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Martin Zenck Zur Dialektik von auditiver, performativer und textueller Analyse: Pierre Boulez’ Polyphonie X (1951) mit grundlegenden Reflexionen über das Hören Symposiumsbericht »Wider den Fetisch der Partitur. Hörprobleme serieller und post-serieller Musik«, in: Beitragsarchiv des Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung, Mainz 2016 – »Wege der Musikwissenschaft«, hg. von Gabriele Buschmeier und Klaus Pietschmann, Mainz 2018 Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (https://portal.dnb.de) und auf schott-campus.com © 2018 | Schott Music GmbH & Co. KG

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Martin Zenck

Zur Dialektik von auditiver, performativer und textuellerAnalyse: Pierre Boulez’ Polyphonie X (1951) mit grundlegenden Reflexionen uber das Hören

Symposiumsbericht »Wider den Fetisch der Partitur. Hörprobleme serieller und post-serieller Musik«,

in: Beitragsarchiv des Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung,Mainz 2016 – »Wege der Musikwissenschaft«, hg. von Gabriele Buschmeier und Klaus Pietschmann, Mainz 2018

Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 im Katalogder Deutschen Nationalbibliothek (https://portal.dnb.de) und auf schott-campus.com© 2018 | Schott Music GmbH & Co. KG

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Martin Zenck

Zur Dialektik von auditiver, performativer und textueller Analyse: Pierre Boulez’ Polyphonie X (1951) mit grundlegenden Reflexionen über das Hören

Einleitung: Chiasmus von Hören und Sehen

Die beiden Sinne des Hörens und Sehens, wie sie auch für die Intermedialität von Musik und Bild1 bestimmend werden, können innerhalb einer auch intersensoriellen Dynamik verortet werden. Danach sind sie zwar Fern- und Nah-Sinne zugleich, werden aber etwa – in den barocken Sinnesallegorien von Rubens und Breughel2 – durch das tertium comparationis des Tastsinns verbunden. So erfolgt zwar vom Visus aus der Blick auf das Panorama der Sinne, aber im Bild selbst wird mit der Musik des die Laute schlagendenden Musikers, also seiner taktilen und haptischen Aktionen, auch mit der Dame mit dem Pelzchen die Berührung aufgerufen und somit der Berührungs-Sinn mit dem auditiven wie taktilen Sinn der Musik verknüpft. Damit ist die Musik ganz entschieden eine Kunst der Berührung nicht nur im übertragenen, sondern im ganz realistischen Sinn eine taktile Kunst. Auf andere Weise ist der Visus mit dem Auditus in zwei Bildern aufeinander bezogen, die gegenwärtig in einer Barock-Ausstellung in Mannheim zu sehen sind: auf der einen Seite das berühmte Bild L’Allégorie de la vanité (1640) von Guido Cagnacci, auf der anderen das Bild Alter Mann (1625/26) von Jan Lievens.

Zunächst scheinen die beiden Gemälde gar nichts miteinander zu tun zu haben, aber es zeigt sich, dass das eine ganz dem lebendigen und vitalen Sinn des Sehens der jungen nackten Frau zugewiesen wird, die zwar mit der linken Hand sich auf einen Totenschädel stützt, aber in der rechten Hand ein Röschen und eine Pusteblume hält und dabei sehnsuchtsvoll auf eine begehrliche Zukunft sieht. Dagegen zeigt das Bild des Alten Mannes dessen abgewandten, aber doch vom eigenen Geschick wissenden Blick, wäh-rend sein großes Ohr ganz unverdeckt in die Zukunft zu lauschen scheint. Beide Bilder sind mit einer bestimmten Sicht der Dinge auf den Tod gerichtet und dadurch miteinander verbunden, denn die junge, ganz unbekleidete Frau wendet sich nicht nur mit ihrem Blick vom Totenschädel ab, sondern hält in ih-ren Händen auch eine Pusteblume, eine äußerst vergängliche Pflanze, welche in dem Augenblick, in dem sie angeblasen wird, auch ihre Blütenstände zerstäubt, also zu Staub wird, um gleichzeitig auch mit den verstreuten Blüten neues Leben zu erzeugen. Mortifikation und Animation hängen hier also aufs engste miteinander zusammen. Dagegen, so die Forschung,3 findet sich der Alte Mann mit seinem jederzeit möglichen Tod ab, hat aber sein Ohr ganz offen auf den Betrachter und auf die Zukunft ausgerichtet,

1 Vgl. dazu systematisch den im Druck befindlichen Kongress-Bericht Intermedialität von Bild und Musik, hrsg. von Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann, Gregor Wedekind und Martin Zenck (Fink-Verlag, Paderborn), sowie Martin Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde, Paderborn 2017, S. 641–726 (Kapitel III »Intermedialität von Bild und Musik«).2 Vgl. dazu Martin Zenck, »Goûter – Sentir – Tocher. Die Nahsinne in der Alltagsästhetik und in der physiologischen Ästhe-tik und Kunst des 18. Jahrhunderts«, in: Über Geschmack läßt sich doch streiten. Zutaten aus Küche, Kunst und Wissenschaft, hrsg. von Irene Schütze, Berlin 2010, S. 135–147.3 So Tilmann Spreckelsen in seiner Besprechung » ›Bei Gott, was haben wir getan?‹ – Zur Barock-Ausstellung in Mannheim«; vgl. auch die beiden Einträge zu diesen Bildern im Mannheimer Ausstellungskatalog von Kirsten Dickhaut (»Vergänglich-keit, Vanitas, Zeit in der Literatur«) und Andreas Krock (»Schönheit, Tod und die Ewigkeit der Welt«), in: Barock. Nur schöner Schein?, hrsg. von Alfried Wieczorek, Chrisoph Lind und Uta Coburger, Regensburg 2016, S. 208–213.

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womit hier in vergleichbarer aber entgegengesetzter Weise als im anderen Bild eben auch Mortifikation und Animation in einer intensiven Spannung befindlich ausgewiesen werden. Die beiden Sinne, der Hör- und Gesichtssinn, sind aber der Kognitionslehre von Picola de la Mirandola zufolge nicht nur solche der gegenwärtig getätigten perceptio/apperceptio, sondern sind einerseits mit der Vergangenheit, mit der memoria verbunden, andererseits mit der Zukunft der divinatio, so dass mit der augenblickli-chen Wahrnehmung immer auch zugleich eine Abgleichung mit den in der Vergangenheit gesehenen Dinge erfolgt, wie auch diese Wahrnehmung gekoppelt ist mit den Dingen, die in der Zukunft gesehen werden. In dieser Weise sind auch die beiden zitierten Bilder miteinander verbunden: die Abkehr des nach innen gewandten Blicks des Alten Mannes, der gleichzeitig mit offenem Ohr in die Zukunft hört, wie die Abkehr des Blicks der jungen Frau von der Vergänglichkeit in eine lusterfüllte Zukunft, die gleichwohl auch so rasch vergeht, wie die im Windhauch sich dann zerstäubende Pusteblume. Hören und Sehen sind also im Angesicht des Todes miteinander verbunden und dies auch grundsätzlich, wenn Situationen im Konzertsaal berücksichtigt werden, weil mit Hilfe des Sehens auch die Hörrichtung akti-viert wird, aus der die Musik kommt. Wichtig aber für unsere Thematik ist insgesamt eher der Chiasmus von Hören und Sehen als der Dualismus dieser beiden Sinne, so wie vor allem der Tastsinn, den beide ganz grundlegend voraussetzen und der für das Spielen eines Instruments wie für die Wahrnehmung von Musik ganz entscheidend ist.

I. Das Hören zwischen oraler und skripturaler Kultur

Bevor ich mich im engeren Sinn meinem Thema des Verhältnisses von auditiver, performativer und textueller Analyse von Polyphonie X zuwende, möchte ich mich zunächst, wie auch einige andere Beiträ-ge von Susanne Kogler, Manos Tsangaris und Dieter Mersch, Fragen des Hörens, des Zu-, Hin- und Nachhörens, auch des Überhörens widmen. Dies nicht zuletzt deswegen, weil diese Thematik beson-

Abbildung 1: Guido Cagnacci, Allégorie de la Vanitas et de la Pénitance (um 1640), Öl auf Leinwand. Amiens, Musée de Picardie (M.P. Lav.1894-232). Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Stell+Steiner

Abbildung 2: Jan Lievens, Alter Mann (um 1625/1626). Öl auf Eichenholz. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie (GG 741). Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Stell+Steiner

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ders aktuell ist, wie sich nicht nur an unserer Konferenz zeigt, sondern auch an einer von Medizinern in Freiburg veranstalteten Tagung über das Hören, an deren Beginn der Philosoph Bernhard Waldenfels4 sprach. Er hat mir freundlicherweise seinen Vortrag noch vor seiner Drucklegung zugänglich gemacht. (Diesen Vortrag habe ich auf seine ausdrückliche Genehmigung hin unter uns zirkulieren lassen.) Und da wir auch gesprächsweise auf Peter Szendys Büchlein über das Hören5 Bezug nahmen, möchte ich von diesen und weiteren Schriften zu diesem Thema meinen Ausgangspunkt in meinem Vortrag heute nehmen. Waldenfels akzentuiert einerseits die »Vorgängigkeit des Hörens«, das immer schon vor dem Beginn eines Stückes liegt und andererseits anhält, obwohl die Musik bereits vorüber ist. Waldenfels hat diesen paradoxen Vorgang eines vorausgesetzten wie nachfolgenden Echos mit einem bestimmten Begriff vom Pathos verbunden, das nun noch zu entwickeln ist. Er geht dabei von »einer Unvermit-telheit der Empfindung« aus, die durch das Wort der Sprache und den Ton der Musik in eine andere Dimension verlegt wird, wenn sie nicht überhaupt zerstört wird, was er als »Verrat« an der Sache, also an der »Unvermittelheit der Empfindung« ansieht. Dabei geht Waldenfels in Verbindung zu seinem dem-nächst erscheinenden Platon-Buch mit dem Titel »Logos und Pathos« eben von diesem vorgängigen »Pathos« aus, das von keinem Logos, von keinem Descart’schen oder Foucault’schen Diskurs eingeholt werden kann. Da uns Bernhard Waldenfels seinen Freiburger Vortrag hat zukommen lassen, dürfte sich für unsere Sektion heute noch ein besonders wichtiger und aktueller Zusammenhang zwischen dem zugewandten Zuhören in seiner auch gesprächstherapeutischen Funktion in der medizinischen Praxis, wo diese ein eindeutig ethisches Desiderat darstellt, und unserer Fähigkeit zeigen, eine besondere Auf-merksamkeit zu entwickeln, um Musik nicht nur beiläufig zur Zerstreuung zu vernehmen, sondern sie produktiv wahrzunehmen. Das Büchlein von Peter Szendy macht gerade auf diese sich im späten 18. Jahrhundert vollziehende Differenz zwischen einer auf das »Divertirsi« gerichteten Hörwahrnehmung und dem Aufruf des appellativen »ascoltare« aufmerksam, das der Komtur an Don Giovanni richtet. Und geschichtlich parallel entsteht eine analoge Verschiebung vom beiläufigen Hören zum gerichteten Hinhören, wie es Martin Kaltenecker (L’oreille divisée) mit Bezug auf Forkel hergestellt hat. Demnach gelten die Wiederholungsteile einer Komposition, ihre Reprisenteile (auch diejenige »veränderter Re-prisen bei Carl Philipp Emanuel Bach) sowie die zweimalige Aufführung ein und desselben Werks im Konzert gerade einem sich mehr und mehr vergewissernden Hören und Verstehen, das von der Ethik des Hörens allemal zu erwarten steht: in der Musik wie in der medizinischen Praxis.

Auf vier andere Grundlagentexte zum Hören möchte ich mich nun ebenfalls beziehen: einmal auf den Grundlagentext À l’écoute von Jean-Luc Nancy, dann auf einen des Ethnomusikologen André Schaeff-ner, der das Hören im Gegensatz von oraler und schriftlicher Überlieferung verortet hat, weiter auf die Sorbonner Habilitationsschrift von Martin Kaltenecker mit dem Titel L’Oreille divisée, in dem schon vom Titel her die Spannung von Sehen und Hören eben bei der Audition von Musik im Zentrum steht und schließlich auf die kleine und unscheinbare Schrift von Peter Szendy mit dem Titel Höre (n), die nun endlich auch seit einem Jahr in einer deutschen Übersetzung im Wilhelm Fink Verlag vorliegt.

Ich konzentriere mich hier auf ein Zitat aus einer elementaren Schrift des Ethnologen und Musikologen André Schaeffner,6 mit dem es auch einen wichtigen Briefwechsel mit Pierre Boulez gibt, der in seiner frühen Kompositionsphase in der Mitte der 1940er Jahre auch einmal Ethnomusikologe werden wollte.

4 Bernhard Waldenfels, »Hören auf die fremde Stimme« (Vortrag, gehalten am 10. Juni 2016 im Rahmen des »4. Freiburger Symposiums zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin« mit dem Thema »Vom Wert des Zuhörens. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin).5 Peter Szendy, Höre(n). Eine Geschichte unserer Ohren, Paderborn 2015.6 Pierre Boulez und André Schaeffner, Correspondance 1954-1970, présentée et annotée par Rosangela Perreira de Tugny, Paris 1998.

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Schaeffner problematisiert genau die Differenz zwischen einer ausschließlich auf das Hören gerichteten oralen Kultur und einem Hören, das immer schon gebrochen ist, im Sinne von Martin Kaltenecker »geteilt« ist in ein Hören und in ein Sehen durch das Lesen der Schrift einer Partitur, wobei dieses Lesen immer schon auch ein inneres Hören ist, sofern eine entsprechende Erfahrung, etwa durch das Dirigie-ren vorliegt:

Il n’est aucun des procédés, aucune des qualities que nous croirions propres à une musique douée d’écriture qui ne se retrouve un peu dans une musique de tradition orale. Mais, dans une dernière analyse, ce qui s’oppose ces sortes de musiques serait peut-être ce que l’une a et l’autre n’a pas que ce que l’une n’a plus et l’autre encore 7(Schaeffner, 1939) [Es gibt keine Vorgänge, keine Eigenschaften, die wir einer auf Ver-schriftlichung angewiesenen Musik zu gute halten, welche sich nicht auch ein wenig in der Musik innerhalb einer oralen Tradition findet. Aber letztlich, wenn die verschiedenen Arten von Musik einander entgegen gesetzt werden, wäre es wahrscheinlich doch so, dass das, was die eine Art von Musik hat, die andere nicht hat und dass die eine etwas nicht mehr hat, was der anderen noch zu eigen ist. Übersetzung M.Z.]

Einander entgegengesetzt werden also die schriftliche und mündliche Kultur und die Verschriftlichung der Musik führt zu einem Verlust, wie man ergänzen darf, von etwas, das die eine nicht mehr hat, also die Bedeutung des Hörsinns zu ihrer Wahrnehmung, was der anderen, der Schriftkultur nur noch höchst unvollkommen zu eigen ist im Gegensatz zur oralen Tradition, geradezu und ausschließlich auf die Vermittlung von Spielen und Hören angewiesen ist. Vernachlässigt wird an dieser Stelle zumindest von André Schaeffner der Sachverhalt der Aufführungspraxis von Musik, die zwar in der oralen Mu-sikkultur selbstverständlich ist, aber in der Verschriftlichung von Musik eine deutliche Relativierung der Bedeutung der notierten Musik innerhalb einer Partitur nach sich zieht. Die gezogene Konsequenz führt zu etwas, das ich an anderer Stelle als einen zweiten, komplementären oral-mimetischen Sub-Text im Verhältnis zum Partiturtext bezeichnet habe und hier zeigt sich auch ganz deutlich die Beziehung zwischen der oralen und skripturalen Musikkultur, weil auch in der musikalischen Schriftkultur die orale Überlieferung eine entscheidende Rolle spielt. So treten zwar auf der einen Seite diese beiden Kulturen deutlich auseinander, auf der anderen aber zeigen sich in dem notwendigen Angewiesensein auf eine Aufführungspraxis eben auch die Parallelen und Überschneidungen. In der Konsequenz hat dies ein-deutige Folgen für das Hören, das sich nun vergleichsweise und in erster Linie auf die reale und klingen-de Aufführung bezieht und erst in zweiter Linie bei der verschriftlichten Musik auf einen Text, der auch zu lesen ist, auch wenn er innerlich auch zu hören sein sollte. Insofern sind diese zwei Kulturen nicht in dem Sinne einander entgegenzusetzen, wie etwa die abendländische Kultur von der jüdischen, in der im Gegensatz zur Präferenz der platonischen Tradition des Sehsinns eine des Hörsinns vorherrschend ist. Aber auch hier ist im Sinne eines Bezugs eben von einem Chiasmus zwischen Hören und Sehen auszugehen, der gerade in der skripturalen Tradition bestimmend wird mit der Einschränkung, dass das Sehen dort größtenteils auf das reine Lesen, etwa einer Partitur eingeschränkt wird. Aber es tritt eben auch etwas hinzu, was für die orale Tradtion entscheidend ist: die Aufführung der Musik. Und somit haben wir drei Text-Typen zu unterscheiden, die wir später am Modell des Orchesterstücks »Polyhonie X« von Pierre Boulez noch zu diskutieren haben: erstens den notierten Text einer Partitur, der eher auf Konnotation der Zeichen denn auf ihrer Denotation beruht; zweitens einen oral-mimetischen Sub-Text der Aufführungsgeschichte, die einen Teil der Werk-Geschichte ausmacht, und drittens einen Hör-Text, eine Vorstellung, die sich der Hörer vorab oder im Zusammenhang mit der konkreten Hörerfahrung macht. Dabei spielen viele Formen des Hörens eine wichtige Rolle, wie dies von Bernhard Waldenfels gezeigt wurde: das reine Hören, das zugewandte Hinhören, das Weg- und Überhören, das u. a. auch durch eine artifizielle Lenkung des Seh- oder Hörsinns eintritt, etwa im Sinne eines trompe d’œil, einer

7 André Schaeffner (1939), zitiert nach: Simha Arom: »Musiques d’ici et d’ailleurs«, in: Pierre Boulez, Éclats, Paris 1989, S. 90.

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nur aufgemalten Fassade am Mauerwerk, die für eine wirkliche genommen wird oder einer Hörtäu-schung eines trompe d’oreille, wenn eine Stelle in der Musik so alles überwältigend ist, dass für den Hörer alles später Folgende in den Hintergrund tritt und »überhört« wird, ein Vorgang, den wir später noch genauer bei Polyphonie X untersuchen werden. Dabei tritt eine mit dem Verhältnis Wort und Schrift vergleichbare Differenz zutage, wie sie Bernhard Waldenfels im Sinne eines Chiasmus von »Wort und Schrift«,8 von gesprochener Sprache und Schrift reklamiert hat und diese Differenz ist auch mit Blick und Ohr auf den »Text« der Partitur und den oral-mimetischen Subtext der Aufführungsgeschichte stark zu machen. Nach Waldenfels geht die rezeptive Aneignung eines Textes/auch Notentextes nicht in den schlichten Schemata von »subjektiv« und »objektiv« auf, sondern was es nach ihm gibt, sind es »einzig Stufen und Weisen der Umsetzung«.9

Ich lenke nun, nach dieser kurz gehaltenen Einführung über das Hören, die Aufmerksamkeit auf das Orchesterstück Polyphonie X von 1951, über das ich im AfMw IV, 201510 und in meinem Buch Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avangarde11 mit unterschiedlichen Akzentuierungen ge-handelt habe. Dies könnte ein wichtiges Modell für eine ganz spezifische Versuchsanordnung sein, weil wir auf der einen Seite ganz auf das Hören der Aufnahme von der Uraufführung aus dem Jahre 1951 angewiesen sind, weil es offiziell gar keine zugängliche Partitur gibt, zum anderen kann diese dann doch ausnahmsweise zur Rate gezogen werden, wenn die im Archiv des SWR in Baden-Baden oder in der Paul Sacher Stiftung zu Basel aufliegende Partitur eingesehen wird. Eine besondere Berücksichtigung verdient aber der Sachverhalt, auf den das Abstract von Simon Tönnies hingewiesen hat, dass die Tatsa-che einer nicht vorhandenen Partitur nicht nur Konsequenzen für den Hörer hat, der die Partitur gerne mithörend auch mitverfolgen möchte, um seine Hörerfahrungen zu überprüfen, sondern weil mit der vom Komponisten verfügten Verwerfung der Partitur diese unzugänglich bleibt und somit jede weitere Aufführung dieses Werks ausschließt. Es liegt also über dieser Partitur ein eigentümliches Verbot. Der Hörer gerät hierbei in ein besonderes Dilemma, weil er im Gegensatz zu anderen Werken, hier nicht diese Stücke in miteinander vergleichbaren Einspielungen studieren und somit seine Hörerfahrungen nicht differenzieren und auch eigensinnig fruchtbar machen kann im Hinblick auf Nicht-Gehörtes und vielleicht auch Unerhörtes. Boulez hat da, wie auch im Falle seines zurückgezogenen Vokal- und Orchesterwerks »Poésie pour pouvoir«, davon gesprochen, dass diese Komposition nicht als wieder-holbares Werk existiere, sondern nur als ein »Dokument« der Geschichte an einem präzisen Zeitpunkt der Chronologie einer äußeren oder inneren Geschichte. Ich erinnere dabei an die von Walter Benjamin festgehaltene Differenz von »Dokument und »Werk«, wobei das Werk sich durch eine in der Nachge-schichte wirksame Entfaltung seines »Wahrheitskerns«, also nachdrücklich durch seine Veränderbarkeit auszeichnet, während das Dokument festgeschrieben ist auf einen bestimmten Zeitpunkt der Geschich-te, für den es keinerlei point de perfection gibt. Diese Vorüberlegungen vorausgesetzt, wende ich mich nun diesem Werk-Dokument von Pierre Boulez zu und versuche zu Reflexionen zu gelangen, die wo-möglich über das von mir Erforschte weit hinausgehen. Darauf hinweisen darf ich an dieser Stelle, dass einer von unseren Referenten, Simon Tönies, in seinem lesenswerten Abstract auf diesen Konflikt von Dokument und Werk indirekt aufmerksam gemacht hat, weil eben mit fehlenden weiteren Aufführun-gen und Einspielungen auch für den Hörer die Möglichkeit schwindet, sich durch den Vergleich von Aufnahmen dann doch auch ein ganz eigens Hörbild von Polyphonie X zu erstellen. Von Simon Tönies

8 Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel, Frankfurt a. M. 2010 (insbes. Kap. 6 u. 7).9 Ders., Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt a. M. 1999 (Kap. 1 u. 2).10 Martin Zenck, »Pierre Boulez: Polyphonie X (1951). Ein gescheitertes, weil zurückgezogenes Werk: ein ›tombeau à tête reposée?‹ « , in: AfMw 72 (2015), Heft 4, S. 277–301.11 Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste, S. 100–137 (Kapitel »Grundlegung II. Hören – Aufführen – Verstehen seriel-ler und post-serieller Musik«).

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ist auch eine längst fällige Dissertation in Vorbereitung, die sich ganz der frühen Fassung der Polyphonies von 1949/50 und ihrem so reichen Skizzenmaterial widmet, die alle in der Paul Sacher Stiftung in Ba-sel, in der Sammlung »Pierre Boulez« aufliegen (ich bin mehr als gespannt darauf, sie alsbald in meinen Händen zu haben).

Mit Bedacht habe ich diese Einleitung auch mit André Schaeffner eröffnet, mit dem Pierre Boulez einen intensiven Austausch und Briefwechsel gepflegt hat. Das rührt einerseits daher, dass Schaeffner sowohl ein exzellenter Musikologe als auch ein in der Afrika-Forschung stupend versierter Ethnologe war und vielleicht hing Boulez’ Nähe zur Ethnomusikologie in der Mitte der 1940er Jahre und etwas später nicht nur mit der Bedeutung der Sammlung von Musik anderer, oraler Kulturen im Musée de l’Homme in Paris zusammen, sondern eben auch mit seiner persönlichen Beziehung zu Andre Schaeffner12 (vgl. dessen Buch Le sistre et le hochet. Musique, théâtre et danse dans les sociétés africaines) und dem Trance-Forscher Gilbert Rouget,13 dessen Buch Music and Trance. A Theory for the Relations between Music and Possession hier erwähnt sei. Zu ergänzen wäre hier sicherlich der Name des bedeutenden Ethnologen und Kulturhis-torikers Marcel Mauss, dem wir das so unvergleichliche Buch über die »Gabe« verdanken. Sein Name spielt jedenfalls im Briefwechsel zwischen Schaefffner und Boulez eine zentrale Rolle. Obwohl Boulez dann doch nicht den Weg eines Ethnomusikologen einschlug, sondern den eines Komponisten, Pia-nisten und später eines Dirigenten, ist ihm die Ambivalenz zwischen oraler und skripturaler Tradition nicht verborgen geblieben. Obwohl dies nun an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang nicht mein Thema ist, sei doch darauf hingewiesen, dass bei Boulez in dem Maße, wie er als Dirigent tätig wurde, auch sein Interesse am Hören und an der Hörbarkeit von Musik zunahm. In meinem demnächst er-scheinenden Buch über Boulez habe ich versucht zu zeigen, wie eng für ihn Fragen der Einschreibung von Bewegungsgesten in der Partitur mit solchen der Umsetzung beim Dirigieren und dem Nachvollzog solcher Bewegungssuggestionen beim Zu- und Hinhören wurden. Im Übrigen wäre in diesem Kontext zu zeigen, dass die Gegenwärtigkeit anderer Kulturen für den Komponisten und musikalischen Lei-ter der französischen Theatertruppe der Compagnie Renaud-Barrault, für Pierre Boulez, von höchster Brisanz blieb, wie dies seine Teilnahme an den brasilianischen Ekstase-Ritualen des Candomblé 1954 während einer Südamerika-Tournee und sein Enthusiasmus für das Japanische Nô-Theater und die Banraku bezeugen. Keineswegs war Boulez nur ein Komponist und Repräsentant der westeuropäischen Avantgarde, sondern ein Intellektueller, der die Herausforderungen anderer Kulturen als kritische Frage gegenüber jeglicher Form des logozentrischen Euro-Zentrismus verstand.

Zunächst beginne ich aber, wie bereits angekündigt mit der Diskussion der Frage, was wir mit einem Stück serieller Musik machen, das wir nicht vom Studium und von der Lektüre der Partitur her kennen können, sondern »nur« vom Hören der Uraufführung und einer zweiten Aufnahme, die wenig später entstanden ist. Diejenige von der Uraufführung von Polyphonie X von 1951 in Baden-Baden mit dem Orchester des Südwestfunks unter der Leitung von Hans Rosbaud wollen wir zunächst in Augen- und Ohrenschein nehmen, die etwas spätere nur des ersten Satzes unter Bruno Maderna mit dem Orchester des italienischen Rundfunks der RAI dann in unmittelbarem Zusammenhang damit.

12 André Schaeffner, Le sistre et le hochet. Musique, théâtre et danse dans les sociétés africaines, Paris 1990.13 Gilbert Rouget, Music and Trance. A Theory for the Relations between Music and Possession, Chicago 1995.

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II. Hören – Hörerfahrungen von Polyphonie X (bisherige Hörerfahrungen, auch von Kollegen) – Vergleich der zugänglichen Einspielungen mit Hans Rosbaud und Bruno Maderna

Von der Uraufführung von Polyphonie X existiert eine Rundfunkaufnahme, deren späterer Digitalisie-rung der Komponist zugestimmt hat, obwohl er dieses Werk offiziell zurückgezogen hat, weil er es für gescheitert erklärt hat. Es besteht hier also eine besondere Situation, weil mit der Verwerfung und Streichung dieses Werks aus dem Werk-Katalog auch keine Möglichkeit besteht, dieses Stück unter veränderten Aufführungsbedingungen nochmals im Konzert zu präsentieren oder es im Rundfunk zu produzieren oder auf einer CD einzuspielen. Für den Hörer hat dies im Gegensatz zur sonstigen Reper-toirebildung die Konsequenz, dass er sich ausschließlich anhand einer einzigen Einspielung ein Hör-Bild von der Komposition machen muss, wo er ansonsten seine Urteilsfähigkeit auf den Vergleich mehrerer Aufnahmen von ein und demselben Stück gründen kann. In meiner anfänglichen Begegnung mit diesem Stück wurde mir sehr rasch klar, dass eigene Hörerfahrungen, deren Beschreibung und Charakterisie-rung zwar hilfreich für das Erfassen dieses zurückgezogenen Werkes von Boulez sein könnten, dass es aber wünschenswert und mehr als notwendig sei, meine eigenen Hörerfahrungen mit denjenigen meiner Freunde und Kollegen zu vergleichen, um meinen eigenen Zugang wenigstens etwas objektivieren zu können. Auf Anfrage hin haben sich dann auch Christian Utz und Oliver Wiener (die hier unter uns sind), sowie die Pianistin Pi-shien Chen und Tobias Schick (die beide diesen Termin heute leider nicht wahrnehmen konnten) bereit erklärt, an der Umfrage teilzunehmen, wie sie dieses Stück hören würden. Von allen vier Kolleginnen und Kollegen erhielt ich mehr oder weniger ausführliche Hörprotokolle, die ich hier vorstellen möchte. In der Kunstgeschichte ist dies durchaus Usus, vor einem Bild stehend, sich über dieses sowohl in Seminaren als auch in Veröffentlichungen darüber zu äußern. In der Musikwis-senschaft werden solche Beschreibungen, auch vergleichender Natur, allzu schnell verworfen und mit einem Bann belegt, weil die gemachten und beschriebenen Hörerfahrungen doch mehr über den Hörer als über die Musik aussagen würden. Dass ich da ganz anderer Auffassung bin, können Sie sich leicht vorstellen und so kann ich hier bereits im Vorgriff auf Späteres jetzt schon sagen, dass es mehr als über-raschende Übereinstimmungen wie auch Differenzen in den Hörauffassungen gegeben hat. Dieses ist also das Feld, das hier in dem ersten Hauptpunkt meiner Darstellung im Mittelpunkt stehen soll, auch vor dem Hintergrund meiner grundsätzlichen Fragestellung, wie gegenüber der Analyse der Partitur der Eigensinn des Hörens nicht nur aktiviert, sondern auch dazu befähigt wird, einen ganz anderen Sinn zu reklamieren als er entstehen würde, wenn das Gehörte mit der Partiturlektüre allzu einseitig zugunsten des Lesens der Partitur abgeglichen wird. Ich stelle nun alle vier gemachten Hörprotokolle in systema-tischer Absicht vor, um daraus die fraglichen Koinzidentien wie die Unterschiede in der Hörerfahrung deutlich zu machen.

Es kann dabei nicht darum gehen, einfach die vier verschiedenen Hörprotokolle wiederzugeben und zu zitieren, sondern sie in systematischer Absicht miteinander zu vergleichen und zu bewerten mit Blick und Ohr auf die Musik von Boulez’ Polyphonie X. – Eine wichtige Beobachtung von einer der maßgeblichen Pianistinnen, die Boulez, Cage, Schönberg und Scarlatti eingespielt haben, stammt von Pi-shien Chen, die leider heute nicht unter uns sein kann, weil sie von Boston aus zu einer Konzerttournee nach Asien aufgebrochen ist. Sie hat sich zwar nicht hörenderweise konkret auf Polyphonie X bezogen, es aber als ein Werk betrachtet vor allem in der Beziehung zwischen der frühen und formal ganz offenen Fassung von Polyphonies von Boulez und der Music of Changes von John Cage. Nachdem diese Zeit zwischen den bei-den vorüber war, der Zeit nach 1952/53, wie sie den Briefwechsel so intensiv bestimmte, schwand nach der Ansicht von Pi-shien Chen auch die Aktualität eines miteinander vergleichbaren Komponierens von Cage und Boulez und verlor damit auch die Bedeutung, die das Stück Polyphonie X einmal hatte. Denn vom Briefwechsel gerade der Jahre 1950-1952 aus gesehen, ist das nachlassende Interesse von Boulez

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an Cage zunächst ganz unverständlich, weil der praktische wie theoretische Austausch über den Stand des Komponierens von einer unerschütterbaren Daseinsdringlichkeit zu sein schien. Weil, so Pi-shien Chen,14 diese Art des Bezugs nicht mehr gegeben war, ließ auch das Interesse bei Boulez nach, sich mit der früheren Konzeptionsphase nochmals intensiv zu befassen. Denn Hand an die Komposition von Polyphonie X nochmals zu legen, hätte ihm eine Berührung auferlegt, die er wohl doch hinter sich gelas-sen hatte. So also eine Stimme gegenüber vielen anderen Stimmen, auch meiner eigenen, mit dem Ver-such einer Klärung, warum Boulez dieses so effiziente wie skandalträchtige Orchesterstück zurückzog. Überraschend war und ist die Antwort von Pi-shien Chen in doppelter Weise, denn ich hatte ja gehofft, sie würde mir gegenüber eine Hörerfahrung von diesem Stück von Boulez formulieren. Stattdessen gab sie mir die zitierte Erklärung wieder, warum sie annahm, dass Boulez dies Stück aus dem Werkver-zeichnis gestrichen hatte. Eine andere, aber indirekte Antwort kann mit der Studie von Claus-Steffen Mahnkopf15 gegeben werden. Dort hebt der Autor die produktiv viel weiterführende Konzeption der Vorstufe von Polyphonie X, nämlich die 1949/50 skizzierte Fassung der Polyphonies hervor, die sowohl mit 49 Instrumenten mikrotonale Vierteltönigkeit (statt der 18 Instrumente in der stark vereinfachten, nicht mit Mikrotonalität arbeitenden Fassung der dreiteiligen Anlage der späteren Version) als auch formal eine offene Abfolge der 14 bzw. 21 »Polyphonien« vorsah, die frei ausgehandelt werden konn-ten zwischen Dirigent und dem Orchester. Demnach – und hier gebe ich eine Erklärung wieder, die ich in meinem Boulez-Buch nicht erwogen habe – hat der Komponist nur indirekt das fertiggestellte Stück Polyphonie X abgelehnt, aber seine Abkehr galt der viel radikaleren Lösung der frühen Fassung der Polyphonies, die noch näher mit Cage verbunden war, wie dies der Briefwechsel Boulez-Cage auch zeigt. Damit hätten wir auch wieder einen Bezug zur Klärung der Abkehr vom offenen Werk-Komplex von Polyphonie X, wie sie Pi-shien Chen erwogen hatte. Dies würde auch erklären helfen, warum Boulez in all seinen Interviews über Polyphonie X und über die Frage der Eliminierung dieses Werks nie über den ge-nannten Zusammenhang zwischen den früheren Polyphonies und Polyphonie X gesprochen hat. Denn eine grundsätzliche Revision, die wirklich weitere Aufführungen von Polyphonie X ermöglicht haben würde, hätte nicht nur die Umarbeitung und Behebung der von Boulez beschriebenen Mängel von Polyphonie X bedeutet, sondern eine spielbare Neufassung nach Maßgabe der früheren Version der Polyphonies von 1949/50, also eine »Re-Compositon« im Sinne von Stravinsky oder sogar eine Fertigstellung dieser frü-hen Fassung, von der immerhin ausführliche Skizzen und Ausschreibungen ganzer Formteile vorliegen.

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Ein umstrittener Brief von Pierre Boulez an John Cage

Der im Folgenden zu diskutierende Brief wurde zwar in der englischen Ausgabe des Briefwechsels zwischen Pierre Boulez und John Cage wiedergegeben und hier in diesem Kontext von Christian Utz für die Frage der Uraufführung von Polyphonie X herangezogen, nicht aber sein genauerer Inhalt und seine Herkunft. Während meines Forschungsaufenthaltes am Getty Institute for Research und der Ar-beit an der David Tudor Collection fand ich für die nähere Erörterung dieses Briefes im Nachlass von David Tudor ein wichtiges Dokument. Dieses gibt genauere Auskünfte über die umstrittene Bewertung der Uraufführung von Polyphonie X. Der in seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte »kuriose Brief« von Pierre Boulez an John Cage vom Dezember 1951 findet sich auf der Rückseite eines Kon-zert-Programmhefts mit der Ankündigung von Werken von Webern (Variations, op. 27), Stefan Wolpe

14 Vgl. die E-Mail von Pi-shien Chen an den Verf. vom 15.9.2014 (zit. in: Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste, S. 129)15 Claus-Steffen Mahnkopf, »Boulez – ein Schicksal?«, in: Pierre Boulez (Musik-Konzepte 89/90), hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1995, S. 16–28: insbes. S. 24–27; Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste, S. 96ff.

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(Encouragement for Piano – A Battle Piece), Earle Brown (Three Pieces), Christian Wolff (For Piano), John Cage (2 Pastorales), Henry Cowell (Banshee) und Morton Feldman (3 Intermissions), gespielt von David Tudor im »The Living Theater« am 1. Januar und am 10. Februar 1952. Dort schreibt Boulez in der von John Cage vom Französischen ins Englische übersetzten Version auf der Rückseite des mehrfach kopierten Programmhefts auf der Seite 8:

As for my Polyphonic played in Germany, I have not yet been able to hear it. The German Radio does not let its recordings go out. Heughel has tried to have them personally. But it is very difficult; rights etc. Souvtshinsky, Joffroy, and Goldbeck all went there- - for at that moment I was in London with Barrault. Messiaen was also there. They all told me that Rosbaud, the dirctor, was admirable. 12 rehearsals. The per-formance went very well. As you saw in the article you sent me, the reactions were diverse. The protests presented to the German Radio were numerous. What do you exspect! So much the worse! I continue my way; none of this preoccupies me. I have not yet written the 2 last movements which I am going to get to soon. The quartet is not yet copied;thus not yet edited. It is necessary for me to find the time to do it. As fort he piano pieces, I did not play them in London. The BBC afraid of scandal, I believe, didnot accept them. Furthermore, they are far from being finished - - I willl keep you informed. But for the moment they are at a dead point, not having hat the time to work on them. Tell David Tudor not to record my 2nd Sonata, for I have made some modifications of details (suppressed some annoying chromatism, controlled certain vertical enconter, etc.). I will send them to you soon and you will transmit them to him. My 1st Sonata for piano has just appeared at Amphion. I will send it to C. Wolff and M. Feldman. It is a ‚souvenir of youth’. You will know it and excuse it!16

In der englischen und kommentierten Ausgabe des Briefwechsels bleibt aber der Sachverhalt unerwähnt, dass der Brief eben auf den Rückseiten eines Programmheftes von Cage mit einer Schreibmaschine nie-dergeschrieben wurde (vgl. zur kuriosen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte dieses Briefes die Fußnote 1 zum 35. Brief von Boulez an Cage in der englischen, oben zitierten Briefausgabe, S. 112, in welcher das hier herangezogene Dokument zwar auf eine Entdeckung von John Holzaepfel im Tudor-Archiv zurückgeführt wird, nicht aber seine gegenwärtige Lokalisierung in der David Tudor Collection des Getty Institute for Research genannt wird, wo es sich auf den Rückseiten des Programmhefts notiert findet. Die Analyse schließlich ist auf großen Konzertplakaten auf deren Rückseiten mit den entsprechenden Diagrammen in der Handschrift von John Cage niedergeschrieben worden). Wichtig erscheint im gesamten Brief Boulez’ grundsätzliche Ablehnung einer vom Zufall bestimmten Kompo-sitionsweise gegenüber Cage, auch mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die abstrakten Bilder von Paul Klee und die hier erstmals deutlich ausgeführte Grundlegung einer Analyse des seriellen Verfahrens in Polyphonie X. Weiter ist an den gegebenen Hinweis auf die zeitliche Entwicklung der Entstehung von Polyphonie X zwischen dem abgeschlossenen ersten Teil der Structures Ia und den noch zu komponieren-den zwei Teilen von Ib und Ic. zu erinnern. Und schließlich sind im hier wiedergegebenen Zitat zwei entscheidende Gesichtspunkte von Bedeutung: einmal die Tatsache, dass auch der Lehrer von Boulez, Olivier Messiaen, der bei den 12 Proben anwesend war, dem Dirigenten der Uraufführung, Hans Ros-baud, eine bewundernswerte Leistung bescheinigte; zum anderen werden aber weder der Tumult noch die Ruhestörungen während des Konzerts in Baden-Baden benannt, wohl aber die von außen gegen den Südwestfunk gerichteten Proteste gegenüber der Übertragung, mit den bekannten Folgen, die bis zur BBC in London wirkten, so dass weitere Konzertaufführungen mit Werken von Boulez zumindest fraglich erschienen.

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16 David Tudor Collection, Getty Institute for Research, 980039 BOX 211 F-1. Der ganze Brief wurde auch wiedergegeben in: The Boulez-Cage Correspondence, ed. by Jean-Jacques Nattiez, translated and edited by Robert Samuels, Cambridge University Press 1999, S. 112–127: S. 118f.

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In meinem erschienenen Buch über Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde habe ich sowohl die Hörprotokolle meiner Freunde und Kollegen Christian Utz, Tobias Schick und Oliver Wiener als auch mein eigenes17 wiedergegeben und charakterisiert. Da ich dies nicht wiederholen möch-te, beschränke ich mich auf eine Zusammenfassung der Hördispositionen, um später dann in einem dritten Hauptpunkt nochmals weitere Hörerfahrungen von meiner Seite zu artikulieren.

Bei der Diskussion der Hör-Erforschung dieses Stückes von Boulez sind hier an dieser Stelle die drei/vier ausgetauschten Auditionen mit ihren jeweiligen Akzenten und Charakteristiken miteinander zu vergleichen. Anhand von Hörprotokollen, die mit Minuten- und Sekundenangaben in den drei Stücken von Boulez’ Polyphonie X versehen wurden, konnten gerade an bestimmten Hörstellen vergleichbare Höreindrücke festgehalten werden, die durchaus kommunizierbar und verallgemeinerbar sind und sich somit einem wissenschaftlichen, auf ›Objektivität‹ ausgerichteten Zugang zugewandt erweisen konnten. Gerade die mir von Oliver Wiener zugesandte Studie seiner Hörerfahrung mit Polyphonie X zeigt, wie sehr allgemeine Charakteristika der Hörwahrnehmung mit besonderen der detaillierten Protokollierung von einzelnen Hörvorgängen sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Dabei unterstreicht Wiener insbesondere auch traditionelle Formaspekte, wie die der dreisätzigen Konzertform mit ihren Tutti-Ri-pieni-Kontrasten, die bei Anton Webern in dessen Konzert op. 24 noch deutlich spürbar sind, aber bei Boulez bereits mehr in den Hintergrund treten, um einer durchgehenden und sich ständig überlagern-den Polyphonisierung Platz zu machen, weswegen auch der Werktitel Polyphonie X Sinn macht, weil es sich bei den polyphonen Prozessen um einander durchkreuzende Vorgänge handelt im Sinne des grie-chischen Chiasmus Χ (entsprechende Anspielungen auf ein Gedicht von Mallarmé unterstreichen die-sen formalen Zusammenhang). Aber auch inmitten einer solchen Überlagerung von Stimmverbänden, den sieben Stimmgruppen und Einzelstimmen, gibt es – neben kontrastierenden Satzteilen, Unterbre-chungen und Zäsuren – eben auch ganz schroffe Klanggesten, zu denen das rohe Posaunen-Glissando gehört: Einbruch einer auch ganz anderen Wirklichkeit, wie sich ihre dynamische Wucht aus Boulez’ intensiver Befassung mit Stravinskys Sacre du printemps erklären mag, die Boulez hier in einem intensiven Kon-Takt mit Webern erklingen lässt. Der groß angelegte Trauermarsch aus Weberns op. 6 legt eine solche Verwandtschaft mit Stravinsky durchaus nahe und was Boulez’ Lehrer, Olivier Messiaen, ganz heterogen erschien, Webern überhaupt in einem Atemzug zu nennen (Messiaen hat Webern in seinen Analysekursen in Paris überhaupt nicht berücksichtigt), war und ist für Boulez um 1950 eine Einheit, eine wenn auch zum Zerreißen gespannte (Boulez folgt in der Anerkennung von Stravinsky, gerade von dessen Sacre, den Analysekursen von Messiaen, die im Traité de rythme niederlegt sind, um sie mit seinen eigenen Erkenntnissen bereits in der ausführlichen Studie Strawinsky demeure (1951, erschienen 1953) zu konfrontieren, auch um sich in der Begeisterung für Webern von der Ablehnung seines Lehrers Mes-siaen überhaupt nicht irritieren zu lassen). Im Vorgriff auf das folgende Kapitel sei hier schon auf eine eigentümliche Hörerfahrung einer Täuschung hingewiesen, die dem trompe d’œil in der Kunst in der Musik einen trompe d’oreille nahelegt, dass starke und nachhaltig dynamische Ausbrüche und Klangde-tonationen so stark in uns, den Hörern haften bleiben, dass sie die folgenden Passagen noch mit ihrer Wucht überblenden, so dass diese Zwischenräume gar nicht wahrgenommen werden, so dass es förm-lich zu einem insinuierten Über-Hören kommt. Dies gilt nach übereinstimmender Hörerfahrung für den Schlussteil des dritten Stückes von Polyphonie X. (Hier handelt es sich nur um eine verkürzte Zusammen-fassung der jeweiligen Hörerfahrungen. Im Einzelnen können diese genau in meinem Boulez-Buch auf den Seiten 110-112 nachgelesen werden.)

17 Vgl. die Hör-Positionen wie Hör-Dispositionen von Christian Utz, Tobias Schick und Oliver Wiener, in: Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste, S. 103–106.

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Nun stelle ich Ihnen Ausschnitte, vor allem vom Beginn des ersten Stücks von Polyphonie X in den zwei Aufnahmen mit Hans Rosbaud und Mitgliedern des Südwestfunk-Orchesters von der Uraufführung am 6. Oktober 1951 in Donaueschingen vor und dann die Einspielung mit dem Alessandro Scarlatti Orchestra in einer Studioaufnahme vom Juni 1953 in Neapel unter der Leitung von Bruno Maderna. Be-reits der Beginn könnte unterschiedlicher kaum sein mit Blick und Ohr auf das vollkommen divergente Tempo, die Deutlichkeit der Bewegungsabläufe und der diagonal geführten Artikulationen der einzel-nen Instrumente wie der Instrumentengruppen. Während Rosbaud ein relativ rasches Tempo vorgibt und so schnell spielen lässt, dass die Musiker kaum zu realisieren scheinen, was sie überhaupt spielen, ist die Temponahme von Maderna um vieles ruhiger und gefasster mit dem Vorzug atmender kleinerer Organismen, wie sie für die unterschiedlichen Instrumentengruppen charakteristisch sind. Während Rosbaud, wohl auf Grund der angegebenen Tempovorschriften, allzu hastig durchspielen lässt (ohne Rücksicht auf Verluste gewissermaßen), scheint Maderna eher das nachzubuchstabieren, was er in der Partitur vorfindet, um einer Probensituation entsprechend so langsam und deutlich in der detaillierten Artikulation zu spielen, dass die Klangfarben der einzelnen Instrumente und Instrumentengruppen hörbar und deren Bewegungsverlauf gut nachvollziehbar ist. Wie beim Klavierspiel auch, ist es gängige Praxis, bei einem neuen und unbekannten Stück das Tempo halb so rasch zu nehmen, damit sich beim relativen Prima-vista-Spiel keine unnötigen Fehler einschleichen. Dies ist auch immer wieder ein stritti-ger Punkt – etwa bei der Uraufführung von Schönbergs Klavierkonzert op. 42 mit Eduard Steuermann am Klavier, wo er im Gegensatz zum verantwortlichen Uraufführungsdirigenten Stokowski eher dazu neigt, langsamer spielen zu lassen und direkt zu unterbrechen, wenn ohrenfällige Fehler auftreten. Um es insgesamt vor der Hinzunahme der ersten Partiturseiten von Polyhonie X vorwegzunehmen, gerät die unterschiedliche Temponahme so divergent, dass Rosbaud für alle drei Stücke von Polyphonie X eine Zeit von fast 16 Minuten benötigt, die Maderna alleine schon für die Darstellung des ersten, allerdings längsten Stücks benötigt. Maderna ist also gut dreimal so langsam als Rosbaud mit dem unerhörten Vorzug der Plastizität, Farbigkeit und des Atmens der ineinandergreifenden melodischen Bögen, die sich durch die verschiedenen Instrumentengruppen ziehen. (In meinem Boulez-Buch habe ich die The-se stark gemacht, dass Maderna als vorzüglicher Dirigent der Werke Weberns, den atmenden Duktus und das Wiener Espressivo der sich verzweigenden Tonlinien hier auf die Darstellung von Boulez’ Polyphonie X überträgt. Ich erinnerte dort daran, dass im Briefwechsel zwischen Boulez und Cage gerade im Brief vom 6. März 1950 die Symphonie op. 21 von Anton Webern eine entscheidende Rolle spiel-te.) Diese Hörbeschreibung könnte jetzt noch viel genauer im Detail gefasst werden und auch auf die zwei anderen Teile von Polyhonie X ausgeweitet werden, sie reicht aber in Verbindung mit den zitierten und nachlesbaren Hörprotokollen meiner Kollegen vollkommen aus, um den Unterschied in den je eigenen Hörwinkel zu bekommen. Auch mit dem Wunsch, es möge sich doch, sozusagen gegen Bou-lez’ Verfügung der Verwerfung dieses Stückes, ein Ensemble und ein Dirigent finden, der Polyphonie X unter besten Studio- und Aufnahmebedingungen einmal spielt und auf einem Tonträger festhält, damit wirklich einmal eine Realisierung dessen erreicht wird, was an Zeichen in der Partitur steht. Maderna, auch ein Schüler und begeisterter Verehrer der Kunst des Dirigierens von Hermann Scherchen,18 konnte sich auf ihn berufen, dass es beim Dirigieren nicht um eine selbstherrliche Interpretation geht, die den Dirigenten über das Werk stellt, sondern einfach darum, das zu realisieren, was dasteht, und das wäre ja schon einiges, wenn nicht alles.

18 Vgl. mein Hörprotokoll in: ebda., S. 96–113.

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Abb. 3: Boulez, Polyphonie X, Teil I, S. 1-2, Takt 1-11. Mit freundlicher Genehmigung des SWR Baden-Baden.

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Abb. 4: Boulez, Polyphonie X, Teil III, T. 35-37. Mit freundlicher Genehmigung des SWR Baden-Baden.

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III. Lesen, Hören und Spielen von Ausschnitten aus der Partitur von Polyphonie X

Seit gut einem Jahr bin ich nun im Besitz einer Kopie von Polyphonie X, einer Partitur, die vollständig mit allen Skizzen zu ihrer Vorgängerin Polyhonies von 1949 in Basel in der Paul Sacher Stiftung aufliegt und als Depositum im SWR im Archiv von Baden-Baden, denn Polyphonie X war seinerzeit ein Auftragswerk des SWF, das über Hans Rosbaud an den Komponisten Pierre Boulez vergeben wurde. In Baden-Baden wurden die drei Teile von Polyphonie X auch in drei Separata gebunden und so habe ich es mit »meiner Partitur« gehandhabt, über deren Besitz ich stolz bin, sie in meinen Händen zu haben, zu studieren, immer wieder innerlich durchzuhören oder in Verbindung mit dem Hinhören der Aufnahme von der UA unter Rosbaud oder unter Bruno Maderna. Es wäre dabei sinnvoll, die anderen drei Aufnahmen mit heranzuziehen, um weitergehende Kriterien der Hörerfahrung diskutieren zu können und aus Hör- und Spiel- und Aufführungserfahrungen womöglich Anhaltspunkte für eine ganz andere musikalische Interpretation zu gewinnen, die ich im dritten Teil zumindest andeuten möchte.

Um die Situation zu vereinfachen, gehe ich nun so vor, dass ich unmittelbar nacheinander Ihnen den Be-ginn des ersten Teils von Polyphonie X, diesmal aber insgesamt die Takte 1-53 in der Aufnahme mit Hans Rosbaud und Bruno Maderna und den Schlussteil der Partiturseiten 35-37 in der Einspielung mit Hans Rosbaud in Verbindung mit der projizierten Partitur vorspiele, um dann nach der jeweiligen Charakteri-sierung der stark differenten Interpretationsauffassungen in einem dritten Hauptpunkt meines Vortrags Desiderate der Realisierung für eine ganz neue Darstellung – etwa an zwei Klavieren – vorzuschlagen.

Wie wir im Detail unten noch genauer hören können, setzt der Beginn des ersten Teils zweimal sozu-sagen von unten mit einer kleinen zwei- bis dreistimmigen Streichergruppe an (T. 1-4, 17-24), um sich dann jeweils mit anderen der insgesamt sieben Stimmgruppen zu verbinden. Dabei wird eine schlei-fende Bewegungen vollzogen, bei der die Anschlüsse nicht schnittartig fixiert sind, sondern gleichsam organisch und höchst schmiegsam (»souple«) ineinander übergehen. Es gibt also bis Takt 13 einen Pro-zess, der von ganz ausgesparten, solistischen Partien über sich verdichtende und einander überlagernde Bewegungen führt, um dann wiederum von ganz ausgesparten Abschnitten beim zweiten Mal zu einer noch intensiveren Verdichtung zu gelangen: eine »Wiederholung« sozusagen auf anderer Stufe. Mit S. 5 und Takt 24 setzt sich dieser Vorgang insofern fort, als er gleich zu Beginn mit zwei Stimmgruppen eröffnet wird, der zweiten mit den Holzbläsern (Oboe und Klarinette in A) und der siebten mit der dritten der Streichergruppen (2 Bratschen und Kontrabass), um dann von einer vierstimmigen Blech-bläsergruppe (einschließlich des Horns in F) in T. 29, einem enggeführten Einsatz von Flöte und Fagott in T. 32 und in T. 33/34 von der ersten Streichergruppe (1. und 2. Violine) abgelöst zu werden, wobei es wichtig ist, den Sachverhalt hervorzuheben, dass sich diese Ablösung nicht direkt vollzieht, sondern diese Partien mäandrierend ineinander übergehen. Dieser Vorgang könnte in der bisherigen Beschrei-bung einer zunehmenden Verdichtung wie Ausdünnung des Klanggeschehens bestimmt werden und mit dem raschen »Tempo II. Vif«-Teil stellt sich dann, vor allem in Rosbauds rasch genommenen Tempi, das Problem der Koordination der Instrumente und Instrumentengruppen ein. Maderna wird zwar etwas schneller als zu Beginn, zieht aber eine Temponahme vor, bei der alles noch möglichst deutlich artikuliert und atmend in den ineinander verfließenden Melodiebögen bleibt.

Ein besonderes Problem und eine ganz eigene Aufmerksamkeit des Hörens verlangt die höchst kom-plexe, weil verschachtelte Kombination von drei Tempi, die einmal den drei Teilen generell zugrunde liegen, aber auch in unterschiedlichen Verbindungen, gedehnt, verkürzt, verschränkt bereits im ersten Teil der 256 Takte in verschiedenen Konstellationen auftauchen. Um ihre Struktur deutlicher zu machen in ihrer Verknüpfung, habe ich sie jeweils farbig und den ersten wie den XIII. Teil sowie das Tempo-Scharnier des VII. Teils fett markiert.

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I.T. 1–49: Tempo I. – Modéré [49]II. T. 50–74: Tempo II. – Vif (la punktierte Achtel du Tempo) [24]

III. T. 75–96: Tempo III. – Assez lent (Im ...) [21]

IV. T. 97–122: Tempo II. – Vif [25]

V. T. 123–151: Tempo I. – Modéré [22]

VI. T. 152–159: Tempo II. – Vif [ 7]

VII. T. 160–169: Tempo III. – Assez lent [9]VIII. T. 170–174: Tempo II. – Vif [4]

IX. T. 175–195: Tempo I. – Modéré [20]

X. T. 196–208: Tempo II. – Vif [12]

XI. T. 209–227: Tempo III. – Assez lent [18]

XII. T. 228–237: Tempo II. – Vif [ 9]

XIII. T. 238–256: Tempo I. – Modéré [18]

Unverkennbar ist hier ein System von Verklammerungen von außen nach innen bis zu der Achse um das ganz langsame Tempo erkennbar. Genauer betrachtet handelt es sich um eine Rückläufigkeit der drei grundlegenden Tempo-Charaktere, so dass die retrograden Teile XIII.-VIII. die Anfangsteile I.-VI. spiegeln. In der Mitte liegt der kurze Teil im Assez-Lent-Tempo mit 9 Takten. Auffallend ist eine relative Streckung der Zeitzonen I.-V., eine Verkürzung der Mittelteile VI.-VIII., um dann wieder zu relativ lang gezogenen Zeitstrecken zurückzukehren. Die Teile sind jeweils deutlich voneinander abgesetzt, zumin-dest nach Madernas Dirigat mit ritardandi versehen oder direkt unmittelbar oder auch schroff wieder beginnend. Maderna hat hier die Agogik, teilweise das Tempo-rubato in der detaillierten Entwicklung innerhalb der 13 Teile auch auf die Zäsuren zwischen diesen Teilen übertragen, so dass diese doch atmend ineinander übergehen. Etwas Vergleichbares zu diesen ineinander verschachtelten und von au-ßen nach innen symmetrisch angeordneten Tempocharakteren hat Boulez auch für die Disposition der sieben Instrumentengruppen vorgesehen, wenn er schreibt:

Von dieser Symmetrie – zwei Außengruppen zu je drei Instrumenten, vier dazwischen liegende Gruppen zu je zwei Instrumenten und eine Zentralgruppe von vier (zweimal zwei Instrumenten) – von dieser Sym-metrie aus können wir unsere Gruppenmutationen vornehmen.19

In der Konsequenz bedeutet dies für die Zeitwahrnehmung des ersten Teils der drei Teile von Polyphonie X, dass die Gestaltung nach Maßgabe einer elastischen Beweglichkeit der 13 Teilstücke erfolgt, die sich förmlich aneinander schmiegen, wie denn überhaupt für Boulez gegenüber dem Kontrastprinzip die »Souplesse« ein Zauberwort seines Dirigierstils ist. Wie wir in der Diskussion der Klangfarbenmelodie und der seriellen Klangfarbenkombination der sieben Instrumentengruppen im dritten Teil unserer

19 Über die Dirigierschulen von Hermann Scherchen und die beiden Lehrbücher im Konversationsstil bei Pierre Boulez gibt es in meinem Boulez-Buch ein eigenes Kapitel unter II, 6 »Die Partitur der Geste – Die Lehrbücher des Dirigierens von Her-mann Scherchen und Pierre Boulez«. Zu meiner Kritik an der musikalischen Interpretation von Beethovens dritter Sinfonie (dort der Trauermarsch) durch Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan im Verhältnis zur Realisierung dieser Sinfonie durch Hermann Scherchen und René Leibowitz vgl. Martin Zenck, »Zum Begriff des Klassischen in der Musik«, in: AfMw 33 (1980), S. 171–292.

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Ausführungen sehen und hören werden, sind diese sich in Schleifbewegungen vollziehenden und sich einander überkreuzenden Polyphonien auf höchst komplexe Weise in ihrer Darstellung den oben detail-liert dargelegten Tempocharakteren zugeordnet.

IV. Der generative Eigensinn des Hörens zwischen Problemen der reproduktiven Realisie-rung, der textuellen wie performativen Analyse und einem Phantasma.

Es ist unverkennbar, dass die dargelegten Hörbeschreibungen mit ihrer Diskussion im Zusammenhang der Partiturlektüre auf die Unzulänglichkeit der Uraufführungsaufnahme unter dem Dirigenten Hans Rosbaud und teilweise auf das Tempoproblem in der Studioproduktion unter Bruno Maderna hinwei-sen. Als Zwischenschritt zur Verbesserung dieser Situation könnte einerseits die Möglichkeit erwogen werden, vom Klavier oder von zwei Klavieren aus, denn Polyphonie X ist im engsten Kontakt mit den ab-strakteren Structures Ia entstanden, eine ideale Vorstellung von diesem Stück zu vermitteln (dafür müsste eben aus der Partitur ein »Klavierauszug« für zwei Klaviere erstellt werden und die Pianisten müssten eine Klangnuancierung verwirklichen, die an die Farbigkeit zumindest der einzelnen Instrumente und Instrumentengruppen heranreicht), zum anderen können im Kontext mit einer solchen Spielversion Überlegungen zu einer allerdings utopischen Aufführung mit einem Ensemble unter einem Dirigenten unter den aktuellen Bedingungen der Aufführungspraxis Neuer Musik entwickelt werden.

Dies führt zu einer Interaktion zwischen auditiver, performativer und textueller Analyse, wie sie in einem spezifischen Forschungsprojekt von Christian Utz an der Kunstuniversität in Graz am Modell von den Structures Ia dargelegt wurde. Im Zusammenhang damit bin ich im Rahmen eines von Christian Utz und mir konzipierten Gedenk-Konzerts für Pierre Boulez am 24. Mai 2016 nach Graz eingeladen worden, wo wichtige, weil weiterführende Erfahrungen in dieser Sache verhandelt wurden. In Graz ha-ben zwei junge Pianistinnen, die Japanerin Tsugumi Sdhirakura und die Italienerin Maria Flavia Cerrato die nicht gerade leicht zu spielenden Structures Ia von Pierre Boulez in einem Konzert aufgeführt. Der Komponist hat hierbei an markanten Stellen des 10-teiligen Stücks Fermaten vorgesehen, die entweder verschiedene lang gehaltene Übergänge zwischen den jeweiligen Teilen bezeichnen oder relative kurze Zäsuren, nach denen realativ direkt attacca weitergespielt wird. Wie in Beethovens Diabelli-Variationen gibt es auch hier bei Boulez Kriterien für die relative lange Zeitdehnung oder relative kurze Unterbre-chung. Kriterien dafür sind die diesen Fermaten vorausgehenden Teile und genauer deren Charakter wie ansonsten vor allem der Anschluss oder Nicht-Anschluss der jeweiligen Registerlagen im tiefen oder hohen Klangbereich des Klaviers. Dass Boulez solches im Sinn hatte, zeigt die No. 5, also genau die Mitte der 10 Teile der Structures Ia, die alleine vom ersten Klavier gespielt wird und somit einerseits eine Aussparung des Gesamtklangs bezeichnet als auch eine veränderte Hörrichtung, vor allem wenn diese so singuläre Aufführung in Graz aus dem Auditorium von ganz verschiedenen Seiten oder von der Mitte des Auditoriums wahrgenommen wird. In der Diskussion mit den beiden Pianistinnen und mit Christian Utz hatte ich dort die Gelegenheit, auf die unterschiedliche Funktion der vorgezeichneten Fermaten aufmerksam zu machen, die ansonsten in den zahlreichen Einspielungen, vor allem von den Brüdern Kontarsky, häufig überspielt oder nicht distinkt nach der Funktion des jeweiligen Formteils gemäß gespielt werden. Diesen Einstieg habe ich hier gesucht, weil es auch ein wichtiges Thema der Höranalyse von Polyphonie X darstellt, auch im Vergleich der beiden mir zugänglichen Einspielungen von Hans Rosbaud und Bruno Maderna. Allerdings fehlt hier die Möglichkeit der Erkundung der performa-tiven Wirkung, weil die Partitur zurückgezogen wurde und eine weitere Aufführung verbietet, die etwa ganz andere Kriterien der musikalischen Interpretation geltend macht. Die einzige Möglichkeit besteht gegenwärtig darin, vom Klavier oder besser von zwei Klavieren aus einen nach der Maßgabe eines her-zustellenden Klavierauszugs, der alles andere als leicht zu verwirklichen ist, verschiedene Versionen eben

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von zwei Klavieren aus auszuprobieren. Und gerne würde ich ein solches Projekt in Angriff nehmen, wenn sich verschiedene Pianisten bereit finden würden, das einmal zu versuchen: nach je eigener Auf-fassung des Pianisten oder nach derjenigen eines Dirigenten und Hörers zu spielen. Ich hoffe dies hier erst einmal vorzuschlagen und vielleicht gelingt es mir auch, Pavlos Antoniades, für eine solches Projekt zu gewinnen, auch weil die Boulez-Expertin Pi-shien Chen, die von Boston aus zu Konzert-Tourneen unterwegs ist, das heute und hier leider nicht realisieren kann.

Im angegebenen Thema war von einer Dialektik von auditiver, performativer und textueller Analyse die Rede. Keineswegs soll damit die Analyse der seriell-rhythmischen Organisation der drei Teile von Polyphonie X, wie bisher, zurück gestellt werden, sondern hier ist von ihrer Diskussion im Briefwechsel zwischen Boulez und Cage und von dem Artikel von Boulez mit dem Titel »Éventuellement…« aus der Revue musicale vom Mai 1952 auszugehen. Deren Ergebnisse hat der Straßburger Musikologe Werner Strinz in drei Einzelstudien20 fruchtbar gemacht und in aller Kürze möchte ich Boulez’ Selbstinterpre-tation und die von Strinz gezogenen Konsequenzen hier zusammengefasst vorstellen, um eine Einheit von textueller, performativer und auditiver Analyse zumindest im Ansatz andeuten zu können. Die Schwierigkeit dabei liegt aber darin, dass die frühen Briefstellen und der Artikel »Möglichkeiten« (»Even-tuellement«) sich insgesamt mehr auf die Vorfassung von Polyphonie X, auf die Polyphonies von 1949/50 beziehen, so dass die dort wiedergegebenen Einsichten mit aller Vorsicht auf die Interpretation von Polyphonie X übertragen werden können. Bei einigen Stellen handelt es sich aber unverkennbar um Poly-phonie X. Es ist auch hier hervorzuheben, dass die Emphase, die Claus-Steffen Mahnkopf für die frühe Fassung der Polyhonies hegt, eindeutig aus den frühen, kompositionsanalytisch ausgerichteten Belegstel-len des Briefwechsels zwischen Boulez und Cage sowie aus dem zitierten Artikel »Éventuelllement« her-vorgeht. Mahnkopf hat sich einfach deren erfrischende wie erhellende Erkenntnisse zu eigen gemacht.

Boulez hebt in den einschlägigen Briefen No. 26-3121 vom Dezember 1950 bis zum August 1952 an Cage ein spezifisches Verfahren der seriell-rhythmischen Organisation sowie mit der Disposition der sieben Instrumentengruppen die »serielle Klangfarbenkomposition«22 hervor, das ich hier wiedergeben möchte. Es wird dabei deutlich, dass kompositorische Verfahren nicht unbedingt zwingend mit den Er-gebnissen in der musikalischen Darstellung zusammenhängen müssen, schon gar nicht im Bereich der Ästhetik des Werks von Polyphonie X. Zu Recht forderte Boulez nach Musikdenken heute I von 1963 bereits ein Jahr später die Notwendigkeit einer ästhetischen Orientierung (Nécéssité d’une orientation ésthétique), de-ren Ableitung nicht alleine aus der Kompositionstechnik hervorgehen kann, sondern nur in Verbindung mit dem Aufsuchen allgemeinerer Charakteristika, wie sie aus der performativen und auditiven Analyse und aus Fragen der Aufführung und der Philosophie hervorgehen. Es fällt dabei insgesamt als Problem auf, wie schwierig es ist, wie bei Werner Strinz in seinen an sich stupend einsichtigen Analysen, aus die-sen Analyse-Kategorien solche der Ästhetik zu gewinnen; wie es umgekehrt nicht weniger leicht ist, aus der performativen wie auditiven Analyse Kriterien zu finden, die ihrerseits auf die Analysemethoden der Kompostionstechnik zurückwirken könnten.

20 Pierre Boulez, »Möglichkeiten«, in: ders., Werkstatt-Texte, Berlin 1972, S. 43.21 Werner Strinz, » ›Que d’interférence à provoquer …‹. Bemerkungen zur Kompositionstechnik in Pierre Boulez’ Polypho-nie X pour 18 Instrumente«, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung Nr. 12 (1999), S. 39–45; ders., Variations sur ›l’inquiétude rythmique ‹ . Untersuchungen zur morphologischen und satztechnischen Funktion des Rhythmus bei Olivier Messiaen, Pierre Boulez und Jean Bar-raqué, Frankfurt a. M. 2003; ders., »Quelques Observations sur les ›Objets trouvés‹ dans l’œuvre de Pierre Boulez«, in: Pierre Boulez. Techniques d’écriture et enjeux esthétiques, Genève 2006, S. 45–93.22 Vgl. diese Zählung der Briefe, deren Wiedergabe und Kommentierung: Pierre Boulez – John Cage. Der Briefwechsel, hrsg. von Jean-Jacques Nattiez u. a., Frankfurt a. M. 1997, S. 88–115.

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Auf jeden Fall ist es in einer ersten Annäherung an die Selbstinterpretation von Boulez entscheidend, dass die Farben und deren Kombination in den sieben Instrumentengruppen dergestalt im Vorder-grund stehen – eben nicht die serielle Organisation der Tonhöhenkomplexe, der Dauern und der Funk-tion der Dynamik und Spielart, die Boulez auch und vor allem anhand anderer Werke23 diskutiert–, dass Boulez bei der Zusammensetzung der sieben Instrumentengruppen, von einer Symmetrie ausgeht, die durch die Außengruppen und mittigen Gruppen und deren jeweiligen Anzahl von bestimmten Instru-menten gebildet wird. Vor allem vor dem Hintergrund des Livre pour Quatuor (1950) sind die Gruppen 5 – 6 – 7 wichtig, gleichsam ein durch den Kontrabass erweitertes Streichquartett, das die Klangachse aller Gruppen und deren Kombination darstellt. Unüberhörbar sind deswegen eben immer wieder die aus dem Quartett/Quintett gebildeten Zweiergruppen (Viol I + Vc. I – Viol II + Vc. II) und einer Drei-ergruppe (Bratsche 1, Bratsche 2 + Kontrabass). So ist es kein Zufall, dass der erste Teil von Polyphonie X eben mit dem ersten Streicherduo beginnt (T. 1–4) und mit dem Subito-Sforzato-Spitzenton der ersten Geige endet und mit ihr fast gleichzeitig den Impuls in T. 5 an das erste Holzbläsertrio weitergibt. Ob-wohl es im ersten Streicherduo noch in T. 6 ein gleichsam nachgereichtes Echo auf die Eruption von T. 4 gibt, ist es doch deutlich, dass die Bewegung des Anfangs von dem Streicherduo insgesamt an die ganz andere Gruppierung der hohen Holzbläser übergeht. In Takt 9 verengen sich dann die Übergänge von den Holzbläsern in die dritte Gruppe der Streicher, wobei sich dann weitere Instrumentengruppen einschalten und sich gegenseitig überlagern im Sinne einer Durchkreuzung der Stimmgruppen, wie sie mit dem Chiasmus des X von Polyphonie X bereits angesprochen wurde. Es bilden sich ineinander ge-wundene Klang- und Melodie-Schleifen, die mit T. 16f. vollkommen ausgedünnt werden, um zu einer deutlich artikulierten Zäsur zu führen. Hier lässt sich dann feststellen, dass der neu ansetzende Beginn wiederum mit einem reinem Streicherduo eröffnet wird, gleichsam ein Wiederbeginn des Anfangs auf anderer Stufe, denn auch hier führt eine Streichergruppe von T. 16/17–23 vergleichsweise mit T. 1-5 in solistischer Funktion eines Ripienos zu weiteren Bewegungsverdichtungen mit anderen Instrumen-tengruppen, die sich teilweise zu einem Tutti zusammenschließen, wie in Weberns Konzert op. 24 (im Briefwechsel zwischen Boulez und Cage spielen Weberns Sinfonie op. 21 und mit Blick auf die Organi-sation von Rhythmen der Schluss-Satz von Weberns Streichquartett op. 28 eine entscheidende Rolle). Dass dergleichen beabsichtigt ist, zeigt sich ab T. 23: hier ist es nicht nur eine Streichergruppe, die dann zu weiteren Verbindungen führt, sondern von Beginn an eine zweifache Stimmgruppe, die sich aus dem Streichtrio mit Kontrabass und der zweiten Holzbläsergruppe (Oboe und Klarinette in A) zusammen-setzt, um sich wiederum nach fünf Takten mit weiteren Stimmgruppen zu assoziieren. Es findet also ein sich verdichtendes Schachtelprinzip statt, bei dem von einer Schachtel ausgegangen wird, in welche nach einer bestimmten Dauer eine weitere herausgezogen und dann mehrere Schachteln ineinander geschoben werden. Ich führe dies an dieser Stelle nicht weiter aus, denn dergleichen Organisationsprin-zipien der Stimmgruppen- und »Klangfarbenkombinationen« (Boulez) werden mit den verschiedenen Tempocharakteren ab T. 50 mit dem Tempo II »Vif« auf Grund der Beschleunigung noch um vieles komplexer. Es reicht hier also vollkommen aus, in dieser Weise die Partitur durchzugehen und sie durch-zuhören, weil dies Prinzip der Verschachtelung der sieben Stimmgruppen sinnfällig wird, ohne eigens durch serielle Verfahrensweisen ausgewiesen werden zu müssen, die von der rhythmischen Organisation auf die anderen Klangparameter, also auch auf die hier in Frage stehenden sieben Klangfarbengruppen übertragen werden. Auch wenn dies Boulez versucht hat24 und später dieses Werk für gescheitert erklärt hat, weil es allzu sehr einem bestimmten Schematismus und Automatismus in den seriellen Ableitungen gefolgt sei, verwundert diese Selbstkritik zumindest nach Maßgabe des hier aufgezeigten Aufbaus und

23 Boulez, Möglichkeiten, S. 42.24 Ebda., S. 43.

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der Entwicklung der sieben Stimmgruppen, die sich ganz organisch ineinander verschlingen und aus-einander hervorgehen. Dies scheint mir deswegen durchgehört und in dieser Weise auch sinnfällig für den Dirigenten, die Spieler des Ensembles wie für den Hörer zu werden, ob er nun die Partitur mitliest oder nicht.

Wenn Analyse allerdings gefragt ist, kann bei aller Verkürzung der Herleitung der seriell organisierten Parameter eben von der bereits zitierten Zahl 7 ausgegangen werden. Auf die Bedeutung dieser Zahl eines strukturell wirksamen Siebengestirns bei Mallarmé hat Boulez selbst im Brief an John Cage hinge-wiesen. Aus ihr ergibt sich das Verhältnis des Reihenmaterials, der rhythmischen Organisation und der Anordnung der sieben Stimmgruppen (vgl. dazu ausführlich Pierre Boulez, Werner Strinz und Martin Zenck). Natürlich könnte hier die Analyse viel detaillierter und grundsätzlicher erfolgen, bis sie abstrakt auf ein diagrammatisches Wissensbild zurückgeführt werden kann, das eben aber nur eine synoptische Veranschaulichung darstellt, das sich einem dirigierenden, hörenden oder musikalisch interpretierenden, sich in der zeitlichen Sukzession geschehenden Ablauf der Musik nicht erschließt. Viele der Analy-sen dieser Art sind höchst problematisch in ihrer verkürzenden Systematik, mit der sie oft mit Hilfe der Selbstinterpretation des Komponisten diesem versuchen, auf die ›Schliche zu kommen‹. Darüber wird vergessen, dass das Tableau eines diagrammatischen Wissensbildes, gerade auf Grund seiner Re-duktion, seinerseits wieder auf eine diskursive Erörterung angewiesen ist. Bleibt die Analyse in einer allerletzten Abstraktion beim Wissensbild stehen, verfehlt sie die sich in und mit der Zeit artikulierende Komposition vollkommen, weil sich die Systematik nicht auf der in der Zeit verlaufenden Schiene der Musik abbilden lässt. Kritisch könnte gegenüber der Analyse, welche die Komposition auf ein einziges Schema (scéma/figura) zurückführt, eingewandt werden, dass diese Reduktion die Musik auf ein dia-grammatisches Wissen, auf einen tableau-mäßigen Entwurf zurückführt, von welchem der Komponist seinen Ausgangspunkt genommen hatte, um ihn dann gemäß einer Forderung von Pierre Boulez im Zusammenhang von Recherche und Hervorbringung (»Recherche et Création«) durch das kompositori-sche Verfahren selbst, vor allem durch die Imagination (Einbildungskraft) zu transzendieren. Demnach würde die musikwissenschaftliche oder musiktheoretische Analyse dort mit ihren Ergebnissen mit dem Diagramm ihren Abschluss finden, wo der Komponist erst von diesem ausgehend, seine schöpferische Phantasie weiter entwickelt. Deswegen hat Ludwig Wittgenstein in seinen späten Philosophischen Un-tersuchungen darauf hingewiesen, dass ihm Erklärungen analytischer Art durch Musikologen in keiner Weise beim Verstehen von Musik hilfreich seien, sondern nur die Bestimmung der »Bewegungssug-gestionen«, nach deren Maßgabe die Musik in der Zeit vergeht. Deswegen wurden von meiner Seite hier ausschnittsweise gerade die Bewegungscharaktere der sieben Instrumentengruppen so wie deren tempomäßige Darstellung in den Mittelpunkt der Hörbilder gerückt.

Nun habe ich hier wenigstens ansatzweise unter den verschiedenen Aspekten der Klangfarbenmelodie und der Organisation der Tempocharaktere eine Analyse des Partiturtextes, aber sozusagen mit dem inneren als auch äußeren Ohr versucht, um einerseits zu zeigen, wie das Lesen und das Hören sich gegenseitig bedingen können, andererseits aber auch um deutlich zu machen, wie das Hören auf einen Eigensinn ausgerichtet ist, der nicht unter dem Lesen der zu analysierenden Partitur begraben werden sollte. Zugleich kann sich daraus für den performativen Aspekt der Analyse der Sachverhalt ergeben, dass in dieser Weise gewonnene Einsichten ganz unverzichtbar für die Bestimmung des Sinns einer sol-chen Musik sind und notwendigerweise auch von der musikalischen Interpretation umgesetzt werden müssten. Eine Fassung für zwei Klaviere, wie in der Besetzung der Structures Ia, könnte solches sinnfällig machen und es wäre nicht der schlechteste Weg, wenn man beim Einstudieren dieses Stückes einmal zunächst von dem aufgezeigten Aufbau und der manifesten Entwicklung der Bewegungsschleifen der sieben Instrumentengruppen ausginge, um über die sinnfällige Klangfarbenmelodie dieser Stimmgrup-

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pen dann zu Fragen der distinkten Artikulation, der Tempi und vor allem der Koordination des Zusam-menspiels zwischen den einzelnen wie sieben Gruppen zu gelangen. Dann würde sich ein musikalischer Prozess ergeben, der nicht einseitig, wie weitgehend bisher, einem zementierten Strukturbegriff geop-fert würde, der allzu strikt nur am Text der Partitur und nicht an der musikalischen Imagination dieser Musik orientiert ist. Aus der musikalischen Vorstellung dieser Musik, aus deren Kraftquelle wäre eben diese Musik zu dirigieren, aufzuführen und zu hören!

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Bei dem gemeinsamen Entwurf der Konzeption unseres Podiums mit Susanne Kogler (Uni Graz) bin ich von einer spezifischen Erfahrung der grundlegenden Skepsis gegenüber der Objektivierbar-keit von Hörerfahrungen ausgegangen, wie sie mir von Seiten des Herausgebers des AfMw, Albrecht Riethmüller, begegnete.25 Bei meinem Beitrag über das von Boulez zurückgezogene Werk Polyphonie X bat er mich, doch alle persönlichen Hörprotokolle hintan zu stellen, weil die doch eher Ausdruck einer auch bedenklichen Subjektivität oder schlechten Unendlichkeit seien. Deswegen habe ich in diesem Text alle diesbezüglichen Überlegungen gestrichen, die aber in meinem Boulez-Buch Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde (Wilhelm-Fink-Verlag, Paderborn 2016, S. 86-124) wieder aufgemacht wurden. Dort finden sich kritisch aufeinander bezogene Hörprotokolle von Polyphonie X durch die mit mir befreundeten Kollegen Oliver Wiener, Christian Utz und Tobias Schick und meiner eigenen Hörerfahrung mit dem Resultat, dass es durchaus zumindest partielle Übereinstimmungen in der Hörerfahrung, auch eines trompe d’oreille, und damit eine Form der objektivierbaren Intersubjek-tivität gibt. Entsprechende Ergebnisse auf der Grundlage dieser Hörprotokolle der Aufnahmen auf Tonträgern von Hans Rosbaud und Bruno Maderna werden von mir auf dem Podium zur Diskussion gestellt. Dabei geht es einerseits um grundlegende Überlegungen zum Hören, um den Chiasmus von Hören und Sehen und vor allem mit Blick auf Pierre Boulez um den Eigensinn des Hörens gegenüber einer Sinnkonstitution, welche einseitig von der Partitur aus erstellt wird.

25 AfMw 72 (2015), Heft 4, S. 277–301.