur Arbeitnehmerüberlassung. Nach dieser Vorschrift gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeit­nehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Ver­leiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeit­punkt als zustande gekommen, wenn der Vertrag zwi­schen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nr. 1 AÜG unwirksam ist, wobei im Falle der Unwirksamkeit

nach Aufnahme der Tätigkeit das Arbeitsverhältnis mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Unwirksamkeit fingiert wird. Gemäß § 9 Nr. 1 AÜG sind Verträge zwischen Ver­leihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern unwirksam, wenn der Verleiher nicht die nach § 1 AÜG erforderliche Erlaubnis hat.

bb) Die S verfügte nach den Feststellungen des Landes­arbeitsgerichts während der gesamten Dauer der Tätigkeit der in den Anträgen bezeichneten Arbeitneh­mer bei der Arbeitgeberin über eine Erlaubnis zur Ar­beitnehmerüberlassung nach § 1 Abs. 1 AÜG. Die Fiktion des § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG konnte daher nicht eintreten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Leiharbeitneh­mer der Arbeitgeberin entgegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG nicht nur vorübergehend überlassen wurden. Verfügt der Verleiher über die Erlaubnis zur Arbeitnehmerüber­lassung, führt ein Verstoß gegen das Verbot der nicht nur vorübergehenden Überlassung nicht zur Entstehung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher.

b) Die vom Betriebsrat für sich in Anspruch genomme­ne Zuständigkeit für sämtliche betriebsverfassungs­rechtlichen Rechte und Pflichten in Bezug auf die ge­nannten Leiharbeitnehmer besteht daher nicht. Nach § 14 Abs. 1 AÜG bleibt es bei der Zuordnung der Leihar­beitnehmer zum Betrieb der S als Vertragsarbeitgeberin auch während der Zeit der Arbeitsleistung im Entleiher­betrieb. Für die betriebsverfassungsrechtlichen Rechts­beziehungen ist daher grundsätzlich ein dort gebildeter Betriebsrat zuständig. Von dem konkreten Normzweck der jeweiligen betriebsverfassungsrechtlichen Vor­schrift hängt es ab, inwieweit davon abweichend Be­teiligungs­ und Mitbestimmungsrechte des antragstel­lenden, für den Betrieb der Arbeitgeberin als Entleiherin gebildeten Betriebsrats bestehen.

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Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes als schwerbe­hinderter Mensch/Hinweispflicht des Arbeitgebers nach erfolgter Betriebsratsanhörung 1. Das Recht des Arbeitnehmers, sich erstmalig nach Zugang der Kündigung auf eine Schwerbehinderung und damit auf den Sonderkündigungsschutz gem. §§ 85 ff. SGB IX zu berufen, unterliegt der Verwirkung (§ 242 BGB). Als Maßstab für die Rechtzeitigkeit der Mitteilung ist von der Drei­Wochen­Frist des § 4 Satz 1 KSchG auszugehen. Hinzuzurechnen ist die Zeitspanne, innerhalb derer der Arbeitnehmer den Zugang der In­formation beim Arbeitgeber zu bewirken hat. Ein Be­rufen auf den Sonderkündigungsschutz innerhalb die­

ses Zeitraums ist regelmäßig nicht als illoyal verspätet anzusehen. Hierbei darf es dem Arbeitnehmer auch nicht zum Nachteil gereichen, wenn er – etwa zu Be­weiszwecken – eine schriftliche Mitteilung wählt. 2. Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat auf eine vor Zugang der Kündigung veränderte Sachlage hinweisen, wenn die Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG anderenfalls irreführend wäre. Dies gilt bei einer we­sentlichen Änderung des bislang als für den Kündi­gungsentschluss maßgeblich dargestellten Sachver­

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halts selbst dann, wenn das Anhörungsverfahren be­reits abgeschlossen war. 3. Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zah­lung einer Abfindung auf Antrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommt nur in Betracht, wenn eine ordentliche Kündigung allein aufgrund ihrer Sozi­alwidrigkeit und nicht aus anderen Gründen i.S.v. § 13 Abs. 3 KSchG rechtsunwirksam ist.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Urteil v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15 –

Aus den Gründen

Die Revision hat keinen Erfolg. Die Kündigungen haben das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Der Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, die außerordentliche und die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 13. August 2013 seien gem. § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB nichtig.

1. Die Kündigungen bedurften gem. §§ 85, 91 Abs. 1 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Diese lag bei deren Zugang nicht vor. Die Kündigungen verstießen damit gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB. Der Kläger war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung als schwerbehinderter Mensch mit ei­nem Grad der Behinderung von 70 anerkannt (§ 2 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX). Der Sonderkündigungsschutz ist nicht gem. § 90 Abs. 2a SGB IX ausgeschlossen. Der Klä­ger hatte mehr als drei Wochen vor Zugang der Kündi­gung den Antrag auf Anerkennung als schwerbehinder­ter Mensch gestellt (§ 90 Abs. 2a iVm. § 69 Abs. 1 Satz 2, § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX).

2. Der Kläger hat das Recht, sich auf den Sonderkündi­gungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen, nicht nach § 242 BGB verwirkt.

a) Hat der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Zeit­punkt des Zugangs der Kündigung bereits einen Be­scheid über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhal­ten oder wenigstens – wie hier – rechtzeitig einen ent­sprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt, steht ihm der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung keine Kenntnis hatte. Allerdings unterliegt das Recht des Arbeitnehmers, sich nachträglich auf eine Schwer­behinderung zu berufen und die Zustimmungsbedürf­tigkeit der Kündigung geltend zu machen, der Verwir­kung (§ 242 BGB). Diese ist ein Sonderfall der unzuläs­sigen Rechtsausübung. Mit der Verwirkung wird aus­geschlossen, Rechte illoyal verspätet geltend zu machen. Sie dient dem Vertrauensschutz und verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von seiner Verpflich­tung zu befreien, wenn der Gläubiger sich längere Zeit

nicht auf seine Rechte berufen hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, dass er sein Recht nicht mehr wahrnehmen wolle, so dass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstands­moment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauens­schutzes auf Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zuzumuten ist. Dies ist mit Blick auf den Sonderkündigungsschutz eines Arbeitneh­mers nach §§ 85 ff. SGB IX der Fall, wenn der Arbeitge­ber von der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch keine Kenntnis hatte und der Arbeitnehmer sich nicht innerhalb einer angemessenen Frist nach Zugang der Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber auf seine be­reits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft beruft.

b) Für die Beurteilung der Länge der angemessenen Frist ist § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG nicht analog anzuwenden. Der Gesetzgeber hat von der Möglichkeit einer entspre­chenden Regelung für die Mitteilung der Schwerbehin­derteneigenschaft oder einer darauf bezogenen Antrag­stellung keinen Gebrauch gemacht. Er hat auf den ihm bekannten Konflikt zwischen dem Interesse des Arbeit­gebers an der möglichst schnellen Kenntnis der recht­lichen Voraussetzungen für die Kündigung des Arbeits­verhältnisses und dem des Arbeitnehmers, die tatsäch­lichen Voraussetzungen für das Vorliegen des beson­deren Kündigungsschutzes für schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen nicht zu offenbaren, allein mit der Einfügung von § 90 Abs. 2a SGB IX durch Art. 1 Nr. 21a Buchst. b des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Men­schen vom 23. April 2004 reagiert. Allerdings konnte der Gesetzgeber bei der mit Wirkung zum 1. Mai 2004 er­folgten Änderung der Voraussetzungen für den Kündi­gungsausspruch gegenüber schwerbehinderten bzw. diesen gleichgestellten Menschen von der ständigen Senatsrechtsprechung ausgehen, wonach sich der Ar­beitnehmer innerhalb einer Regelfrist von einem Monat gegenüber dem Arbeitgeber auf das Feststellungsver­fahren oder die Antragstellung berufen muss, weil das Gebot der Rechtssicherheit im Kündigungsrecht eine zeitliche Begrenzung auch bei der Geltendmachung des Kündigungsschutzes durch den Arbeitnehmer erfordert. Hat der Arbeitnehmer die Mitteilung unterlassen, ist die Kündigung jedenfalls nicht bereits wegen der feh­lenden Zustimmung des Integrationsamts unwirksam.

c) Als Maßstab für die Rechtzeitigkeit der Geltendma­chung ist vielmehr seit der Änderung des Kündigungs­schutzgesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 von der Drei­Wochen­Frist des § 4 Satz 1 KSchG auszugehen. Binnen dieser Frist muss der Arbeitnehmer entscheiden, ob er gegen die Kündigung vorgehen will. Dieser Zeitraum steht ihm deshalb grundsätzlich auch für die Entschei­

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dung zur Verfügung, ob er sich auf eine dem Arbeitge­ber noch nicht bekannte Schwerbehinderteneigen­schaft berufen möchte. Hinzuzurechnen ist die Zeit­spanne, innerhalb derer er den Zugang der Mitteilung über den bestehenden Sonderkündigungsschutz beim Arbeitgeber zu bewirken hat. Ein Berufen auf den Son­derkündigungsschutz innerhalb dieses Zeitraums ist regelmäßig nicht als illoyal verspätet anzusehen. Hier­bei darf es dem Arbeitnehmer auch nicht zum Nachteil gereichen, wenn er – etwa zu Beweiszwecken – eine schriftliche Information wählt. Mit diesen Grundsätzen ist einerseits keine starre Grenze von drei Wochen, in­nerhalb derer der Arbeitgeber informiert sein müsste, zu vereinbaren. Andererseits kann sich ein Arbeitneh­mer, der seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch allein in der bei Gericht eingereichten Klage­schrift mitteilt, nicht auf den Rechtsgedanken des § 167 ZPO berufen, wenn die Zustellung außerhalb der für eine unmittelbare Übermittlung an den Arbeitgeber zuzugestehenden Zeitspanne erfolgt.

d) Welche Zeitspanne noch als angemessen anzusehen ist, um den Zugang der Information über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für das Eingreifen des besonderen Kündigungsschutzes nach § 85 SGB IX beim Arbeitgeber zu bewirken, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Der Kläger hat den Son­derkündigungsschutz nicht verwirkt. (…)

II. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend die fristlose Kündigung vom 26. September 2013 und die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 28. Oktober 2013 gem. § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG für unwirksam ge­halten.

1. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Gemäß Satz 2 der Bestim­mung hat ihm der Arbeitgeber die Gründe für die Kün­digung mitzuteilen. Eine Kündigung ist dabei nach Satz 3 nicht erst unwirksam, wenn eine Unterrichtung ganz unterblieben ist, sondern schon dann, wenn der Arbeit­geber seiner Unterrichtungspflicht nicht ordnungsge­mäß nachgekommen ist. Der notwendige Inhalt der Unterrichtung gem. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG richtet sich nach Sinn und Zweck der Anhörung. Dieser besteht darin, den Betriebsrat in die Lage zu versetzen, sachge­recht, dh. ggf. zugunsten des Arbeitnehmers auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers einzuwirken. Der Betriebsrat soll die Stichhaltigkeit und Gewichtig­keit der Kündigungsgründe überprüfen und sich über sie eine eigene Meinung bilden können. Die Anhörung soll dem Betriebsrat nicht die selbständige – objektive – Überprüfung der rechtlichen Wirksamkeit der beab­sichtigten Kündigung, sondern ggf. eine Einflussnahme auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen.

a) Der Inhalt der Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist deshalb grundsätzlich subjektiv determiniert. Der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Umstände

mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben. Dem kommt der Arbeitgeber dann nicht nach, wenn er dem Betriebsrat einen schon aus seiner eigenen Sicht unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt unterbreitet. Schildert er dem Betriebsrat bewusst einen solchen irreführenden Kündigungssach­verhalt, der sich bei der Würdigung durch den Betriebs­rat zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken kann, ist die Anhörung unzureichend und die Kündigung un­wirksam.

b) Die subjektive Überzeugung des Arbeitgebers von der Relevanz oder Irrelevanz bestimmter Umstände ist für den Umfang der Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dann nicht maßgeblich, wenn dadurch der Zweck der Betriebsratsanhörung verfehlt würde. Der Arbeitgeber darf ihm bekannte Umstände, die sich bei objektiver Betrachtung zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können, dem Betriebsrat nicht deshalb vor­enthalten, weil sie für seinen eigenen Kündigungsent­schluss nicht von Bedeutung waren. In diesem Sinne ist die Betriebsratsanhörung – ausgehend vom subjektiven Kenntnisstand des Arbeitgebers – auch objektiv, dh. durch Sinn und Zweck der Anhörung determiniert.

2. Es kann dahinstehen, ob das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen hat, die Beklagte habe das Ergebnis eines von ihr intern durchgeführten Betankungsver­suchs dem Betriebsrat unabhängig von ihrer subjektiven Einschätzung schon deshalb mitteilen müssen, weil es objektiv geeignet gewesen sei, den Kläger zu entlasten. (…)

3. Dies bedarf jedoch keiner abschließenden Entschei­dung. Das Landesarbeitsgericht hat jedenfalls im Ergeb­nis zutreffend erkannt, dass die Anhörung des Betriebs­rats nach den der Beklagten anlässlich des Termins beim Integrationsamt am 19. September 2013 bekannt ge­wordenen Umständen nicht mehr ordnungsgemäß war.

a) Das Landesarbeitsgericht hat die mit Schreiben vom 16. September 2013 eingeleitete Anhörung dahin ver­standen, die Beklagte werte den Umstand, dass der Kläger keine Stellungnahme abgegeben habe, (zusätz­lich) zu seinen Lasten. An ihrer Kündigungsabsicht wol­le sie insofern auch deshalb festhalten, weil sie Zweifel daran habe, dass der Kläger tatsächlich erkrankt sei. Diese Würdigung lässt weder einen revisiblen Rechts­fehler erkennen noch hat die Revision eine hiergegen gerichtete Verfahrensrüge nach § 286 Abs. 1 ZPO erho­ben. (…)b) Nachdem die Beklagte anlässlich des Termins vor dem Integrationsamt und damit noch vor Zugang der Kün­digung Kenntnis davon erlangt hatte, dass der Kläger tatsächlich schwer erkrankt war, und sie nunmehr au­ßerdem seine ausführliche schriftliche Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen erhalten hatte, hätte sie den Betriebsrat auf diese veränderte Sachlage hinweisen und ihre Mitteilung gegenüber dem Gremi­

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um ergänzen müssen. Für ihre bisherige negative Be­wertung der unterbliebenen Reaktion des Klägers war, nachdem keine Zweifel mehr an der Erkrankung bestan­den und auch eine Stellungnahme des Klägers mittler­weile vorlag, die tatsächliche Grundlage entfallen. Die zuvor erfolgte Unterrichtung war nunmehr irreführend. Zwar hielt die Beklagte im Ergebnis an ihrem Kündi­gungsentschluss fest. Sie musste aber aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Änderung des dem Be­triebsrat mitgeteilten Sachverhalts diesem erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnen. Dies gilt selbst dann, wenn das mit Schreiben vom 16. September 2013 eingeleitete Anhörungsverfahren durch eine der Beklag­ten zugegangene abschließende Stellungnahme des Betriebsrats bereits abgeschlossen gewesen sein sollte. Es lag eine wesentliche Änderung des von der Beklagten

selbst bisher als für ihren Kündigungsentschluss maß­geblich dargestellten Sachverhalts vor.

III. Den Auflösungsantrag der Beklagten hat das Lan­desarbeitsgericht zu Recht abgewiesen. Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfin­dung auf Antrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommt nur in Betracht, wenn eine ordentliche Kündigung allein aufgrund ihrer Sozialwidrigkeit und nicht aus anderen Gründen iSv. § 13 Abs. 3 KSchG rechts­unwirksam ist. Dies ist aus den vorgenannten Gründen bei den ordentlichen Kündigungen vom 13. August 2013 und vom 28. Oktober 2013 nicht der Fall.

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Ausgleich für Stundenguthaben auf dem Arbeitszeitkonto eines freigestellten Betriebsratsmitglieds 1. Ist auf dem Zeitkonto eines freigestellten Betriebs­ratsmitglieds, das an der Erfassung seiner Anwesen­heitszeit im Rahmen eines Gleitzeitsystems teilnimmt, am Ende eines vorgesehenen Ausgleichszeitraums ein Stundenguthaben aufgelaufen, hat das Betriebsrats­mitglied durch die Erbringung von Betriebsratstätigkeit seine vertraglich geschuldete Arbeitszeit im Bezugs­zeitraum überschritten. Dann ist die Betriebsratstätig­keit insoweit als „außerhalb der Arbeitszeit“ iSv. § 37 Abs. 3 BetrVG erbracht anzusehen. 2. Der Ausgleich für außerhalb der Arbeitszeit erbrach­te Betriebsratstätigkeit ist in § 37 Abs. 3 BetrVG geregelt. Ein Anspruch auf Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts besteht nach § 37 Abs. 3 Satz 1 Be­trVG nur, wenn die Betriebsratstätigkeit aus betriebs­bedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit erbracht wurde. Ist die Arbeitsbefreiung aus betriebsbedingten Gründen nicht möglich, kann das Betriebsratsmitglied nach § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 BetrVG die Vergütung der außerhalb der Arbeitszeit aufgewendeten Zeit wie Mehrarbeit verlangen. 3. § 37 Abs. 3 BetrVG ist zwingend und kann weder durch Tarifvertrag noch durch Betriebsvereinbarung abgeän­dert werden, Regelungen zur Durchführung der Vor­schrift müssen sich in Übereinstimmung mit den Grund­sätzen des § 37 BetrVG halten. 4. § 78 Satz 2 BetrVG, wonach Mitglieder des Betriebs­rats wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder benach­teiligt noch begünstigt werden, untersagt von der Rechtsordnung gedeckte Ungleichbehandlungen nicht.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 248/14 –

Aus den Gründen

(…) II. Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Lan­desarbeitsgericht hat den in der Berufung noch anhän­gigen Antrag des Klägers, die Beklagte zur Einstellung von 259,55 Stunden auf das Mehrarbeitszeitkonto zu verurteilen, zu Recht abgewiesen. Die Klage ist zwar zulässig, aber unbegründet.

1. (…) 2. Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, auf dem für den Kläger geführten Mehrar­beitszeitkonto zum Stichtag 30. Juni 2011 unter Umbu­chung von 207,64 auf dem Differenzstundenkonto be­findlichen Stunden 259,55 Stunden einzustellen.

a) Der Kläger kann sein Verlangen nicht auf § 7 Abs. 3 RBV stützen.

aa) Die RBV findet nach ihrem § 1 zwar grundsätzlich auf das Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung. Da­nach gilt die RBV für alle Mitarbeiter der Beklagten in der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie unter den Geltungsbereich der anwendbaren Tarifverträge, ins­besondere des Manteltarifvertrags für das Bodenper­sonal, fallen. Das ist nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien beim Kläger der Fall.

bb) Das in § 7 Abs. 3 RBV geregelte Verfahren zur Gut­schrift und „Faktorierung“ von auf dem Flexikonto zum Ende des Bezugszeitraums aufgelaufenen Plusstunden ist jedoch auf erfasste Zeitguthaben freigestellter Be­triebsratsmitglieder nicht anwendbar. Das in § 7 Abs. 3 RBV geregelte Verfahren setzt ein Zeitguthaben voraus,

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dem die Erbringung von vergütungspflichtiger Arbeit zugrunde liegt. Freigestellte Betriebsratsmitglieder leis­ten keine vergütungspflichtige Arbeit, sondern üben eh­renamtliche Tätigkeit aus.

(1) § 7 Abs. 3 RBV sieht vor, dass „am Ende des Bezugs­zeitraums bestehende Plusstunden des Flexikontos ober­halb von +75 Stunden … Überarbeit“ sind und mit dem Faktor 1,25 faktoriert „als Arbeitszeit“ dem Überstunden­konto gutgeschrieben und in den folgenden Bezugszeit­raum vorgetragen werden. Die Vorschrift regelt daher das Verfahren für Zeitguthaben, die sich aus der Erbrin­gung vergütungspflichtiger Arbeit ergeben. Für dieses Verständnis spricht auch, dass die RBV in ihrer Präambel und an anderer Stelle mehrfach den Begriff der „Arbeit“ bzw. „Arbeitszeit“ erwähnt. (…)

(2) Freigestellte Betriebsratsmitglieder erbringen im Rah­men ihrer ehrenamtlichen Betriebsratstätigkeit keine vergütungspflichtige Arbeitsleistung. Von diesen erfass­te Anwesenheitszeiten betreffen ausschließlich Betriebs­ratstätigkeit. Anwesenheitszeiten freigestellter Betriebs­ratsmitglieder, die über die vertraglich geschuldete Ar­beitszeit hinausgehen, stellen daher weder „Überarbeit“ iSv. § 7 Abs. 3 RBV dar noch können sie „als Arbeitszeit“ gutgeschrieben werden. Deshalb ist das in § 7 Abs. 3 RBV geregelte Verfahren auf erfasste Zeitguthaben freige­stellter Betriebsratsmitglieder nicht anzuwenden.

(a) Nach § 37 Abs. 1 BetrVG führen die Mitglieder des Betriebsrats ihr Amt als Ehrenamt. Mitglieder des Be­triebsrats sind nach § 37 Abs. 2 BetrVG von ihrer berufli­chen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, wenn und soweit es nach Umfang und Art des Betriebs zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Auf­gaben erforderlich ist. Nach § 38 Abs. 1 BetrVG sind im dort genannten Umfang Betriebsratsmitglieder von ihrer

beruflichen Tätigkeit freizustellen. Die generelle Freistel­lung von der beruflichen Tätigkeit gemäß § 38 Abs. 1 Be­trVG hat denselben Zweck wie die zeitweilige Arbeitsbe­freiung nach § 37 Abs. 2 BetrVG. Beide Freistellungen sollen ausschließlich die sachgerechte Wahrnehmung der dem Betriebsrat obliegenden Aufgaben sicherstellen.

(b) Für die Dauer der Freistellung besteht daher keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung. An die Stelle der Ar­beitspflicht tritt die Verpflichtung des Betriebsratsmit­glieds, während seiner arbeitsvertraglichen Arbeitszeit im Betrieb am Sitz des Betriebsrats, dem er angehört, anwesend zu sein und sich dort für anfallende Betriebs­ratsarbeit bereitzuhalten. Das ist die gesetzliche Rechts­folge der Freistellung. Soweit ein Betriebsratsmitglied

nicht in diesem Sinne im Umfang seiner Arbeitszeit Be­triebsratstätigkeit erbringt, kann dies zu Abzügen vom Arbeitsentgelt führen, weil eine Freistellung nicht für Betriebsratstätigkeit genutzt wurde und deshalb der An­spruch auf Arbeitsentgelt ohne berufliche Arbeitsleis­tung entfällt. Daher haben auch freigestellte Betriebs­ratsmitglieder ein Interesse daran, ihre Anwesenheit im Betrieb zu dokumentieren, weshalb der Arbeitgeber ver­pflichtet ist, auch diesen die Teilnahme an dem in einer Betriebsvereinbarung geregelten Arbeitszeiterfassungs­system zu ermöglichen. Der Anspruch auf Teilnahme an der Zeiterfassung hat jedoch nicht zur Folge, dass die Erbringung von Betriebsratstätigkeit eine vergütungs­pflichtige Arbeitsleistung darstellt.

(3) Ein Verständnis von § 7 Abs. 3 RBV dahingehend, dass das darin geregelte Verfahren auch auf Zeitguthaben anwendbar ist, die sich aus der Erfassung der Anwesen­heitszeiten freigestellter Betriebsratsmitglieder ergeben, wäre zudem nicht gesetzeskonform. Damit würden die zwingenden Vorgaben von § 37 Abs. 3 BetrVG umgangen.

(a) Nimmt ein freigestelltes Betriebsratsmitglied an der Erfassung seiner Anwesenheitszeit im Rahmen eines Gleitzeitsystems teil, kann es eine etwaige Überschrei­tung der persönlichen Arbeitszeit dann, wenn die Be­triebsratstätigkeit innerhalb des Gleitzeitrahmens er­bracht wird, grundsätzlich im Rahmen des vorgegebenen Zeitrahmens ausgleichen, ohne dass es einer besonderen Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs bedarf. Bei einem derartigen regelmäßigen Ausgleich von kurzfris­tiger Über­ und Unterschreitung der persönlichen Ar­beitszeit im Rahmen einer solchen der Arbeitszeitflexi­bilisierung dienenden Vereinbarung steht nämlich zu­nächst (für den dem Zeitausgleich zur Verfügung ste­henden Zeitraum) nicht fest, ob die Betriebsratstätigkeit außerhalb der persönlichen Arbeitszeit iSv. § 37 Abs. 3

BetrVG lag. Ist der Zeitausgleich am Ende eines Ausgleichszeitraums nicht vollstän­dig erfolgt und zu diesem Zeitpunkt ein positiver Stundensaldo aufgelaufen, steht aber fest, dass das Betriebsratsmitglied durch die Erbringung von Betriebsratstä­tigkeit seine vertraglich geschuldete Ar­

beitszeit im Bezugszeitraum überschritten hat. Im Fall des vollständig von der Arbeitsleistung freigestellten Betriebsratsmitglieds kann ein dann bestehender posi­tiver Saldo nämlich nur auf Betriebsratstätigkeit basie­ren. Dann ist die Betriebsratstätigkeit insoweit als „au­ßerhalb der Arbeitszeit“ iSv. § 37 Abs. 3 BetrVG erbracht anzusehen.

(b) Der Ausgleich für außerhalb der Arbeitszeit durchge­führte Betriebsratstätigkeit ist in § 37 Abs. 3 BetrVG ge­regelt. Diese Vorschrift ist als wesentlicher Teil des ge­setzlich geregelten Ehrenamtsprinzips und der Konzep­tion der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern in § 37 BetrVG zwingend und kann weder durch Tarifvertrag noch durch Betriebsvereinbarung abgeändert werden,

Ein freigestelltes Betriebsratsmitglied ist verpflichtet, sich während seiner vertraglichen

Arbeitszeit am Sitz seines Betriebsrats für anfallende Betriebsratsaufgaben bereitzuhalten.

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Regelungen zur Durchführung der Vorschrift müssen sich in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des § 37 Be­trVG halten. § 37 Abs. 3 BetrVG sieht einen Anspruch auf entsprechende Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts als Ausgleich für Betriebsratstätigkeit, die außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen ist, nur dann vor, wenn die Betriebsratstätigkeit aus betriebsbeding­ten Gründen außerhalb der Arbeitszeit erbracht wurde. Eine Vergütung der außerhalb der Arbeitszeit aufgewen­deten Zeit wie Mehrarbeit setzt zudem nach § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 BetrVG voraus, dass Arbeitsbefreiung aus betriebsbedingten Gründen nicht möglich war.

(c) Diese Beschränkungen enthält § 7 Abs. 3 RBV nicht. Die Anwendung der Regelung auf Zeitguthaben freige­stellter Betriebsratsmitglieder hätte vielmehr zur Folge, dass aus der Erbringung von Betriebsratstätigkeit außer­halb der Arbeitszeit Freizeitausgleichsansprüche und mit der zusätzlichen „Faktorierung“ ggf. auch zusätzliche Vergütungsansprüche resultierten, ohne dass dies an die zwingenden weiteren Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 BetrVG gebunden wäre.

cc) Danach kann der Kläger seinen Anspruch nicht auf § 7 Abs. 3 RBV stützen. Das am Ende des Bezugszeitraums am 30. Juni 2011 auf seinem Flexikonto bestehende Zeit­guthaben von mehr als 75 Plusstunden, dessen „Fakto­rierung“ und Gutschrift der Kläger geltend macht, stammt ausschließlich aus der Erbringung von Betriebs­ratstätigkeit im Rahmen der Freistellung gemäß § 38 BetrVG, die am 17. Mai 2010 begann. (…) Da das Flexikon­to des Klägers am Ende des Bezugszeitraums Plusstunden auswies, steht fest, dass er die geschuldete individuelle Arbeitszeit von durchschnittlich 37,5 Stunden im Bezugs­zeitraum überschritten hat. Damit liegt diesen Plusstun­den Betriebsratstätigkeit zugrunde, die „außerhalb der Arbeitszeit“ erbracht wurde. Dies ist nicht deshalb anders zu beurteilen, weil die Anwesenheitszeiten des Klägers insgesamt innerhalb des Gleitzeitrahmens von 6:00 Uhr bis 20:00 Uhr lagen. Soweit diese Zeiten seine vertraglich geschuldete Arbeitszeit übersteigen, handelt es sich um Betriebsratstätigkeit „außerhalb der Arbeitszeit“ iSv. § 37 Abs. 3 BetrVG. Der Kläger selbst verlangt gerade die Anerkennung dieser Plusstunden als zu „faktorierende“ „Überarbeit“ und deren Gutschrift auf dem „Überstun­denkonto“ iSv. § 7 Abs. 3 RBV.

b) Der Kläger kann seinen Anspruch auf die begehrte Gutschrift auf dem Überstundenkonto nicht auf § 37 Abs. 3 BetrVG stützen. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Kläger nicht dargelegt hat, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind.

aa) Nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG hat ein Betriebsrats­mitglied zum Ausgleich für Betriebsratstätigkeit, die aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen ist, Anspruch auf entsprechende Arbeits­befreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts. Nach § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 BetrVG ist die Arbeitsbefreiung

vor Ablauf eines Monats zu gewähren; ist dies aus be­triebsbedingten Gründen nicht möglich, so ist nach § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 BetrVG die aufgewendete Zeit wie Mehrarbeit zu vergüten. Mitglieder des Betriebsrats er­halten danach weder eine Amtsvergütung noch ist die Betriebsratstätigkeit eine zu vergütende Arbeitsleistung. Vielmehr gilt das Lohnausfallprinzip. Dieses wird durch § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht durchbrochen. Der dort geregelte Freizeitausgleich für die außerhalb der Arbeits­zeit durchgeführte Betriebsratstätigkeit betrifft lediglich die Folgen einer aus betriebsbedingten Gründen notwen­digen Abweichung von dem Grundsatz, dass Betriebs­ratstätigkeit während der Arbeitszeit stattzufinden hat. Es handelt sich im Ergebnis um ein zeitlich verschobenes Arbeitsentgelt für eine sonst in der persönlichen Arbeits­zeit anfallende Betriebsratstätigkeit, die nur infolge eines dem Arbeitgeber zuzurechnenden Umstands in die Frei­zeit verlagert worden ist. Soweit § 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG ausnahmsweise eine Vergütung der aufgewendeten Zeit wie Mehrarbeit vorsieht, ist damit weder ein anderes gesetzliches Regelungskonzept noch die Aufgabe des Lohnausfallprinzips verbunden. Der in § 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG vorgesehene Vergütungsanspruch ist lediglich eine Kompensation dafür, dass der in § 37 Abs. 3 Satz 2 BetrVG vorgesehene, gerade nicht auf eine zusätzliche Vergütung gerichtete Freizeitausgleich aus Gründen, die in der Sphäre des Arbeitgebers liegen, zeitnah nicht mög­lich ist. Ein von dem Grundsatz des unentgeltlichen Eh­renamts abweichender gesetzlicher Regelungsplan, dass Freizeitopfer durch die Zahlung einer angemessenen Vergütung auszugleichen wären, liegt darin nicht.

bb) Das bedeutet im Streitfall, dass der Anspruch des Klägers auf Gutschrift des am Ende des Bezugszeitraums bestehenden Stundenguthabens von mehr als 75 Stun­den, der aus außerhalb der Arbeitszeit erbrachter Be­triebsratstätigkeit resultiert, neben der Erforderlichkeit der Betriebsratstätigkeit voraussetzt, dass diese aus be­triebsbedingten Gründen nicht in der zur Verfügung ste­henden individuellen Arbeitszeit erbracht werden konn­te. Soweit der Kläger zudem die „Faktorierung“ dieses Stundenguthabens mit dem in § 7 Abs. 3 RBV geregelten Faktor 1,25 begehrt, macht er die vergütungsmäßige Be­handlung der aufgewendeten Zeit „wie Mehrarbeit“ iSv. § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 BetrVG geltend. Bei der Bemes­sung der Höhe der zu vergütenden Mehrarbeit ist zwar gemäß § 78 Satz 2 BetrVG die Regelung des § 7 Abs. 3 RBV zu berücksichtigen. Allerdings kommt eine solche Ver­gütung der außerhalb der Arbeitszeit aufgewendeten Zeit für die Erledigung erforderlicher Betriebsratstätig­keit nur in Betracht, soweit die Gewährung eines ent­sprechenden Freizeitausgleichs aus betriebsbedingten Gründen unmöglich ist.

cc) Danach hat das Landesarbeitsgericht zu Recht ange­nommen, der Kläger habe nicht dargelegt, dass die Vor­aussetzungen des § 37 Abs. 3 BetrVG erfüllt sind. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend ausgeführt, der Klä­ger habe weder dargetan, dass die Plusstunden für er­

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forderliche Betriebsratstätigkeit aufgewandt wurden und aus betriebsbedingten Gründen angefallen sind, noch dass ein Abbau des Stundenguthabens bis zum Ende des Bezugszeitraums aus betriebsbedingten Grün­den nicht möglich gewesen ist. Der Kläger, der mit seiner Revision nur geltend macht, die Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 BetrVG müssten für den Erfolg seiner Klage nicht erfüllt sein, hat diese Würdigung des Landesarbeits­gerichts mit seiner Revision nicht angegriffen.

c) Die Beklagte verhält sich nicht treuwidrig iSv. § 242 BGB, indem sie die Gewährung der begehrten Gutschrift von der Darlegung der Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 BetrVG durch den Kläger abhängig macht.

aa) Eine Rechtsausübung kann gemäß § 242 BGB unzu­lässig sein, wenn sich eine Partei damit in Widerspruch zu ihrem eigenen vorausgegangenen Verhalten setzt und für die andere Partei ein schützenswerter Vertrauenstat­bestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige be­sondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen.

bb) Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger damit rechnen musste, Einzelheiten seiner Betriebsratstätigkeit und deren Er­forderlichkeit darlegen zu müssen. Der Kläger hat jeden­falls nicht behauptet, dass die Beklagte ihm in irgendei­ner Weise zu erkennen gegeben habe, auf Darlegungen dazu verzichten zu wollen, dass die Betriebsratstätigkei­ten aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Ar­beitszeit geleistet wurden und dass die Inanspruchnah­me von Freizeitausgleich aus betriebsbedingten Gründen nicht möglich war. Die Beklagte fordert nur die Darlegung der gesetzlichen Voraussetzungen für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch. Soweit der Kläger sich da­rauf berufen hat, dass die Beklagte sein Arbeitszeitkon­to vor seiner Freistellung im Bezugszeitraum vom 1. Juli 2008 bis zum 31. Dezember 2009 nach § 7 Abs. 3 RBV behandelt hat, folgt daraus nichts anderes. In diesem Zeitraum war der Kläger nicht freigestellt, weshalb den

erfassten Zeiten nicht ausschließlich Betriebsratstätig­keit zugrunde lag. Aufgrund der „Faktorierung“ der in diesem Zeitraum aufgelaufenen Plusstunden konnte der Kläger nicht davon ausgehen, dass die Beklagte auf die Darlegung der Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 BetrVG auch im Rahmen seiner Freistellung verzichten werde.

d) Die Nichtgewährung der begehrten Stundengutschrift verstößt nicht gegen das Benachteiligungsverbot des § 78 Satz 2 BetrVG.

aa) Nach § 78 Satz 2 BetrVG dürfen Mitglieder des Be­triebsrats wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder be­nachteiligt noch begünstigt werden. Diese Regelung er­gänzt § 37 Abs. 1 BetrVG, wonach die Mitglieder des Be­triebsrats ihr Amt unentgeltlich als Ehrenamt führen. Das Ehrenamtsprinzip wahrt die innere und äußere Unabhän­gigkeit der Betriebsratsmitglieder. Eine Benachteiligung iSv. § 78 Satz 2 BetrVG ist jede Schlechterstellung im Ver­gleich zu anderen Arbeitnehmern, die nicht auf sachlichen Gründen, sondern auf der Tätigkeit als Betriebsratsmit­glied beruht. Eine Benachteiligungsabsicht ist nicht er­forderlich. Es genügt die objektive Schlechterstellung gegenüber Nichtbetriebsratsmitgliedern.

bb) Die Beklagte hat den Kläger nicht unzulässig gegen­über Arbeitnehmern ohne Betriebsratsmandat benach­teiligt. Zwar hat sie dem Kläger als freigestelltem Be­triebsratsmitglied anders als diesen die begehrte „fak­torierte“ Gutschrift auf dem Überstundenkonto nicht gewährt. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch dadurch bedingt, dass dem über 75 Plusstunden hinausgehenden Stundenguthaben des Klägers keine vergütungspflichti­ge Arbeitsleistung, sondern die Erbringung ehrenamtli­cher Betriebsratstätigkeit außerhalb der Arbeitszeit zu­grunde lag. Diese Ungleichbehandlung war durch die zwingenden Vorgaben des § 37 Abs. 3 BetrVG geboten. Ungleichbehandlungen, die von der Rechtsordnung ge­deckt sind, untersagt § 78 Satz 2 BetrVG nicht.

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Betriebsratsschulung zum betrieblichen Eingliede­rungsmanagement/Erforderlichkeit nur eines Teils der Schulungsveranstaltung 1. Die Erforderlichkeit der Teilnahme an einer Schulungs­veranstaltung ist grundsätzlich einheitlich zu bewerten. Die Aufteilung einer Schulung in einen für die Tätigkeit eines Betriebsratsmitglieds erforderlichen und einen nicht erforderlichen Teil kommt nur dann in Betracht, wenn die unterschiedlichen Themen so klar voneinan­der abgegrenzt sind, dass ein zeitweiser Besuch der Schulungsveranstaltung möglich und sinnvoll ist. Ist

eine Aufteilung der Schulungsveranstaltung und ein zeitweiser Besuch praktisch nicht möglich, entscheidet über die Erforderlichkeit der Gesamtschulung, ob die erforderlichen Themen mit mehr als 50 % überwiegen.2. Wird eine Schulungsveranstaltung nur als Ganzes zur Buchung angeboten, kann die Erforderlichkeit der Schu­lungsteilnahme nur einheitlich für die gesamte Schu­lung beurteilt werden. In diesem Fall ist eine zeitweise

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Teilnahme praktisch nicht möglich, da die Schulungs­veranstaltung auch dann, wenn das Betriebsratsmit­glied sie lediglich zeitweise besucht, nur insgesamt gebucht werden kann.(Leitsätze aus den Gründen)BAG, Urteil v. 28.9.2016 – 7 AZR 699/14 –

Aus den Gründen

(…) A. Die vom Landesarbeitsgericht bislang getroffenen Tatsachenfeststellungen rechtfertigen nicht die Annah­me, dass der Kläger gegen die Beklagte nach § 611 BGB iVm. § 37 Abs. 2, Abs. 6 BetrVG einen Anspruch auf Ent­geltzahlung für die Zeit seiner Teilnahme an den Modu­len I und II der Schulungsveranstaltung „Professionelles Betriebliches Eingliederungsmanagement“ (…) hat.

I. Nach § 37 Abs. 6 Satz 1 iVm. Abs. 2 BetrVG sind Mit­glieder des Betriebsrats für die Teilnahme an Schulungs­ und Bildungsveranstaltungen von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu be­freien, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich sind. Die Freistellung eines Betriebsratsmitglieds ist von einer ordnungsge­mäßen Beschlussfassung des Betriebsrats über die Ent­sendung des Betriebsratsmitglieds zu der Schulungs­veranstaltung abhängig, da § 37 Abs. 6 BetrVG nicht als Anspruch der einzelnen Betriebsratsmitglieder ausge­staltet ist. Diese Vorschrift räumt dem Betriebsrat das Recht ein, über die Freistellung von Betriebsratsmitglie­dern zu beschließen, deren Schulung für die Tätigkeit im Betriebsrat erforderlich ist.

1. Nach § 37 Abs. 6 Satz 1 BetrVG ist die Vermittlung von Kenntnissen erforderlich, wenn sie unter Berücksichti­gung der konkreten Verhältnisse in Betrieb und Be­triebsrat notwendig sind, damit der Betriebsrat seine gegenwärtigen oder in naher Zukunft anstehenden Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen kann. (…)

2. Die Schulung des entsandten Betriebsratsmitglieds ist nicht notwendig, wenn die in der Schulungsveran­staltung vermittelten Kenntnisse im Betriebsrat bereits vorhanden sind. (…)

3. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit hat der Betriebs­rat die betriebliche Situation und die mit dem Besuch der Schulungsveranstaltung verbundenen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers zu berücksichtigen. (…) Der Betriebsrat ist allerdings nicht gehalten, anhand einer umfassenden Marktanalyse den günstigsten An­bieter zu ermitteln und ohne Rücksicht auf andere Er­wägungen auszuwählen. Er muss nicht die kostengüns­tigste Schulungsveranstaltung auswählen, wenn er eine andere Schulung für qualitativ besser hält. Der Beurtei­lungsspielraum des Betriebsrats bezieht sich auch auf den Inhalt der Schulungsveranstaltung. Nur wenn meh­rere gleichzeitig angebotene Veranstaltungen auch nach Ansicht des Betriebsrats im Rahmen des ihm zu­

stehenden Beurteilungsspielraums als qualitativ gleich­wertig anzusehen sind, kann eine Beschränkung der Kostentragungspflicht des Arbeitgebers auf die Kosten der preiswerteren in Betracht kommen. Bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten können auch die Dau­er der Veranstaltung im Hinblick auf die behandelten Themen, die örtliche Lage der Schulungsveranstaltung und die Anzahl der zu entsendenden Betriebsratsmit­glieder von Bedeutung sein. Bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme steht dem Betriebsrat ein Beurteilungsspielraum zu. Das macht jedoch die Darlegung, weshalb das zu der Schulung ent­sandte Betriebsratsmitglied die dort vermittelten Kenntnisse benötigt, damit das Gremium des Betriebs­rats seine gesetzlichen Aufgaben sach­ und fachgerecht wahrnehmen kann, nicht entbehrlich.

4. Bei dem Begriff der Erforderlichkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. (…)

II. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die angefochtene Entscheidung nicht stand. (…)

1. (…) 2. Diese Würdigung ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zu Recht angenom­men, dass das Seminar „Professionelles Betriebliches Eingliederungsmanagement“ eine Schulungsveranstal­tung iSv. § 37 Abs. 6 Satz 1 BetrVG ist und dass der Be­triebsrat annehmen durfte, dass der Kläger die in den Modulen I und II vermittelten Kenntnisse zur sach­ und fachgerechten Wahrnehmung seiner Aufgaben als Mit­glied des Integrationsteams benötigt. Es hat aber ver­kannt, dass die Erforderlichkeit der Schulungsveranstal­tung einheitlich zu bewerten ist, wenn der Veranstalter die Schulungsveranstaltung nur als einheitliches Ganzes zur Buchung anbietet.

a) Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon aus­gegangen, dass es sich bei dem Seminar „Professionel­les Betriebliches Eingliederungsmanagement“ um eine Schulungsveranstaltung iSv. § 37 Abs. 6 Satz 1 BetrVG handelt. Die Veranstaltung war auf die Vermittlung von Kenntnissen ausgerichtet. Dem Charakter als Schu­lungsveranstaltung steht die Möglichkeit zum Erwerb eines Zertifikats nicht entgegen. Das Landesarbeitsge­richt hat auch zutreffend erkannt, dass bei dieser Schu­lungsveranstaltung nicht lediglich für die Wahrneh­mung des Betriebsratsamts notwendige Grundkennt­nisse, sondern Spezialkenntnisse vermittelt wurden. (…)

b) Das Landesarbeitsgericht hat auch zutreffend er­kannt, dass der Kläger die in den Modulen I und II ver­mittelten Kenntnisse zur sach­ und fachgerechten Wahrnehmung seiner Aufgaben als Mitglied des Inte­grationsteams benötigt.

aa) Das Landesarbeitsgericht hat bei der Prüfung der Er­forderlichkeit der Schulungsteilnahme zu Recht auf die Mitgliedschaft des Klägers im Integrationsteam abgestellt.

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(1) Es kann dahinstehen, ob das Integrationsteam rechts­wirksam gebildet wurde und ihm wirksam Aufgaben zugewiesen wurden. Zwar ist die Übertragung von Auf­gaben auf ein Integrationsteam nicht ausgeschlossen. Nach § 28 Abs. 2 BetrVG können durch eine freiwillige Übereinkunft zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Aufgaben zur selbstständigen Entscheidung auf Mit­

glieder des Betriebsrats übertragen werden, die Mit­glieder eines von Arbeitgeber und Betriebsrat gebilde­ten Ausschusses sind. Es bestehen aber deshalb Beden­ken gegen die Wirksamkeit der BV BEM, weil die bishe­rigen Feststellungen weder die wirksame Errichtung des Gesamtbetriebsrats noch dessen Zuständigkeit zum Abschluss der BV BEM erkennen lassen. (…)

(2) Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung. Eine etwa­ige Unwirksamkeit der BV BEM stünde der Erforderlich­keit der Schulungsteilnahme nicht entgegen. Da die Integrationsteams tatsächlich gebildet, ihnen Aufgaben im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanage­ments übertragen wurden und der Kläger als Betriebs­ratsmitglied in das in seinem Beschäftigungsbetrieb gebildete Integrationsteam entsandt wurde, kann auch die tatsächliche Tätigkeit in dem Integrationsteam die Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme begründen, soweit der Kläger die vermittelten Kenntnisse benötigt, um die ihm obliegenden Aufgaben in dem Integrations­team sach­ und fachgerecht wahrzunehmen.

bb) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Be­triebsrat habe annehmen dürfen, dass der Kläger die in den Modulen I und II vermittelten Kenntnisse benötigt, um seine Aufgaben als Mitglied des Integrationsteams und als das für das betriebliche Eingliederungsmanage­ment zuständige Betriebsratsmitglied sach­ und fach­gerecht zu erfüllen, ist revisionsrechtlich nicht zu bean­standen.

(1) Das Integrationsteam hat entsprechend § 4 BV BEM die Aufgabe, die Beschäftigten über die Durchführung und die Zielsetzungen des betrieblichen Eingliederungs­managements iSv. § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zu informie­ren, im Falle des Einverständnisses des Beschäftigten den Klärungsprozess durchzuführen und anhand der gewonnenen Erkenntnisse zu entscheiden, ob und wel­che betrieblichen Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Die sach­ und fachgerechte Wahrnehmung die­ser Aufgaben setzt Kenntnisse der gesetzlichen Grund­lagen des betrieblichen Eingliederungsmanagements voraus. Ferner sind Kenntnisse über den Datenschutz bei Gesundheitsdaten und den Dokumentenschutz er­forderlich, um im Rahmen der Information der Beschäf­tigten über die Durchführung und die Ziele des betrieb­

lichen Eingliederungsmanagements entsprechende Fragen der Beschäftigten beantworten und die Einhal­tung der Datenschutzvorschriften gewährleisten zu können. Ein Mitglied des Integrationsteams benötigt zudem besondere Kommunikationsfähigkeiten, um Ängste und Vorbehalte der Beschäftigten gegenüber der Durchführung des betrieblichen Eingliederungsma­

nagements, insbesondere der Offenba­rung ihrer gesundheitlichen Situation, abbauen und ein Vertrauensverhältnis herstellen zu können. Darüber hinaus muss der Kläger als das mit dem betrieb­lichen Eingliederungsmanagement be­

fasste Mitglied des Betriebsrats über Kenntnisse der gesetzlichen Grundlagen des betrieblichen Eingliede­rungsmanagements und des Datenschutzes verfügen, um der sich aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ergebenden Überwachungsaufgabe nachkommen zu können. Au­ßerdem sind Kenntnisse über die Mitbestimmungsrech­te des Betriebsrats bei der Ausgestaltung des in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX vorgesehenen Klärungsprozesses, in Bezug auf die Nutzung und Verarbeitung von Ge­sundheitsdaten und hinsichtlich der Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes erforderlich, um ggf. ein Initiativ­recht ausüben zu können.

(2) Die Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme setzt nicht voraus, dass die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements im Zeitpunkt des Entsen­debeschlusses des Betriebsrats aktuell bevorstand. Der erforderliche konkrete betriebsbezogene Anlass ist nicht im Sinne eines akuten Ereignisses, sondern im Sinne eines gegenwärtigen Bedürfnisses zu verstehen. Ein solches gegenwärtiges Bedürfnis folgt aus der Mitglied­schaft des Klägers in dem Integrationsteam. (…)

cc) Der Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme stehen Vorkenntnisse des Klägers nicht entgegen. Das Landes­arbeitsgericht hat festgestellt, dass die in den zuvor besuchten Schulungsveranstaltungen behandelten The­men entweder keinen Bezug zum betrieblichen Einglie­derungsmanagement aufwiesen oder sich allenfalls auf einen geringfügigen Teilaspekt des Moduls II bezogen. (…)

c) Das Landesarbeitsgericht hat jedoch verkannt, dass die Erforderlichkeit einer Schulungsveranstaltung ein­heitlich zu bewerten ist und der nur zeitweise Besuch einer Schulungsveranstaltung nicht in Betracht gezogen werden kann, wenn der Veranstalter die Schulung nur als Ganzes zur Buchung anbietet.

aa) Die Erforderlichkeit der Teilnahme an einer Schu­lungsveranstaltung ist grundsätzlich einheitlich zu be­werten. Die Aufteilung einer Schulung in einen für die Tätigkeit eines Betriebsratsmitglieds erforderlichen und einen nicht erforderlichen Teil kommt nur dann in Be­tracht, wenn die unterschiedlichen Themen so klar von­einander abgegrenzt sind, dass ein zeitweiser Besuch

Bei Tätigkeit eines Betriebsrats-mitglieds in einem Integrationsteam ist eine Schulung auch

ohne konkreten aktuellen Anlass erforderlich.

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der Schulungsveranstaltung möglich und sinnvoll ist. Ist eine Aufteilung der Schulungsveranstaltung und ein zeitweiser Besuch praktisch nicht möglich, entscheidet über die Erforderlichkeit der Gesamtschulung, ob die erforderlichen Themen mit mehr als 50 % überwiegen.

bb) Wird eine Schulungsveranstaltung nur als Ganzes zur Buchung angeboten, kann die Erforderlichkeit der Schulungsteilnahme nur einheitlich für die gesamte Schulung beurteilt werden. In diesem Fall ist eine zeit­weise Teilnahme praktisch nicht möglich, da die Schu­lungsveranstaltung auch dann, wenn das Betriebsrats­mitglied sie lediglich zeitweise besucht, nur insgesamt gebucht werden kann. Dies folgt aus § 37 Abs. 6 BetrVG. Diese Vorschrift räumt dem Betriebsrat das Recht ein, über die Teil­nahme von Betriebsratsmitgliedern an Schulungen zu beschließen, die für die Tätigkeit im Betriebsrat erforderlich sind. Wird die Schulung nur als Ganzes ange­boten, kann der Betriebsrat nur einheitlich über die Er­forderlichkeit der Schulungsteilnahme unter Berück­sichtigung der anfallenden Kosten befinden. Dabei ist die Erforderlichkeit in Bezug auf die Entgeltzahlungs­pflicht nach § 37 Abs. 2, Abs. 6 BetrVG und die Kosten­tragungspflicht nach § 40 Abs. 1 BetrVG einheitlich zu bewerten. Der Betriebsrat hat entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht die Möglichkeit, eines sei­ner Mitglieder unter der Prämisse zu einer Schulung zu entsenden, dass dieses für einen Teil der Schulung Ur­laub nimmt und einen Teil der Schulungskosten selbst trägt. Dies ist im Gesetz nicht vorgesehen. Gegen eine Aufteilung einer nur als Ganzes buchbaren Schulungs­veranstaltung sprechen zudem Gründe der Praktikabi­lität. Eine solche Aufteilung erschwerte die Beurteilung der Erforderlichkeit von Schulungsveranstaltungen. Arbeitgeber und Betriebsräte müssten auch bei Schu­lungsveranstaltungen, die nur als Ganzes angeboten werden, prüfen, ob die unterschiedlichen Themen zeit­lich so abgegrenzt sind, dass ein zeitweiser Besuch sinn­voll ist. (…)

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Anmerkung

1. Nach § 37 Abs. 6 BetrVG ist das Betriebsratsmitglied für die Teilnahme an Schulungs­ und Bildungsveranstal­tungen, auf denen Kenntnisse vermittelt werden, die für die Betriebsarbeit erforderlich sind, unter Fortzah­lung des Entgelts freizustellen. Es handelt sich um einen Anspruch des Gremiums, das somit über die Entsendung eines oder mehrerer seiner Mitglieder entscheidet. Für jedes Mitglied des Betriebsrats sind Grundkenntnisse im Betriebsverfassungsrecht, im allgemeinen Arbeits­recht und zum Thema Arbeitssicherheit/Gesundheits­schutz erforderlich. Die Erforderlichkeit, Schulungen zu anderen Inhalten zu besuchen, bedarf der Begründung

eines konkreten, sich aus den gegenwärtigen Betriebs­ratsaufgaben ergebenden Bedarfs. Dabei reicht es im Rahmen einer sinnvollen Aufteilung innerhalb des Be­triebsratsgremiums in der Regel aus, wenn sich zu spe­ziellen Themen nur einzelne Mitglieder schulen lassen, um anschließend das Gesamtgremium zu informieren und in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu treffen.

2. In der vorliegenden Entscheidung ging es um die Teil­nahme des Betriebsratsvorsitzenden, der als Vertreter des Gremiums am betrieblich geregelten BEM­Verfah­ren (in einem Integrationsteam) mitwirken sollte. Zur Vorbereitung nahm er an einer modular aufgebauten

Fortbildung teil, die aus vier dreitägigen Veranstaltun­gen und einer zweitägigen Abschlussveranstaltung be­stand. Nachdem der Arbeitgeber die Freistellung ver­weigerte und die Vergütung für die Zeit der Teilnahme an den ersten beiden Veranstaltungen (Modul I:„Recht“ und Modul 2: „Kommunikation“) einbehielt, klagte der Betroffene auf Auszahlung der Vergütungsdifferenz.

Das Bundesarbeitsgericht hielt die im Rahmen der bei­den ersten Module vermittelten Kenntnisse für erfor­derlich. Dies allein reiche jedoch nicht aus, sondern die Erforderlichkeit der Teilnahme könne für die gesamte Veranstaltung grundsätzlich nur einheitlich bewertet werden. Etwas anderes möchte das Bundesarbeitsge­richt nur annehmen, wenn ein teilweiser Besuch prak­tisch möglich und sinnvoll ist und zudem die Veranstal­tung nicht nur als Ganzes buchbar ist.

3. Der erste Aspekt ist ohne weiteres nachvollziehbar. Wenn der teilweise Besuch einer Veranstaltung sinnlos und praktisch nicht möglich ist, dann muss die gesam­te Veranstaltung besucht werden und die Erforderlich­keit auch insgesamt beurteilt werden. Dies dürfte die Regel sein, wenn die Schulungsinhalte an demselben Tag oder an aufeinanderfolgenden Tagen von demsel­ben Dozenten vermittelt und im Programm nicht sehr klar zeitlich abgegrenzt werden. Dann hängt der Verlauf der Veranstaltung von unterschiedlichen Faktoren, etwa dem schwer vorhersehbaren Diskussionsbedarf und den Fragen der Teilnehmer ab. Das eine Teilthema geht dann fließend in das nächste Teilthema über. Insoweit ist ein zielgerichtetes Erscheinen nur zu einzelnen Teilen der Veranstaltung nicht möglich und daher eine Gesamt­beurteilung vorzunehmen. Der Maßstab soll dabei ein zeitlicher und die Erforderlichkeit zu bejahen sein, wenn die erforderlichen Themen mit mehr als 50 % überwie­gen. Dort, wo einzelne Teile einer Veranstaltung zu un­terschiedlichen Terminen oder mit unterschiedlichen Dozenten durchgeführt werden, ist eine Teilbarkeit in

Die Tätigkeit im Integrationsteam setzt Kenntnisse der gesetzlichen Grund lagen des BEM einschl. der Mitbe-

stimmungsrechte, des Datenschutzes bei Gesundheitsdaten sowie besondere Kommunikationsfähigkeiten voraus.

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der Regel gegeben. Da das Bundesarbeitsgericht auch die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die in den ersten beiden Modulen vermittelten Kenntnisse seien erforderlich, nicht beanstandete, hätte die Vergütung fortgezahlt werden müssen.

Der zweite vom Bundesarbeitsgericht herangezogene Aspekt, nämlich die getrennte Buchbarkeit der Module, ist dagegen für den Freistellungsanspruch nicht erheb­

lich. Dies ergibt sich schon daraus, dass selbst dann, wenn die Veranstaltungsreihe nur als Ganzes buchbar ist, eine weitere Freistellung nicht zwingend in An­spruch genommen werden muss. Der Betroffene kann vielmehr auf eine weitere Teilnahme verzichten oder insoweit Freizeitausgleichsansprüche oder Urlaubstage einsetzen.

Die Frage, ob die Veranstaltung(­sreihe) nur als Ganzes buchbar ist, ist dagegen selbstverständlich für die (hier nicht streitgegenständlich gewesene) Kostenüber­nahmeplicht des Arbeitgebers nach § 40 BetrVG rele­vant. Diese hängt entscheidend von der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Kosten (in Bezug auf den ver­folgten Zweck) ab. Dabei gilt ein Beurteilungsvorrecht des Betriebsrats, der sich nicht auf die preiswerteste oder ortsnächste Schulung verweisen lassen muss, son­

dern – unter angemessener Rücksichtnahme auf die wirt­schaftlichen Interessen des Be­triebes – das aus seiner Sicht geeignetere Angebot auswäh­len darf. Allerdings liegt es nahe, dass bei der kompletten Buchung einer Schulung(­srei­he) so hohe Kosten entstehen, dass sie im Verhältnis zu dem Anteil vermittelter erforder­licher Kenntnisse unverhält­nismäßig sind. Zwingend ist dies jedoch nicht. Im Übrigen spricht auch nichts dagegen, in

diesen Fällen die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers (soweit rechnerisch möglich) auf den erforderlichen Teil zu beschränken.

Dr. Thomas Wurm, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bonn

Konsequenzen für die Praxis

1. Bei der Auswahl der Schulungsveranstaltung hat der Betriebsrat die hierdurch entstehende Kostenbelastung für den Arbeitgeber angemes­sen zu berücksichtigen. Er muss aber nicht die kostengünstigste Schu­lung auswählen.2. Werden Schulungsinhalte an einem Tag oder an aufeinanderfolgen­den Tagen von demselben Dozenten vermittelt und im Programm nicht eindeutig zeitlich voneinander abgegrenzt, spricht dies für ein Ineinan­derfließen der Themen, so dass die Veranstaltung nur einheitlich bewertet werden kann.

Mitbestimmung bei Versetzung/Unzutreffende Unter­richtung des Betriebsrats 1. Die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs im Rah­men einer Versetzung nach § 99 Abs. 1 Satz 1, § 95 Abs. 3 Satz 1 BetrVG liegt vor, wenn sich das gesamte Bild der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit des Arbeitnehmers so verändert hat, dass die neue Tätigkeit vom Stand­punkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen ver­trauten Beobachters nunmehr als eine „andere“ anzu­sehen ist. 2. Eine unzutreffende Unterrichtung des Betriebsrats im Zustimmungsverfahren nach § 99 BetrVG über die vorgesehene Beschäftigung eines Stellenbewerbers hat nicht zur Folge, dass mit der Einstellung zugleich eine Versetzung einhergeht, weil die zugewiesene Tätigkeit von der mitgeteilten abweicht. Eine fehlerhafte Unter­richtung kann allenfalls dazu führen, dass die erforder­liche Zustimmung des Betriebsrats zur Einstellung fehlt.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Beschluss v. 8.11.2016 – 1 ABR 56/14 –

Zum Sachverhalt

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung einer Ver­setzung.

Die beteiligte Arbeitgeberin ist Mitglied im Deutschen Bühnenverein. Sie betreibt ein Theater mit insgesamt etwa 150 Beschäftigten. Dort ist der antragstellende Betriebsrat errichtet. Ihn ersuchte sie mit Schreiben vom 29. Februar 2012 um Zustimmung zur Einstellung und Eingruppierung des Bewerbers C als „Veranstaltungs­techniker / Schwerpunkt Beleuchtung“ mit überwie­gend künstlerischen Aufgaben. Dieser ist nach der ar­beitsvertraglichen Vereinbarung als „Bühnentechniker … überwiegend künstlerisch tätig“. Der Betriebsrat ver­langte mit Schreiben vom 7. März 2012 – im Ergebnis ohne Erfolg – weitere Informationen zur auszuübenden Tätigkeit und behielt sich die Zustimmungsverweige­rung zur Einstellung vor. Er widersprach der Eingrup­

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pierung, weil eine überwiegend künstlerische Tätigkeit nicht vorliege. Daraufhin wurde Herr C zum 26. März 2012 eingestellt.

Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, bei der Zuweisung der tatsächlichen Tätigkeit an den Arbeit­nehmer C handele es sich um eine Versetzung, weil er entgegen der arbeitsvertraglichen Vereinbarung nicht überwiegend künstlerisch eingesetzt werde.

Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt, der Arbeitgeberin aufzugeben, die Versetzung des Arbeitnehmers C aus dem Arbeitsbereich, in dem er nach dem geschlossenen Arbeitsvertrag überwiegend künstlerisch tätig werden sollte, in den Arbeitsbereich, in dem er nicht überwie­gend künstlerisch tätig ist, aufzuheben.

Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag abzuwei­sen. Eine Versetzung liege nicht vor. Die Tätigkeit des Arbeitnehmers habe sich zu keinem Zeitpunkt geändert.

Das Arbeitsgericht hat den zunächst gestellten Fest­stellungsantrag, der Arbeitnehmer sei nicht überwie­gend künstlerisch tätig, als unzulässig abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats, mit der er nunmehr die Aufhebung der Versetzung des Arbeitnehmers verlangt, zurückgewie­sen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat sein Be­gehren weiter.

Aus den Gründen

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Beschwerde des Betriebs­rats zurückgewiesen. Der Antrag ist unbegründet.

I. Der Antrag ist nach seinem Wortlaut auf die Aufhe­bung einer Versetzung eines namentlich benannten Arbeitnehmers gerichtet. Der Betriebsrat wendet sich nicht gegen dessen zwischenzeitlich erfolgte Einstel­lung, sondern gegen dessen „Versetzung“, weil ihm ein anderer Arbeitsbereich als der vertraglich vereinbarte zugewiesen worden sei.

II. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig. (…)

III. Der Antrag ist unbegründet. Eine Versetzung des Ar­beitnehmers C iSd. § 99 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 95 Abs. 3 BetrVG liegt nicht vor.

1. Nach § 101 Satz 1 BetrVG kann der Betriebsrat, wenn der Arbeitgeber eine Versetzung iSd. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ohne dessen vorherige Zustimmung durchführt, deren Aufhebung verlangen.

2. Entgegen der Auffassung des Betriebsrats fehlt es an einer Versetzung des Arbeitnehmers C.

a) Versetzung iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1, § 95 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs, die die Dauer von voraussichtlich einem Monat über­schreitet oder die mit einer erheblichen Änderung der Umstände verbunden ist, unter denen die Arbeit zu leis­ten ist. „Arbeitsbereich“ sind die Aufgabe und Verant­wortung des Arbeitnehmers sowie die Art seiner Tätig­keit und ihre Einordnung in den Arbeitsablauf des Be­triebes. Der Begriff ist räumlich und funktional zu ver­stehen. Er umfasst neben der Arbeitsleistung auch die Art der Tätigkeit und den gegebenen Platz in der be­trieblichen Organisation. Um die Zuweisung eines an­deren Arbeitsbereichs handelt es sich, wenn sich das gesamte Bild der Tätigkeit des Arbeitnehmers so ver­ändert hat, dass die neue Tätigkeit vom Standpunkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Beobachters nunmehr als eine „andere“ anzusehen ist.

b) Nach den nicht mit Rügen angegriffenen und den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsge­richts ist der Arbeitnehmer „von Beginn seiner Beschäf­tigung … an bis zuletzt als Veranstaltungstechniker“ eingesetzt worden, „ohne dass sich an seinem Arbeits­bereich im tatsächlichen etwas geändert hat“. Danach wurde dem Arbeitnehmer C seit Aufnahme der Tätigkeit kein anderer Arbeitsbereich zugewiesen.

c) Der Einwand des Betriebsrats, er habe aufgrund des Unterrichtungsschreibens der Arbeitgeberin im Rahmen des Zustimmungsverfahrens davon auszugehen kön­nen, der Arbeitnehmer sei zu Beginn seiner Tätigkeit tatsächlich überwiegend künstlerisch beschäftigt wor­den, ist unerheblich.

Ungeachtet des Umstands, dass der Betriebsrat in sei­nem Schreiben vom 7. März 2012 selbst geltend gemacht hat, er könne bei einer Fachkraft für Veranstaltungs­technik eine überwiegend künstlerische Tätigkeit nicht erkennen, würde eine etwaige unzutreffende Unter­richtung über die vorgesehene Beschäftigung nicht – wie die Rechtsbeschwerde meint – zu einer mit der Ein­stellung „eine juristische Sekunde“ danach einherge­henden Versetzung führen, weil die „Erstzuweisung“ der Tätigkeit von der im Zustimmungsverfahren mitge­teilten abweicht. Für eine Versetzung iSd. § 99 Abs. 1 BetrVG ist die Zuweisung eines anderen als des zuvor tatsächlich bestehenden Arbeitsbereichs und nicht eine fehlerhafte Information des Betriebsrats über die be­absichtigte Beschäftigung des Arbeitnehmers maßge­bend. Eine solche könnte allenfalls dazu führen, dass eine vom Betriebsrat beschlossene Zustimmung zur Einstellung nicht vorliegt, weil der Arbeitgeber eine an­dere als die mitgeteilte personelle Maßnahme durch­geführt hat. Gegen eine solche Einstellung kann sich der Betriebsrat nach Maßgabe des § 101 BetrVG wenden und deren Aufhebung verlangen. Das ist aber nicht Ziel seines Antragsbegehrens.

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Begriff des wissenschaftlichen Personals/Lehrkraft für besondere Aufgaben Zum wissenschaftlichen Personal nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG gehören Arbeitnehmer, die wissenschaft­liche Dienstleistungen erbringen. Die wissenschaftliche Lehrtätigkeit ist von einer unterrichtenden Lehrtätigkeit ohne Wissenschaftsbezug abzugrenzen. Eine Lehrtätig­keit, die sich nach dem vereinbarten Vertragsinhalt auf eine rein repetierende Wiedergabe vorgegebener In­halte beschränkt, ist keine wissenschaftliche Dienst­leistung. Es muss von dem Lehrenden nach dem Ver­tragsinhalt erwartet werden, dass er eigene Reflexionen in seine Lehrtätigkeit einbringt. (Leitsätze der Schriftleitung)BAG, Urteil v. 20.4.2016 – 7 AZR 614/14 –

Aus den Gründen

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverwei­sung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden. Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilen, ob das Arbeitsverhältnis aufgrund der vereinbarten Befristung am 3. Mai 2012 geendet hat. Die Wirksamkeit der auf § 2 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG gestützten Befristung hängt davon ab, ob die Klägerin zum wissenschaftlichen Personal nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG gehört. Die dazu bislang ge­troffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts tra­gen diese Annahme nicht.

1. Die Befristung zum 3. Mai 2012 gilt nicht nach § 17 Satz 2 TzBfG iVm. § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam. …

2. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenom­men, dass die Befristung dem Zitiergebot des § 2 Abs. 4 Satz 1 WissZeitVG genügt. Der betriebliche Geltungs­

bereich für die Anwendung des WissZeitVG ist eröffnet. Die nach § 2 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG zulässige Befris­tungshöchstdauer ist gewahrt. (…)

3. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin unterfalle dem persönlichen Geltungsbereich des WissZeitVG, ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Lan­desarbeitsgericht hat ohne hinreichende tatsächliche Feststellungen angenommen, die der Klägerin vertrag­lich übertragenen Tätigkeiten seien wissenschaftlich geprägt und sie zähle deshalb zum wissenschaftlichen Personal iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG.

a) Der Begriff des „wissenschaftlichen und künstleri­schen Personals“ ist durch § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG eigenständig und abschließend bestimmt. Er ist inhalt­lich­aufgabenbezogen zu verstehen. Anknüpfungs­punkt ist die Art der zu erbringenden Dienstleistung. Zum „wissenschaftlichen Personal“ nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG gehört derjenige Arbeitnehmer, der wis­senschaftliche Dienstleistungen erbringt. Es kommt nicht auf dessen formelle Bezeichnung an, sondern auf den wissenschaftlichen Zuschnitt der von ihm auszu­führenden Tätigkeit. Das Adjektiv „wissenschaftlich“ bedeutet, „die Wissenschaft betreffend“. Wissenschaft­liche Tätigkeit ist alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter, planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Sie ist nach Aufgabenstellung und anzuwendender Arbeitsmethode darauf angelegt, neue Erkenntnisse zu gewinnen und zu verarbeiten, um den Erkenntnisstand der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin zu sichern oder zu erweitern.

b) Zur wissenschaftlichen Dienstleistung kann auch die Vermittlung von Fachwissen und praktischen Fertigkei­ten an Studierende und deren Unterweisung in der An­wendung wissenschaftlicher Methoden gehören. Die wissenschaftliche Lehrtätigkeit ist dabei von einer un­terrichtenden Lehrtätigkeit ohne Wissenschaftsbezug abzugrenzen. Bei Mischtätigkeiten ist es erforderlich, dass die wissenschaftlichen Dienstleistungen zeitlich überwiegen oder zumindest das Arbeitsverhältnis prä­gen. Überwiegend mit der bloßen Vermittlung von Sprachkenntnissen betraute Fremdsprachenlektoren gehören deshalb in der Regel nicht zum wissenschaft­lichen Personal nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG. Die Wissenschaftlichkeit der Lehre setzt voraus, dass dem Lehrenden die Möglichkeit zur eigenständigen For­schung und Reflexion verbleibt. Das bedeutet allerdings nicht, dass wissenschaftliche Lehre iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1

WissZeitVG das Hervorbringen eigener Forschungsergebnisse und deren Vermitt­lung an die Studierenden verlangt. Für eine wissenschaftliche Lehre ist es nicht erforderlich, dass sich der Lehrende um eigene, neue wissenschaftliche Erkennt­nisse bemüht. Es kann vielmehr ausrei­

chen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Dritter ver­mittelt werden. Unter Berücksichtigung des Zwecks der durch § 2 Abs. 1 WissZeitVG eröffneten besonderen Be­fristungsmöglichkeiten im Hochschulbereich ist jedoch nicht jede Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse als wissenschaftliche Dienstleistung anzusehen. Die Befristungsmöglichkeit in § 2 Abs. 1 WissZeitVG dient der Wahrung der durch Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit im Interesse der Nachwuchs­ und Qualifikationsförderung und zur Sicherung der Innova­tion in Forschung und Lehre (BT­Drs. 15/4132 S. 17). Dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG unterfällt auch eine

Es ist zu differenzieren zwischen wissenschaftlicher Lehrtätigkeit und un terrichtender

Lehrtätigkeit ohne Wissenschaftsbezug.

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Lehre, die nicht auf eigenen, neuen Forschungserkennt­nissen basiert, sondern allein die ständige Reflexion fremder wissenschaftlicher Ergebnisse verlangt. Ent­scheidend ist, dass der Lehrende Forschungs­ und Er­kenntnisentwicklungen auf seinem jeweiligen Wissen­schaftsgebiet permanent verfolgen, reflektieren und kritisch hinterfragen muss, um diese für seine Lehre didaktisch und methodisch zu verarbeiten. Würde man wissenschaftliche Lehre nur dann annehmen, wenn sie sich als Resultat eigener Forschung darstellt, wäre auch ein Großteil der Lehre an Universitäten nicht als wis­senschaftlich zu qualifizieren, was dem Grundrechts­schutz für die Freiheit der Lehre nicht gerecht würde. Unter Berücksichtigung dessen ist eine Lehrtätigkeit, die sich nach dem vereinbarten Vertragsinhalt auf eine rein repetierende Wiedergabe vorgegebe­ner Inhalte beschränkt, nicht als wissen­schaftliche Lehre anzusehen, während eine Lehrtätigkeit auch dann eine wissen­schaftliche Dienstleistung ist, wenn zwar keine eigenen Forschungsergebnisse ge­lehrt, sondern Erkenntnisse Dritter ver­mittelt werden, von dem Lehrenden aber nach dem Vertragsinhalt erwartet wird, dass er diese Erkenntnis­se kritisch hinterfragt, sich damit auseinandersetzt und dass er diese eigenen Reflexionen in seine Lehrtätigkeit einbringt. Dies kann von dem Lehrenden allerdings nur erwartet werden, wenn ihm während seiner Arbeitszeit die Gelegenheit und insbesondere die erforderliche Zeit zu eigener Reflexion verbleibt. Die Möglichkeit der Nut­zung wissenschaftlicher Einrichtungen außerhalb der Dienstzeit genügt nicht.

c) Für die Beurteilung, ob die Tätigkeit eines Mitarbeiters insgesamt wissenschaftliches Gepräge hat, kommt es auf die Umstände bei Vertragsschluss an. … Die Partei­en haben es nicht selbst in der Hand, durch eine Modi­fizierung der vertraglichen Aufgaben die Wissenschaft­lichkeit nachträglich herbeizuführen oder zu beseitigen. (…)

d) Das Landesarbeitsgericht ist danach zwar zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Tätigkeit der Klägerin nach der „Beschreibung der Arbeitsvorgänge“ richtet. Jedoch beruht die Annahme, die von der Klägerin zu erbringenden Aufgaben für den Fremdsprachenunter­richt Serbisch/Kroatisch seien wissenschaftlich geprägt gewesen, nicht auf hinreichenden Tatsachenfeststel­lungen. Die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil lassen nicht ausreichend erkennen, inwieweit die nach der „Beschreibung der Arbeitsvorgänge“ übertragene Lehrtätigkeit der Klägerin eigenständige Forschungen oder Reflexionen zur Sicherung oder Erweiterung ihres Kenntnisstandes verlangte.

Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts er­gibt sich dies nicht daraus, dass der Klägerin die Ertei­lung von „Unterricht in kroatischer/serbischer (Fach­)Sprache sowie Literatur­ und Landeskunde mit Vor­ und

Nachbereitung“ übertragen wurde. Dies könnte viel­mehr eher dafür sprechen, dass der zu erteilende Spra­chunterricht durch eine rein repetierende Wiedergabe vorgegebener Inhalte geprägt war und damit nicht als wissenschaftlich anzusehen ist.

Ein wissenschaftlicher Zuschnitt der geschuldeten Tä­tigkeit ergibt sich auch nicht ohne Weiteres aus den zur Akte gereichten Modulbeschreibungen, auf die das Lan­desarbeitsgericht lediglich pauschal Bezug genommen hat. Danach stehen die sprachwissenschaftlichen und sprachunterrichtenden Aufgaben wie „Sprachwissen­schaft und kroatisch/serbische Sprache“, „Literaturwis­senschaft und kroatisch/serbische Sprache“ sowie „Kulturwissenschaft und kroatisch/serbische Sprache“

nebeneinander, ohne dass vom Landesarbeitsgericht festgestellt wäre, ob und inwieweit die Klägerin sprach­wissenschaftliche Entwicklungen zu verfolgen und bei ihrer Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen hatte. (…)

Soweit das Landesarbeitsgericht bei seiner Würdigung „ergänzend herangezogen“ hat, dass die von der Klä­gerin ebenfalls angebotenen Lehrveranstaltungen Phonetik, Phonetik II, Lektüre, Lektüre II, Fachsprache Kroatisch und Serbisch II, Fachsprache Kroatisch und Serbisch IV, Kroatische und Serbische Landeskunde, Kommunikation, Kommunikation II, Einführung in die Fachsprache, Übersetzung Deutsch/Bosnisch/Kroa­tisch/Serbisch, Südslavische Landeskunde, Überset­zung II „allein nach ihrer Bezeichnung“ zum Teil Inhal­te der Modulbeschreibungen Slavistik für die Bache­lor­Studiengänge mitabdeckten, ergibt sich daraus nicht, weshalb dies wissenschaftliche Dienstleistungen sein sollen. Auch die Annahme, die Aufgabe der Klä­gerin im Rahmen ihrer Lehrveranstaltungen habe in der Anleitung der Studierenden zur wissenschaftlichen Tätigkeit bestanden, ist durch keine konkrete Feststel­lung belegt. Allein der vom Landesarbeitsgericht zu­grunde gelegte Erfahrungssatz, dass die Anleitung von Studierenden zur wissenschaftlichen Tätigkeit ohne eigene wissenschaftliche Tätigkeit der Klägerin schlechterdings nicht denkbar ist, macht die gebote­nen Feststellungen nicht entbehrlich. Auf welchen Feststellungen die Annahme des Landesarbeitsgerichts beruht, es sei allein Sache der Klägerin gewesen, ihre Lehrmaterialien kontinuierlich zu aktualisieren und diese nach kritischer Überprüfung entsprechend der wissenschaftlichen Zielsetzung einzusetzen, erschließt sich aus der Begründung der Entscheidung ebenfalls nicht. Dies ergibt sich nicht ohne Weiteres daraus, dass die Klägerin nach § 3 Abs. 1 Nr. 8 LVVO während der

Ob die Tätigkeit eines Mitarbeiters insgesamt wissenschaftliches Gepräge hat, beurteilt sich ausschließlich

nach den Umständen bei Vertragsschluss.

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Vorlesungszeit 14 Lehrveranstaltungsstunden wö­chentlich zu leisten hatte, die gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 LVVO jeweils mindestens 45 Minuten umfassten, und sie die Inhalte der von ihr modular vorgegebenen Lehr­veranstaltungen frei bestimmen konnte. Daraus lässt sich nicht entnehmen, worin die prägende wissen­schaftliche Zielsetzung des von der Klägerin zu ertei­lenden Sprachunterrichts bestehen soll.

3. (…) 5. (…) Die Klägerin gehörte nicht deshalb zum wis­senschaftlichen Personal iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG, weil sie nach der „Beschreibung der Arbeitsvorgänge“ mit 25 vH ihrer Arbeitszeit neben ihren Lehrverpflich­tungen Gelegenheit zur persönlichen Weiterqualifizie­rung durch eine eigene wissenschaftliche Tätigkeit hat­te. Bereits aufgrund des zeitlichen Umfangs wird das Arbeitsverhältnis dadurch nicht insgesamt geprägt. (…)

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Anmerkung

1. Bedeutung befristeter Arbeitsverhältnisse in Deutsch­land

Mit dem vorliegenden Urteil liefert das Bundesarbeits­gericht ein weiteres anschauliches Urteil, welche Gren­zen die Befristungspraxis an Universitäten nach dem Wissenschaftszeitvertragsge­setz (WissZeitVG) hat. Der Ge­setzgeber hat im Jahr 2007 für die besonderen Anforderun­gen in der Wissenschaft für Hochschulen die Möglichkeit geschaffen, wissenschaftli­ches und künstlerisches Per­sonal, neben dem Teilzeit­ und Befristungsgesetz, auch nach dem Wissenschaftszeit­vertragsgesetz befristet zu be­schäftigen. Befristungen wer­den in der Phase der Qualifizierung des wissenschaftli­chen Nachwuchses als sinnvoll und notwendig erachtet, da nur so die Chancen des wissenschaftlichen Nach­wuchses jeder Generation gewahrt werden (so genann­tes Rotationsprinzip).

2. Inhalt des UrteilsDas Bundesarbeitsgericht bestätigt seine Rechtsprechung zum persönlichen Geltungsbereich des WissZeitVG bei Lehrkräften für besondere Aufgaben. Im Unterschied zu anderen universitären Beschäftigungsformen üben Lehr­kräfte für besondere Aufgaben weit überwiegend lehren­de Tätigkeiten aus. Das Bundesarbeitsgericht hält die Einschätzung der Vorinstanz, ob es sich bei der vorliegen­den Tätigkeit um eine wissenschaftliche Tätigkeit nach WissZeitVG handelt, für nicht ausreichend festgestellt. Grundsätzlich gehört derjenige Arbeitnehmer zum wis­senschaftlichen Personal nach § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeit­

VG, der wissenschaftliche Dienstleistungen erbringt. Eine wissenschaftliche Tätigkeit ist dabei alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Ver­such zur Wahrheitsermittlung betrachtet werden kann. Erkenntnisgewinn und die Sicherung des Erkenntnis­standes in der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin sind die handlungsleitenden Motive. Auch kann die Vermittlung von Fachwissen und praktischen Fertigkei­ten eine wissenschaftliche Dienstleistung sein. Die Wis­senschaftlichkeit der Lehre setzt voraus, dass der Leh­rende wenigstens die Möglichkeit der eigenständigen Forschung und Reflexion hat. Unter Berücksichtigung des Schutzbereichs der Wissenschaft aus Art. 5 Abs. 3 GG ist entscheidend, dass der Lehrende aktuelle For­schungsentwicklungen auf seinem Wissenschaftsgebiet „permanent verfolgen, reflektieren und kritisch hinter­fragen muss“, um diese für die Lehrtätigkeit didaktisch aufzuarbeiten. Nicht ausreichend für die Annahme einer wissenschaftlichen Tätigkeit ist die bloße Vor­ und Nachbereitung der Lehrinhalte. Dies spricht nach Auf­fassung des Bundesarbeitsgerichts eher für „rein repe­tierende Wiedergabe vorgegebener Inhalte“. Auch eine wissenschaftlich prägende Zielsetzung bei der Unter­richtsausübung muss explizit dargelegt worden sein, da sich diese nicht alleine aus der universitären Lehrtä­tigkeit als solcher ergeben kann. Selbst die Tatsache, dass 25 Prozent der Arbeitszeit zur persönlichen Wei­terqualifizierung dienen und damit eine Mischtätigkeit

vorliegt, kann das Arbeitsverhältnis aufgrund des ver­gleichsweise geringen zeitlichen Umfangs nicht prägen.

3. StellungnahmeDurch die stetig steigende Anzahl Studierender und der Bologna­Reform ist der Lehrbedarf an Universitäten ge­stiegen. Über die befristete Einstellung von Lehrkräften für besondere Aufgaben können Universitäten zum ei­nen den gestiegenen Lehrbedarf bedienen, zum anderen die Personalkosten vergleichsweise geringhalten. Das Bundesarbeitsgericht hat die Schutzbedürftigkeit der Lehrkräfte für besondere Aufgaben erkannt. Gerade wenn ein hoher Lehraufwand von 14 Semesterwochen­stunden und mehr arbeitsvertraglich vorgesehen ist – wie im vorliegenden Fall – dürfen diese Lehrkräfte nicht von Universitäten als preiswerte Arbeitskräfte unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Tätigkeit nach WissZeitVG eingestellt werden. Die verlängerte

Konsequenzen für die Praxis

1. Eine Befristung nach WissZeitVG ist nur für wissenschaftlich geprägte Tätigkeiten zulässig. 2. Wissenschaftlich geprägt ist die Tätigkeit, wenn die Lehrtätigkeit während der Dienstzeit nicht deutlich überwiegt und ausreichend Zeit für die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Form einer Reflexion und kritischen Würdigung der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklun­gen zur Verfügung steht.

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Befristungsdauer von sechs Jahren im WissZeitVG ist auf einen engen persönlichen und sachlichen Anwen­dungsbereich begrenzt.

Um eine rechtssichere Begründung einer Befristung nach WissZeitVG zu vereinbaren, bedarf es einer wis­senschaftlichen Prägung der Tätigkeit. Dies ist kosten­intensiv, da dann die Lehrtätigkeit während der Dienst­zeit nicht deutlich überwiegen darf und daher die Uni­versitäten im Ergebnis mehr Lehrpersonal benötigen werden. Die arbeitsvertragliche Heraushebung der wis­senschaftlichen Tätigkeit bei der Ausübung der Lehre

ist damit unausweichlich. Es sollte im Arbeitsvertrag so konkret wie möglich ausformuliert werden, inwieweit die auszuübende Tätigkeit eine Reflexion und kritische Würdigung der aktuellen wissenschaftlichen Entwick­lungen für die Ausübung der Lehrtätigkeit erforderlich macht und damit eine Befristung nach WissZeitVG be­gründen kann. Dies bedeutet jedoch auch, dass ausrei­chend Dienstzeit für die wissenschaftliche Auseinan­dersetzung arbeitsvertraglich vorgesehen sein muss.

Soo Maximilian HahnTarifreferent, dbb beamtenbund

und tarifunion

Ermittlung der regelmäßigen Arbeitszeit bei fehlender Angabe im Arbeitsvertrag Schließen Parteien konkludent einen Arbeitsvertrag ohne inhaltliche Bestimmungen, kann mangels anderer Anknüpfungspunkte zur Ermittlung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit auf das gelebte Rechtsverhält­nis mittels der Referenzmethode abgestellt werden. Dies ist Ausdruck des wirklichen Parteiwillens, auch wenn dem tatsächlichen Verhalten kein bestimmter rechts­geschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Beschäftigungsverhältnisses zu entnehmen ist.(Leitsätze der Schriftleitung)BAG, Urteil v. 2.11.2016 – 10 AZR 419/15 –

Zum Sachverhalt

Die Parteien streiten nach rechtskräftiger Feststellung, dass zwischen ihnen seit dem 1. September 2001 ein Arbeitsverhältnis besteht, noch über den zeitlichen Um­fang, in welchem die Beklagte den Kläger zu beschäfti­gen hat.

Der 1965 geborene Kläger arbeitet seit dem 1. September 2001 für die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin als Cutter. Die Parteien haben keinen schriftlichen Vertrag abgeschlossen. Die Beklagte stufte den Kläger in der Vergangenheit als freien Dienstvertragsnehmer ein. Die Zahl der tatsächlichen jährlichen Einsatztage des Klä­gers schwankte zwischen 106 Tagen im Jahr 2004 und 130 Tagen im Jahr 2013. Ein Einsatztag des Klägers ent­sprach einem Arbeitstag eines Vollzeitarbeitnehmers.

Der Kläger hat gemeint, seine Teilzeitbeschäftigungs­quote sei nach der Zahl der Einsatztage in den letzten drei vollen Kalenderjahren vor Klageerhebung zu be­stimmen. Dies spiegele den aktuellen Stand des Arbeits­verhältnisses der Parteien wider und sei ein geeigneter Referenzzeitraum. Hieraus würden sich im Schnitt 121 Einsatztage pro Jahr ergeben. Zu dieser Zahl seien noch

zehn Tage zu addieren, die ein Arbeitnehmer in Deutsch­land nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Durchschnitt eines Jahres krank sei. Ferner müsse an­teilig der Urlaub berücksichtigt werden, den die Beklag­te ihren Arbeitnehmern gewähre. Insgesamt ergebe sich so ein Beschäftigungsumfang von 59,28 % einer Voll­zeitkraft.

Der Kläger hat zuletzt – soweit für das Revisionsverfah­ren von Interesse – beantragt, die Beklagte zu verurtei­len, ihn mit einer Teilzeitquote von 59,28 % als Cutter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat zuletzt – soweit für das Revisionsver­fahren von Interesse – beantragt, die Klage abzuweisen, soweit der Kläger begehrt, mit einer Teilzeitquote von mehr als 51,1 % von ihr als Cutter beschäftigt zu werden.

Die Beklagte hat geltend gemacht, die Teilzeitbeschäf­tigungsquote des Klägers sei nach der durchschnitt­lichen Zahl der Einsatztage seit Beginn des Arbeits­verhältnisses zu bestimmen. Je länger der Referenz­zeitraum gewählt werde, desto besser werde die Ver­trags praxis der Parteien abgebildet und würden Zu­ fälligkeiten bei der Berechnung vermieden. Dann ergä­ben sich durchschnittlich nur 115 Einsatztage des Klägers pro Jahr. Rein statistische Krankheitstage von Arbeit­nehmern seien bei der Berechnung der Teilzeitquote des Klägers nicht zu beachten. Insgesamt ergebe sich so – unter weiterer rechnerischer Berücksichtigung von Urlaub – ein Anspruch des Klägers auf Beschäftigung im Umfang von 51,1 % einer Vollzeitkraft.

Das Arbeitsgericht hat die Klage des Klägers, die sich auch auf die Fragen des Arbeitnehmerstatus und der Eingruppierung bezog, insgesamt abgewiesen. Das Lan­desarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vom

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Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte das Ziel, den Kläger hinsichtlich der Teil­zeitquote nur in geringerem Umfang beschäftigen zu müssen als vom Landesarbeitsgericht zugesprochen.

Aus den Gründen

Die zulässige Revision der Beklagten ist nur teilweise begründet. Dem Kläger steht entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ein Anspruch auf Beschäftigung als Cutter im Umfang von nur 54,75 % der Arbeitszeit einer Vollzeitkraft zu. Soweit die Beklagte von einem noch geringeren Beschäftigungsanspruch ausgeht, ist ihre Revision unbegründet.

I. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, der Klä­ger sei im Umfang von 59,28 % der Arbeitszeit einer Vollzeitkraft zu beschäftigen, ist nicht frei von Rechts­fehlern.

1. Die Ansicht des Landesarbeitsgerichts, zur Berechnung des Umfangs der tatsächlichen Beschäftigung des Klä­gers in der Vergangenheit und Bestimmung des Ver­tragsinhalts der Parteien sei als Referenzzeitraum der Zeitraum der letzten drei vollen Kalenderjahre vor Kla­geerhebung zugrunde zu legen, ist allerdings aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

a) Haben die Parteien – wie im Streitfall – einen Arbeits­vertrag ohne ausdrückliche Willenserklärungen zu sei­nem näheren Inhalt geschlossen, kann in Ermangelung anderer Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit auf das gelebte Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwil­lens abgestellt werden, auch wenn dem tatsächlichen Verhalten nicht notwendig ein bestimmter rechtsge­schäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt. Dabei entspricht die vom Landesarbeitsgericht angewandte Referenzmetho­de am ehesten dem durch tatsächliche Arbeitsleistung geäußerten Parteiwillen, wenn der Beurteilung eine mehrjährig übereinstimmend und ohne entgegenste­hende Bekundungen geübte Vertragspraxis zugrunde liegt. Sie vermeidet die Überbetonung von auf Zufällig­keiten beruhenden Ausschlägen nach oben und unten.

b) Der Referenzzeitraum ist so zu bemessen, dass zu­fällige Ergebnisse ausgeschlossen sind und der aktuel­le Stand des Vertragsverhältnisses der Parteien wieder­gegeben wird.

aa) (…) Es gibt keine feste Regel, welcher Zeitraum hier­bei in den Blick zu nehmen ist. (…)

bb) Bei einem seit mehr als einem Jahr bestehenden Arbeitsverhältnis wird ein Referenzzeitraum von weni­ger als einem Jahr häufig ungeeignet sein, da hier auf Zufälligkeiten beruhenden Ausschlägen eine überpro­portionale Bedeutung zukommen kann. Andererseits

können auch bei der Betrachtung des Gesamtzeitraums eines langjährigen Arbeitsverhältnisses Sondereffekte zu Verzerrungen führen. Ferner wird möglicherweise in einem solchen Fall der aktuelle Stand des Arbeitsver­hältnisses nicht in genügendem Maße abgebildet. (…)

c) (…) Im Rechtsstreit ist zunächst von dem vom Kläger gewählten Referenzzeitraum auszugehen und zu prü­fen, ob sein diesbezüglicher Vortrag schlüssig und der gewählte Referenzzeitraum iSd. oben genannten Vo­raussetzungen geeignet ist. (…)

d) (…) Die Auslegung nichttypischer, individueller Wil­lenserklärungen durch die Tatsachengerichte ist in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüfbar, ob das Be­rufungsgericht Auslegungsregeln verletzt, gegen Denk­gesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentli­che Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat.

e) Nach diesem Maßstab ist der vom Landesarbeitsge­richt zugrunde gelegte Referenzzeitraum der Jahre 2011 bis 2013 hinsichtlich Repräsentativität und Aktualität nicht rechtsfehlerhaft bestimmt. Damit ist von durch­schnittlich 121 tatsächlichen jährlichen Einsatztagen des Klägers auszugehen.

aa) (…) Der Referenzzeitraum ist stets konkret aus dem gelebten Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu ermitteln.

bb) (…) (1) Das Landesarbeitsgericht durfte zur Bestim­mung des Vergleichszeitraums zunächst von dem schlüssigen Vortrag des Klägers ausgehen, der bei der Berechnung der von ihm zuletzt begehrten Teilzeitquo­te als Referenzzeitraum die Jahre 2011 bis 2013 zugrun­de gelegt hat. Nach seinem Vortrag war dieser Zeitraum repräsentativ und der Umfang der aktuellen Vereinba­rung durch diesen Zeitraum entsprechend geprägt.

(2) Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler an­genommen, weder dem Vortrag der Beklagten sei hin­reichend deutlich zu entnehmen, dass der vom Kläger gewählte Referenzzeitraum nicht repräsentativ sei, noch sei dies ansonsten ersichtlich. Drei volle Kalender­jahre sind ein Zeitraum, der nicht nur rein saisonale Schwankungen im Beschäftigungsumfang ausblendet, sondern auch zufällige Gestaltungen, die sich in einem einzelnen Jahr ergeben können, angemessen ausgleicht. Eine Verpflichtung, den Gesamtzeitraum des Arbeits­verhältnisses von zwölf vollen Kalenderjahren heran­zuziehen – wie es die Beklagte verlangt ­, besteht nicht. Zwar werden Einflüsse einzelner Jahre dadurch stärker zurückgedrängt. Andererseits leidet diese Betrachtungs­weise unter dem Nachteil, dass sie in geringerem Maß den aktuellen Stand des Vertragsverhältnisses der Par­teien widerspiegelt und von lange zurückliegenden Um­ständen zu Beginn des Arbeitsverhältnisses beeinflusst wird. Soweit die Beklagte meint, die Betrachtung der letzten drei vollen Kalenderjahre bevorzuge allein die

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Position des Klägers, da es sich um überdurchschnittli­che Jahre handele, übersieht sie, dass zwar die Jahre 2012 (124 Einsatztage) und 2013 (130 Einsatztage) über­durchschnittlich waren, das Jahr 2011 (109 Einsatztage) aber nach Berechnung beider Parteien unterdurch­schnittlich. Schon ein Vergleich der Berechnungen des Klägers (durchschnittlich 121 Einsatztage) und der Be­klagten (durchschnittlich 115 Einsatztage), die nur etwa 5 % voneinander abweichen, zeigt, dass der vom Kläger gewählte kürzere, aber aktuellere Referenzzeitraum nicht zu einer Überbetonung von Zufälligkeiten führt. (…)

2. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, den tatsäch­lichen Einsatztagen des Klägers seien durchschnittliche statistische Krankheitstage von Arbeitnehmern hinzu­zurechnen, beruht auf einem unzutreffenden rechtli­chen Gesichtspunkt. Insoweit erweist sich das Urteil des Landesarbeitsgerichts als rechtsfehlerhaft und die Re­vision der Beklagten als begründet.

a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, zur Be­stimmung des Beschäftigungsumfangs, den der Kläger von der Beklagten beanspruchen kann, seien zu den tatsächlichen Einsatztagen im Referenzzeitraum die durchschnittlichen statistischen Krankheitstage eines Arbeitnehmers in Deutschland zu addieren.

b) Diese nicht näher begründete Ansicht des Landesar­beitsgerichts ist rechtsfehlerhaft. Insoweit ist das Be­rufungsurteil aufzuheben (§ 563 Abs. 1 ZPO). Einer Zu­rückverweisung bedarf es nicht, da der Senat in der Sache selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).

aa) Das Landesarbeitsgericht berücksichtigt nicht, dass mit der Referenzmethode aus dem gelebten Rechtsver­hältnis der individuelle Parteiwille zur Bestimmung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zu ermitteln ist. Hieraus folgt, dass ausschließlich das konkrete Verhal­ten der Parteien Rückschlüsse auf den Parteiwillen ge­ben kann. Dem widerspricht die Heranziehung eines statistischen Durchschnitts von Krankheitstagen. Diese Betrachtung sagt weder etwas über das gelebte Arbeits­

verhältnis der Parteien noch über deren Willen aus und widerspricht der im Übrigen gewählten Referenzme­thode.

bb) Allerdings können konkrete Arbeitsunfähigkeitszei­ten in der Vergangenheit für die Bestimmung der dem Parteiwillen entsprechenden Einsatztage durchaus Be­deutung haben. Soweit Einsatztage des Klägers deshalb entfallen sind, weil er an diesen Tagen arbeitsunfähig krank war, lässt dies einen Rückschluss auf den von den Parteien tatsächlichen gewollten Beschäftigungsum­fang zu.

cc) Aus dem Vortrag des Klägers ergibt sich jedoch nicht, dass im Referenzzeitraum der Jahre 2011 bis 2013 Ein­satztage ausgefallen sind, weil er arbeitsunfähig krank gewesen ist. (…)

3. Die Teilzeitquote des Klägers beträgt 54,75 %.

a) Bei der Berechnung der Teilzeitquote des Klägers ist zu berücksichtigen, dass diese nur dann zutreffend be­stimmt werden kann, wenn seine tatsächlichen Einsatz­tage mit den tatsächlichen Arbeitstagen eines Vollzeit­arbeitnehmers bei der Beklagten verglichen werden. Die oben ermittelten durchschnittlichen Einsatztage des Klägers pro Jahr geben seine tatsächliche Beschäf­tigung an, ohne dass darin gewährter Urlaub enthalten ist. Zur Berechnung der Teilzeitquote müssen dieser Zahl daher die tatsächlichen Einsatztage einer Vollzeit­kraft – ohne Berücksichtigung von Wochenenden, Fei­ertagen und Urlaubstagen – gegenübergestellt werden.

b) Im Referenzzeitraum der Jahre 2011 bis 2013 entfielen auf Vollzeitarbeitnehmer in Brandenburg …durch­schnittlich 252 Arbeitstage. Bei 31 Urlaubstagen, die die Beklagte Vollzeitkräften mit vollendetem 40. Lebensjahr gewährt, verbleiben im Referenzzeitraum jährlich 221 tatsächliche Arbeitstage. Diese sind ins Verhältnis zu den durchschnittlich 121 tatsächlichen jährlichen Ein­satztagen des Klägers zu setzen.

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Altersdiskriminierung bei tariflicher Urlaubsstaffelung Eine tarifvertragliche Urlaubsstaffelung, die unmittel­bar an das Lebensalter anknüpft und pauschal für Ar­beitnehmer ab Erreichen des 50. Lebensjahres einen höheren Lebensurlaub vorsieht, enthält eine Diskrimi­nierung der jüngeren Arbeitnehmer wegen ihres Alters i.S.d. § 3 Abs.1 AGG und ist deswegen gem. § 7 Abs.2 AGG unwirksam.(Leitsatz der Schriftleitung)BAG, Urteil v. 15.11.2016 – 9 AZR 534/15 –

Zum Sachverhalt

Die Parteien streiten über den Umfang des jährlichen Urlaubsanspruchs der Klägerin.

Die am 21. September 1983 geborene Klägerin ist seit dem 1. August 2005 bei der Beklagten und deren Rechts­vorgängerin als Gesundheits­ und Krankenpflegerin in Vollzeit beschäftigt. Die Parteien sind hinsichtlich des

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zwischen der Damp Holding AG und ver.di geschlosse­nen Manteltarifvertrags Damp vom 2. März 2010 (MTV Damp) tarifgebunden. § 22 MTV Damp enthält ua. fol­gende Regelungen:

㤠22 Erholungsurlaub

(…) 2. Die Dauer des Erholungsurlaubs beträgt 28 Ar­beitstage, nach Vollendung des 50. Lebensjahres 30 Arbeitstage. Die Lage des Urlaubs wird individuell zwi­schen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen der Urlaubsplanung vereinbart. (…)

In den Jahren 2012 und 2013 gewährte die Beklagte ihren Arbeitnehmern jeweils 30 Urlaubstage. Hierzu erklärte sie mit Schreiben vom 29. Juli 2013, dass dies ohne An­erkennung einer Rechtspflicht erfolge und hieraus für künftige Jahre keinerlei Rechte hergeleitet werden könnten. Seit dem Jahr 2014 gewährt die Beklagte ihren Arbeitnehmern Urlaub nur noch nach Maßgabe des MTV Damp. Der Klägerin wurden deshalb im Jahr 2014 28 Tage Urlaub gewährt.

Mit Schreiben vom 13. Oktober 2014 machte die Gewerk­schaft ver.di für die Klägerin für das Jahr 2014 insgesamt 30 Urlaubstage geltend. Die H Damp GmbH lehnte die Gewährung von insgesamt 30 Urlaubstagen für ihre Mitarbeiter und für die Mitarbeiter der Beklagten mit Schreiben vom 11. November 2014 ab.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die tarifliche altersbezogene Urlaubsstaffelung stelle eine unzuläs­sige Diskriminierung wegen des Alters gemäß §§ 1, 7 AGG dar.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt festzustellen, (…) dass ihr über 28 Urlaubstage hinaus jährlich zwei weitere Urlaubstage zustehen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Klägerin stünden nur 28 Urlaubstage jährlich zu. Die Begünstigung älterer Be­schäftigter im MTV Damp sei gerechtfertigt. Diese seien schutzbedürftiger als jüngere Beschäftigte. Das Erho­lungsbedürfnis werde mit zunehmendem Alter stärker. Ältere Beschäftigte seien nachweislich häufiger arbeits­unfähig krank und es komme zu längeren Fehlzeiten. Die durchschnittlichen Krankheitstage insgesamt, aber auch im Hinblick auf die einzelnen Bereiche Pflege, The­rapie und Verwaltung, seien nach Vollendung des 50. Lebensjahres höher. (…) Im Übrigen zeige auch die Re­gelung in § 13 Ziff. 1 Buchst. c MTV Damp hinsichtlich einer Teilzeitbeschäftigung für „vollbeschäftigte“ Ar­beitnehmer nach Vollendung des 50. Lebensjahres die Intention der Tarifvertragsparteien, Arbeitnehmer ab Vollendung des 50. Lebensjahres zu entlasten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Lan­desarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurück­

gewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelas­senen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.

Aus den Gründen

Die Revision der Klägerin ist begründet. Der Klägerin stehen im Kalenderjahr 30 und nicht nur 28 Tage Erho­lungsurlaub zu.

I. Die Klage ist zulässig. …

II. Die Klage ist begründet. Der Klägerin stehen gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 iVm. § 7 Abs. 1 und Abs. 2 AGG kalender­jährlich zwei weitere Urlaubstage zu. Die Urlaubsrege­lung des § 22 Ziff. 2 MTV Damp verstößt gegen §§ 1, 3 Abs. 1 AGG. Die Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer ist sachlich nicht nach §§ 8, 10 AGG gerechtfertigt und deshalb gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Dies führt zu einer Anpassung des Umfangs des Urlaubsanspruchs der Klägerin „nach oben“. Dieser stehen deshalb bereits vor Vollendung des 50. Lebensjahres im Kalenderjahr insgesamt 30 Urlaubstage zu.

1. Die Urlaubsstaffelung in § 22 Ziff. 2 MTV Damp enthält eine auf dem Merkmal des Alters beruhende unmittel­bare Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer wegen des Alters iSv. § 3 Abs. 1 AGG, denn sie knüpft unmittelbar an das Lebensalter an.

2. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.

a) Es handelt sich nicht um eine nach § 8 AGG zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anfor­derungen. § 22 Ziff. 2 MTV Damp knüpft nicht an die Art der auszuübenden Tätigkeit oder die Bedingungen ihrer Ausübung an. Die Tarifvorschrift beansprucht Geltung für alle dem MTV Damp unterfallenden Arbeitnehmer.

b) Die Ungleichbehandlung ist auch nicht nach § 10 AGG sachlich gerechtfertigt.

aa) § 10 Satz 1 AGG lässt eine unterschiedliche Behand­lung wegen des Alters ungeachtet der Regelung des § 8 AGG zu, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Zudem müssen die Mittel zur Erreichung dieses Ziels nach § 10 Satz 2 AGG angemessen und erforderlich sein.

bb) § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG konkretisiert u.a. das legitime Ziel der Sicherstellung des Schutzes älterer Beschäftig­ter, wobei dieser Schutz auch die Festlegung besonderer Beschäftigungs­ und Arbeitsbedingungen einschließen kann. Das AGG definiert in § 10 Satz 3 Nr. 1 – ebenso wie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG – nicht, wann ein Beschäftigter „älter“ im Sinne der Norm ist. Nach dem Sinn und Zweck des Benachteili­gungsverbots reicht es ohne das Vorliegen anderer Dif­ferenzierungsgründe nicht aus, dass das Alter der be­

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ZBVR online 3/2017 | Seite 23 von 28

günstigten Arbeitnehmer höher ist als das Alter der nicht begünstigten. Dementsprechend hat der Senat ange­nommen, ein Arbeitnehmer sei nach Vollendung seines 31. Lebensjahres offensichtlich noch kein älterer Beschäf­tigter iSv. § 10 Satz 3 Nr. 1 AGG. Aus dem systematischen Zusammenhang mit § 10 Satz 1 AGG und aus dem Rege­lungszweck folgt, dass die begünstigten Arbeitnehmer aufgrund ihres Alters der Förderung bei der beruflichen Eingliederung oder des Schutzes bedürfen müssen.

cc) Beruft sich der Arbeitgeber darauf, eine unterschied­liche Behandlung wegen des Alters sei zulässig, (…) ge­nügt er seiner Darlegungslast nicht bereits dann, wenn er allgemein geltend macht, die Regelung diene dem Schutz älterer Arbeitnehmer.

dd) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist nicht dar­gelegt, dass die sich aus § 22 Ziff. 2 MTV Damp ergeben­de Ungleichbehandlung wegen des Alters durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist.

(1) Die Tarifvertragsparteien haben das mit § 22 Ziff. 2 MTV Damp verfolgte Ziel nicht ausdrücklich genannt. (…) Derjenige, der eine Ungleichbehandlung vornimmt, muss den nationalen Gerichten in geeigneter Weise die Möglichkeit zur Prüfung einräumen, ob mit der Un­gleichbehandlung ein Ziel angestrebt wird, das die Un­gleichbehandlung unter Beachtung der Ziele der Richt­linie 2000/78/EG rechtfertigt. Denn das nationale Ge­richt hat zu prüfen, ob die Regelung oder Maßnahme ein rechtmäßiges Ziel iSd. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG verfolgt. Gleiches gilt für die Fra­ge, ob die Tarifvertragsparteien als Normgeber ange­sichts des vorhandenen Wertungsspielraums davon ausgehen durften, dass die gewählten Mittel zur Errei­chung dieses Ziels angemessen und erforderlich waren. Wenn die Sozialpartner Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG fallen, die für Beschäftigung und Beruf das Verbot der Diskrimi­nierung wegen des Alters konkretisiert, müssen sie un­ter Beachtung dieser Richtlinie vorgehen.

(2) Wenn eine Tarifregelung die Urlaubsdauer nach dem Lebensalter staffelt, liegt die Annahme nahe, die Tarif­vertragsparteien hätten einem mit zunehmendem Alter gesteigerten Erholungsbedürfnis älterer Beschäftigter Rechnung tragen wollen. Diese Annahme darf freilich nicht durch die konkrete Wahl der Altersgrenze(n) wi­derlegt werden.

(3) Die Beklagte hat pauschal auf die körperliche und psychische Belastung verschiedener Berufsgruppen im Klinikbereich und auf das mit zunehmendem Alter ge­steigerte Erholungsbedürfnis verwiesen. Das reicht nicht aus. Sie hat nicht dargetan, (…) dass bei sämtlichen Arbeitnehmern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von ihrer ausgeübten Tätigkeit ein gegen­über anderen Arbeitnehmern erhöhtes Erholungsbe­dürfnis vorliegen soll.

(a) Der von der Beklagten behauptete Erfahrungssatz, infolge einer Abnahme der physischen Belastbarkeit sei bei Beschäftigten, die das 50. Lebensjahr vollendet ha­ben, generell von einem erhöhten Urlaubsbedürfnis und einer längeren Regenerationszeit auszugehen, existiert in dieser Allgemeinheit nicht. Die Abnahme körperlicher Fähigkeiten, die auch altersbedingt sein kann, bedeutet nicht, dass diese unabhängig vom Berufsbild zu einem in bestimmtem Umfang erhöhten Erholungsbedürfnis führt, das zudem an bestimmten Altersstufen festge­macht werden könnte. Zwar führt die Beklagte Berufs­gruppen auf, deren Tätigkeiten mit besonderen Belas­tungen verbunden sein sollen. Die Urlaubsregelung in § 22 Ziff. 2 MTV Damp differenziert aber nicht nach Be­rufsgruppen. Im Klinikbereich sind auch Arbeitnehmer tätig, deren Arbeit nicht mit besonderen Belastungen, die einen solchen Ausgleich rechtfertigen könnten, ver­bunden ist (zB Verwaltungsmitarbeiter). Auch für diese erhöht sich der jährliche Urlaubsanspruch. Im Übrigen gilt die tarifliche Regelung auch für Arbeitnehmer, die bei Vollendung des 50. Lebensjahres noch nicht länge­re Zeit im Klinikbereich tätig waren. (…)

(c) Soweit das Landesarbeitsgericht und die Beklagte darauf abstellen, Arbeitnehmer der Beklagten seien in besonderem Maße körperlichen Anforderungen, insbe­sondere durch Nacht­, Feiertags­ und Schichtarbeit aus­gesetzt, spricht dies gerade gegen die Annahme, Arbeit­nehmer der Beklagten, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, seien hiervon besonders betroffen. Denn § 22 Ziff. 8 MTV Damp gewährt gerade allen Arbeitnehmern, die in bestimmtem Umfang Nacht­ oder Schichtarbeit leisten, zusätzliche Urlaubstage, und zwar altersunab­hängig. (…) § 22 Ziff. 2 MTV Damp stellt ausschließlich auf das Alter ab, und zwar unabhängig von einzelnen Berufsbildern oder besonders belastenden Arbeitsbe­dingungen. Eine Verknüpfung zwischen besonderen Arbeitsbedingungen und bestimmten Altersgruppen stellt § 22 MTV Damp gerade nicht her. (…)

3. Die Diskriminierung der Klägerin kann nur dadurch beseitigt werden, dass ihr im Kalenderjahr 30 Urlaubs­tage zustehen. Zwar folgt aus § 7 Abs. 2 AGG nur, dass die diskriminierende Regelung unwirksam ist. Jedoch kann die Beseitigung der Diskriminierung vorliegend nur durch eine Anpassung „nach oben“ erfolgen. (…)

b) Der Urlaubsanspruch für Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, beträgt somit (ebenfalls) jährlich 30 Arbeitstage. Auch unter Berück­sichtigung von Art. 9 Abs. 3 GG kommt daher im vorlie­genden Fall nur eine Anpassung „nach oben“ in Be­tracht. Die Benachteiligung der Klägerin kann nicht auf andere Weise ausgeschlossen werden. Der von §§ 1, 7 AGG bzw. Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG verfolgte Zweck, Benachteiligungen zu verhindern oder zu besei­tigen, würde ansonsten nicht erreicht. (…)

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ZBVR online Rechtsprechung in Leitsätzen

ZBVR online 3/2017 | Seite 24 von 28

Rechtsprechung in LeitsätzenBeteiligungsverfahren

Unzuständigkeit der Einigungsstelle bei Verbrauch der Mitbestimmung durch Betriebsvereinbarung/Zustän­digkeit des GesamtbetriebsratsDie Einigungsstelle ist offensichtlich unzuständig, wenn von einem Mitbestimmungsrecht bereits durch den Ab­schluss einer Betriebsvereinbarung Gebrauch gemacht wurde und diese weder gekündigt noch für unwirksam erklärt ist oder erachtet wird. Das gilt insbesondere dann, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der die Verhandlungen fordernde Betriebsrat für die zu verhandelnden Fragen zuständig ist.

Der Gesamtbetriebsrat ist für die Regelung zustän­dig, wenn die Angelegenheit das Gesamtunternehmen betrifft und nicht durch die einzelnen Betriebsräte in­nerhalb ihrer Betriebe geregelt werden kann. Zwar geht es um die Konkretisierung allgemeiner Vorschriften zum Gesundheitsschutz, die Arbeitnehmer auf betrieblicher Ebene betreffen. Es handelt sich allerdings um unter­nehmensweit einheitliche Übernachtungsmöglichkei­ten, die von Arbeitnehmern aller Betriebe genutzt wer­den. Alle auswärts übernachtenden Arbeitnehmer des gesamten Unternehmens der Arbeitgeberin sind von dem Wohnheim betroffen. Dies verlangt auch eine un­ternehmensweit einheitliche Festlegung der Hygie­nestandards für dieses Wohnheim.LAG Köln, Beschluss v. 7.4.2016 – 12 TaBV 86/15 –Volltext unter www.nrwe.de

Beschlussverfahren

Beschlussverfahren/Bestimmtheitserfordernis beim FeststellungsantragsNach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift ua. einen bestimmten Antrag enthalten. Dieses Bestimmt­heitserfordernis gilt auch für eine Antragsschrift im Beschlussverfahren.

An die Bestimmtheit eines Feststellungsantrags sind keine geringeren Anforderungen zu stellen als an die eines Leistungsantrags. Auch wenn das Bestehen oder der Umfang eines Rechtsverhältnisses zur gerichtlichen Entscheidung gestellt wird, muss zweifelsfrei erkennbar sein, worüber das Gericht eine Sachentscheidung tref­fen soll.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Beschluss v. 18.5.2016 – 7 ABR 41/14 –

Arbeits­/Arbeitsvertragsrecht

Abgrenzung der Arbeitnehmerüberlassung von der Tä­tigkeit aufgrund eines DienstvertragsDie in § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG angeordnete Rechtsfolge, das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses zwi­

schen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer, kom­pensiert den Verlust, den der Leiharbeitnehmer andern­falls infolge der Regelung in § 9 Nr. 1 AÜG erlitte.

Indem § 10 Abs. 1 Satz 3 AÜG für den Umfang der Arbeitszeit nicht auf die vertraglichen Regelungen im Verhältnis zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer abstellt, sondern die Bestimmungen des Überlassungs­vertrags für maßgeblich erklärt, schützt das Gesetz den Entleiher, der nur in dem Umfang, den der Überlas­sungsvertrag für den Einsatz des Leiharbeitnehmers vorsieht, mit einem Arbeitsverhältnis belastet wird. Nachteile, die dem Leiharbeitnehmer dadurch entste­hen, dass die regelmäßige Arbeitszeit in dem neuen Arbeitsverhältnis hinter der in dem alten Arbeitsver­hältnis zurückbleibt, kann der Leiharbeitnehmer nur im Wege des Schadensersatzes nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AÜG gegenüber dem Verleiher geltend machen.

Der Umfang der im Vertrag zwischen dem Verleiher und dem Entleiher vorgesehenen Überlassung kann sich zum einen aus einer ausdrücklichen Bestimmung selbst, zum anderen aus dem Umfang der tatsächlichen Über­lassung des Leiharbeitnehmers ergeben.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Urteil v. 20.9.2016 – 9 AZR 735/15 –

Tarif­/Tarifvertragsrecht

Tarifvertragliche Regelungen über sachgrundlose Be­fristungenEine tarifliche Regelung, die die sachgrundlose Befris­tung von Arbeitsverträgen bis zu einer Gesamtdauer von fünf Jahren bei fünfmaliger Verlängerungsmöglich­keit zulässt, ist wirksam.

Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 TzBfG ist die ka­lendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Bis zu dieser Gesamtdauer darf ein befristeter Vertrag nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 TzBfG höchstens dreimal verlängert werden. Nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG können durch Tarifvertrag die Anzahl der Verlängerungen und die Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG festgelegt wer­den. Diese Befugnis der Tarifvertragsparteien gilt aus

Hinweis:Fehlt eine nähere Angabe, handelt es sich um die amtli­chen Leitsätze des erkennenden Gerichts. „Leitsätze der Schriftleitung“ wurden von der Redaktion oder dem Ein­sender der Entscheidung formuliert. „Leitsätze aus den Gründen“ sind von der Redaktion ausgewählte wörtliche bzw. nur in geringfügig veränderter Syntax zitierte Aus­züge aus den Entscheidungsgründen. „Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG“ sind als solche er­kennbar gemacht.

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ZBVR online Aufsätze und Berichte

ZBVR online 3/2017 | Seite 25 von 28

verfassungs­ und unionsrechtlichen Gründen nicht schrankenlos.

Der durch § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG eröffnete Gestal­tungsrahmen der Tarifvertragsparteien ermöglicht nur Regelungen, durch die die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Werte für die Höchstdauer eines sachgrund­los befristeten Arbeitsvertrags und die Anzahl der mög­lichen Vertragsverlängerungen nicht um mehr als das Dreifache überschritten werden.BAG, Urteil v. 26.10.2016 – 7 AZR 140/15 –

Kündigungsrecht

Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses/Pro­bezeitverlängerung nach Unterbrechung der Ausbil­dungNach § 20 Satz 2 BBiG muss die Probezeit mindestens einen Monat und darf höchstens vier Monate betragen. Ist die Regelung der Probezeit in einem Formularaus­bildungsvertrag enthalten, unterliegt eine Klausel hin­sichtlich der Dauer der Probezeit einer Kontrolle nach den §§ 307 ff. BGB.

Die Parteien können für den Fall einer Unterbre­chung der Ausbildung während der Probezeit um mehr als ein Drittel der Probezeit vereinbaren, dass sich die Probezeit um den Zeitraum der Unterbrechung verlän­

gert. Eine solche Regelung ist weder gemäß § 25 BBiG nichtig noch handelt es sich um eine unangemessene Benachteiligung iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB. Die Verlängerung dient der Erfüllung des Zwecks der Pro­bezeit und liegt letztlich im Interesse beider Vertrags­parteien.

Grundsätzlich kommt es nicht darauf an, aus wel­chen Gründen die Ausbildung ausgefallen ist und aus wessen Sphäre sie stammen. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich der Ausbildende aber nicht auf die vertragliche Verlängerung der Probezeit berufen, wenn er die Unterbrechung der Ausbildung selbst ver­tragswidrig herbeigeführt hat.(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)BAG, Urteil v. 9.6.2016 – 6 AZR 396/15 –

Abbruch des Konsultationsverfahren bei Massenent­lassung wegen fehlender Verhandlungsbereitschaft des BetriebsratsEin Arbeitgeber darf das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG als beendet ansehen, wenn der Be­triebsrat keine weitere Verhandlungsbereitschaft über Maßnahmen zur Vermeidung oder Einschränkung von Massenentlassungen erkennen lässt.BAG, Urteil v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16 –

Gestaltungsbefugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVGDr. Serge Reitze, Köln*

Im Rahmen der Reform des Betriebsverfassungsrechts ist § 3 BetrVG grundlegend neugestaltet worden. Vor allem den Tarifvertragsparteien sind recht weitgehen­de Möglichkeiten eröffnet worden, durch Vereinbarung betriebliche Vertretungsstrukturen zu schaffen, die von den gesetzlichen Regelungen abweichen. Dies war schon unmittelbar nach Inkrafttreten Gegenstand der – auch verfassungsrechtlichen – Diskussion.1 Mit Be­schluss vom 13. März 20132 hat das Bundesarbeitsgericht die für die Praxis maßgeblichen Voraussetzungen und Grenzen der Gestaltungsbefugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG vorgegeben.

I. Ausgangslage

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG können durch Tarifvertrag „andere Arbeitnehmervertretungsstrukturen“ be­

* Dr. Serge Reitze ist als Rechtsanwalt in Köln tätig. 1 Vgl. nur Hanau, ZIP 2001, 1981 ff.; Thüsing, ZIP 2003, 694 ff.;

Däubler, AuR 2001, 285 ff.; Überblick über die Diskussion u.a. bei Fitting u.a., BetrVG, 28. Aufl. 2016, § 3 Rn. 1 m.w.N.

2 7 ABR 70/11, ZVBR online 6/2014, S. 2.

stimmt werden, „soweit dies insbesondere aufgrund der Betriebs­, Unternehmens­ oder Konzernorganisati­on oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient“. Demge­genüber ermöglicht Nummer 1 für Unternehmen mit mehreren Betrieben die Bildung eines unternehmens­einheitlichen Betriebsrats oder die Zusammenfassung von Betrieben; Nummer 2 ermöglicht die Bildung von Spartenbetriebsräten, wobei in beiden Fällen Voraus­setzung ist, dass die jeweilige Maßnahme einer sach­gerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitneh­mer dient. Die Nummern 1 und 2 sind gegenüber der Nummer 3 vorrangig zu prüfen, von ihrem Anwen­dungsbereich dann aber auch deutlich enger. So ermög­licht Nummer 1 etwa die Bildung eines unternehmens­übergreifenden Gesamtbetriebsrats nicht. Die verschie­denen Alternativen sind nach Auffassung des Bundes­arbeitsgerichts dergestalt abzugrenzen, dass den Tarifvertragsparteien eine Regelungsbefugnis eröffnet werden soll, wenn dies die Bildung von Betriebsräten erleichtert oder einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer (Nr. 1) bzw. der Aufgaben

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des Betriebsrats (Nr. 2) dient. Im Unterschied hierzu knüpft Nummer 3 an besondere Umstände, vornehm­lich betriebs­, unternehmens­ oder konzernbezogene organisatorische oder unternehmenskooperative Rah­menbedingungen an. Der Bereich für eine Regelung nach Nummer 3 ist (nur) dann eröffnet, wenn eine be­sondere Konstellation vorliegt, in denen sich die im Be­triebsverfassungsgesetz vorgesehene Organisation für eine wirksame und zweckmäßige Interessenvertretung der Arbeitnehmer als nicht ausreichend erweist; eine wirksame und zweckmäßige Interessenvertretung der Arbeitnehmer muss eine „Relation“ zu den in der Norm beschriebenen organisatorischen oder kooperativen oder ähnlichen Besonderheiten des Unternehmens auf­weisen.

Die Tarifvertragsparteien sollen auf Sonderformen der Organisation reagieren und ein entsprechendes Arbeit­nehmervertretungssystem errichten können, ohne auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers angewiesen zu sein. Das bedeutet allerdings nicht, dass § 3 BetrVG das her­kömmliche Organisationsmodell zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellt: Die mit dem Betriebsver­fassungsgesetz verfolgten Zwecke müs­sen innerhalb einer alternativen Reprä­sentationsstruktur besser erreicht werden können als im Rahmen des gesetzlichen Vertretungsmodells. Ein Bedürfnis nach alternativen Arbeitnehmervertretungs­strukturen ist nur insoweit anerkannt (und anzuerkennen), als aufgrund bestimmter – vor­nehmlich organisatorischer oder funktionaler – Rah­menbedingungen die Errichtung einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung rechtlich oder tat­sächlich generell mit besonderen Schwierigkeiten ver­bunden ist.3

II. Wann ist der Regelungsspielraum des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eröffnet?

Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dabei kommt den Tarifparteien zwar ein Beurteilungs­ und Gestaltungsspielraum zu. Im Ergebnis muss aller­dings in einem ersten Schritt festzustellen sein, dass und welche tatsächlichen besonderen Schwierigkeiten sich ergeben, wenn das gesetzlich festgelegte Vertre­tungsmodell angewendet würde. In einem zweiten Schritt muss festgestellt werden können, dass das al­ternative Modell geeignet ist, diese Schwierigkeiten „besser“ zu lösen. Nur insoweit hält ein alternatives Modell der gerichtlichen Überprüfung stand. Das wirft natürlich die Frage auf, in welchen Konstellationen die „grundsätzlichen besonderen Schwierigkeiten bei der Anwendung des durch das Betriebsverfassungsgesetz festgelegten Vertretungsmodells“ auftreten.

3 So schon BT­Drucks. 14/5741, S. 34.

In der betriebsverfassungsrechtlichen Literatur (und den Gesetzesmaterialien) werden hier Fallgruppen genannt, die grundsätzlich ein Einschreiten der Tarifvertragspar­teien rechtfertigen können, und die den recht abstrak­ten Gesetzestext etwas konkretisieren:

• Betriebe mit kontinuierlichem Personalwechsel oder ständig wechselnden Betriebsstätten;

• Betriebe, in denen eine große Zahl kurzzeitig oder un­ständig Beschäftigter einer kleinen Stammbelegschaft gegenübersteht (etwa Qualifizierungsgesellschaften);

• Just­in­time­Produktionsketten;• Shop­in­shop­Konzepte;• Inhouse­Produktionen;• Unternehmensnetzwerke und• Industrieparks.

Weiterhin soll – unstreitig – die Möglichkeit geschaffen werden, in einem mittelständischen Konzern mit klei­nen Konzernunternehmen statt einer dreistufigen eine zwei­ oder einstufige Interessenvertretung vorzusehen oder in einem Gleichordnungskonzern einen Konzern­betriebsrat zu errichten.4 Im Ergebnis wird eine Rege­

lungsmöglichkeit also bei atypischer Betriebs­ und/oder Belegschaftsstruktur gesehen, hinzu kommen Fälle un­ternehmensübergreifender Kooperation sowie aus der Sicht des Gesetzgebers atypischer Konzernstrukturen. Liegt einer der oben genannten Fälle vor, liegt – unter entsprechender Dokumentation – jedenfalls ein starkes Indiz für die Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Rege­lung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 vor. Es liegt dann so, wie normalerweise nach einem extensiven Unterneh­mensberatungsprozess: Die Betriebspartner wissen, was sie immer wussten (nämlich, dass sie ein Problem haben). Die Tarifvertragsparteien wissen und wussten das auch.5 Was zu tun ist, das ist dann die Frage, oder: Was dürfen die Tarifvertragsparteien denn überhaupt tun ?

III. Mögliche Regelungsinhalte

§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ermächtigt die Tarifvertrags­parteien, mit der Errichtung anderer Arbeitnehmer­

4 BT­Drucks. 14/5741, S. 34. 5 Im vom BAG entschiedenen Fall hatten sich die atypischen

Strukturen (Regionalleitungen und damit korrespondierend ein regionales Vertretungsmodell) schon erledigt, als der entsprechende Tarifvertrag abgeschlossen wurde. Damit gab es kein Bedürfnis für eine tarifliche Regelung mehr. Da das Vertretungssystem des BetrVG nicht zur freien Disposition steht, fehlt es damit an einer wirksamen tariflichen Grundlage.

Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kann die Arbeitnehmervertretungsstruktur sowohl horizontal

als auch vertikal neu geordnet werden.

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vertretungsstrukturen aktuell auf Änderungen einer Unternehmensstruktur zu reagieren, ohne auf den Gesetzgeber warten zu müssen. Einzige Vorausset­zung ist, dass die „neue“ Struktur wirksamer und zweckmäßiger sein muss als die „alte“.6 Das ist un­problematisch, wenn statt dreistufiger nur zwei­ oder einstufige Interessenvertretungen eingerichtet wer­den können, oder ein unternehmensübergreifender

„Standortbetriebsrat“.7 Schlussendlich vollzieht das die Wertung der §§ 50 und 58 BetrVG nach, wonach Gesamt­ und Konzernbetriebsrat ohnehin nur dann zuständig sind, wenn eine Regelung auf jeweils nie­derer Ebene nicht möglich ist.

1. Vereinfachte Strukturen möglichIm Ergebnis ist es also – darüber herrscht Einigkeit – möglich, die Arbeitnehmervertretungsstruktur hori­zontal und vertikal neu zu ordnen, wenn die vorgefun­dene Unternehmensstruktur das als sinnvoll erschei­nen lässt. Es ergibt sich so ein Betriebsrat mit vom Betriebsverfassungsgesetz abweichenden Zuständig­keiten, der im Kern aber eben immer noch „Betriebs­rat“ ist und eine gebündelte Struktur aufweist, die die Kompetenzabgrenzungen nach §§ 50 und 58 überflüs­sig macht. Das deckt sich mit der vom Betriebsverfas­sungsgesetz vorgegebenen Strukturentscheidung, dass die unterste Entscheidungsebene im Zweifel eben die sinnvollste Entscheidungsebene ist, bei unterneh­mensübergreifenden Entscheidungen erst recht. Dann schafft eine Strukturentscheidung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine solche Mitbestimmungsebene, was jedenfalls eine vereinfachte Interessenvertretung möglich macht.

2. Kein Abbau von materiellen Mitbestimmungsrechten zulässigEbenfalls Einigkeit besteht darin, dass eine (nachteilige) Abweichung von nach dem Betriebsverfassungsgesetz eingeräumten Beteiligungsrechten nicht möglich ist. Für das – richtige – Ergebnis ist dabei ohne Belang, ob das direkt aus § 3 Abs. 5 Satz 2 BetrVG folgt, oder ob man hier auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz zurück­greift, dass betriebsverfassungsrechtliche Rechte (und Pflichten) unverzichtbar sind und deshalb schon gar nicht für die Tarifvertragsparteien disponibel sein kön­nen. Ein Abbau von Mitbestimmungsrechten ist eben in keinem Fall die „bessere“ Lösung. So weit, so gut.

6 Statt aller Koch, in: ErfKomm, 17. Aufl., § 3 BetrVG, Rn. 8. 7 Vgl. BAG v. 10.11.2004 – 7 ABR 17/04, AP BetrVG 1972 § 3

Nr. 4 = http://lexetius.com/2013, 1456.

3. Abweichungen bei Mitgliederzahl und ­wahl?Verzwickter wird die Rechtslage dann schon, wenn es um die – nahe liegende – Frage geht, ob das Gremium von der Zusammensetzung her verändert werden kann. Eine sehr verbreitete Auffassung nimmt an, dass die Zahl der Betriebsratsmitglieder von § 9 BetrVG abwei­chend bestimmt werden sowie Amtszeit, Wahl und Zu­sammensetzung der Vertretung abweichend vom Ge­

setz geregelt werden können, solange hierbei die tragenden Grundsätze der Be­triebsverfassung beachtet werden und die Vertretung so zweckmäßiger und wirksa­mer ist.8 Das wird man insoweit teilen können, als gegebenenfalls (etwa bei Be­teiligung mehrerer Unternehmen) eine

maßvolle Erhöhung der Anzahl der Mitglieder des Be­triebsrats sinnvoll sein kann. Umgekehrt hat der Ge­setzgeber sich bei der Festlegung der Größe des Be­triebsrats durchaus seine Gedanken gemacht, und es ist nicht ersichtlich, wieso hier gegebenenfalls eine „Schrumpfkur“ angezeigt oder auch nur sachdienlich wäre. Dagegen spricht schon, dass bei zunehmender Betriebsgröße eine personelle Verstärkung des Betriebs­rats aufgrund des Arbeitsmehraufkommens für das Gremium erfolgen muss und bei vermeintlich überbor­dender Größe die Möglichkeit besteht, sich gem. §§ 27 ff. BetrVG durch Ausschüsse pp. im Sinne einer Arbeits­teilung effizient zu organisieren. Ein Effizienzschub durch Verkleinerung ist daher eher nicht zu „besorgen“.

Im Ergebnis tut man also gut daran, die Eingriffe in die­sem Bereich so gering wie absolut notwendig zu halten, denn eine erhöhte „Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit“ wird hier gegenüber einem seit langem tradierten Sys­tem eher schlecht nachweisbar sein – womit sodann die gesamte tarifliche Regelung in ihrer Wirksamkeit bedroht wäre, würde man diesen Weg gehen wollen. Wird eine unternehmensübergreifende Struktur errich­tet, mag allerdings eine maßvolle Erhöhung der Mit­gliederzahl denkbar, weil sinnvoll erscheinen. Einen Anlass, von den Wahlgrundsätzen abzuweichen, dürfte man nach alledem nicht anerkennen können.

4. Einbindung der Belegschaft?Ebenfalls nicht vorgesehen ist die Einführung unmittel­barerer Entscheidungselemente zugunsten der Beleg­schaft über § 3 Abs. 3 und § 4 Abs. 1 S. 2 BetrVG hinaus. Die Frage, ob abweichende Strukturen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gebildet werden, obliegt (abschlie­ßend) den Tarifvertragsparteien. Eine Öffnungsklausel zugunsten eines Belegschaftsentscheids gibt es nicht; sie macht einen entsprechenden Tarifvertrag unwirk­sam.9 Der Gesetzgeber traut eben nur den Tarifvertrags­parteien, und dafür hat er seine (guten) Gründe. Basis­

8 Dafür etwa Koch, in: ErfKomm, 17. Aufl., § 3 BetrVG, Rn. 8; eher zweifelnd Fitting u.a., BetrVG, 28. Aufl. 2016, § 3 Rn. 51.

9 BAG v. 10.11.2004 – 7 ABR 17/04, AP BetrVG 1972 § 3 Nr. 4 = http://lexetius.com/2013, 1456.

Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats sind unverzichtbar und können daher durch die Tarifvertrags-

parteien nicht eingeschränkt werden.

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demokratische Entscheidungen über die Wahlentschei­dung hinaus sind an dieser Stelle fehl am Platze.

IV. Ergebnis

Im Ergebnis ist also bei jedweder Abweichung vom tra­dierten Betriebsratsbegriff hinsichtlich Wahl, Größe und Zusammensetzung größtmögliche Zurückhaltung an­gebracht, da sich eine Verbesserung der Betriebsrats­arbeit hier nicht aufdrängt bzw. nicht darstellbar ist.

Reine Strukturentscheidungen sind zulässig, soweit und so lange die Betriebs­ bzw. Unternehmensstruktur die­se nahelegt bzw. vorgibt. Damit schließt sich dann auch der Kreis: Auf eine Änderung der Vorschriften über Be­triebsratswahl und ­zusammensetzung brauchen die Tarifvertragsparteien nicht zu warten, um handlungs­fähig zu werden, daher sind sie hier im Ergebnis auch nicht zum Handeln ermächtigt, denn § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG stellt nicht das gesamte System der betriebli­chen Interessenvertretung zur Disposition.

AktuellesRechtsprechung zum Recht der schwerbe­hinderten Menschen und ihrer Vertretungen

Zum siebten Mal legt der dbb die „Rechtsprechung zum Recht der schwerbehinderten Menschen und ihrer Ver­tretungen“ vor. Die Leitsatzsammlung mit einer Vielzahl von Entscheidungen aus den Jahren 2015 und insbeson­dere 2016 ermöglicht es, inhaltliche Schwerpunkte und Tendenzen zu erkennen.

Die Zusammenstellung richtet sich dabei keineswegs nur an Schwerbehindertenvertretungen, sondern glei­chermaßen an Personalrats­ und Betriebsratsmitglieder,

die vom Gesetzgeber ebenfalls, wenn auch in anderer Rolle, mit der Wahrnehmung der Belange der schwer­behinderten Beschäftigten beauftragt sind.

Alle Ausgaben der „Rechtsprechung zum Recht der schwerbehinderten Menschen und ihrer Vertretungen“ stehen auf der Website des dbb zum Download zur Ver­fügung.

Rechtsprechung zum Schwerbehindertenrecht, 7. Ausgabe

Impressum

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