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Thomas Hürlimann
Heimkehr
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 2018
Thomas HÜRLIMANN Heimkehr
Roman, 528 Seiten / pages / pagine S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2018 € 25.00 ISBN 978-3-10-031557-1 www.fischerverlage.de Inhaltsübersicht / Bref résumé / Breve riassunto Die Hauptfigur Heinrich Übel – eine Art verlorener Sohn, mit teils autobiografischen Zügen von Thomas Hürlimann ausgestattet – versucht, in sein Vaterhaus zurückzukehren. Die Rückkehr gelingt erst im drit-ten Versuch. Derweil macht Heinrich Übel verschiedene Metamorphosen durch und findet zuletzt, als ge-läuterter, malträtierter, von schwerer Krankheit genesener, verliebter und mit seiner Vergangenheit mehr oder weniger versöhnter Sohn zu seinem sterbenden Vater zurück. Es ist also eine Rückkehrergschichte, wie wir sie in der Schweizer Literatur vielfältig kennen, aber freilich in einer Form, die mit allen Traditio-nen bricht. Denn der Roman erzählt nicht nur die drei Versuche der Rückkehr und darin eingebettet auch die Familiengeschichte der Familie Übel, sondern entwirft über das hinaus auch eine Art Mentalitätsge-schichte der Schweiz seit dem 2. Weltkrieg. Und das alles muss man sich vorstellen in einem pikaresken Roman, der an phantastischen Elemente kaum zu überbieten ist und auch nicht in der Masslosigkeit der Motive und literarischen Anspielungen (von der Odyssee bis zu Parzival oder Gottfried Kellers «Grünem Heinrich». Begründung des Vorschlags / Motivation de la proposition / Motivazione della proposta Dieses Buch stellt in der Schweizer Gegenwartsliteratur wie auch in Thomas Hürlimanns Schaffen eine singuläre Erscheinung dar. Selten in den letzten Jahren hat ein Schriftsteller auf so entfesselte Art erzählt, selten hat einer so viele Motive und Geschichten und einen so umfassenden Stoff aufgegriffen, um seiner Lebensgeschichte eine ebenso phantastische wie alles Mass sprengende Form zu geben. Thomas Hürli-mann hat sich mit diesem Buch nicht nur von seinen früheren, fein ziselierten und streng komponierten Büchern emanzipiert, er hat damit auch ein riesiges Wagnis unternommen. Und er hat sich schliesslich mit diesem Buch nach der Krebserkrankung gleichsam unter Aufbietung aller Kräfte ins Leben zurückge-schrieben. Darum ist dieses Buch in jeder Hinsicht ein Ausnahmewerk. Biografie / Biographie / Biografia Thomas Hürlimann wurde als Sohn des späteren Bundesrats Hans Hürlimann geboren. Seine Mutter, Marie-Theres Duft, entstammt der St. Galler CVP-Dynastie Duft. Hürlimann legte seine Matura an der Stiftsschule Einsiedeln ab. Nach dieser «sauren Zeit» – so Thomas Hürlimann über seine Gymnasialzeit – studierte er Philosophie an der Universität Zürich und der FU Berlin. 1974 brach Hürlimann das Studium ab und liess sich als freier Schriftsteller in Berlin-Kreuzberg nieder. Mit dem Werk «Die Tessinerin» debütierte Hürlimann 1981 vielbeachtet. Hürlimann geniesst auch einen guten Ruf als Autor von Theaterstücken. Viele seiner Stücke wurden am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Thomas Hürlimann wurde mit zahlreichen Preisen geehrt.
THOMAS HÜRLIMANN
HEIMKEHRRoman
S. FISCHER
Erschienen bei S. FISCHER
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Gesamtherstellung: CPI books GmbH, LeckPrinted in Germany
isbn 978-3-10-031557-1
www.fsc.org
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… hoch oben ein Punkt, ein Blinken, ein Zwinkern, ein
Stern, ein Satellit oder ein Flugzeug … Der Wagen liegt
auf der Fahrerseite. Ein Vorderrad dreht sich noch, ein
paar Schneeflocken zu einer dünnen Flamme aufwirbelnd.
Unterm zertrümmerten Kühler kriecht eine Lache hervor,
Benzin oder Öl oder beides, glänzend wie ein Fotonegativ.
In der milchig zersplitterten Frontscheibe klafft ein Loch,
schwarz, von Scherben gezackt, und wie schön, wie tief, wie
erhaben ist die Stille! Wind weht, doch ohne Geräusch,
der Knall hat meine Hörnerven niederkartätscht, ich bin
vollkommen taub. Totenstille im gesamten All. Aber am
Seeufer müssen sie den Crash gehört haben, gleich wird
die Werksfeuerwehr ausrücken, das Wrack von der Brücke
pflücken, die Spuren beseitigen, mich in den Sanitätsraum
unserer Gummifabrik schaffen.
Ah, Gottseidank, da kommen sie schon! Ein leuch ten-
der Klumpen kriecht auf mich zu, zerspringt in zwei Augen,
gießt einen porigen Glanz über den Asphalt. Ein Auto. Es
hält. Es dauert. Viel Zeit habe ich nicht mehr, ich blute, ver-
dammt nochmal, wo bleibt der Fahrer? Der öffnet jetzt den
Kofferraum, sucht die Notapotheke, faltet das Pannendrei-
eck aus ein an der, sage ich mir und zwinge mich zur Ruhe.
Warme Tropfen zerplatzen auf den Händen, im Kopf muss
ich ein Leck haben, Blut Blut Blut. Egal. Schon schaukeln
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zwei Schuhe her an, und in den Nachthimmel ragt ein Rie-
se, mächtige Atemwolken in die Frostluft pumpend, leere
Sprechblasen. Dann, als liefe der Film rückwärts, werden
die beiden Autoaugen wieder zum Lichtklumpen, der über
die Brücke zurückweicht, der Dreckskerl haut ab, mit dem
Unfall will er nichts zu tun haben. Oder hält er am Ufer
wieder an? Beim Friedhof steht eine Telefonkabine, viel-
leicht alarmiert er von dort aus den Krankenwagen.
Als ich aufstehen will, falle ich hin. Du heilige Scheiße,
was ist aus meinem Regenmantel geworden? Ich habe ein
völlig fremdes Kostüm an, ein nasses Hemd, einen finster
glänzenden Umhang und auf der Stirn eine Krone mit spit-
zen Dornen. Könnte es ein Traum sein? Eher nicht. Ich bin
mir über die Situation im Klaren. Die Sekretärin meines
Vaters hat mich angerufen – es muss so gegen sechs Uhr
abends gewesen sein. Im Werk wird sie GdV genannt, Gute
des Vorzimmers, und wenn sie sich meldete, drohte Unheil.
Irgendwas mit dem Sportboden. Das sind schwarze Gummi-
matten, hart, aber elastisch, die ich seinerzeit für den Kata-
log textiert habe. Auch die Bezeichnung stammt von mir.
Sportboden. Vor achtzehn Jahren, bei meinem Rausschmiss
aus der Fa brik, waren die Matten im Büro des Seniors ver-
legt, zu Test- und Werbezwecken, dann wurden sie heraus-
gerissen und ins Lager geschafft. Dort hat man sie im Lauf
der Jahre vergessen. Es blieb beim Prototyp. Der Sportboden
ging nie in Produktion. Sofern ich die Gute heute Abend
recht verstanden habe, soll der Senior befohlen haben, die
Matten erneut zu verlegen, wieder in seinem Büro, weiß
der Teufel, war um. Aber bitte, er kann damit machen, was
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er will. Er hat das Recht, sein Büro in eine Gummizelle zu
verwandeln, wor in er lauert wie der Minotauros in seinem
Verlies: ER, der Senior, mein Vater. Für Zug und Postauto
war es zu spät, also habe ich mir Isidor Quassis Chevy aus-
geliehen und bin auf abgefahrenen Gummis bei Nacht und
Nebel ins Fräcktal hochgebrettert …
Lose hängt der Auspuff am Unterboden, einer großen
schwarzen, quer in die Straße gestellten Wand. Es stinkt
nach Benzin, verschmortem Gummi, durchgebrannten
Kabeln. Tatsächlich, das Wrack ist Isidor Quassis Chevy!
Das musste ja schiefgehen! Isidor Quassi, der sich selber IQ
nennt, ist ein Schwätzer, Schnorrer und Säufer der gräss-
lichsten Sorte und wie alle Säufer ein Wiederholungstäter.
Jeden Abend wird in derselben Kneipe am selben Platz
dasselbe Quantum vertilgt, wozu dann stets dieselbe Platte
läuft und ich den Zuhörer zu geben habe. Bis zum dritten
Bier beschwört er seine künftigen Erfolge, beim vierten Bier
erklärt er der Welt den Krieg, bedauert den Niedergang der
Kultur, beschimpft meinen Senior als Ausbeuter und mich
als anal gestörten Scheißer. Dann pflegt er sentimental zu
werden: O gute Mutter Gertrud, jammert er, was ist aus
deinem Isidor geworden – ein verkrachter Schauspieler!
Natürlich erwartet Quassi, dass ich, der Unternehmersohn,
seine Zeche bezahle. Abend für Abend. Immer. Und das
ist nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist et-
was anderes. Das Schlimmste ist: Über dem letzten leeren
Humpen lässt Quassi die filzigen Haare, die Unterlippe und
aus der Nase einen Tropfen hängen und versieht den täg-
lich wiederholten Monolog mit dem stets gleichen Re frain:
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Das Leben. Die Weiber. Ein dummer Zufall. Hätte ich doch.
Wäre ich nur. Eigent lich. Aber. Vergiss es …
Nicht einschlafen jetzt. Höchstens ein bisschen ruhen,
ein bisschen sitzen, den Rücken ans Geländer gelehnt, und
oben im Nachtmeer den in gerader Linie dahinziehenden
Punkt betrachten, sein Blinken, sein Zwinkern …
Frostverzuckert verliert sich der Handlauf des Brücken-
geländers in der Ferne der Uferwälder, lang und länger
werdend, sich dehnend wie der Gummi, die väterliche
Materie. Alle paar Schritte halte ich inne, lege die Hand
an die Stirn, als wolle ich die Augen vor dem Mondschein
schützen, und sehe dann für einen Moment den Nebel, der
die schmaler werdende Piste in sich einsaugt. Kein Zweifel,
weder oben in der Villa noch unten in der Pforte der Fa brik
ist das Licht angegangen, nichts rührt sich da vorn, alles
scheint zu schlafen, selbst die Gute, auch der Pförtner.
Weiter.
Noch siebzig sechzig fünfzig Meter. Die Pforte ist Tag und
Nacht besetzt und die Klingel schrill genug, um das Reptil,
wie der Pförtner im Werk genannt wird, zu wecken. Klar,
dann werde ich erst mal Geduld aufbringen müssen, bis er
die Uniform, die Admiralsmütze und die weißen Glacé-
handschuhe angezogen und hinter der Scheibe seinen Platz
eingenommen hat. Was für eine Überraschung, würde es
aus dem Lautsprecher hallen, willkommen daheim, Herr
Junior! Mein Lieber, würde ich antworten, habe dummer-
weise auf der Brücke ein Auto auf die Seite gelegt. Wäre
schrecklich nett von Ihnen, wenn Sie sich dar um kümmern
würden. Aber seien Sie vorsichtig! Das Wrack könnte jeden
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Augen blick in Flammen aufgehen. Und dann informieren
Sie die Gute, klar? – Alles klar, Herr Junior.
Übrigens, würde ich der Scheibe leise sagen, benach-
richtigen Sie bitte auch die Werksfeuerwehr. Die sollen die
Unfallspuren beseitigen, unser Name darf nicht befleckt
werden, schon gar nicht mit Blut, die Gummibranche ist
heikel, da sind wir uns doch einig. – Selbstverständlich, Herr
Junior, würde der Pförtner mir beipflichten, die Rechte mi-
litärisch am Mützenschirm. – Ach, da wäre noch etwas. Das
Wichtigste hätte ich beinah vergessen. Ich möchte unter
keinen Umständen von Doktor Marder verarztet werden,
der würde die Sache nur schlimmer machen. Haben wir
uns verstanden? Halten Sie um Gotteswillen den Doktor
Marder von mir fern. Die Gute wird mir einen Verband an-
legen. Gar so schlimm ist es ja nicht.
Weiter.
Weiter, aber ich komme nicht weiter. Mein Umhang behin-
dert mich, ein bodenlanger Umhang wie ein Königsmantel,
passend zur Krone auf meinem Kopf – ich ein König! Oder
ein Königssohn … Das Schloss jedoch, die Gummifabrik,
verbirgt sich im düsteren Ufernebel. Oder im Blut, das mei-
ne Augen füllt. Und die Manteltasche … so schwer. Ballast,
den ich loswerden muss. Eine Flasche! Wodka. Ich trinke
keinen Wodka.
Weiter. Weiter, aber wieder wird mir der Purpurmantel
zum Verhängnis, ich stolpere über den Saum.
Ein Unfall auf vereister Fahrbahn – das ist schon man-
chem passiert, mit einer saftigen Buße würde ich davon-
kommen. Aber jetzt zur Flasche greifen? Danach? Hinterher
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schuldig werden? Was für eine bodenlose Dummheit! Wenn
nur der Durst nicht wäre, ein grausamer Durst! Ich ziehe
mich am Geländer hoch, hänge mich mit beiden Achseln
dar über. Aber bei diesem Schluck wird es bleiben, Ehren-
wort! Bei dem einen Schluck! Ätzend sprudelt es mir über
die Lippen, in den Rachen, dann öffne ich die klammen
Finger, und die Flasche saust pfeilgerade in die Tiefe, zer-
schellt auf der gefrorenen Wasseroberfläche, lautlos. Ich
darf es nicht vergessen: Ich bin auf der langen, schmalen,
schnurgeraden Brücke, die auf die väterliche Gummifabrik
zuführt, mit dem Geländer kollidiert. Dann ist es mir ge-
lungen, den Wagen zu verlassen, und sollte ich ein bisschen
Glück haben, Glück im Unglück, wird bald eine Laterne
auf mich zuwanken, unser Pförtner, das Reptil.
Habe ich geschlafen? Höchstens eine Minute. Um Kraft
zu tanken. Um auch noch den Rest zu bewältigen, die gut
zwanzig Meter bis zum Ufer. Zur Panik besteht kein An-
lass. Im Werk sind sie Zwischenfälle gewöhnt. Die Werks-
feuerwehr soll die Unfallschäden beseitigen und mir den
Sanitätsraum aufschließen, damit ich duschen kann. Da-
nach ein gemeinsames Frühstück mit dem Senior, wir beide
in Morgenmänteln, ich mit einem sauberen Stirnverband.
Nach achtzehn Jahren haben wir uns einiges zu erzählen.
Die Brücke wird kürzer, die Pforte kommt näher, der
Wald- und Erdgeruch wird stärker. Nebel fludert unter
der Brücke hindurch, und die Luft … ist sie tatsächlich so
frisch, dass sie nach Winterwald schmeckt? Klar, ich bin
achtzehn Jahre weg gewesen, da wird sich manches ver-
ändert haben, durchaus möglich, dass der Senior mit neuen
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Filtern ein besseres Klima erzeugt. Aber. Aber! Aber war-
um geht nirgendwo das Licht an? Sind auch die Fenster der
Villa mit den schwarzen Gummimatten verhängt? Hat mir
die Gute nur die halbe Wahrheit gestanden? Ist mein alter
Herr im Begriff, sich mit dem Rest seiner Vertrauten, mit
der Guten, dem Pforten-Reptil und dem Doktor Marder,
seinem Werksarzt, hinter schwarzen Gummischichten ein-
zubunkern? Denn selbst im fettesten Nebel, in der trübsten
Dunkelheit hätte jetzt da vorn in leuch ten den Buchstaben
unser Name aufschimmern müssen, Heinrich Übel. Heinrich
Übel! Heinrich Übel senior, war um verbirgst du dich vor
mir? Was ist aus deiner Schöpfung geworden? War um hat
sie sich verwandelt in Nebel, in Nacht, in Nichts? War um?
Weiter.
Nun gut, zugegeben, die Zeiten, da Dr. Übels Verhüterli
präsent waren in den Abendtaschen der Schönen, in den
Brieftaschen der Lebemänner, an sämtlichen Hoteltresen,
in jedem Boudoir, jedem Nachttisch, jedem Necessaire,
sind passé: Pillenknick. Mit der Pille blieben Dr. Übels
Verhüterli am Lager, wuchsen zu Halden, schon kreisten
Geier um die gemauerten Kamine der Fa brik, und dann,
über Nacht: Aids. Die Seuche. Der Tod lauerte in den La-
ken, und wie konnte er bekämpft, wie besiegt werden? Mit
Dr. Übels Verhüterli. Er war wieder da. Triumphal kehrte er
zurück.
Aber was ist das? Du lieber Himmel, bin ich in einer va-
terlosen Welt? Das Ufer ist so leer wie die andere Seite des
Sees, wo es nur die Total-Tankstelle gibt, den Friedhof und
unten im Schilf Calas Wohnwagen. Nur ist dies nicht die
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andere Seite, dies ist die richtige Seite, ich bin doch nicht
blöd, Blutverlust hin oder her. Ich habe versprochen, noch
in dieser Nacht heimzukehren, also kehre ich heim, punc-
tum.
Links von der Brücke, gleich da vorn, muss die werks-
eigene Badeanstalt sein. Der Senior hatte sie seinerzeit er-
richten lassen, um meiner stets frierenden Mama beizubrin-
gen, dass auch das Fräcktal einen Sommer habe: Kabinen,
eine Liegewiese, bunte Sonnenschirme, ein Steg, ein Kahn.
Leider hatte Mimi die Badeanstalt nur ein einziges Mal be-
nutzt, und mit eige nen Augen hatte ich damals gesehen,
was im Liegestuhl von ihr zurückgeblieben war: das weiße
Kopftuch, die schwarze Hollywood-Sonnenbrille, die Un-
terarmtasche aus Krokoleder, die Stöckelschuhe. War sie
ertrunken? Oder im Badeanzug aus dem Tal geflohen? Ich
habe es nie erfahren. Über Mimi, ihr Verschwinden und
ihren Tod durfte nicht geredet werden. Mimi hatte testa-
mentarisch verfügt, man möge ihre Asche über den warmen
Wellen des Mittelmeers verstreuen, und so wird es wohl ge-
schehen sein, den letzten Willen wird man ihr erfüllt ha-
ben – das war alles, was ich wusste.
Ein paar Jahre lang benutzte man die Badeanstalt zum
Testen neuer Produkte, beispielsweise der Flossen (»mit
verstellbarer Fersenbindung«) oder unseres Badekappen-
modells (»dreistreifig, zweifarbig, mit kurzen Ohrenflü-
geln«), aber auch damit war irgendwann Schluss. Heut-
zutage bringen sie die Gummilehrlinge nicht mehr dazu, ins
eiskalte Wasser zu steigen und mit den Testprodukten zwei
Tode auf einmal zu sterben, erfrierend zu ertrinken oder er-
trinkend zu erfrieren. Die Badeanstalt ist zum Nistplatz der
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Möwen geworden. Die Möwen, die hier alles vollscheißen,
sind erst mit dem künstlichen See ins Hochtal gekommen
und haben die einheimischen Raben in die Bannwälder
vertrieben, doch haben die Raben ihre angestammten
Reviere nie ganz aufgegeben und flattern von den Höhen
immer wieder her ab, um die Geländer der Brücke zu beset-
zen. Aber keiner ihrer Späher beäugt meinen Vorstoß, kein
Flügel streicht über mich hinweg, Dornröschen total. Oben
in den Schneewäldern schlafen die Raben, in der Badean-
stalt schlafen die Möwen, in der Villa schläft der Senior, im
Pfortenhaus der Pförtner. Alles schläft. Alles ist Finsternis.
Als ich mir den Ellbogen anschlage, merke ich, dass ich auf
dem Rücken liege. Umdrehen. Aufstehen. Weiter.
Weiter! Nicht mit sich selber diskutieren, mit sich selber dis-
kutieren macht schwach, zupacken, handeln, lautet die Devise
des Seniors. Zupacken, handeln, kriechen. Und schreien!
So laut schreien, dass ich zum ersten Mal seit dem Crash
etwas höre. Ich höre es nicht von außen, eher von innen,
als würden die Ohren in den Eingeweiden stecken, unter
meiner Haut, unter dem bleischweren Mantel … weiter …
weiter … nur noch zehn Schritte bis zum Ufer … zum Weg-
weiser, wo es links zur Badeanstalt geht, rechts zum Dorf,
geradeaus zur Pforte, vor die gesenkte Schranke, vor das
nächtlich geschlossene Stahltor. Das Blut läuft, mein Puls
rast, der Durst ist durch den Wodka noch schrecklicher ge-
worden, aber ich habe das Ende der Brücke erreicht.
Seit wann trage ich, der Sohn der Gummifabrik, Plastic-
stiefel? Und meine Hände! Eingeschlafen, wohl schon seit
einer ganzen Weile. Die Piste ist weiß geworden. Mimi,
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liebste Mama, wie befiehlt man seinen Händen? Wie bringt
man sie dazu, mit der Schelle um Hilfe zu läuten? Ja, ich
habe eine Schelle aus der Tasche gezogen, mit Holzgriff. Als
wäre ich der Weihnachtsmann!
Unten am Ufer steht Calas Wohnwagen. Vielleicht hat
sie einen späten Freier und würde mich hören, aber wie
soll ich mich bemerkbar machen? Meine Hände sind die
Hände eines Fremden. Ich bin ihnen entglitten. Sie haben
mich verlassen. Und das Atmen! Wie schwer es mir fällt.
Als würde ich mit dem Würgeengel ringen. In den Adern
eisige Kälte. Die Lunge verdickt, aus Gips. Die Kehle wie
zugeschnürt. Um mich her um wattige Stille … ein lautloses
Sinken der Flocken … ein wenig schlafen jetzt … nicht
lang … höchstens eine Minute … und schon verwandelt
sich die Kälte in Wärme, leicht fließt der Atem, und habe
ich je etwas Schöneres gesehen als diesen Straßenpfosten:
vollendete Form, mit einer Kappe aus Schnee?
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Wo immer ich bin, was auch passiert ist: Der Name ver-
bindet mich mit meiner früheren Existenz, mit dem Senior,
mit unserer Gummifabrik, mit meiner Herkunft. Ich weiß,
wie ich heiße. Ich bin mir nicht zum Anonymus geworden.
Doch wer sind diese Leute, die mich auf einer Bahre tragen?
Halt, möchte ich rufen, stellt mich ab, erklärt mir, was los
ist! Da schob sich ein hoher Felsen vor den Abendhimmel,
von Häusern überwürfelt, in den Fensterscheiben flüssige
Glut, es hupte und ratterte und lärmte, es roch nach Tang
und Fisch und Meer, und ich hätte schwören können: Ich
bin irgendwo im Süden. Im tiefsten Italien. In einer Stadt
am Meer. Aber war um waren die Träger stumm? War um
richtete keiner das Wort an mich? Und wie hoch, wie steil
war dieser Felsen!
Auf der schmalen, leicht schaukelnden Bahre schwebte
ich in eine düstere, nach Verwesung stinkende Gasse hin-
ein. Hoch oben war der Himmel ein dünner Kanal, weiße
Laken tropften, bunte Kleider wehten, Seidenstrümpfe
tanzten zwischen den schiefen schwarzen Mauern ein lus-
tiges Ballett. Unten hockten sie auf Strohstühlen vor ihren
Bassos, schwarz verschleiert die alten Frauen, die Männer
mit sonnenversengten Schädeln. Eitle Friseure präsentier-
ten sich vor ihren Ladengrotten mit gerecktem Kinn und
Rasiermesser als lebendem Werbeschild, weißen Schaum
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auf die Gasse schleudernd. Hier leuchtete eine Barreklame,
hier klirrte ein Papagei mit seiner Kette, hier lagen die
schweren Brüste einer Hure wie Melonen auf dem Fenster-
brett.
Italien. Kein Zweifel, ich war in Italien. Priester trugen
schwarze Rundhüte, Kirchenglocken läuteten, ein Portal
donnerte zu, kräftige Hände halfen mir von der Bahre, und
als es mir gelang, den schweren Schädel etwas zu heben,
umgaben mich die hohen Marmorwände eines kühlen
Mausoleums. Ein uralter langhagerer Diener stieß mit wei-
ßen Stoffhandschuhen das Eisengitter einer altmodischen
Liftgondel auf, und langsam glitten wir nach oben … oder
nach unten? Ging es immer tiefer? Ich konnte es nicht sa-
gen. Ich war am Ende … und vielleicht, ein gefährliches
Vielleicht, über das Ende schon hin aus …
»Seien Sie versichert, Signore, Sie sind hier unter Freun-
den.«
Eine schwarze Frau, von Kerzenlicht beleuchtet, an mei-
nem Bett. Wird wohl ein Traum sein, sagte ich mir, denn
sie trommelte. Sie trommelte! Trommelte und trommelte,
monoton und geduldig, monoton und geduldig, bis mir die
Augen wieder zufielen. Dann hielt sie mir einen Trinkhalm
an die Lippen, Wasser oder Tee, und sagte in die ungewohn-
te Stille hin ein: »Du hast Glück, ragazzu, das ist Laila el
qedr, die Nacht der Nächte.«
»Laila?«
»Ja«, sagte sie, »Laila el qedr.«
»Laila el qedr.« Eine Weile überlegte ich. »Ist das Ihr
Name?«
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Sie schüttelte den Kopf mit der weichen Kinnkaskade
und lächelte mit fleischigen dunklen Lippen. »Laila el qedr
ist der Name dieser Nacht.«
Ich versuchte mich zu kon zen trie ren, was schwierig war,
mein Kopf war heiß und hohl. Auf die Gefahr hin, mich
schrecklich zu blamieren, versuchte ich ebenfalls zu lächeln
und sagte: »Laila ist der Name der Nacht?«
»Der Name dieser Nacht. Es ist die Nacht, da die Him-
mel sich öffnen, die Engel herabsteigen und das Meerwasser
trinkbar wird.«
Sie merkte, dass ich nichts begriff. »So sagen wir im
Maghreb, im arabischen Afrika. Laila el qedr.«
Wieder begann sie zu trommeln, monoton und geduldig,
monoton und geduldig, mal hörte ich den Trommelsang
näher, mal ferner.
»Wo bin ich?«
»In Pollazzu.«
Ich tastete nach einer Zigarettenschachtel, die auf mei-
nem Laken lag. »Stift!«
Die Methode ging auf meine Zeit in der Werbeabteilung
unserer Fa brik zurück, als ich Einfälle auf zufällig greifbaren
Unterlagen festgehalten hatte. Die Frau kramte in ihren
Taschen, hielt mir einen Bleistift hin. Ich hob die Hand,
krümmte die Finger, packte den Stift.
»Wie heißt die Nacht?«
»Laila el qedr.«
»Und der Ort?«
»Pollazzu.«
»Wo liegt das?«
»An der Südküste.«
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»Südküste von was?«
»Sizilien.«
»Bin ich auf Sizilien?«
»Jaja. Schlaf jetzt. Schlaf ein.«
War die Frau real? Real, behauptete die Nase – sie roch
nach heißem Fett und Fisch. Eine Zigarette hing ihr aus
den dunklen Lippen. Hingegen meinte der Verstand: nicht
real, eine Fieber- und Phantasieproduktion. Mit ihren
voluminösen Oberschenkeln hielt die Frau eine schlanke,
bastumwickelte Trommel fest, und ihre Haut hatte im
Kerzenschein einen finsteren Glanz. Ihre linke Hand maß
meinen Puls, und die Rechte schlug wieder die Trommel,
monoton und geduldig, monoton und geduldig. Nie ließ sie
mich los, ihre schwarzen Finger drückten meine Adern wie
die Saiten einer weißen Geige. Hie und da, vermutlich in
regelmäßigen Abständen, erfüllte Stille den Raum, und ich
sollte am Trinkhalm saugen. Dann trommelte sie wieder,
monoton und geduldig, monoton und geduldig, als würde
ein tropischer Regen auf fette Blätter pladdern …
Irgendwann füllte eine rosige Fläche das offene Fens-
ter. Der Aschenbecher war voller Kippen, Schwaden von
Rauch schwebten über dem Bett. Die schwarze Hand trom-
melte langsamer … langsamer … langsamer … und auch
mein Herz, an ihren Rhythmus gewöhnt, schlug ruhiger …
ruhiger … ruhiger …
Du heilige Scheiße, war um war der Boden voller Haa-
re? War ich in einem Frisiersalon ohnmächtig geworden?
Fasste ich an meine Schädeldecke, hatte ich das Gefühl,
etwas mir völlig Fremdes zu berühren, etwas aus Stein, aus
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Marmor. Ich patschte drauf rum, erschrak über das un-
gewohnte Geräusch, dann lag ich wieder reglos, verwirrt,
verschwitzt. Die Sonne griff mit Strahlen, die allmählich
flacher wurden, durch die Ritzen der geschlossenen Läden.
Das Fenster stand offen, und jedes noch so zarte Lüftchen
wurde von meinem kahlen Schädel re gis triert … eine neue,
ungewohnte Empfindung. War da wirklich nur noch nackte
Haut? Kein Haar mehr? Tatsächlich, sogar die Flügel einer
eckig herumsausenden Fliege erzeugten Turbulenzen, die
die Kopfhaut wahrnahm!
Vor dem Fenster würgendes Gurren: Tauben. Aus einem
Wandschrank, dessen Tür offenstand, ein giftiger Geruch:
Naphtalin. Auf einer Waschkommode ein Glas, Wattebäu-
sche, Gazetücher: wie in einem Spital …
War ich in einem Spital?
Ich rappelte mich hoch, stieß die Läden auf, und kaum
zu glauben, aber wahr, aber wirklich: Mich empfing der
mediterrane Frühling. Nah das Tuten einer Dampfersirene,
dann, leicht verzögert, ein wehmütiges Echo. Dachziegel in
einem schmutzigen Orange. Unten ein Innenhof mit Pal-
men. Und dort, zwei Etagen tiefer, im Fenster des Seiten-
flügels, eine Frau, la donna della finestra – wer würde da nicht
an Italien denken!
Aber der da … der im Spiegel!
Ich kniff mich in die Wange. Ich schloss die Augen. Ich
zählte langsam bis Sieben, dann packte ich mit beiden
Händen den Porzellankrug, drückte den Schnabel zwischen
die Lippen, goss das nach Chlor riechende Wasser in mich
hin ein, zu viel, zu gierig. In einem Schwall brach die wäss-
rige Kotze aus mir her aus, in die Schüssel.
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Der im Spiegel war ich nicht.
Ich zwinkerte. Er auch: Ich war es doch. Mit einem Kahl-
schädel! Und das war nicht einmal das Schlimmste. Das
Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: die
Narbe – als würde eine schwarze Raupe aus meinem Hirn
kriechen …
Wiederholung. Ich bin mir nicht abhandengekommen, ich
kenne meinen Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum:
Heinrich Übel junior, geboren am 21. Dezember 1950 im
Fräcktal. Lehrling im väterlichen Werk, dann Kondom-Rei-
sender, der im Untergrund des Landes unsere Automaten
zu versorgen hatte: Fächer füllen, Kasse leeren. Ein Scheiß-
job. Mein Verhältnis zu Zahlen machte mir immer wieder
einen Strich durch die Abrechnung, aber als Assistent des
Werbechefs unserer Reklameabteilung war ich dann äußerst
erfolgreich. Meine Schreibmaschine, eine schon etwas älte-
re Remington, schoss jedes O, ob groß oder klein, aus dem
Papier, so dass ich bei der Textierung der Produkte weiße
Konfetti verstreute. Schon im ersten Jahr gelang es mir,
die Gummihose als »Wohlfühlhose« von der Schmuddel-
in die Knuddelecke zu schreiben. Auch das schmückende
Beiwort für Schnuller habe ich geprägt: »kieferformend«,
und die Beschreibung des Ganzkörper-Gummianzugs im
letzten von mir zusammengestellten Katalog (vergriffen!)
soll bei Fetischisten sprichwörtlich geworden sein: »kühl
wie Schnee, glatt wie Glas«. Leider musste mein Text der
GdV, der Guten des Vorzimmers, vorgelegt werden, und die
genoss es natürlich, sich als Korrektur-Domina aufzuspielen
und die sauber getippten Seiten mit ihrer Rotstift-Peitsche
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zu verunstalten. Hatte ich zum Beispiel geschrieben: Wir
möchten unsere geschätzten Kunden dar an erinnern, bei
der Rückantwort die Bestellnummer nicht zu vergessen,
wurde die höfliche Aufforderung von der Guten ins Unver-
ständliche kastriert: Bei RA. Best.Nr. angeben. Bei RA.
Best.Nr. angeben! – da wird doch der Hund in der Pfanne
verrückt! Aus Gründen der product-identity bestand die
Gute auf festen Formeln, etwa »reißfest preiswert gefühls-
echt« oder »steigert das LE« (Lustempfinden!). Gut, zu-
gegeben, niemand las einen Katalog von vorn bis hinten
durch, vielmehr peilte jeder Kunde seinen spezifischen Be-
reich an, der junge Vater die Kondome, die junge Mutter
Wickeltisch-Unterlagen, die Hausfrau Gummiringe für Es-
pressokrüge, der Perverse seine Fetische, das fortgeschrit-
tene Alter die Wohlfühlhose. Und natürlich war die Gute
im Recht, wenn sie behauptete, Musik würde aus Wieder-
holungen bestehen, Bach, Mozart, Schubert: pure Wieder-
holungskünstler, aber bei jedem zweiten Artikel »preiswert
reißfest gefühlsecht« oder »steigert das LE«! – das war
doch von Schubert so weit entfernt wie die Gummifabrik
vom Saturn! Mein Argument, mit der Schilderung der
Produkte müssten wir so elastisch sein wie unsere Materie,
der Kautschuk, rang der Guten im besten Fall ein Lächeln
ab, denn ER, Heinrich Übel senior, mein Vater, wollte den
Katalog so textiert haben wie immer. Es hatte »preiswert
reißfest gefühlsecht« oder »steigert das LE!« zu heißen, dar-
über wurde nicht diskutiert. Wandelte das Herrscherpaar
durch die Hallen, der Senior im offenen Weißkittel, sie an
seiner Seite, ihr Klemmbrett im Arm, um sich Mängel zu
notieren, waberte eine dumpfe Duftschleppe hinter ihr her,
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ähnlich dem Geruch einer Velohandlung, wo alte und neue
Schläuche hängen, denn die Gute war vom Kopf (Haar-
gummi) über die Büste (Gummi-Corselet) und die Schen-
kel (Gummistrümpfe) bis zu den Füßen (Gummischuhe)
gummiert. Ihren Boss verehrte sie unterwürfig bis zur Aus-
löschung der eige nen Person (eigent lich bestand sie nur aus
der alterslosen Gummihaut), und hätte ich es geschafft, die-
ser Hülle meine Liebe zu schenken, wäre ich heute wohl in
der Unternehmensleitung. Meinen Rausschmiss hätte sie
bestimmt verhindert, allerdings war ich damals, vor acht-
zehn Jahren, noch zu unerfahren, um die Simplizität von
Machtstrukturen zu erkennen. Wer sich mit der Guten ar-
rangierte, überlebte die Säuberungen – so einfach war das.
Deshalb wollte es keiner mit ihr verderben, erst recht nicht
der Reklamechef, der es ihrer Gunst verdankte, dass er den
Posten halten konnte. Um ja keinen Fehler zu begehen,
enthielt er sich jeglicher Tätigkeit. Nie fabrizierte er eine
Zeile, nie nahm er das Telefon ab, nie verhandelte er mit
der Druckerei oder mit einem Journalisten, der den Senior
zu einem Firmenjubiläum interviewen sollte. Zwischen den
leeren Pulten mit den abgedeckten Schreibmaschinen saß
er im schlecht beheizten Saal der Werbeabteilung und löste
mit einem Eifer, der eigent lich zu bewundern war, Kreuz-
worträtsel. Kam ich als sein Assistent mit dem abgelehnten,
von der Guten in ein Schlachtfeld verwandelten Text des
neuen Katalogs aus der Zen trale zurück, hob der Reklame-
chef nicht einmal den Blick, nur den scharf gespitzten Blei-
stift und fragte: Zentralbegriff bei Kierkegaard, zwölf Buch-
staben? Der Assistent hatte damals passen müssen …
Jetzt wüsste ich es: Wiederholung.
Thomas Hürlimann
HOMECOMINGNovel, 528 pages, August 2018, Sample Translation by Jen Calleja
Heinrich Übel crashes into the railing of a bridge above a Swiss lake in his borrowed American road cruiser. When he comes round, he finds himself in a Sicilian hotel. He knows who he is but has no idea how he got there. The people in the small coastal town treat him differently than those from his former life. He, who used to be a rather unlucky fellow, is suddenly a hero and a ladies’ man. But has the world around him changed, or has he? What really happened on the bridge above the lake?
Thomas Hürlimann writes about the most weighty and serious things – in the lightest and cheeriest way imaginable.
I missed the ferry – on purpose. I didn’t have the heart to leave Pollazzu without seeing that beautiful woman again. Luckily, Room 43 at the Villa Vittoria was still available, and I still had my old spot in the dining room that evening – my table for one between the two grey-bearded sea captains. While we were all smoking a cigar together after dinner, one of the two took me to one side and whispered: “Dutturi, you’ve stayed on Piddu’s account, of course. The poor boy is in an awful state.” “Good heavens, what’s happened?” “A classical regression” the other one said. “Apparently he isn’t up to the difficult role of Godfather he inherited from his uncle. He’s gone back to being the boy who goads the donkey around the well.” I hurried through long passageways, still partially damp from winter, into the furthest courtyard, where I hid behind the hairy trunk of a palm tree to survey the scene. The psychologising sea captain was right. This wasn’t the young Godfather, but rather a small heap of misery staring motionless into the flames of a small fire. […] Trotting around the well was an old donkey tasked with drawing up water from a deep, centuries’ old shaft. Of course, they could have afforded a motorised pump,
but for Don Pasquale and the older islanders, the circu-lar path of the donkey was a symbol denoting the secret of Creation, the great turning of the stars and of time. I stepped out from the darkness. “Consigliere” Piddu cried out desperately, “I’ve fallen in love!” “Who…” “Me!” “You?” “Yes, Consigliere, it was… it is… Madonna biniditta, if you only knew what I’ve been through this evening! I am… I was…” “Christ Almighty, what’s the matter with you?” “She was… she is… it’s just, if you’d seen her, you would… you could…” He threw up his hands in front of his face. He whimpered. “Oh, Consigliere, thank you so much for coming back. I have to tell someone. I can’t bear it any longer. It’s taken me over.” “You’ve fallen in love.” “Yes.” “With Mafalda?” “Are you mad? Mafalda was the last one of the old man.” “With Giucy?”
“With a stranger,” he uttered quietly and sadly. “With a German.” In that first moment I had the awful thought that the handsome youth might also have fallen for the beautiful radio operator, but would such a clever committed So-cialist fall for such a simpleton? Never in a million years. Or would she? Breathe, just breathe, the deepest breath you can. Oh, I knew this condition well. With love came jealousy. Not only heaven opens with love, but hell too, and I could only hope I was mistaken. The donkey had stopped moving. Piddu picked up a stone from a pile and said menac-ingly: “I could have really used your help. As an inter-preter! It’s too late now, but tomorrow you’ll accompany me. Understood? Your contract as Consigliere has been extended by a week. You’re going to translate for me.” He pulled back his arm and flung the stone at the flank of the poor donkey. Appalled, I turned away. “From Italian into German?” “Yes, and from German into Italian.” The donkey stood beside the well in the moonlight. It didn’t move. It was wearing a kind of jester’s hat: a po-tato sack someone had put over its head and tied around its neck – a way of protecting it from the flies or
saving it from insight into its bleak lot. I sympathised with the donkey, but I was too distracted to prevent Piddu from plucking another stone from the pile. Prob-ably the thought that we could be in love with the same woman was delusional, but I knew from bitter experi-ence that love is a swing that hurls lovers between exag-gerated fears and hypocritical hopes. For example, my love for Mimi. Or my love for Maureen! Love? More like whiplash! In my arms, Maureen had swooned over Isidor Quassi and sighed that he was the man for her. I had to endure her washing his laundry, looking after his mother Gertrud, handling his correspondence with the authorities, accompanying him to the social welfare office and demanding that I financially support that boozing scrounger. But at least Maureen had a mild dis-ability, a limp, which at least made her more available, whereas the beauty from the East was at peak fitness, a trained dancer, toughened by ice baths, with broad shoulders, taut thighs, firm calves. A woman like that wanted to be grabbed and taken, and, holy shit, for a second there I was as lovesick as stupid Piddu. […] All of a sudden there was a creaking sound. The donkey braced itself in its drawbar, and above the circular well a flat wooden cross began to turn, driving a chain of
“A lost cause is not a bad position for a writer to be in. He is there to retain a fading world in his books.” Thomas Hürlimann
buckets to draw water out of the well shaft. “Piddu,” I said, close to tears, “I’ve also fallen in love.” “Ah, I get it. That’s the reason you didn’t leave. You wanted to see her again.” He drew out a bottle from one of his herdsman’s pock-ets. “Mine”, he remarked, “has fantastic breasts.” “Mine’s got a great behind.” “And her breasts?” “Dinky.” He passed me the bottle. Wine from the volcanic earth. “Consigliere,” he said, recovering his laughter, “then it can’t be the same woman! Mine has breasts out here!” “If that’s right, then… then that would be wonderful! Mine’s put together the other way.” “Flat as a board?” he asked, laughing. “Not a board, but understated.” “Then there’s no way yours is mine,” he rejoiced. Laughter, hugging, pats on the back. And then scared stiff once more. “Where did you meet her?” Piddu want-ed to know. “By the sea. This afternoon. When did you meet yours?” “This evening. At a business dinner with friends. The official guest was a colonel from East Germany, the country behind The Wall.” He sniggered. “Consigliere, you’ll never believe it…” “This colonel wanted to fob off a world first invention on you all, a winged back chair that’s actually a tele-phone. Or vice versa.” “Eh?” “The telephone is a winged back chair.” He fixed his gaze on me and said: “You’re well in-formed, Consigliere.”Bucket after bucket clattered up the well and, at its ze-nith, tipped its water into a wooden runnel, and then, with a hollow black mouth and a dripping sludge beard, it returned to the shaft. The moon illuminated the palms, the well, and the circular plodding of the work-ing animal with an icy light. The wooden runnel distrib-uted the water down silvery gullies among the black bushes of the inner courtyard, as intricate as a giant knitting pattern, and the more the water seeped into the earth, the more beguiling the scent of paradise. Piddu squatted back down and wrapped himself up in his blanket like a watchful shepherd. “The truth is” he said “Mine loves someone else.” “Did she tell you that?” “I wanted to kiss her. She pushed me away.” I didn’t foster any illusions. Everything was still to play for. Our happiness was still at the mercy of the stars.
But hadn’t the woman in the dunes danced for me? Hadn’t she waved and winked when she said goodbye? Yes, she had. Amor had hit a bullseye. The dart had gone through both hearts and would pin them together for eternity. She. No other. She’s the one. Him. No other. He’s the one. But she had no interest in Piddu’s advanc-es. Stop it, she would have shrieked, you’re an hour too late, I’ve met the man of my dreams… in German, of course, but in a tone that even a Sicilian would have understood. He was no competition. I prodded him, laughing. “Oh come on, Piddu, you could have anyone you wanted!” “Anyone?” “Yes, anyone. With one exception, of course. Do you perchance know who snapped up your busty wonder?” “No. But I sense it’s an older man.” “Oh really?” I called out much too hopefully, “What makes you think that?” “Consigliere, what am I doing wrong? Why is it that other men have more of a chance with the ladies than I do?” […] “Piddu, one day the right one will come along!” “Consigliere, do you really believe that?” “Yes,” I exclaimed, “This comes from a man who knows exactly how a woman’s heart ticks.”[…]
“[…] this autumn’s stand-out book […] a novel of archaic force and poetic precision […]” Neue Zürcher Zeitung
“Heimkehr is a furious firecracker, an autobiographical book, a father-and-son novel and an intrepid road movie.”SonntagsBlick
“[Hürlimann’s] testimony to us runs to 520 pages, but you wouldn’t want to miss out on a single one […]”NZZ am Sonntag
“[…] a festival of language. The text sparkles and glitters with imagery, wit and self-deprecation […] A book full of joy, poetry and insight.” Aargauer Zeitung