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I Zielgruppen- und Sinnorientierung im Sport Vortrag von Prof. Dr. Peter Kapustin Seekirchen, am 01.06.2011

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Zielgruppen- und Sinnorientierung im Sport

Vortrag von Prof. Dr. Peter Kapustin

Seekirchen, am 01.06.2011

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Inhaltsverzeichnis:

1. Turnbewegung auf dem Weg – wohin? 1

2. Sportartorientierung – eine zu enge Perspektive 2

3. Zielgruppenorientierung – eine Perspektive mit Zukunft 3

3.1. Zielgruppe Kinder 5

3.2. Zielgruppe Jugend 9

3.3. Zielgruppe Familien 11

3.4. Zielgruppe Senioren – die 50plus-, die 60plus-, die 70plus- Generationen 12

4 Sinnorientierung im Sport – die Frage nach dem Warum 14

4.1 Bewegungslust 15

4.2 Spielfreude 15

4.3 Wetteifer/Leistung 16

4.4 Abenteuer 16

4.5 Naturverbundenheit 17

4. 6 Gesundheit 17

4.7 Selbsterfahrung/Selbstvertrauen 18

4.8 Gemeinschaft 19

5. Weitere Dimensionen der Sportentwicklung 20

6. Schlussbemerkung 21

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Zielgruppen- und Sinnorientierung im Sport

1 Turnbewegung auf dem Weg – wohin?

Wer seinen Weg sucht, der ist bereits auf dem Weg in die Zukunft und kann auf eine mehr oder weniger lange Wegstrecke zurückblicken. Der Bayerische Turnverband hat eine Wegstrecke von 150 Jahren hinter sich, war in der Gesamtbilanz offensichtlich sehr erfolgreich und sucht Orientierung für die Zukunft. Gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen werden seine Wegrichtung beeinflussen, wenn er seine Chancen erkennt und offen für eine dynamische Entwicklung ist. Umgekehrt – die Turnbewegung hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts gesellschaftspolitische, erzieherische, gesundheitspolitische und kulturelle Entwicklungen zumindest im deutschsprachigen Raum stark beeinflusst. Turnen in Schule und Verein war stets mehr als bloße Leibesübungen.

War das 19. Jahrhundert von der Turnbewegung vor allem für die Jugend geprägt, so war das vergangene 20. Jahrhundert die Zeit der Sportbewegung, die nicht ohne Spannungen aus der Turnbewegung gewachsen ist. Der Turnsport mit seinen Turnsportarten musste sich im Wettbewerb von inzwischen mehr als 100 Sportarten in den Vereins- und Verbandstrukturen behaupten. Die Statistik bestätigt immer noch die herausragende Bedeutung der Turnbewegung in Bayern: Fast 900.000 kleine und große Bürgerinnen und Bürger sind in 3185 Turn- und Sportvereinen turnerisch aktiv, davon fast 364.000 im Kindes- und Jugendalter (BLSV-Mitgliederstatistik – Stand: 31. 12. 2010); Mädchen und Frauen dominieren die Statistik - auch im Bereich der Turngruppenbetreuung. Die Turnkultur ist in einem flächendeckenden Netzwerk der Vereine und Turnabteilungen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsent.

Trotzdem – der Wettbewerb zwischen den Sportarten, den Fachverbänden ist und bleibt eine Herausforderung und zwingt zur dynamischen und doch definierten Orientierung in der Turnsportentwicklung. Tradition ist ein Wert an sich, aber die Zukunft kann mit traditionellen Zielen und Strukturen allein nicht gewonnen werden.

Nachfolgend werden sechs Dimensionen der Turn- und Sportentwicklung vorgestellt:

Dimension 1 : Sportartenorientierung

Dimension 2 : Zielgruppenorientierung

Dimension 3 : Sinnorientierung

Dimension 4 : Sporträume

Dimension 5 : Sportzeiten

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Dimension 6 : Qualität

2 Sportartorientierung – eine zu enge Perspektive

Etablierte Sportarten sind meist weltweit organisiert; die Weltverbände, nationale Mitgliedsverbände, regionale Verbandsstrukturen bis zur Vereinsebene – zumindest in unserem Kulturkreis – haben für den Wettkampfsport ihre spezifischen Normen und Regeln entwickelt, vor allem um faire und gleichartige Wettkampfbedingungen auf allen Ebenen zu gewährleisten. Die folgende Abbildung 1 zeigt die Parallelstrukturen der Sportarten, die Pfeile stehen für die 1. Dimension in der Sportlandschaft, d. h. für die Sportarten in Vereinen, regionalen, nationalen und internationalen Sportverbänden, die weitgehend unabhängig voneinander ihr „Eigenleben“ führen, aber in Konkurrenz zueinander um die Jugend werben, Talente für sich gewinnen wollen, um Medienpräsenz kämpfen, Vermarktungsstrategien entwickeln und von Sponsoren abhängig sind. Perspektive: Immer mehr Sportarten für immer weniger Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft! Zusätzlich wachsen die Erwartungen an die schulischen und berufsqualifizierenden Leistungen und Fähigkeiten der Jugend. Der Freizeitmarkt für junge Menschen ist dank der Freizeitindustrie, der Medienwelt sehr reichhaltig, fast unüberschaubar. Außerfamiliäre Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen, duale Studiengänge, Zunahme der Einsatzfelder für junge Menschen im freiwilligen sozialen Dienst u. v. m. sind bedenkenswerte Bedingungen für die zu enge Orientierung an Sportarten. Einige Sportverbände vertreten mehrere Sportarten; so sind z. B. im Bayerischen Turnverband mehrere Turnsportarten vertreten.

Abbildung 1: Sportarten

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3 Zielgruppenorientierung – eine Perspektive mit Zukunft

„Nicht der Mensch hat sich dem Sport anzupassen, vielmehr müssen Bewegung, Turnen, Spiel, Tanz und Sport dem Menschen angepasst werden!“

In der Planwirtschaft ist die Zielgruppenorientierung nur von sehr begrenzter Bedeutung; in der freien, sozialen Marktwirtschaft ist die Zielgruppenorientierung zu einer Erfolgsstrategie geworden. So garantiert nicht die breite „Masse“ wie zu Beginn der Marktwirtschaft den Vermarktungserfolg, sondern eine differenzierte Palette an Zielgruppen oder gar an Zielpersonen. Der „Massen“-Kunde ist anspruchsvoller geworden, er möchte individueller angesprochen werden und beurteilt für sich das Preis-/Leistungsverhältnis.

Auf den Sport übertragen: Der Massensport allein ist keine Erfolgsgarantie mehr; eine individuellere Programmgestaltung, eine auf den Menschen mit seinen individuellen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Interessen abgestimmtes Sportangebot schafft mehr „Bewegung“ in einer modernen Gesellschaft. Großevents sind zwar als Erlebnishöhepunkte im Jahreslauf gefragt, wie z. B. Turnfeste, Stadt-Marathons, Triathlon-Wettbewerbe, BR-Radl-Touren oder Spielturniere, ebenso wie von den Medien getragene Sportevents, die zu Zuschauermagneten geworden sind, wie z. B. im Fußballsport, im Biathlon, im alpinen Skisport, im Motorsport, im Beach-Volleyball oder im Feuerwerk der Turnkunst, denn ein Event - professionell arrangiert - ist weit mehr als eine bloße Sportveranstaltung oder Meisterschaft.

Die Blickperspektive in die Sportlandschaft verändert sich, wenn der Blick nicht nur auf die Sportarten gerichtet ist, sondern eben auch auf die Menschen, denen der Zugang zum aktiven Sport erschlossen werden soll. Rückt der Mensch in den Mittelpunkt der Sportentwicklung, dann ergeben sich inhaltliche, didaktisch-methodische, sprachliche und körpersprachliche, aber auch strukturelle Anpassungen und Veränderungen. Die Turnbewegung in unserem Land hat konzeptionell eine stärkere Profilierung in Richtung verschiedener Zielgruppen seit Jahrzehnten begonnen, den humanen Ansatz aber noch zu wenig betont bzw. „verkauft“.

Abbildung 2

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Die Abbildung 2 betont die 2. Dimension in der Sportlandschaft, d. h. die Zielgruppen vom Kind bis zum Seniorenalter, von den Talenten bis zu den Familien, von Mitbürgern/innen mit Behinderungen bis zu Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen. Die Pfeile, die quer zu den Pfeilen der Sportarten verlaufen, symbolisieren jeweils eine Zielgruppe, wobei weitere Differenzierungen möglich und zu empfehlen sind. Denkbar und teilweise realisiert ist die Strukturierungsdominanz der Zielgruppen, z. B. der Sportkindergarten, KISS – die Kindersportschulen, der Jugendclub, der Familiensportclub oder der Seniorenclub als eigene Organisationsform oder in einem Sportverein integriert, der Behindertensportverein, das Fitness-Studio für Frauen … Also handlungsleitend ist nicht eine Sportart, sondern die Zielgruppe, für die oder mit der aus verschiedenen Sportarten geeignete Varianten ausgewählt, erprobt und ausgestaltet werden, z. B:

Familien turnen, spielen, wetteifern, tanzen, wandern, erleben Ferien im Winter und im Sommer, singen, feiern, präsentieren sich …gemeinsam mit Betonung auf dem Miteinander und Füreinander.

Sportarten und Zielgruppen bilden ein Netzwerk, das um so tragfähiger für alle wird, je dichter es vor Ort geknüpft ist, d. h. auch die Verantwortlichen in den verschiedenen Sportarten auf Vereins- und Verbandsebene erkennen die Aufgabe, ihre Sportart im Hinblick auf verschiedene Zielgruppen variabel und variantenreich zu gestalten:

Z. B. Regeln vereinfachen, Spielfelder verkleinern, Netzhöhen verringern, Spielgeräte in Farbe, Form, Material und Flugeigenschaften so verändern, dass ein Spiel mit den Voraussetzungen der Teilnehmer gelingen kann , …

Zielgruppenorientierung bedeutet für den Anbieter in der freien Marktwirtschaft, dass er sein Produkt für den Kunden so attraktiv gestalten muss, dass dieser es annimmt, danach verlangt und es erwerben bzw. nutzen möchte. Im Sportverein sind es primär die Mitglieder, die erreicht werden sollen, aber zunehmend entwickelt sich in Sportvereinen ein Kunden/Dienstleistungs-Verhältnis, wobei der Kunde die Dienstleistung kauft und in Anspruch nimmt, aber eine Vereinsbindung kaum besteht. Das Vereinsmitglied ist enger an den Verein gebunden, leistet seinen Vereinsbeitrag und hat als Erwachsener Mitbestimmungsrecht im Verein (vgl. Vereinssatzung). Der gemeinnützig organisierte

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Turn- und Sportverein muss dem Gemeinwohl dienen und damit den Menschen im Einzugsbereich.

Zielgruppenorientierung im Sportverein bedeutet, die Menschen im Wohnumfeld des Vereins erreichen, das Sportangebot auf die Bedürfnisse und Interessen dieser Menschen abstimmen, ob sie nun jung oder alt, wohlhabend oder einkommensschwach, leistungsstark oder eher noch sportunerfahren sind, im Familienverbund oder alleine leben …

Zielgruppenorientierung ist keine Einbahnstraße vom Anbieter zu den Kunden bzw. zu den Mitgliedern oder erwarteten Mitgliedern. Zielgruppenorientierung heißt auch, den Weg von den Bürgerinnen und Bürgern zum Anbieter öffnen und die Interessen, Wünsche und Erwartungen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen im Verein und außerhalb erkunden, analysieren und bei der Programmentwicklung berücksichtigen - ein Prozess, der in überschaubaren Zeitabständen wiederholt werden sollte (fünf bis zehn Jahre). „Warum macht es für mich Sinn, im Sportverein Mitglied zu sein und aktiv am Vereinsleben mitzuwirken?“ Eine Frage, die aus der Perspektive der jeweiligen Zielpersonen zu beantworten ist. (Vgl. Kap. 4) Die Antworten sollten ein handlungsleitendes Kriterium - sicher nicht das einzige - für die Programm- und Strukturplanung sein. Nachfolgend werden beispielhaft vier Zielgruppen vorgestellt:

Kinder - Jugendliche - Familien - Senioren

3.1 Zielgruppe Kinder

Wenn unserem Land häufig bescheinigt wird, es wäre nicht sehr kinderfreundlich, so ist dafür sicher nicht die Turnbewegung verantwortlich. Im Gegenteil! Der Bayerische Turnverband mit seinen Vereinen und Turnabteilungen ist auch ein führender „Kindersportverband“, denn nur mit seinen über 311.000 gemeldeten und turnerisch betreuten Kindern wäre er allein schon der drittgrößte Fachverband in Bayern. Auf den Bayerischen Turnverband bezogen sind von den fast 900.000 Mitgliedern 35,3 % im Kindesalter bis 13 Jahre – eine sehr kinderfreundliche Bilanz!

Kindheit ist zu allererst eine eigenständige Lebensphase bis zur Pubertät, die sich von der Krabbelphase bis zum „goldenen Lernalter“ erstreckt und sich in zwei- bis dreijährige Entwicklungsphasen gliedern lässt. Mit dem Phänomen „Kindheit“ als sozial-kultureller Prozess in Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Entwicklungen – z. B. Familienbild und Familienstrukturen im Wandel, Veränderungsprozesse im Rollenverständnis der Geschlechter – haben sich Renate Kränzl-Nagl aus Wien und Johanna Mierendorff aus Halle an der Saale aus mehrperspektivischer Sicht beschäftigt. (Kindheit im Wandel, SWS-Rundschau Heft 1/2007, 3 – 25)

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Die Betreuerinnen und Betreuer der Kindergruppen in den Vereinen leisten einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag, dass Kinder sich ganzheitlich entdecken, an ihren Fähigkeiten mit Freude und Bewegungslust wachsen, Spiel- und Wetteifer entwickeln und dabei vom „Ich“ zum Wir-Verständnis reifen. Kinder sollen Kind sein dürfen und nicht als kleine Erwachsene erzogen werden. Das ist sicher keine neue Erkenntnis, aber leider in der bildungspolitischen Diskussion (PISA und ähnliche Schulleistungstests) und in der erzieherischen Realität nicht selbstverständlich.

Die Erfahrung „Kindheit“ bestimmt gewiss auch die weitere Entwicklung eines jungen Menschen, die Qualität seiner familiären Einbindung, die Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit in sozialer Integration im Kindergarten, in der Schule, in der Spielgruppe und in Vereinen. Eine konfliktträchtige Jugendzeit, das Aufkommen einer negativen Lebensgrundhaltung bis hin zur Selbstaufgabe haben ihre „Wurzeln“ in einer „frostigen“, überfordernden oder konfliktreichen Kindheit.

Mit seiner Kampagne „Fitte Kinder“ unter der Schirmherrschaft unserer Landtagspräsidentin, Frau Barbara Stamm, will der Bayerische Turnverband seinen Beitrag leisten, dass die Kinder fit sind für ihre Kindheit, Lust an Bewegung, Turnen, Spiel und Sport empfinden, sich in der Gemeinschaft Gleichaltriger bewähren und wohlfühlen, weit mehr Erfolgserlebnisse gewinnen als – sicher notwendige – Enttäuschungen. In der Verantwortungs- und Vertrauensgemeinschaft mit Familie, Kindergarten bzw. Schule und weiteren Miterzieherinnen und Miterziehern z. B. in Vereinen sind Absprachen und kooperatives Handeln geboten. Die Verantwortlichen müssen sich gegenseitig vertrauen und die Kinder mit Vertrauen zu den Bezugspersonen reifen können. Wer das Vertrauen eines Kindes zerstört und seine Macht missbraucht, der handelt schändlich mit nachhaltigen Folgen für die Entwicklung des Kindes bis in sein Erwachsenenalter. Die Lebenswelten der Kinder dürfen nicht verinseln, sondern sollten eine überschaubare, vernetzte Einheit bilden. Die angesprochene Verantwortungs- und Vertrauensgemeinschaft muss gelebt werden.

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Abbildung 3: Institutionalisierte Lebensweltinseln der Grundschulkinder

Ob z. B. Kindersportschulen (KISS), Sportkindergärten, Knaxiaden, Kinderturnfeste, Schularbeitsgemeinschaften, Kinderferienprogramme und das wöchentliche Kinderturnen mit Erlebnis- und Bewegungslandschaften in unseren Vereinen – alle Aktivitäten bieten Chancen für eine nachhaltig erlebnisintensive Kindheit.

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Fitte Kinder sind gesunde Kinder in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht. Zahlreiche Studien haben bewiesen, dass die gesundheitliche Verfassung von 15 % bis über 20 % der Kinder – je nach Region – bedenklich und teilweise gefährdend ist (z. B. Adipositas, Diabetes Typ II, Organleistungs- und Haltungsschwächen oder bereits Haltungsschäden), aber auch erhebliche Defizite in der motorischen Entwicklung bei Kindern im Vergleich zu früheren Kindergenerationen zu diagnostizieren sind (K. Bös u. a. seit den 80er Jahren). Aus der Perspektive „ physische Gesundheit“ ist also jedes 5. Kind ein Sorgenkind! Mindestens jedes 10. Kind wächst unter der Armutsgrenze auf (Sozialbericht in Tagesschau am 7. Mai 2011). Das Konzept „Fitte Kinder“ ist auch ein Pluspunkt für Kinder mit gesundheitlichen und sozialen Einschränkungen. Vielseitige Bewegungserfahrungen, eine entwicklungsgemäße Ernährung und eine jedes Kind wertschätzende Zuwendung sind „Markenzeichen“ von „Fitte Kinder“-Programmen in Vereinen in Partnerschaft mit Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, mit Lehrkräften, Kinderärzten und Ernährungsberaterinnen und –beratern.

Ohne auf Angsttheorien und auf die Begriffsabgrenzungen von Angst, Ängstlichkeit und Furcht einzugehen, müssen bei Kindern Anzeichen der Angst vor Verletzung, Versagen und Blamage, vor vermeintlich Leistungsstärkeren und vor Erwachsenen beachtet werden und Strategien der Angstvermeidung, zumindest der Angstreduzierung und Angstbewältigung entwickelt und genutzt werden. Basis ist ein das Selbstvertrauen und das Vertrauen in das soziale Umfeld stärkendes Ambiente einer Turn-, Spiel- und Sportstunde: Ermutigung statt bloßer Kritik, Freiräume statt Dominanz des Frontalunterrichts, Neugier und Kreativität, Spielfreude und Wetteifer wecken, statt vorgefertigten Übungsprogrammen zu folgen, Bewegungsvielfalt statt langwieriger Erklärungs- und Wartezeiten, individuelle Zuwendung statt kollektivem Gehorsam … ein Kind in Angst ist in Not!

Mit der Kampagne „Fitte Kinder“ sollen die Kinder auch fit werden für ihren weiteren Lebensweg, für ihre Selbsteinschätzung und für ihre Entscheidungsfähigkeit zur Wahl ihrer Sportarten als Lebensbegleiter in der Jugendzeit und darüber hinaus. Eine zu frühzeitige Spezialisierung auf eine Sportart oder Sportdisziplin ist sehr problematisch und kann eine Verengung der Kindheit bedeuten. Trotzdem kann die Balance zwischen Talentförderung und vielseitiger psycho-motorischer Erfahrung gehalten werden. Einem Kind muss die Chance zum Ballspielen, zum Lernen und Leisten, Erfinden und Gestalten, zum Turnen, Schwimmen, Radfahren, Inlineskaten, Rodeln und Skifahren, zum Tanzen, Musizieren und Singen, zum Mit- und Füreinander, zum Wetteifern und zu reichhaltiger Bewegungserfahrung geboten werden. Kinderturnen ist zweifellos die bedeutendste Aufgabe in der Turnbewegung! Es gilt unverändert oder sogar noch mehr als bisher:

Kinder sind unsere Zukunft und sollten einen von allen Gesellschaftsgruppen getragenen und gelungenen Start in ihr Leben, das auch Teil unser aller Leben ist, geboten bekommen.

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3.2 Zielgruppe Jugend

Jugendliche, die offensichtlich aus den Kinderschuhen wachsen und die Entwicklungsphase der Pubertät in körperlicher, psycho-sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht erleben und durchleben, sind auf dem Weg der Suche nach ihrem „Selbst“, ihrem „Ich“, nach ihrem Platz in ihrer näheren und weiteren sozialen Mitwelt, nach ihren Interessen, Begabungen und nach einem Lebensstil, der sie aus der Rolle des Kindseins emanzipiert. Der Prozess der qualitativ veränderten Neufindung und Selbstentdeckung ist konfliktreich, nicht selten auch frustrierend und doch notwendig, der in der Familie, in Schule und Verein erkannt, fördernd begleitet und mit emotionaler Nähe – nicht Überbehütung oder Druck – gestützt werden muss. Geduld, Vertrauen, Offenheit, Gerechtigkeit und Eindeutigkeit im Handeln sind Schlüssel zum jungen Menschen. Ausgrenzung, Mobbing, Ungerechtigkeit, Geringschätzung und Gewalt, Handlungsenge und erdrückende Liebe, die eigentlich keine Liebe mehr ist, sind Sperren zur Seele einer Jugendlichen oder eines Jugendlichen.

Die Zeit des lustbetonten Bewegungsdranges, der Freude an der Vielfalt von Bewegungs- und Spielerfahrungen weicht der Phase der zielgerichteten Suche nach dem „Ich“, nach Selbstbestätigung, Erfolg und Anerkennung. Dazu bietet der Freizeitbereich Chancen, die frühere Jugendgenerationen in der aktuellen Fülle neben oder ohne Bewegung, Turnen und Sport nicht hatten. Die Verlockungen in der Jugendszene sind groß, fast unüberschaubar und nicht immer dem nachhaltigen Wohl des jungen Menschen dienend, eher von fremden Interessen vorder- oder hintergründig gesteuert.

In der Sportlandschaft verliert etwa die Hälfte der Kinder mit Beginn ihrer Jugendzeit die Lust, in Vereinsstrukturen ihren Sport, ihre Wunschsportart zu suchen und zu betreiben. Fehlen Erfolgserlebnisse und verflüchtigt sich die Gemeinschaftsbindung über den Sport, dann werden die Prioritäten im Lebensalltag und in der Freizeit in einer Peer-Group auch ohne Sport gesetzt. Statistisch berechnet halbieren sich die Mitgliederzahlen im Jugendalter (14 bis 17 Jahre) im Bayerischen Turnverband – also in der Turnerjugend – proportional gegenüber den Zahlen im Kindesalter bis 13 Jahre. Ein Teil der abwandernden Jugendlichen bleibt aber sportlich aktiv in anderen Sportarten und im Trendsport auch außerhalb des Vereinssports. Der Turnsport im Kindesalter war, ist und bleibt eine Basis-Erfahrung auf dem Weg in viele andere Sportarten und Sportvarianten (Aussage von DFB Präsident Theo Zwanziger beim Deutschen Turn-Tag 2009).

Die Shell-Studie 2010 könnte eigentlich beruhigen, denn zwischen 69% und 84% der Jugendlichen aus Mittel- und Oberschicht sind mit ihrem Leben zufrieden bis sehr zufrieden. Aber – für die unterste Herkunftsschicht, die zunehmend wächst, ergibt die Studie ein umgekehrtes Bild; 60% sind mit ihrem Leben nicht zufrieden. Diese Jugendlichen mit einer eher negativen Lebensgrundhaltung sind für die Sportvereine kaum erreichbar; diese Jugend ist und bleibt offensichtlich ausgegrenzt. Da einerseits der Lebensoptimismus des noch größeren Teils der Jugend gewachsen ist und dies sich z. B. in ihrer positiv wirkenden Leistungsbereitschaft äußert, aber andererseits sich ein Teil der Jugend aus der

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sozial schwächsten Herkunftsschicht als „verlorene Jugend“ versteht, lässt sich kein homogenes Bild von der Jugend skizzieren – im Gegenteil: die soziale Schere spreizt sich immer weiter.

Jugendliche suchen und brauchen Freiräume auf dem Weg zur selbstbestimmenden und zugleich sozial verantwortlichen Persönlichkeit; die Autorität des Jugendbetreuers bzw. des Trainers oder der Trainerin bestimmt sich nicht in der Funktion, sondern in der Tandemfähigkeit, menschlich und fachlich zu überzeugen – die Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten, herausfordernd, beratend, vorbildlich und verständnisvoll, respektierend und ermutigend, geduldig, gerecht und berechenbar zu handeln. Auf der Suche nach ihrem, für sie geeigneten Sport sind sie für Überraschungen gut:

Vertrauten sie sich als Kind nahezu unkritisch ihrem Übungsleiter/ihrer Übungsleiterin an, kann die aufkommende Ängstlichkeit und Sensibilität zur Aufgabe einer motorisch-ästhetischen Sportart führen. Andererseits entdecken Jugendliche Risiko-Trendsportarten, in denen sie sich profilieren und bestätigen können. Um dem verunsichernden Vorführ-Effekt in einer Individualsportart zu entkommen, suchen wohl die meisten Jugendlichen Gruppen- und Mannschaftssportarten; so finden die Spielsportarten, die Showtanzgruppen und die Gruppenturnwettbewerbe ihre Jugend. Nicht zu unterschätzen sind die Kampfsportarten, vor allem aus dem asiatischen Kulturkreis, die ihre jugendliche Zielgruppe überwiegend in den unteren Mittelschichten finden.

Jugendliche lassen sich nicht mehr von den Eltern in den Sportverein schicken, wie dies noch im Kindesalter möglich war, vielmehr ist ihre eigene Entscheidung für den Turn- und Sportverein vom Vertrauensverhältnis zum Trainer bzw. zur Trainerin, von der Gruppenatmosphäre, der Neigung zur Sportart und von den Erfolgserlebnissen abhängig. Ein Qualitätsmerkmal von Vertrauen gegenüber Jugendlichen ist auch das wachsende Zutrauen, dass sie selbst- und mitverantwortlich handeln können, d. h. dass ihnen der Schritt in die Mitverantwortung z. B. in der Mitbetreuung von Kindergruppen zugetraut und ermöglicht wird.

Jugendarbeit im Turn- und Sportverein ist auch Netzwerkarbeit über die Kooperation mit Schulen hinaus, z. B. mit Institutionen der Jugendsozialarbeit, der Integration von jungen Menschen aus anderen Kulturkreisen, der kommunalen Jugendpflege.

76% der Jugendlichen „stellen für sich fest, dass man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können“ (16. Shell Jugendstudie 2010 – shell.de/jugendstudie). In dieser Studie betonen mehr als 90% der Befragten, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben, aber fast jeder vierte junge Mensch sieht auch ein Lebensglück in der Distanz zur Familie.

Die Familie ist deshalb und aus vielen weiteren Gründen eine immer wichtiger werdende Zielgruppe im Sport und für die Turn- und Sportvereine.

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3.3 Zielgruppe Familien

Die Familien sind eine noch immer unzureichend entdeckte Zielgruppe in den Turn- und Sportvereinen. Eltern-und-Kind-Turnen hat zwar eine jahrzehntelange Tradition in der Turnbewegung, zielt aber auf die Familie mit Kleinkindern. Familiensport mit Kindern im Schulalter ist in der Vereinslandschaft noch selten; Familien, die für sich Spiel und Sport als Bereicherung des Familienlebens entdeckt haben, sind inzwischen häufiger zu beobachten: Familiensport am Wochenende oder im Urlaub, auf Radwegen, in Schwimmbädern oder am Strand, beim Wintersport oder beim Wandern, beim Reiten oder beim Tennis …

Familien genießen in vielen Vereinen Vorteile in der Beitragsgestaltung, Eltern sind für Fahrdienste oder Betreuungsaufgaben vorgesehen, für einzelne Familienmitglieder werden spezielle Sportprogramme vom Gesundheitssport bis zum alters- und leistungsgemäßen Wettkampfsport angeboten. Das Miteinander in und mit einer Familiengruppe im Verein ist als Chance noch nicht wirklich erkannt; die Heterogenität in den Voraussetzungen lässt offensichtlich Zweifel aufkommen, ob Familiensport als Gemeinschaftsaktivität in einer Familiengruppe möglich ist und Familien zum Mitmachen motivieren kann. Punktuelle Projekte z. B. in Vereinen, in der Tourismusbranche oder in Bildungseinrichtungen oder Familienvereinen sind durchwegs positiv verlaufen und haben sich mit Nachhaltigkeit etabliert.

Familienpolitik ist aktuell, die Sorge um die Zukunft der Familien ist zugleich die zwingende Sorge um die Zukunft unserer Gesellschaft, aber auch um das Lebensglück des Einzelnen oder zumindest sehr vieler Menschen quer durch die Alters- und Sozialgruppen. Das Familienbild ist differenzierter geworden, der Trend zur Kleinfamilie mit einem oder zwei Kindern ist deutlich, Paare gründen ihre Familie häufiger später als frühere Generationen und sind zunehmend auf Kindertagesstätten bzw. ganztägige Betreuung ihrer Kinder angewiesen. Alleinerziehende und Patchwork-Familien haben die 20%-Grenze überschritten. Die Familienpolitik muss die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Familienleben schaffen und sichern, für die Qualität des Familienlebens sind die Familien selbst verantwortlich; die Turn- und Sportvereine, der Bayerische Turnverband wie auch andere Sportverbände können mit entsprechenden Familiensportangeboten zur Qualität des Familienlebens beitragen, wobei sich Familienfreundschaften entwickeln können und sportliche Aktivitäten mit den Erlebnissen im Mit- und Füreinander Erfahrungen ermöglichen, die z. B. in der Kleinfamilie, wie bei Alleinerziehenden mit einem Kind, kaum möglich sind. Im Angebot sind möglich:

Familiensport als wöchentliches Angebot – Eltern und Kinder gemeinsam oder teilweise gemeinsam im Wechsel mit parallelen Sportprogrammen für Kinder, Eltern und Großeltern

Familiensport-Events als ein Jahreshöhepunkt, auch in Partnerschaft mit Kindergärten und Schulen

Familiensportferien oder Familienurlaub mit sportlichen Aktivitäten

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Motto: The family that plays together stays together! (Nordamerikanisches Sprichwort aus der New Games Bewegung)

Besondere, aber zu integrierende Zielgruppen sind Familien mit behinderten Kindern und Familien aus anderen Kulturkreisen. Die Qualität des Familienlebens mit Kindern – auch und vor allem - unter Einbeziehung von Bewegung, Spiel, Turnen und Sport ist entscheidend für das folgende familiäre Miteinander, wenn die Kinder in das Jugendalter gewachsen und gereift sind.

Für Familiengruppenbetreuerinnen und –betreuer sollten Fortbildungsprogramme von Verbandsseite entwickelt werden, denn nur wer sich sicher fühlt, eine Familiengruppe mit Freude leiten und ganzheitlich betreuen zu können, wird sich im Verein um die Gründung einer Familiengruppe bemühen. Sportpolitisch sind die Entwicklung und die Förderung des Familienturnens bzw. des Familiensports geboten, wenn der Anspruch auf Gemeinnützigkeit des Vereinssports mit Weitblick erfüllt werden soll.

Der Bayerische Turnverband könnte z. B. mit vereinsübergreifenden Familien-Ferienprogrammen in Kooperation mit Kommunen, mit Ferienzentren der Sportverbände und geeigneten Ferienregionen die Bedeutung der Familien als Zielgruppe der Turnbewegung betonen.

3.4 Zielgruppe Senioren – die 50plus-, die 60plus-, die 70plus-Generationen

Der offensichtliche Zugewinn an Lebensjahren der Bürgerinnen und Bürger in Bayern wie auch in vielen Regionen vergleichbar hochentwickelter Länder bedeutet nicht zugleich Lebensqualität im letzten Lebensabschnitt, im Renten- und Pensionsalter. Die demografische Entwicklung mit dem proportional stärker wachsenden Anteil der Seniorinnen und Senioren in unserer Gesellschaft ist auch für die Turn- und Sportbewegung eine Herausforderung, denn einerseits wächst der Anteil der Sporttreibenden in mittleren Lebensjahren, der auch im sog. Seniorenalter aktiv bleiben will, zusätzlich sind Turn- und Sportvereine gefordert, Späteinsteigern, die aus gesundheitlichen und/oder sozial-psychologischen Gründen (z. B. Wunsch nach Gemeinschaftsbindung) ihre Lebensqualität so lange wie möglich hoch halten und ein selbstbestimmtes Leben mit Handlungsfreiräumen führen wollen, wozu sie entsprechend fit sein müssen. Die Turn- und Sportvereine sind bestens geeignet, ein gesundheitsorientiertes und zugleich kostengünstiges, bewegtes und bewegendes Gemeinschaftsprogramm zu entwickeln und anzubieten. Seniorengruppen und Seniorenclubs in Vereinen sind keine Seltenheit mehr. Selbst im Wettkampf- und Leistungssport wächst der Anteil von Männern und Frauen der „S-Klasse“, die gezielt in ihrer Sportart trainieren.

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Der Bayerische Turnverband ist für die „S-Klasse“ unserer Gesellschaft ein seit Jahrzehnten „offenherziger“ Partner. Die Turn- und Sportvereine bieten flächendeckend und in großer Zahl (Schätzung: mindestens die Hälfte) für ihre älteren und ältesten Mitglieder nicht nur die passive Mitgliedschaft, sondern ein zielgruppengerechtes Bewegungs-, Turn-, Sport-, Spiel-, Tanz-, Wander- und Geselligkeitsprogramm an, wobei die engagierte Mitarbeit älterer Vereinsmitglieder im Vereinsleben für den Verein zunehmend von existenzieller Bedeutung ist und wird.

Spezielle, auf die Zielgruppe abgestimmte Übungsleiter-Aus- und -Fortbildungen sind entwickelt und haben sich bewährt. Ein ausgebildetes Übungsleiterteam ist der Schlüssel zur Entstehung und zum Gedeihen von Senioren-Turn- und Sportgruppen in Vereinen. Flankierend arbeitet der BTV an aufgabenspezifischen „S-Klassen“-Ausbildungen, die auf Programm-Qualität in der eher ganzheitlichen Organisation und Begleitung von Seniorengruppen abzielen: Seniorinnen und Senioren in der Mitverantwortung für die wöchentlichen Treffen, für Wochenend-Programme oder für gemeinsame mehrtägige Ferienreisen mit kulturellen und sportlichen Aktivitäten, z. B. Seniorenwochen in Ferieneinrichtungen des Bayerischen Landes-Sportverbandes, in der näheren und ggfs. weiteren Erholungslandschaft.

Auch für die Seniorenprogramme in Turn- und Sportvereinen ist Netzwerkarbeit mit anderen Einrichtungen der Seniorenarbeit z. B. in Kirchengemeinden, kommunalen Einrichtungen und Institutionen der Seniorenbetreuung geboten und eine Möglichkeit, ältere Frauen und Männer in „Bewegung“ zu bringen, wobei diese ihre Lust zu den Aktivitäten gewinnen, sich die angepassten Belastungen zutrauen und das Gemeinschaftserlebnis genießen können.

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4 Sinnorientierung im Sport – die Frage nach dem Warum

Abbildung 4: Sinnorientierung im Sport

Warum ist es sinnvoll, Sport zu treiben, zu turnen, zu spielen, zu tanzen, zu wandern u. v. m.? Die in der Abbildung 4 betonte 3. Dimension der Sportentwicklung bezieht sich auf die „Beweggründe“, auf die Motive der sportlich aktiven Kinder, Jugendlichen, Frauen, Männer, Familien, Seniorengeneration, Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen und aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Der Sinn einer Handlung, z. B. des Sporttreibens, liegt in der Handlung selbst, kann aber von Zweckbestimmungen, die außerhalb der Handlung liegen, überlagert werden. Die Lust zur Bewegung, der Wetteifer, das Erlebnis einer Gemeinschaftsleistung sind Motive, die in der sportlichen Handlung Erfüllung finden können. Die Gesundheit verbessern, Geld zu verdienen, Anerkennung zu gewinnen sind mögliche „Erträge“ bzw. Folgen des Sporttreibens, also Zweckorientierungen.

Die „Beweggründe“ im Sport sind vielfältig und von Zielgruppe zu Zielgruppe, von Zielperson zu Zielperson unterschiedlich gewichtet:

Bewegungslust Spielfreude Wetteifer/Leistung Abenteuer Naturverbundenheit Gesundheit

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Selbsterfahrung/Selbstvertrauen Gemeinschaft

Für jeden Menschen, der sich für sportliche Aktivitäten als Lebensbegleiter entschieden hat, gelten sicher mehrere Motive, die sich ergänzen und im Laufe des Lebens in ihrer Gewichtung verändern. Dominiert bei kleinen Kindern der Bewegungstrieb, die Lust zur Bewegung, blühen Kinder in der Spielfreude und im Wetteifer auf, so wird die Leistung – auch im Sport - in den Jahren der Jugendzeit und darüber hinaus zu einem Wert in der Berufs- und Freizeitwelt. Aber auch die sportlichen Herausforderungen, die dem Menschen in der Natur begegnen, und die Erfahrung, nahe am Puls der Natur zu sein, faszinieren Menschen von ihrer Jugendzeit an fast ein Leben lang. Mit zunehmendem Alter drängt das Motiv oder auch der Zweck „Gesundheit“ in den Vordergrund. Bewegung, Spiel, Tanz, Turnen und Sport bieten nicht austauschbare Selbsterfahrungen, die Chance, sich immer wieder neu zu entdecken und Selbstvertrauen zu „tanken“. Mag sein, dass so mancher Sportler die Einsamkeit sucht und in seinem Sporttreiben alleine sein will, aber die soziale Stärke der meisten Sportangebote in Vereinen ist ihre integrierende Kraft, das Miteinander in der überschaubaren und zugleich heiteren Gemeinschaft, die so manchen Menschen – ob jung oder alt – vor möglicher psychisch belastender Einsamkeit schützt.

4.1 Bewegungslust

Gesunde Kinder zeigen sichtbar, spürbar, hörbar – sehr emotional – ihre Lust auf Bewegung, wenn sie ihren natürlichen Bewegungsdrang unter Beachtung möglicher Unfallgefahren ausleben dürfen, aber nicht gefesselt und gebannt ihre Gefühlswelt in virtuelle Medienspiele oder Ähnlichem vertiefen. Bewegungseinschränkende Disziplinierungsmaßnahmen, ein hohes Maß an lang andauernden Sitzleistungen und unzureichende Bewegungs- und Spielräume entsprechen nicht der Natur des Menschen, der von Geburt an auf Bewegung angelegt ist.

Lust auf Bewegung ist auch im Jugend- und Erwachsenenalter ein Zeichen von Lebensfreude und sollte möglichst ein Leben lang „gepflegt“ werden – Bewegung nicht als Schwerstarbeit, sondern Bewegung zur Entspannung, als Ausgleich, zur Selbsterfahrung, als Ausdruck der Gefühle und der Phantasie mit Rhythmus und Musik …

4.2 Spielfreude

Das Phänomen „Spiel“ ist faszinierend und hat Dichter (u. a. F. Schiller), Philosophen (u. a. J. Huizinga, H. Scheuerl), Pädagogen ( u. a. O. Grupe, U. Baer) , Psychologen, Soziologen und Therapeuten zu Forschungsprojekten, zu Analysen, zu Handlungs- und Behandlungskonzepten angeregt. Der Mensch ist ein „homo ludens“, ein spielender Mensch (vgl. J. Huizinga 1937) vom Gedankenspiel über das musische Spiel zum

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Bewegungsspiel, vom Kinderspiel zum Sportspiel, aber auch vom Glücksspiel zur Spielsucht! Spielpädagogen wollen zum Spielen, im Spielen und durch Spielen erziehen.

Ein Kind, das nicht spielen kann, ist in Not – ein Mensch in Not kann nicht spielen. Das behutsam ausgewählte und gestaltete Spiel hat sich für spezielle Zielpersonen auch als Therapie bewährt (Kennenlern-, Kooperations- und Vertrauensspiele). Das Spiel ist Realität und doch eine traumhafte Erlebniswelt mit offenem Ausgang. Das Spiel folgt Regeln und hat Grenzen, trotzdem kann die Spielfreude ein Leben lang wie ein Feuer glimmen und lodern.

Das Spiel kann eine Art Flucht aus der Alltagsrealität sein, Erholung bedeuten, aber eben auch im Wechselspiel von Sieg und Niederlage zu emotionalen Extremen führen.

4.3 Wetteifer/Leistung

Sind Kinder im Alter von z. B. acht bis zwölf Jahren in ihrem Wetteifer nicht mitreißend, wenn sie z. B. bei einer Pendelstaffel – ob als Läufer oder als Wartender – ihren Gefühlen freien Lauf lassen, anfeuernd schreien, mit dem ganzen Körper gestikulieren, im Jubel zum Himmel hoch springen oder sich bei Enttäuschung auf den Boden ducken …?

„Ich will …!“, „Ich kann …!“, „Ich kann auch …!“, „Schau, was ich kann …!“ – Deutliche Äußerungen von kleinen Kindern, die sich über ihre Leistung freuen. Leistungen im Sport sind wohl der stärkste Antrieb, ob als Einzelleistung oder als Teamleistung, ob als physisch-motorische, als psycho-motorische oder als sozio-motorische Leistung, ob als messbare, bewertbare, als sichtbare oder gedankliche Leistung …, ob im Vergleich mit einem selbst, mit eigenen Vor-Leistungen, oder im sozialen Vergleich, ob im altersgemäßen Vergleich oder an Maßstäben der Spitzenklasse … Jeder Mensch, der sportlich in Bewegung ist, „schielt“ nach der Leistung, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Bedeutung und Gewichtung. Ohne Leistungsgedanken ist Sport nicht denkbar!

4.4 Abenteuer

Eine Entdeckungsreise ist meist ein Abenteuer. Sich selbst, die Mit- und Umwelt zu entdecken, ist für Kinder ein Abenteuer – vielleicht auch für Erwachsene. Bewegungsbaustellen, Fang- und Versteckspiele im Wald, Erlebnisturnen zum Finden und Erfinden von Bewegungsvarianten, Spielfeste, Trendsportarten im Gelände erproben u. v. m. zielen auf Tiefe und Nachhaltigkeit der Gefühle der Kinder.

Abenteuersportarten im und auf dem Wasser, zu Lande auf Bergen, in Schluchten, am Strand, in der Wüste, im Schnee und auf Eis, in der Luft fliegend und fahrend sind bis weit in das Seniorenalter lockende und verlockende Erlebnisse mit einem gewissen

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Risikopotenzial. In der Tourismusbranche sind Abenteuerreisen in die Natur mit sportlichen Akzenten im Aufwind.

4.5 Naturverbundenheit

In jedem Menschen schlummert der Wunsch, in und mit der Natur zu sein, vor allem weil die Chancen dazu seltener geworden sind. Der Mensch ist zwar Teil der Natur, er lebt aber so, dass er die Natur gefährdet, künstlich umgestaltet, entfremdet und leider auch zerstört. Dort, wo nicht gegen die Natur gehandelt wird, sondern mit Respekt vor der Natur in ihr gewandert, gelaufen, geklettert, geritten, gesegelt, gefahren, getaucht, geflogen wird, besteht die Chance, eine emotionale Verbundenheit zur Natur zu entwickeln: die Natur beobachten, genießen, riechen und schmecken, erlauschen und hören, spüren, also mit allen Sinnen erfassen, nicht bloß benutzen und ausnutzen. Die Naturnähe ist vom Kindesalter an zu fördern und sollte ein Leben lang als Bereicherung geschätzt werden können.

4. 6 Gesundheit

Wie heißt es in einem Sprichwort: „Es gibt viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit!“

Dass Bewegung, Turnen, Spiel und Sport der Gesundheit dienen können, wenn sie angemessen betrieben werden, ist inzwischen wohl bekannt, was aber nicht bedeutet, dass alle Bürgerinnen und Bürger nach dieser Erkenntnis handeln. Chronische Erkrankungen, die sich leider zunehmend bereits im Kindesalter zeigen, sind auch die Folge von falscher Ernährung in Kombination mit Bewegungsmangel in allen Altersgruppen und Sozialschichten.

Gesundheit ist mehr als nur das frei sein von Krankheiten. „Gesundheit ist eine Erlebnisqualität, die sich aus der Lebensgrundhaltung, der Lebensführung des Einzelnen, aber auch in Abhängigkeit von naturgegebenen und sozialen Bedingungen bestimmt. Gesundheit schließt Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, die Fähigkeit und die Antriebsstärke des Einzelnen mit ein, sich in Selbst- und Mitverantwortung um eine gesundheitsdienliche Lebensweise und um gesundheitsfördernde Lebensbedingungen für die Familie, für das soziale Umfeld, für das persönliche Wohlbefinden und das Gemeinwohl zu bemühen.“ (Kapustin,P., 2007)

Gesundheit als Befund im Sinne medizinischer Diagnostik Gesundheit als Lebensstil, verbunden mit individuellen Vorlieben und

gesellschaftlichen Trends, Gesundheit als ganzheitliches, den Mensch in seiner Gesamtheit erfassendes

Lebensgefühl Gesundheit als eigenverantwortliche Leistung des Individuums im Sinne stetiger

Pflege und Erneuerung

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Gesundheit als Erziehungsaufgabe, als „Pfad, der sich bildet, indem man ihn geht“

Gesundheitsport ist eine eigenständige Säule in der Sportlandschaft geworden, öffentlich anerkannt und gefördert.

Gesundheitssport als

Fitness-Sport Präventions-Sport Rehabilitations-Sport/Sport als Therapie

Qualitätssiegel, wie „Pluspunkt Gesundheit“ oder „Sport pro Gesundheit“, haben der Entwicklung des Gesundheitssports in den Turn- und Sportvereinen starke Impulse gegeben; aber auch in Erwachsenenbildungsinstitutionen, Betrieben und Fitness-, Gesundheits- oder Wellness-Studios und Programmen von Kranken-/Gesundheitskassen hat der Gesundheitssport Hochkonjunktur. Aktuelle Gesundheitsprogramme in den Vereinen verbinden sportliche Aktivitäten mit Erkenntnissen zur angemessenen Ernährung, zur sozialen Integration und zum Abbau von psychischen Belastungen.

4.7 Selbsterfahrung/Selbstvertrauen

Eng mit dem gesundheitlichen Wert von Bewegung, Turnen, Spiel und Sport verbunden ist ein hohes Maß an Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung nicht nur für die bewegungsarme Alltagswelt, sondern auch im Hinblick auf die körperliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit, die jedoch im Verbund mit der psycho-sozialen, kognitiven und emotionalen „Welt“ im Menschen zu sehen und zu verstehen ist.

Sportliches Handeln kann das Selbstvertrauen eines jeden Menschen stärken, wenn dieser nicht überfordert, nicht ausgegrenzt und in seiner Würde nicht missachtet wird.

Der Anteil der Menschen, der sich nur unzureichend kennt und sich in seiner physischen und psychischen Belastungsfähigkeit kaum einschätzen kann, wächst, weil diese Menschen einen wesentlichen Teil ihres Daseins weitgehend ignorieren. Ommo Grupe hat in seinem anthropologischen Ansatz zur Legitimation des Sports bereits 1969 das duale Verhältnis des Menschen zu seinem Leib, der mehr ist als nur ein Körper, betont:

Leib sein = existenzielle Bedeutung Leib haben = instrumentelle Bedeutung

Sportliches Handeln bietet die Chance, beide Bedeutungen des Leibes für den Menschen zu erfahren, zu begreifen und zu verstehen.

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4.8 Gemeinschaft

Einzelkinder, Alleinerziehende, über 50% Single-Haushalte in Großstädten, Alleinsein oder sogar Einsamkeit nach Verlust des Lebenspartners und sozialer Bindungen z. B. nach dem Berufsleben – diese und ähnliche Lebenssituationen können für den Einzelnen in Gemeinschaften, wie Kinder- und Jugendgruppen, Familien- und Seniorengruppen, Spielmannschaften und Sportteams in Vereinen, in ihrer psycho-sozialen Belastung gemindert werden. Die engere Bindung an die Vereinssportgruppe ist auf längere Sicht eine nicht zu unterschätzende Chance, das Miteinander zu lernen, zu pflegen und zu genießen. In einer Sportgruppe „vereint“ zu sein, „verein“barte Ziele anzustreben, sich einer Vereinigung zu verschreiben, drückt sich nicht nur in der Vereinssatzung aus, sondern ist und wird für viele Menschen auch weiterhin eine Stärke des Vereinslebens sein, wenn dieses auch gepflegt wird und sich der Turn- und Sportverein nicht nur zu einem „Dienstleistungsunternehmen“ entwickelt und abwertet. Der Verein sollte mehr sein als ein „Supermarkt“ mit preisgünstigen Bewegungsangeboten.

Gemeinschaftspflege in den Sportgruppen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Leistung und Herkunft – und die Kultur der Wertschätzung verdienter und altgedienter Mitglieder eines Vereins waren und sind wirksame Markenzeichen eines gelingenden Vereinslebens, die jedoch in der Gefahr sind, zu verblassen. Der Turn- und Sportverein kann Ideen aus der kommerziellen Sportwelt aufnehmen, aber er sollte sein Profil als „Bürgerinitiative“, als gemeinnütziges Feld des Bürgerengagement niemals aufgeben, was aber deutlich mehr Professionalität nicht nur in der Gruppenbetreuung, sondern auch im Management erfordert. Der Erfolg des Vereins lässt sich nicht nur an seinen sportlichen Leistungen messen, sondern auch an seiner Offenheit, seiner integrierenden Kraft und an seiner Fähigkeit, die Jugend zu Toleranz und zum Miteinander zu erziehen und Menschen zu Freundeskreisen im und durch Bewegung, Turnen, Spiel, Tanz und Sport zu „vereinen“.

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5 Weitere Dimensionen der Sportentwicklung

In der Abbildung 5 sind weitere Dimensionen der Sportentwicklung betont.

Für den Sport, für die Menschen im Sport müssen Räume mit geeigneten Ausstattungen zur Verfügung sein, wobei auch hier die bisher genannten Dimensionen Sportarten, Zielgruppen und Motive/Sinngebungen handlungsleitend für Planungen und Realisierungen sein müssen. Ökonomische und ökologische Aspekte rücken zunehmend stärker in den Fokus der Sportanlagenentwicklung und des Sportanlagen-Managements.

Flexible Arbeitszeiten, eine mobile (Fahrzeuge!) Gesellschaft und eine Freizeitgesellschaft - zutreffend zumindest für die Seniorengeneration - führen zu und erfordern mehr Flexibilität in der Programmgestaltung der Sportanbieter z. B. in Vereinen, in kommerziellen Studios und in der Tourismus-Branche.

Die aufgeklärte Gesellschaft, die professionelle Konkurrenz, der umkämpfte Sportmarkt, die Erwartungen der Steuerzahler u. s. w. sind Faktoren, die zu einer Qualitätssteigerung im Sportangebot, in der Sportgruppenbetreuung und im Sportmanagement geführt haben. Der Trend zur Qualität in Bewegungs- und Sportprogrammen ist in „Schwung“ gekommen.

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6 Schlussbemerkung

Wohl wissend, dass die Entwicklungsperspektiven der ehrenamtlich geführten Turn- und Sportvereine begrenzt sind, so lohnt sich doch eine Mitbewerber-Analyse, eine flankierende Professionalisierung im Ehrenamt und im Hauptamt, wenn neue Zielgruppen, z. B. Familien, Reha-Patienten oder junge Menschen aus unteren Sozialschichten, nach vereinsinterner Entscheidung erschlossen bzw. für den Verein gewonnen werden sollen. Nicht jeder Turn- und Sportverein kann alle Erwartungen erfüllen, wichtig ist vor Ort die Schaffung eines tragfähigen Netzwerkes, dass alle Bürgerinnen und Bürger trägt, die ein qualitativ anspruchsvolles Sportangebot mit ihren „Beweg“-Gründen in Wohnnähe nutzen und mitgestalten wollen.

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Quellenverzeichnis:

Grupe, O.: Grundlagen der Sportpädagogik. Schorndorf, 1969

Bös, K.: Brauchen Kinder und Jugendliche Bewegung? Universität Karlsruhe, 2005

Kränzl-Nagl,R., Mierendorff, J.: Kindheit im Wandel. SWS Rundschau 1/2001, 3 – 25

Kapustin, P., Reuter, Ch.: Vernetzte Gesundheitserziehung im Grundschulalter. Göttingen 2010

Kapustin, P.: Vorlesung Sportpädagogik. Manuskript 2007 (unveröffentlicht)

Kapustin-Lauffer, T.: Lebenswelten der Grundschulkinder und ihre Vernetzung als pädagogische Chance. München 2006

Dieckert, J., Wopp, Ch.: Handbuch Freizeitsport. Schorndorf 2002

Huizinga, J.: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 1939 (Rowohlt Verlag 1994)

Scheuerl, H.: Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. 11. Aufl., Weinheim 1990

Die Grafiken 1 bis 5 sind von P. Kapustin gestaltet.