Zur Organisation der Krüppelfürsorge

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XXX. Zur Organisation der Kri]ppelfarsorgo. Von Dr. Marcus, Spezialarzt fiir Orthop~idie in Posen. Die Veranstalter des I. deutsehen Krfippelkongresses haben sich ein grosses Verdienst dadurch erworben, dass sic den Freunden der Krfippel- fiirsorge auf diesem Kongress Gelegenheit geboten haben, ihre Ansichten fiber Notwendigkeit, Umfang, Art und die MSglichkeit einer allgemeinen Durch- ftihrung der Krfippelfiirsorge auszutauschen. Wie nicht anders zu erwarten war, sincl diese Ansichten ziemlich welt auseinander gegangen, und Einigkeit herrsehte eigentlich nur fiber die Not- wendigkeit tier Ffirsorge, dariiber, class fiir die Kriippelkinder gesorgt werden mfisse, und zwar noch erheblich mehr, als es bisher mSglieh war, obgleich in den letzten Jahren das Interesse fiir eine geregelte Krfippelfiirsorge in weiten Kreisen geweekt worden ist und auch Staat und Kommune in dieser Ffirsorge den privaten Kreisen hilfsbereit zur Seite stehen. Gerade wegen der Verschiedenartigkeit der auf dem Kongress vorge- braehten Ansiehten erseheint es nicht unzweckmKssig, dieselben kritisch etwas naher zu beleuchten, und ich mSchte zu diesem Zwecke zun~chst ein- mal zwei Punkte herausgreifen, die auf dem Kongress eingehend gewfirdigt worden sind, ich meine den Umfang und die Art der Krfippelfiirsorge. Was den Umfang anbetrifft, so wurde mehrfach die hnsicht ausge- sprochen, dass man nicht nur jugendlichen Kr~ippeln eine entspreehende Fiir- sorge zuteil werden lassen miisse, sondern auch erwachsenen Krfippeln. Und es wurde sogar auf die Arbeiter hingewiesen, die dutch Unf~lle zu Krfippeln geworden sind. Es ist gewiss richtig, dass man bei der Ffirsorge sieh nicht an ein bestimmtes Alter halten soll, dass man nicht etwa glauben darf, die Fiirsorge miisste bei Kindern mit dem Abschluss des Schulbesucbes ebenfalls ihren Abschluss finden. Ich habe selbst in der Diskussion betont, dass die Fiirsorge nicht eher aufhSren dfirfe, als bis man die jugendlichen Kriippel soweit gebraeht hat, dass sic in irgend einem Berufe selbst~ndig weiter kommen kSnnen, und ich gehe auch noch welter. Ich stimme mit der oben angeffihrten Ansicht auch darin ohne weiteres iiberein, dass man erwachsene Kriippel, woes nStig und wo es mSglich ist, in die Ffirsorge nimmt und sic, Arch. f. Orthop., Mechanoth. u. UnL-Chir. VIII. 4. 26

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XXX.

Zur Organisation der Kri]ppelfarsorgo. V o n

Dr. Marcus, Spezialarzt fiir Orthop~idie in Posen.

Die Veranstalter des I. deutsehen Krfippelkongresses haben sich ein grosses Verdienst dadurch erworben, dass sic den Freunden der Krfippel- fiirsorge auf diesem Kongress Gelegenheit geboten haben, ihre Ansichten fiber Notwendigkeit, Umfang, Art und die MSglichkeit einer allgemeinen Durch- ftihrung der Krfippelfiirsorge auszutauschen.

Wie nicht anders zu erwarten war, sincl diese Ansichten ziemlich welt auseinander gegangen, und Einigkeit herrsehte eigentlich nur fiber die Not- wendigkeit tier Ffirsorge, dariiber, class fiir die Kriippelkinder gesorgt werden mfisse, und zwar noch erheblich mehr, als es bisher mSglieh war, obgleich in den letzten Jahren das Interesse fiir eine geregelte Krfippelfiirsorge in weiten Kreisen geweekt worden ist und auch Staat und Kommune in dieser Ffirsorge den privaten Kreisen hilfsbereit zur Seite stehen.

Gerade wegen der Verschiedenartigkeit der auf dem Kongress vorge- braehten Ansiehten erseheint es nicht unzweckmKssig, dieselben kritisch etwas naher zu beleuchten, und ich mSchte zu diesem Zwecke zun~chst ein- mal zwei Punkte herausgreifen, die auf dem Kongress eingehend gewfirdigt worden sind, ich meine den Umfang und die Art der Krfippelfiirsorge.

Was den U m f a n g anbetrifft, so wurde mehrfach die hnsicht ausge- sprochen, dass man nicht nur jugendlichen Kr~ippeln eine entspreehende Fiir- sorge zuteil werden lassen miisse, sondern auch erwachsenen Krfippeln. Und es wurde sogar auf die Arbeiter hingewiesen, die dutch Unf~lle zu Krfippeln geworden sind. Es ist gewiss richtig, dass man bei der Ffirsorge sieh nicht an ein bestimmtes Alter halten soll, dass man nicht etwa glauben darf, die Fiirsorge miisste bei Kindern mit dem Abschluss des Schulbesucbes ebenfalls ihren Abschluss finden. Ich habe selbst in der Diskussion betont, dass die Fiirsorge nicht eher aufhSren dfirfe, als bis man die jugendlichen Kriippel soweit gebraeht hat, dass sic in irgend einem Berufe selbst~ndig weiter kommen kSnnen, und ich gehe auch noch welter. Ich stimme mit der oben angeffihrten Ansicht auch darin ohne weiteres iiberein, dass man erwachsene Kriippel, woes nStig und wo es mSglich ist, in die Ffirsorge nimmt und sic,

Arch. f. Orthop., Mechanoth. u. UnL-Chir. VIII. 4. 26

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sei es durch Behandlung, sei es durch Unterbringung in irgend einem ihren kSrperlichen F~higkeiten entsprechenden Berufe soweit zu bringen sucht, dass sie, die bisher vielleicht Staat und Kommune zur Last gelegen haben, eine selbst~ndige Existenz fiihren kSnnen.

Abet, und darin vermag ich dieser Ansicht ganz und gar nicht beizu- stimmen, die durch Unfiille zu Kriippeln gewordenen Arbeiter bediirfen unserer Fiirsorge nicht. Diese Unfallverletzten in unsere Fiirsorge hinein- zubeziehen, wiirde welt fiber den'Rahmen dessen hinausgehen, was die Kriippel- fiirsorge sich als Aufgabe gestellt hat und stellen kann.

Diese Unfallverletzten bediirfen unserer Fiirsorge in keiner Weise. Soweit bei ihnen Behandlung erforderlich ist, muss sie yon den Tr~gern der staat- lichen Versicherungen geleistet werden, und die als Folge des Unfalles zuriick- gebliebene BeschrKnkung der Erwerbsf~,higkeit muss yon denselben TrKgern der Versicherung durch entsprechende Geldrenten ausgeglichen werden.

Nun ist es ja allerdings eine in der Unfallspraxis h~ufiger beobachtete Erseheinung, dass Arbeiter auch dann, wenn nur eine verh~,ltnism~ssig geringe Erwerbsbeschr~nkung zuriickgeblieben ist und nur yon einer m~ssigen Ver- kriippelung gesprochen werden kann, nicht mehr dazu kommen, ihre friihere Arbeit oder auch sonst eine Arbeit i~berhaupt wieder aufzunehmen, Diese an sich, gewiss sehr traurige Tatsache, die yon allen in der Unfallpraxis tatigen Faktoren wiederholt beklagt worden ist, hat abet ihren Grund nicht in tier durch den Unfall gesetzten Verkriippelung, wenigstens nicht allzu h~,ufig, sondern es sind ganz andere Griinde dafiir massgebend, auf deren ErSrterung ich mich hier nicht einlassen kann. Diese anderen Griinde aber sind es, die auch die beste Absicht der bier etwa einsetzenden Kdippelfiirsorge illusorisch machen wiirden. Wir warden keine wesentlichen Erfolge zu verzeichnen haben, wenn wir diese Kriippel in tier Weise behandeln wollten, dass wit sie allmahlich wieder dadurch an die Arbeit zu gewShnen suchen, dass wit ihnen Arbeitsunterricht erteilen wollten; denn handelte es sich bei diesen Unfall- kriippeln nur darum, einen ihren noch verbliebenen kSrperlichen F~higkeiten entsprechenden Beruf zu finden, so w~re es im allgemeinen nicht gar so schwer, diese Leute unterzubringen.

Aber, ganz abgesehen davon, dass die eben angestellten Erw~gungen sich schon aus dem Grunde eriibrigen, weil in so und so viel F~illen die eiserne Notwendigkeit die Unfallverletzten dazu bringt, sich eine passende Arbeit auszusuchen und fleissig t~tig zu sein, da sie mit ihrer Rente allein nicht auskommen kSnnen, ist es eine ganz bekannte Tatsache, dass selbst schwer verkriippelte Arbeiter sich allm~hlich in so hohem Grade an ihre Verkriip- pelung gewShnen, dass sic mit dem ihnen verbliebenen Rest yon Arbeits- f~higkeit ganz respektable Arbeitsleistungen ausfiihren. Es ist weiter bekannt, dass jetzt schon eine grosse Anzahl yon Arbeitgebern bemiiht ist, diese Un- fallkriippel zur Arbeit wieder zu erziehen und ihnen die GewShnung an die Unfallsfolgen zu erleichtern dadurch, dass sie dieselben trotz ihrer vermin- derten Leistungsf~higkeit in ihren Betrieben zu halten sucht, sie im Anfang

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mit leichterer Arbeit bcschi~ftigt und ihnen dazu oft genug noch den vollen ungekiirzten Lohn auszahlt.

Endlich sorgen der hrbeitsnachweis und andere soziale Einrichtungen genugsam dafiir , dass den Unfallkriippeln immer wieder passende hrbeits- gelegenheiten geboten werden, und es ist oft genug nur mangelnde Energie und fehlender Wille, wenn diese Unfallkriippel nach dem Unfall gar nicht mehr arbeiten. In diesen Fi~llen, wo Wille und Energie fehlen, wo leider auch manchmal Lust und Liebe zur hrbGit nicht in geniigendem Masse vor- handen sind, da wird die Kriippelfiirsorge mit ihrer Erziehung zur Arbeit wohl auch nicht viel ausrichten. Das w~ren aber gerade die einzigen Fiille, bei denen ein Einschrciten der Kriippelfiirsorgc gerechtfertigt wiire, und sie sind heute gegeniiber der grossen Mehrzahl der anderen Fa.tle sichGrlieh so vereinzelt, dass man wohl gGnerell sagen kann: Die dureh Unfitlle zu Kriippeln gewordenen Arbeiter fallen nieht in den Rahmen der Kriippel- fiirsorge, einmal, 'well sie diese night brauchen, und sodann, well in den verh~ltnismi~ssig wenigen Fitllen, wo die ~bernahme auch solcher Kriippel sich rechtfertigen liesse, ein wesentlicher Erfolg nicht zu erwarten steht.

L'ber den Umfang der Kriippelfiirsorge geht es ferner hinaus, dass man all die Kr~ippel in die Fiirsorge einbeziehen will, die infolge anderer kom- plizierender Leiden sich in einem derartigen Zustand befinden, dass fiir sie zeitlebens gesorgt werden muss. Diese Kriippel bediirfen der Kriippelftirsorge nur dann, wenn das Kriippelleiden die Hauptrolle spie]t, nicht aber dann, wenn dig anderen komplizierendGn Leiden, wig Blindheit, Taubstummheit, Epilepsie, Schwachsinn usw. im Vordergrunde stehen. Fiir solche Kinder ist bereits geniigend dutch entsprechende Anstalten gesorgt, und es hiesse die Kriippelfiirsorge unnStig belasten, wenn man auch solehe Kinder in Kriippel- anstalten hineinbringen wollte. Denn dann diirftG die Zahl der Kriippel- anstalten, die wir jetzt haben, bei weitem nicht ausreichen, und es wiire gar nicht abzusehen, welchen Umfang die Kriippelfiirsorge annehmen wiirde, falls wir auch diesen Kindern unsere Fiirsorge angedeihen lassen wollten.

Endlich gel~t es fiber den Rahmen der Fiirsorge hinaus, alle die Kinder hineinzunehmen, die nur an einer verh~Itnism~issig leichten Verkriippelung leiden, einer so leichten, dass sie sie in ihrer Erwerbsfi~higkeit wohl etwas be- schriinkt, keineswegs aber unfiihig macht, einen Beruf zu ergreifen. Wir haben im t~glichen Leben stets mit einer ganzen Anzahl yon Mensehen zu rechnen, deren kSrperliche und geistige F'~higkeiten night ausreichend sind, um in dem und jenem Berufe das normale Mass der Leistungen zu erreichen, deshalb sind wir aber noeh lange nicht berechtigt oder gar verpflichtet, solche Menschen in irgend eine Fiirsorge hineinzunehmen; denn das wesentlichste Erfordernis fiir t3bernahme eines Menschen in eine Fiirsorge, selbstverstitnd- lich also auch in die Kriippelfiirsorge, muss immer das Moment bleiben, dass der Mensch nicht imstande ist, sich aus eigener Kraft eine, wenn auch noch so bescheidene, Existenz zu griinden.

Man daft nicht unterschiitzen, wie gross beim Menschen im allgemeinen die Anpassungsfi~higkeit an kSrperliche Zust/inde ist, wie sehr er im Laufe

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der Zeit imstande ist, sich an kSrperliche Gebrechen zu gewShnen und die durch diese hervorgerufene Erwerbs- und Arbeitsbeschriinkung zu iiberwinden. Gilt dieser Satz schon yon Unfallkriippeln~ die im besten Mannesalter stehen, so hat er eine noch viel grSssere Berechtigung bei jugendlichen Kriippeln. Aueh das ist eine Erfahrung, die in der Hauptsache wohl yon Arzten ge- macht wird, die mit der Behandlung und Begutachtung von Unfallverletzten zu tun haben. Jeder der Spezialkollegen wird mir best~tigen, dass solche GewShnungen nicht etwa eine Ausnahme bilden, sondern die Regel sind, so sehr die Regel, dass heute die Versicherungstr~iger und die ihnen fiberge- ordneten Instanzen bei Feststellung einer Besserung das Moment der Ge- wShnung als etwas Selbstverst~indliches ohne weiteres heranziehen. Ich will nur noch nebenbei erw~hnen, dass beim Kapitel ,Gew5hnung" oft sogar ganz ausserordentliche und fast unglaubliche Ergebnisse zu sehen sind. Es ist nicht am Platze, hier Beispiele dafiir anzufiihren. Wer aber Interesse daran hat, den verweise ich auf Fi~lle, die in der Unfalliteratur beschrieben sind. Hier mSchte ich nur zwei Beispiele erwi~hnen, die selbst mir, der ich doch seit Jahren schon fiir das Heranziehen tier GewShnung bei Unfallverletzten als Faktor der Besserung eintrete~ fast unglaublich vorkamen.

Es handelt sieh um einen Fall, den Herr Kreisarzt Dr. F r e y aus Lublinitz (Oberschlesien) in der _~rztlichen Sachverst~ndigen-Zeitung, Jahrg. 1907, Nr. 10 verSffentlicht hat. Nach dieser Mitteilung hatte ein Zement- arbeiter ausser einer Kopfver]etzung schwere Zerma|mungen an beiden Armen erlitten, so dass beiderseits Amputationen nStig geworden waren. Vom reehten Oberarm blieb nur ein 17 cm langer Stumpf unterhalb des Schultergelenkes zuriiek, links waren Oberarm und Ellenbogengelenk erhalten, dagegen war vom Unterarm nur ein 18 cm langes Stiick unterhalb des Ellenbogengelenkes zuriick geblieben. Trotz dieser kolossalen Verstiimmelung hatte er es dutch Fleiss, Energie und Ausdauer soweit gebracht, dass er als Chausseearbeiter und landwirtschaftlicher Arbeiter ti~tig sein konnte und fast soviel verdiente wie ein ganz gesunder Arbeiter.

In der Mitteilung wird genau beschrieben, wie der Verletzte es allmiih- lich durch GewShnung fertig gebracht hat, mit den beiden Armstiimpfen einige Werkzeuge, die er zur Arbeit brauehte, zu handhaben.

Es hat sich bei diesem Fall zwar um einen Unfall gehandelt, aber nicht um einen entsch~digungspflichtigen. Der Verletzte war ein erwachsener" Ar- beiter.

Wie schon erw~hnt, ist bei jugendlichen Krfippeln die GewShnung im allgemeinen noch viel grSsser. Ich habe in der Monatsschrift fiir Unfall- heilkunde, Jahrg. 1904, S. 14 fiber einen Fall yon Hiiftgelenksentziindung berichtet. Es handelte sich um einen jungen Menschen, der als Kind eine schwere tuberkulSse Hiiftgelenksentziindung durchgemacht hat, die mit einer be- tr~chtlichen Deformit~t und einer Verkiirzung des Beines yon 7 cm geheilt war. Der junge Mensch war als ]andwirtschaftlicher Vol[arbeiter t~tig, verrichtete seinen Dienst genau so wie jeder andere Arbeiter und verdiente auch den gleichen Lohn. Obgleich er infolge der Erkrankung einen starken Spitzfuss

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zurtickbehalten hatte, so lief er beispielshalber mit diesem Spitzfuss ebenso schnell wie irgend ein anderer.

Diese beiden Beispiele yon GewShnung an Verkriippelungen mSgen hier gentigen. Sie zeigen jedenfalls sehr deutlich, in wie hohem Grade Menschen sich an Verkriippelungen zu gewShnen vermSgen und nach einge- tretener GewShnung imstande sind, ihren Platz im Leben auszufiillen.

Also kurz zusammenfassend mSchte ich reich dahin aussprechen, dass die Ubernahme der Kriippelfiirsorge auch in solchen Fiillen zum mindesten unnStig ist, in denen sich Kriippel aus eigener Kraft eine, wenn auch be- scheidenere Existenz zu grtinden vermSgen.

Ich fasse noeh einmal das, was ich tiber den Umfang der Kriippel- fiirsorge gesagt habe, zusammen:

In die Krtippelfiirsorge diirfen nicht hineinbezogen werden: 1. Die durch Unfall zu Kriippel gewordenen Arbeiter. 2. Solehe Kriippel~ bei denen komplizierende Gebreehen im Vorder-

grunde stehen und dutch diese volle und dauernde Arbeitsunfiihigkeit verursacht wird.

3. Kriippel, deren Kriippelhaftigkeit derart ist, dass durch sie die Un- mSglichkeit einer Existenzbeschaffung nicht bedingt wird.

Wenn wir die Krtippel so z~hlen, dass wir diese vorher genannten Kate- gorien, insbesondere die beiden ]etzten~ ausschalten, so werden wir, glaube ich, zu ganz anderen Resultaten kommen wie die offizielle Krtippelzi~hlung im Jahre 1906.

Gewiss liegen die Verhi~ltnisse nicht in allen Teilen des deutschen Reiehes gleich, aber ich zweifele nieht, dass sie vor allen Dingen auf dem Lande besser liegen als in der Stadt und in vielen St~idten des Siidens und Westens besser als bei uns in Posen. Deshalb ist der zwischen den Ergeb- nissen der allgemeinen Kriippelz~hlung und den Ergebnissen der Kriippel- ziihlung hier in Posen bestehende Untersehied gar nicht zu verstehen.

Die folgenden Zahlen gebe ich~ soweit sie die Stadt Posen betreffen, aus dem Gedi~chtnis wieder. Ich habe das Material nicht zur Hand, aber es ist sicher, dass die Zahlen einigermassen wenigstens stimmen.

Wir haben bier in Posen w~hrend der drei Jahre des Bestehens der Kriippelfiirsorge ca. 300 Krtippel in der Fiirsorge gehabt. Von diesen 300 Kriippeln waren etwa 12 einer Anstaltsbehandlung bedtirftig, wenn man die Krtippelfiirsorge im umfassendsten Sinne angewendet wissen will~ macht man dagegen die Einschri~nkungen, die ich oben angefiihrt habe, so wiirden kaum 6 tibrig bleiben, bei denen sich eine Behandlung als notwendig erweist, d. h. prozentual gerechnet ist bei 4 % der Kriippel Anstaltsbehandhng notwendig im Falle der umfassendsten Anwendung der Fiirsorge; nur bei 20/0 im Falle der sich auf das Notwendige beschriinkenden Anwendung der Fiirsorge.

Demgegentiber hat die offizielle Zi~hlung ganz andere Verh~ltnisse er- geben.

Nach dem von der Deutschen u fiir Kriippelftirsorge im Februar 1910 erlassenen Aufruf haben wir im gesamten deutschen Reich an

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jugendlichen Krfippeln der armen BevSlkerung mindestens 100000. Von diesen waren nach ~rztlichem Urteil der Aufnahme in ein Krfippelheim be- dfirftig 56 000, d. h. also fiber 50O/o; bei uns in der Stadt Posen hSchstens 4 ~ Dieser Unterschied ist unmSglieh auf einen Zufall zurfiekzufiihren. Ieh halte es fiir ausgeschlossen, dass die Verhi~ltnisse bei uns in Posen so unend- lich viel giinstiger liegen als im fibrigen deutschen Reiche, und ich kann mir die Differenzen in den Ziihlungen nur auf die folgende Weise erkl~tren:

Die offiziellen Ziihlungen sind, soviel ich weiss~ yon Laien vorgenommen worden. Wie ein Laie aber fiber Verkrfippelungen und insbesondere fiber die Notwendigkeit einer Anstaltsbehandlung bei Kriippeln denkt, ist nicht schwer zu sagen. Im allgemeinen ist es wohl so, dass der Laie eine jede nur einiger- massen schwerere Verbiegung der Wirbels~ule als eine Krfippelhaftigkeit an- sieht, die den damit Behafteten zu einem bedauernswerten Krfippel macht, der nicht imstande ist, sich aus eigenen Kr5ften eine Existenz zu schaffen und der unter allen Umst~nden auf die Hilfe und Mildt~tigkeit seiner Mitmensehen angewiesen ist und dauernd angewiesen bleibt.

Nun heisst es allerdings in dem oben genannten Aufruf, dass nach iirztlichem Urteil 56000 jugendliche Krfippel einer Anstaltsbehandlung be- dfirfen. Ich weiss nicht, wie dieses iirztliche Urteil zustande gekommen ist. Ich nehme an, dass es sich zum grossen Tell vielleicht auf die Diagnose yon Laien stiitzt. Ist dem so~ dann darf es aber unbedingt nicht als massgebend angegeben werden; denn die Verkrfippelung ist ein Leiden, das zu seiner saehgem~issen Beurteilung einer spezialistischen Untersuchung mindestens ebenso bedarf wie nur irgend ein anderes Leiden.

Es wird also unbedingt nStig sein, class man, bevor an die Frage heran- gegangen wird, in welcher Art die Krfippelfiirsorge zu betreiben ist, eine ganz genaue Prfifung des im ganzen Reiche vorhandenen Kriippelmaterials vor- nimmt. Wie die Priifung etwa vorzunehmen sein wiirde, dariiber werde ich mir zum Schluss noeh einige Worte zu sagen erlauben.

Der zweite Punkt, in dem auf dem Kongress die Anschauungen so ausserordentlich differierten, betrifft d i e A r t der Kriippelffirsorge.

Es war unverkennbar, dass in bezug auf die Art der Krtippelffirsorge zwei Ansichten, ieh will nicht gerade sagen sich gegeniiberstanden, aber doch ziemlich scharf getrennt gehalten wurden. Die eine Ansicht, die in der Hauptsache yon Herren vertreten wurde, die direkt oder indirekt mit Kriippel- anstalten zu tun haben, lief darauf hinaus, dass es bei der Kriippelffirsorge im wesentlichen darauf ankomme, die Krfippelkinder in geeigneten Anstalten unterzubringen. Die andere Ansieht, die in der ttauptsache yon Arzten ver- treten wurde, sah das Heft vornehmlieh in der Behandlung tier Krfippel- kinder. Auf der einen Seite also Heranbildung zur Arbeit, auf der anderen Seite Herstellung einer m5glichst grossen Arbeitsfi~higkeit. SelbstverstKnd- lich~ ich mSchte das noch einmal ausdriicklich betonen, wurde yon beiden Seiten immer hervorgehoben, dass weder die Behandlung allein, noch die Erziehung zur Arbeit allein ein befriedigendes Resultat geben kSnne. Selbst- versti~ndlich betonten auch die eifrigsten Fiirsprecher tier Anstaltsbehandlung

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den Wert der Behandlung, ebenso wie die Arzte den Wert der Heranbildung der Kinder zur hrbeit. Aber der Eindruck blieb doeh schliesslich haften, dass yon einem Tell der aaf dem Kongress versammelten Krfippelfreande ein besonders grosser Wert auf die Anstaltsbehandlung gelegt wurde, wie ich meine, ein zu grosser.

Schon in den vorhergehenden Ausfiihrungen haben wir gesehen, dass die Anstaltsbehandlung schon deshalb nicht eine gar so grosse Rolle spielen kann, well ja nar ein verh~ltnism/issig kleiner Tell yon Kindern einer solchen Anstaltsbehandlung bedarf. Gewiss werden wir abwarten mfissen, ob die im ganzen Reiche durchzufiihrenden Untersuchungen dasselbe Ergebnis haben werden wie bei uns in Posen. Aber das kann man wohl heute sehon mit Sicherheit sagen: Dass bei fiber 50O/o aller Kriippelkinder Anstaltsbehand- lung notwendig sei, ist ausgeschlossen. Ich bin fest iiberzeugt, dass ein v ie l geringerer Prozentsatz herauskommen wird, und wenn wir bedenken, dass schon jetzt fiber 3000 Anstaltsbetten ffir Krfippelkinder verffigbar sind, d. h. also ffir fiber 3~ aller Kriippelkinder, so will es mir scheinen, als ob wir unsere Tiitigkeit in der Krfippelffirsorge jetzt niCht sowohl der Errichtung yon Krfippelanstalten and Kriippelheimen zuwenden m~issten, als ~ielmehr einer guten and zweckentsprechenden Organisation der Kriippelffirsorge in den Sti~dten and auf dem Lande.

Uber die Art der Organisation kann man ja verschiedener Meinung sein. So sehr ich aaf tier einen Seite davon iiberzeugt bin, dass eine Orga- nisation~ wie wir sie hier in Posen gesehaffen haben, vollkommen ausreichend und genfigend wirksam ist, ebenso bin ich mir andererseits bewusst, dass sich diese Einrichtungen nicht so ohne weiteres auf die kleine Stadt und alas platte Land iibertragen lassen. Fehlen doch dort zam grossen Tell alle die Einrichtungen, die uns hier so ohne weiteres zur Verfiigung standen und die uns die Schaffung der Organisation so erleichterten, dass wir mit relativ geringen Kosten Brauehbares herstellen konnten,

Aber lassen wir die Frage der Organisation einer ordentlichen Krfippel- fiirsorge in den kleinen St~dten und auf dem Lande noch einstweilen. Ich werde nachher noch darauf zuriiekkommen. Sicher ist jedenfalls, dass in allen Gross- und Mittelst~dten eine Organisa~ion sich schaffen l~sst wie die unserige bier mit relativ geringen Kosten, and ich mSchte sogar noch welter gehen und sagen, dass eine solehe Organisation sich iiberall da einrichten l~sst, wo wir sine geregelte Armenpfiege haben, and letzteres ist sicher aueh in einer ganzen Reihe yon kleineren Stadten der Fall.

Die wichtigere Frage ist jedoch die: Reicht unsere Kriippelfiirsorge aus? Ist sie tats~tchlich imstande, dem Krtippelelend geniigend zu steuern?

Zwecks Beantwortun.g dieser Frage mfissen wir mit einigen Worten auf die Ziele and die Mittel der Krfippelftirsorge fiberhaupt eingehen. Ober das Ziel der Ffirsorge herrseht wohl Einigkeit. Ich meine, dass dieses folgender- massen pr~zisiert werden muss.

,~Die Krfippelfiirsorge hat die Aufgabe, alle Krfippel, die es nieht aus eigener Kraft zu einer selbst~indigen Existenz bringen kSnnen and fiir die

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nicht schon andere Fiirsorgeeinrichtungen getroffen sind, dureh entsprechende Mittel soweit zu bringen, dass sie selbst~ndig weiter kommen und niemanden zur Last fallen oder, wo d~s nicht mSglich ist, fiir ihre Unterbringung in Anstalten zu sorgen, in welchen ihnen die MSglichkeit gegeben is~, auch den geringsten ihnen verbliebenen Rest yon Arbeitsf~ihigkeit entsprechend zu ver- werten." In dieser Erkliirung ist die dem Umfange nach yon mir fiir not- wendig gehaltene Einschr~nkung, wie ich vorher des n~heren auseinander- gesetzt babe, enthalten~ und es ist nur noch nStig zu fragen, was fiir Mittel uns in der Kriippelfiirsorge zur Verfiigung stehen~ und zu priifen, ob diese als ausreichend anzusehen sind.

Diese Frage ist einfach zu beantworten. Der Bequemlichkeit halber mSchte ich die Fiirsorge, die die Kinder in

Kriippelanstalten geniessen, als Anstaltsffirsorge bezeichnen, und eine Fiir- sorge, wie wir sie bier in Posen baben, als ambulatorische Fiirsorge.

Wir miissen nun zun~chst sagen, dass eine Anzahl Kriippel, die aber, wie ich vorher auseinandergesetzt babe, meines Erachtens auch nicht an- n~hernd so hoch sein diiffte, als nach der amtlichen Z~h]ung angenommen worden ist, unter allen Umst~nden der Anstaltsbehandlung bedarf und dass diese Art der Fiirsorge auch geniigt.

Fiir den anderen welt grSsseren Teil ist eine Anstaltsfiirsorge nicht notwendig, und es fragt sich nur, ob fiir diesen eine ambulatorische Fiirsorge, wie sie hier besteht, ihren Mitteln nach ausreichend ist, das Ziel zu er- reichen.

Als Typus einer ambulatorischen Fiirsorge will ich die in der Stadt Posen eingerichtete nehmen und an dieser zeigen, dass die Mittel vollkommen ausreichend sind, um das Ziel der Fiirsorge zu erreichen.

Uber die bier geschaffene ambulatorische Fiirsorge habe ich reich in Wort und Sehrift so eingehend ausgesprochen, dass ich sie bei allen Freunden der Kriippelfiirsorge als bekannt voraussetzen kann und sie bier nicht zu wiederholen brauche. Ich will hier nur die einzelnen Einrichtungen darauf- bin ansehen, ob sie zur Erreichung des Endzieles geeignet und geniigend sind.

Da haben w i r e s nun zun~chst mit der Heranschaffung des Materials zu tun. Wir haben zu diesem Zwecke zur Verfiigung die PolizeibehSrde, die Armen- und Schulverwaltung bezw. die im Dienste dieser VerwaRung stehenden Arzte, die S~uglingsfiirsorge wie auch andere hier bestehende Fiirsorgeein- richtungen und natiirlich die bei denselben t~tigen J~rzte. Ich glaube nicht, dass ein Kind durch die engen Maschen dieses Netzes hindurchsehliipfen kann. Sollte das aber doch einmal vorkommen, so muss es eben Sache der Fiirsorge sein, sich das Vertrauen der BevSlkerung in dem Masse zu gewinnen, dass d ie Eltern ihre Kinder freiwillig in die Fiirsorge bringen und nicht erst eine Aufforderung oder gar einen Zwang abwarten. Das Material kSnnen wir uns also vollst~ndig verschaffen. Nun untersuchen wir dieses.

Der zu diesem Zwecke eingesetzten Untersuchungskommission gehSren alle die Spezi~l~rzte an, die bei der Beurteilung und Feststellung der Art der Kriippelhaftigkeit nur irgend in Frage kommen kSnnen; ferner ein P~da-

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goge, der die Schule fiir zuriickgebliebene Kinder letter, der also imstande ist, das kSrperliche Untersuchungsresultat durch das Bild der geistigen Fiihig- keiten zu vervollst~ndigen, und endlich ein hSherer st~dtischer Verwaltungs- beamter~ der Dezernent fiir das st~dtische Armen- und Krankenhauswesen, der seinerseits mit Hilfe seines Beamtenpersonals dafiir sorgt, dass die An- ordnungen der Kommission nicht auf dem Papiere stehen bleiben, der die rechtliche und finanzielle Seite mit den Eltern und AngehSrigen der Kinder ordnet und der schliesslich den ganzen verwaltungstechnischen Teil der Ffir- sorge letter.

Ist das Material nun untersucht und gewissermassen klassifiziert, so treten die behandelnden Arzte in T~itigkeit. Es kommen naturgem~ss haupt- s~iehlich in Frage der Orthop~de, der Chirurg und der Kinderarzt, die s~mt- lich auch der Untersuchungskommission angehSren. Den Kindern wird jede nur irgend mSgliche Behandlung zuteil~ ganz ohne Rficksicht auf die Zeit und den Kostenpunkt. Sie bleiben so lange in Behandlung, bis das best- mSgliche Resultat erreicht worden ist. Selbstverst~indlich werden auch alle notwendigen Apparate angeschafft und ebenso selbstverst~indlich wird auch /fir die geistig Zuriickgebliebenen in der Weise gesorgt, dass sie in der stiidtisehen Hilfsschule untergebracht werden, deren Letter und Arzt ebenfalls der Kom- mission angeh~ren. Endlich haben wir, und das erschien uns yon Anfang an als das Wichtigste, eine Uberwachung aller in der Fiirsorge befindlichen Kinder eingerichtet durch Sehwestern und durch die der Kommission ange- hSrenden Arzte. Diese Kontrolle erstreekt sich nicht nur auf die Ausfiih- rung der i~rztlichen Anordnungen, sondern nicht minder auf ein zweckent- sprechendes Verhalten der aus der Sehule bereits entlassenen Kinder, die einen BeruI gefunden haben oder yon uns in einen passenden Beruf gebracht worden sind. Ich will nur hinzufiigen, dass ich unter zweckentsprechendem Verhalten der sehulentlassenen Kinder nicht zum wenigsten ein fleissiges hrbeiten in dem einmal gew~hlten Beruf verstehe.

Das wi~ren unsere ambulatorischen Fiirsorgeeinrichtung. Um sie noch einmal zusammenzufassen: Wir sorgen : 1. Fiir Unterbringung aller jugendlichen Kriippel in der Kriippelfiirsorge. 2. Ffir genaue Untersuchung der Kriippel. 3. Fiir sachgemiisse und ausreichende Behandlung. 4. Fiir eine Weiterbildung der geistig Zuriiekgebliebenen. 5. Ffir eine Unterbringung tier aus der Schule entlassenen Kriippel in

passenden Berufen und endlieh 6. fiir eine strikte DurchCiihrung der iirztliehen und sozialen Massregeln. Ieh will nun nieht etwa sagen, dass nicht noeh mehr geschehen kSnnte,

alas halte ich fiir sehr wohl mSglich, aber davon bin ich iiberzeugt, dass diese Mittel vollkommen geniigen, um das Ziel der Kriippelfiirsorge in den weitaus meisten Fi~llen zu erreichen. Gel~nge es, eine nach diesem Muster eingerichtete Kriippelffirsorge im ganzen deutsehen Reich in einheitlicher Weise durchzufiihren, so k6nnten wir die Genugtuung haben, dass in keinem

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anderen Zweig der sozialen Fiirsorge mehr geschaffen ist und mehr Gutes geleistet wird als in der Kriippelfiirsorge.

Diese allgemeine Durchffihrung der Kriippelfiirsorge scheint mir aber noch in weitem Felde zu stehen. So einfach und so wenig kostspielig s[ch solche Einrichtungen in Gross- und Mittelst~dten treffen lassen, so schwierig dfirfte es in kleinen St~dten und auf dem Lande sein. Nicht etwa des Kostenpunktes wegen, den ich hier nur kurz beriihren mSchte. Dieser wiirde gewiss kein un/iberwindliches Hindernis bilden. Die staatlichen und Selbst- verwaltungsbehSrden kSnnten ohne erhebliehe Mehrbelastung die Kosten fiir die gesamte Kr/ippelfiirsorge aufbringen, und der privaten Wohlt~tigkeit kSnnte man wie bisher die Sorge fiir die Kriippelanstalten iiberlassen.

Und doch diirfte die Einrichtung einer solehen al]gemeinen Kriippel- fiirsorge durchfiihrbar sein, aber, wie ich glaube, nur dann, wenn ihr Ge- legenheit gegeben wird, sich iiberall an schon bestehende staatliche und kom- munale Organisationen anzugliedern und sich der Organisation in weit- gehendstem Masse zu bedienen.

Ieh denke mir das folgendermassen: Man scheidet zun~chst alle St~dte aus, die ein wohlorganisiertes Armen-

wesen haben. Diese miissen imstande sein, wie schon wiederholt gesagt, eine Kr~ippelfiirsorge gleich der unserigen mit entsprechend geringeren oder grSsseren Mitteln, je nach der GrSsse der Stadt, unter Anlehnung an schon bestehende Organisationen a]lein zu schaffen und allein zu unterhalten. Damit ist natiir- lich ffir den gr5ssten Teil der Krfippelkinder in ausreichendster Weise gesorgt.

Ubrig blieben die kleinen St~dte, die Landst~dte und die DSrfer. Bei diesen miisste im Mittelpunkt der Organisation der Landrat und

der Kreisarzt stehen; ersterer als Vorsitzender, letzterer als stets znr Hand stehender ~rztlicher Berater des Landrats.

Nun wird eine Kriippeluntersuchungskommisson gebildet, der angehSren st~ndig der Landrat bezw. sein Stellvertreter~ als Vorsitzender, der Kreis- arzt, ferner aus der n~chstgelegenen grSsseren Stadt ein Chirurg, ein Ortho- p~de, ein Kinderarzt und ein auf dem Gebiete des ttilfsschulwesens bewan- derter P~dagoge und als nichtstandige Mitglieder je ein Vertreter der in Frage kommenden GemeindebehSrden.

Diese Kriippeluntersuehungskommission brauchte nut zweimal im Jahre zusammenzutreten. Das wiirde vollkommen geniigen~ um die vorhandenen Kr[ippelkinder erstmalig zu untersuehen und dieselben sp~terhin einmal zu kontrollieren. Ort der Untersuchung m/isste die Kreisstadt sein, und man kSnnte, sofern in einzelnen Kreisen nur sehr wenig Kr/ippelkinder sind, auch mehrere Kreise zusammenfassen.

Hat die Kommission die Kinder untersucht, so iiberweist sie sie zur Behandlung den in Frage kommenden Spezials und Anstatten. Die Be- handlung wird ja wohl so gut wie nie in den kleinen St~idten oder gar auf dem Lande durchgefiihrt werden kSnnen, und die Kinder werden zum Zweeke der Behandlung der Kriippelffirsorge grSsserer St~dt.e iiberwiesen werden

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Zur Organisation der Krtippelfiirsorge. 379

miissen. Das wird technisch ohne weiteres durchfiihrbar sein. Die Kosten werden allerdings hSher sein als in den entsprechenden F~llen in grSsseren St~dten.

Die Kontrolle der F~irsorgez5glinge wird ausgefiihrt yon der Gemeinde- behSrde und dem Armenarzte bezw. dem n~chstwohnenden Arzte.

Die Gemeindebeh5rden haben endlich dafiir zu sorgen, dass das Kind mit der Entlassung aus der Schule und nach Abschluss einer etwaigen Be- handlung in einem passenden Beruf untergebracht wird. Findet sieh ein soleher an Ort und Stelle nicht, so muss die Kommission wiederum die ~Tber- weisung des Kriippelkindes an die Kriippelfiirsorge einer grSsseren Stadt veranlassen.

Die gesamten, fiir diese Fiirsorge aufzuwendenden Kosten werden im Verh~ltnis der Leistungen yon den KommunalbehSrden getragen; wo es nStig ist, gibt der Staat einen Zuschuss.

Bevor nun aber mit der Einrichtung einer solchen Ffirsorge begonnen wiirde, w~re es unter allen Umst~nden notwendig, durch eine genaue und massgebende Untersuchung festzustellen:

1. Die Anzahl aller vorhandenen jugendlichen Kriippel. 2. Die Art der Kriippelhaftigkeit und 3. die wahrscheinlich in Frage kommenden Massregeln. Ich bin, wie schon vorher gesagt, der festen Uberzeugung, dass wit

dann zu ganz anderen Resultaten kommen werden, als sie bei der Kriippel- z~hlung im Jahre 1906 sich ergeben haben. Ieh zweifle nicht daran, dass die Zahl der Kinder, die naeh den obigen Gesiehtspunkten einer Anstalts- fiirsorge bedfirfen, eine relativ geringe sein wird, und es ist mir ebensowenig zweifelhaft, class die Zahl der in Frage kommenden Kriippel in den kleinen StS, dten und auf dem Lande ganz erheblieh kleiner sein wird als in den Gross- und Mittelst~tdten.

Ich mSehte zum Sehluss nicht verfehlen, noeh ausdriieklieh darauf hin- zuweisen, dass meine praktischen Erfahrungen in der Kriippelfiirsorge nieht fiber das hinausreichen, was ich hier in der Stadt Posen auf diesem Gebiete gesehen und erfahren habe. Ich halte es deshalb fiir mSglich, dass die Yer- h~ltnisse in anderen Teilen des Reiches anders liegen, vielleicht schlimmer, vielleieht aber auch besser. Das letztere erscheint mir keineswegs unmSg- lieh; denn wir sehen es auch auf anderen Gebieten der Fiirsorge, dass die Verhgltnisse, besonders im Westen und Siiden des Reiches, unendlich viel giinstiger liegen als hier im Osten. Aueh mSchte ich g]auben, dass in bezug auf Kriippelhaftigkeit die St~dte weir schlechter daran sind als das Land, d. h. dass es auf dem Lande relativ viel weniger Kriippel geben diirfte.

Aber, und dariiber bin ich mir keinen Augenbliek im Zweifel, tier erste Schritt, der zu einer einheitliehen Durchfiihrung der Kriippelfiirsorge not- wendig ist, wird eine genaue Zghlung und Untersuchung s~mtlieher jugend- licher KrSppel sein miissen. Auf die bei dieser Zghlung gewonnenen Resultate wird es ankommen, ob sich iiberhaupt eine einheitliche Fiirsorge durchfiihren lgsst. Dass schon zum Zwecke der Z~hlung eine Untersuehungskommission

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380 Marcus,

in der vorher ausgefiihrten Zusararaensetzung notwendig ist, diirfte keinera Zweifel unterliegen.

Ich persSnlich bin der Meinung, dass eine solche allgemeine Durch- fiihrung der Kriippelffirsorge wohl mi~glich sein wird, wie ich ja aueh glaube, dass das Resultat der yon mir vorgeschlagenen Z~hlung ein anderes sein wird als das der Zi~hlung ira Jahre 1906, und zwar ein sehr viel giinstigeres.

Bei meinen Ausffihrungen hier kam es mir nicht zum wenigstert darauf an, den Umfang der Kriippelfiirsorge auf das notwendige und raeines Er- aehtens allein richtige Mass zu beschriinken. Uber dieses Mass hinauszu- gehen, wiirde ich ffir falsch halten.

Zur ErSrterung aller dieser Fragen bin ieh, wie ieh schon in der Ein- leitung bemerkte, dureh die auf dem Kongress stark zum Ausdruck gekom- mene Tendenz veranlasst worden, die Anstaltsbehandlung in den Vordergrund der Kriippelfiirsorge zu ziehen, den Umfang der Krfippelfiirsorge mSgliehst gross zu nehmen und nieht zum letzten auch dadurch, dass von verschiedenen Seiten betont wurde, eine Krfippelfiirsorge wiire nicht einheitlich durchzu- fiihren.

Uber Anstaltsbehandlung wie fiber Mittel und Bek~mpfung des Kri~ppel- elends und fiber Urafang der Kr~ippelfiirsorge habe ich reich ja ausffihrlich ausgesprochen. Dagegen babe ich die Frage, ob ein gemeinsames Vorgehen in tier Krfippelffirsorge raSglich und notwendig ist oder ob die Kriippelffir- sorge nach den verschiedensten Teilen unseres Vaterlandes verschieden ge- handhabt werden muss, nur insofern behandelt, als ich eben Vorschl~ge zu einer geraeinsaraen Durchffihrung der gesaraten Kr@pelfiirsorge ira ganzen Reiche nach einheitlichen Gesichtspunkten auf breitester Grundlage geraacht babe.

Dass eine solehe allgeraeine Durchffihrung tier Ffirsorge unbedingt raSg- lieh sein muss, erscheint mir gar nicht zweifelhaft, das Resultat der neuen ZKhlung raag ausfallen wie es wolle; denn ich verraag keinen Grund einzu- sehen, der diesem Plan im Wege stKnde, oder richtiger gesagt, so im Wege stande, dass er nicht zu fiberwinden w~re.

Weder die Art der Kriippelhaftigkeit, noch die Organisation, noch tier Kostenpunkt, sie mSgen in den verschiedensten Gegenden noch so versehieden sein, kSnnen ein unfiberwindliches Hindernis bilden unter der Voraussetzung allerdings, dass staatliche und SelbstverwaltungsbehSrden in ]iberalster Weise ffir diesen Gedanken eintreten und dass "~on ~rztlicher und privater Seite weiter so wie jetzt in den letzten Jahren den Ffirsorgebestrebungen entgegenge- koraraen wird.

Ich bin rait raeinen Ausffihrungen zu Ende, halte es aber ffir zweck- ra~ssig, all das, was ich vorher ausfiihrlich erSrtert habe, noch einmal in folgenden Leitsatzen zusammenzufassen:

1. Die Krfippelffirsorge hat einen ganz bestimmten Urafang, fiber den- selben diirfen die Fiirsorgebestrebungen nieht hinausgehen.

2. Zur Bekarapfung des Krfippelelends stehen uns zur Verfiigung die Anstaltsffirsorge und die arabulatorische Ffirsorge.

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3. Die ambulatorische Fiirsorge muss, da sie es mit dem weitaus grSssten Teil der Kriippelkinder zu tun hat, im ganzen deutschen Reich nach einheitlichen Gesichtspunkten ~uf breitester Grundlage durchgefiihrt werden.

4. Sta~tliche und Selbstverw~ltungsbehSrden stehen an der Spitze der Org~nisation und haben die Kosten fiir dieselbe zu tragen, wi~hrend die Anstaltsfiirsorge der privaten Wohlti~tigkeit vorbehalten bleibt.

5. u der allgemeinen Einfiihrung einer so gerege]ten Kriippelftirsorge ist eine nochmalige gen~ue Z~hlung al|er Kriippe|kinder vorzunehmen unter besonderer Berticksichtigung der Punkte 1 und 2.

6. Eine solehe Z~hlung kann nur durchgefiihrt werden mit Hilfe de, BehSrden und Unterstiitzung yon Arzten, die ~uf dem Gebiete der Kriippelfiirsorge geniigend erfahren sind.