12-10-06 GSE Schwarze in Frankreich · 1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 6. Oktober...

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1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 6. Oktober 2012, 11.05 – 12.00 Uhr 300 Jahre gemeinsame Geschichte - Schwarze in Frankreich Mit Reportagen von Bettina Kaps Redakteurin am Mikrofon: Katrin Michaelsen Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar –

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Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 6. Oktober 2012, 11.05 – 12.00 Uhr

300 Jahre gemeinsame Geschichte -

Schwarze in Frankreich

Mit Reportagen von Bettina Kaps Redakteurin am Mikrofon: Katrin Michaelsen

Musikauswahl: Babette Michel

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar –

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Ich komme aus Guadeloupe, stamme also selbst von Sklaven ab. Bis zu

meinem elften Lebensjahr habe ich auf den Antillen gelebt. Als ich dann

mit meiner Familie nach Paris zog, wurde mir bewusst, dass ich anders

war, schon aufgrund meiner Hautfarbe.

Franzose sein, das ist keine Frage der Hautfarbe und auch keine Frage der

Abstammung. Ihr seid in Frankreich geboren, damit seid ihr Franzosen.

Viele Menschen haben Angst. Sie akzeptieren nicht, dass sich Frankreich

verändert und wollen ihren Status verteidigen, ihre Privilegien. Aber der

Prozess ist unaufhaltsam.

300 Jahre gemeinsame Geschichte – Schwarze in Frankreich. Gesichter Europas

mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon Katrin Michaelsen

In Frankreich leben mehr Schwarze als in anderen europäischen Ländern.

Schätzungen gehen von vier bis sechs Millionen aus. Einwanderer – denken die

meisten Franzosen. Manche überlegen vielleicht noch, dass es Landsleute aus

Übersee sein könnten: Aus den Départements der Antillen. Aus La Réunion

oder Mayotte. Kaum jemand weiß aber, dass Schwarze schon seit über 300

Jahren in Frankreich leben und arbeiten.

Auch die schwarzen Franzosen selbst haben diesen Teil ihrer Geschichte

weitgehend vergessen oder auch verdrängt: Schließlich kamen ihre Vorfahren

nicht freiwillig, sondern als Sklaven. Bereits im 16. Jahrhundert hielten sich

französische Adlige afrikanische Haussklaven, schon im 18. Jahrhundert lebten

5.000 Schwarze in den Städten Frankreichs, bis 1848 die Sklaverei wieder

abgeschafft wurde.

Das ist lange her. Und darüber wurde auch lange Zeit nicht gesprochen.

Aber das ändert sich. Schwarze Franzosen arbeiten ihre Geschichte auf,

hinterfragen Traditionen und melden sich als Meinungsmacher.

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Vorbei sind auch die Zeiten, als ausschließlich das weiße Schönheitsideal galt.

Als sich viele Schwarze die Haare entkrausen und die Haut mit gefährlichen

Pasten bleichen ließen. Seit einigen Jahren gibt es einen regelrechten „Afro

Boom“. Immer mehr schwarze Französinnen tragen stolz ihre Kraushaar-Frisur.

Sie wollen sich so zeigen, wie sie sind, und wie sie in der allgemeinen

französischen Presse nicht vorkommen.

Reportage 1: Krause statt glatte Haare

- Emanzipation im Friseursalon

Zwei Waschbecken, zwei Frisierstühle – mehr passt nicht hinein in den Salon

Tuleka. Eine schwarze und eine weiße Kundin sitzen vor den Spiegeln, beide

lassen sich künstliche Haarteile in ihre Frisuren flechten. Auf einem großen

Bildschirm flimmern Musikclips.

Danielle Ahanda wartet am Empfangspult bis sie an die Reihe kommt. Die 32-

Jährige trägt ein oranges T-Shirt und einen geblümten Minirock. Die schwarzen

Haare hat sie mit unzähligen Drehzöpfen bis in den Rücken verlängert. Danielle

bittet Sandra, die Chefin des Salons, um Rat.

Die Zöpfe trage ich jetzt seit einem Monat, ich will sie entfernen. Was

empfiehlst du mir, damit sich meine Haare gut erholen?

Danielle ist gerade aus Kamerun zurückgekehrt, wo sie auch geboren wurde. Als

Kind ist sie mit ihrer Familie mehrmals zwischen Yaoundé und Paris gependelt,

bevor sie ganz nach Frankreich zog, um dort Jura zu studieren. Für die

Urlaubsreise waren die Zöpfe praktisch, sagt sie. Aber in Paris trägt sie ihre

Haare oft natürlich. Das war nicht immer so.

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Meine Mutter ließ mir die Haare entkrausen. Ein anderes Schönheitsideal

kannte ich nicht. Nach und nach habe ich dann alle Kunstgriffe kennen

gelernt, mit denen man seine Haare verlängern kann. Als ich erwachsen

war, wollte ich eine andere Ästhetik ausprobieren: natürliche Haare. Aber

das war richtig kompliziert. Ich wusste nicht, wie ich mich frisieren sollte.

In Modeheften, im Fernsehen – nirgends fand ich Ratschläge oder

Vorbilder.

So kam es, dass Danielle Ahanda einen Blog einrichtete mit dem Namen „Our

Hair“, darin sammelte und veröffentlichte sie Ratschläge für afrikanisches Haar.

Zum Beispiel, dass häufiges Tragen von künstlichen Frisuren unwiderrufliche

Schäden bewirken kann, wie bei Naomi Campbell. Das Topmodell sei

inzwischen an Stirn und Schläfen völlig kahl, erzählt Danielle.

Unser krauses Haar sieht stark und kräftig aus, aber in Wirklichkeit ist es

sehr empfindlich. Wir müssen aufpassen, wie wir es behandeln und

kämmen.

Der Blog versammelte rasch eine wachsende Gemeinschaft junger Frauen, die

ebenfalls einen natürlichen Stil suchten. Danielle Ahanda fing an, auch über

Schönheit, Mode, Kultur und Gesellschaft zu schreiben. Bald erschien ihr der

Rahmen eines Blogs zu eng. Im April 2011 gründete sie daher das Internet-

Magazin „Afrosomething“. Der Name „Afro-irgendwas“ beschreibt ihr

Lebensgefühl.

Ich habe festgestellt, dass wir schwarze Franzosen oft in Richtung USA

schauen, weil Amerika uns mit seinem Integrationsmodell ins Träumen

versetzt. Unser Lebensstil ist jedoch sehr europäisch und unsere Wurzeln

liegen in Afrika. Die Website „Afrosomething“ soll all das zum Ausdruck

bringen.

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Etwa zehn Autorinnen schreiben für das Magazin, alle arbeiten ehrenamtlich.

Noch. Denn bei 40.000 Besuchern pro Monat steigen allmählich die

Werbeeinnahmen. Hauptberuflich arbeitet Danielle in einer Firma, als Juristin

für Urheberrecht und Markenschutz.

Eine elegante Frau in leuchtend rotem Trägerkleid und hohen Stöckelsandalen

kommt in den Salon. Sie zupft an ihren offenen langen Haaren, schließlich

nimmt sie die Perücke ab, darunter kommen ihre natürlichen Haare zum

Vorschein. Sie sehen kümmerlich und zerdrückt aus.

Artikel über Perücken kann man in ihrem Magazin nicht lesen, sagt Danielle

Ahanda so leise, dass die Kundin sie nicht hören kann. Sie mag es nicht, wenn

Afrikanerinnen ihre natürlichen Haare verstecken, um die europäische Mode

nachzuahmen. Danielle zeigt bewundernd auf Sandras Frisur: Die Besitzerin des

Friseursalons trägt kunstvoll geflochtene Zöpfe in mehreren Brauntönen, die sie

zu einem eleganten Dutt geschlungen hat. Solch raffinierte Flechtfrisuren

akzeptiert sie auch, weil sie zum traditionellen afrikanischen Kunsthandwerk

gehören.

Mit den Texten und Fotos in „Afrosomething“ will Danielle ihren Leserinnen

zeigen, wie viele Möglichkeiten es gibt, als Afrikanerin authentisch, und

zugleich modern und attraktiv zu sein.

In Sachen Schönheit herrschte bislang eine klare Abschottung: Diese

Produkte und diese Moden sind für schwarze Frauen, jene für weiße

Frauen. Wir wollen diese Grenzen sprengen und den afrikanischen Frauen

ihre Komplexe nehmen. Aber natürlich haben Haut und Haare von

Schwarzen Besonderheiten. Deshalb schauen wir uns jedes Produkt genau

an. Wir prüfen, ob die Inhaltsstoffe geeignet sind und überlegen, was zu uns

passt. Zum Beispiel: Wenn in der Mode Pastell im Trend liegt, dann

schauen wir: Welche Art von Pastell steht uns am besten.

Kürzlich hat sich „Afrosomething“ mit der renommierten Frauenzeitschrift

„Elle“ angelegt. Die Illustrierte hatte einen Artikel mit dem Titel „Black Fashion

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Power“ veröffentlicht. Er war als Hommage gedacht, aber Danielle empfand die

Argumente als bevormundend, ja sogar rassistisch.

Dank der US-amerikanischen Präsidentengattin Michele Obama, hieß es in der

Elle, hätten die schwarzen Amerikanerinnen jetzt den echten Schick entdeckt.

Die so genannte „Black-geoise“ habe nun von den Weißen alle Luxus-Standards

der Mode übernommen. Danielle Ahanda wird heute noch wütend, wenn sie

daran denkt.

In Anlehnung an das Wort Bourgeoise haben sie den Ausdruck

„Blackgeoisie“ erfunden. In Frankreich sprechen manche Medien auch von

„Beurgeoisie, um französische Araber zu bezeichnen, die der Mittelschicht

angehören. Warum muss man neue Wörter erfinden, wenn es um Araber

und Schwarze geht? Warum können Schwarze nicht genauso bourgeois

sein wie Weiße, also einfach bürgerlich?

Sogar die Tageszeitung „Le Monde“ griff die Auseinandersetzung auf und

wertete sie als Zeichen, dass sich die Schwarzen zunehmend zu Wort melden.

Die Illustrierte „Elle“ hat sich für den Artikel entschuldigt.

Ein Frisierstuhl wird frei, Danielle setzt sich. Sie hat sich für ein Pflegemittel

entschieden, das ihre Haare glättet, aber nicht entkraust. Der Friseur nimmt

einen Stielkamm. Behutsam löst er die Knoten ihrer künstlichen Zöpfe. Drei

Stunden hat sie jetzt Zeit, sich neue Themen für Afrosomething zu überlegen.

Wer im Pariser Zentrum in die Metro steigt, mit der Linie 4 Richtung Norden

fährt, vorbei am Gare du Nord, und in Chateau Rouge aussteigt, der wird eine

andere Welt vorfinden: Das Paris der Schwarzen Einwanderer! Hier hat der

Schriftsteller Alain Mabanckou gelebt, und hier spielt auch sein Roman „Black

Bazar“. Es ist eine Geschichte über die Traumwelten und Sehnsüchte der

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schwarzen Franzosen und über ihre Versuche, sich in der Welt der weißen

Franzosen zurechtzufinden.

LITERATUR

Für uns ist Chateau d´Eau die Durchgangsstation auf dem Weg nach Chateau

Rouge. Hier findet man die Boutique Luxure, wo alle Arten von Frauenperücken

verkauft werden, die nach Mottenkugeln und Babykotze riechen. Die Boutique

ist von morgens bis abends gerammelt voll, weil unsere Mädchen genau wie die

Blondinen mit den blauen Augen sein wollen, während diese in denselben Laden

kommen, um sich afrikanische Zöpfe machen zu lassen.

Es kommt vor, dass einflussreiche Persönlichkeiten aus der afrikanischen

Gemeinde in der Gegend sind, um ihren Bekanntheitsgrad an der Basis zu

testen. Die Delegationszusammensetzung dieser Persönlichkeiten variiert:

Geschäftsleute, die in billigen Hotels der Pariser Vorstadt logieren, große

Reiseerzähler, die nicht in der Lage sind, die angeblich besuchten Länder auf

einer Karte zu zeigen, eheliche und nicht eheliche Kinder von Staatschefs,

Ministern, politischen Flüchtlingen oder Oppositionspolitikern, die nur ihre

eigene Ethnie repräsentieren, angeblich internationale Fußballer, die aber noch

nie jemand in einem im Fernsehen übertragenen Spiel gesehen hat.

Ein Rückblick: Im Jahr 1998, am 23. Mai versammeln sich in Paris 40.000

Schwarze. Sie erinnern daran, dass sich Frankreich auch 150 Jahre nach Ende

des Sklavenhandels seiner kolonialen Vergangenheit nicht stellt. Die

französischen Medien und die Öffentlichkeit nehmen diesen Protestmarsch

kaum zu Kenntnis. Wohl aber die Politikerin Christine Taubira, heute

Justizministerin in der Regierung von Präsident Hollande, damals

Parlamentsabgeordnete des Übersee-Départements Guyana.

Christine Taubira gelingt es im Mai 2001 gegen alle Widerstände ein Gesetz

durchzuboxen, das die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit

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erklärt. Außerdem setzt das Parlament ein Komitee ein. Seine Aufgabe: Die

Geschichte der Sklaverei in die allgemeine Geschichtsschreibung einzufügen.

Auf Vorschlag des Komitees wird in Frankreich seit dem Jahr 2006 der 10. Mai

als „Nationaler Tag zur Erinnerung an den Sklavenhandel, die Sklaverei und

ihre Abschaffung“ begangen.

Und das besonders in der Hafenstadt Nantes an der Atlantik-Küste, dem ehemals

wichtigsten Menschenhändler-Hafen Frankreichs. Jedes Jahr am 10. Mai stellt

sich die Stadt dieser Vergangenheit. Mit Konzerten, Ausstellungen und

Vorträgen.

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Reportage 2: Erinnerung an die Sklaverei

– Nantes und der 10. Mai

Vor dem Justizpalast von Nantes ist ein offenes Zelt aufgebaut. 27 Mädchen und

Jungen stehen dort auf einer Konzertbühne. Sie trommeln energisch auf

Djembes und Bongos, schütteln Shekeres, wenden lange Rohre aus

Kakteenholz, so genannte Regenmacher. Dazu singen sie ein afrikanisches Lied.

Die Jugendlichen - alles Schüler einer achten Klasse, fast alle sind weiß - führen

ein Stück zum Thema „Geschichte und Musik der Schwarzen“ auf.

Am Bühnen-Rand steht eine zierliche schwarze Frau mit kurz geschorenem

Kraushaar und klatscht im Rhythmus. Elise Dan NDobo ist die Englischlehrerin

der Klasse. Sie trägt ein geschmeidig fallendes silbergraues T-Shirt, schwarze

Leggings, gelackte Ballerinas. Die 46-Jährige sieht stolz auf ihre Schüler. Wie

sie es schaffen, ihr anspruchsvolles Studienprojekt über Sklaverei und die

Folgen auf die Bühne zu bringen.

Dieses Vorhaben interessiert mich persönlich sehr. Ich engagiere mich seit

langem in dem Geschichtsverein „Les Anneaux de la Mémoire“. Er setzt

sich für die Vermittlung der Geschichte der Sklaverei ein. Daher wollte ich

das Thema auch in meinem Fach zum Schulstoff machen. Anschließend

habe ich es meinen Kollegen vorgeschlagen. Die Lehrer der Fächer

Französisch, Geschichte-Geografie, Kunst und Musik haben sofort

mitgemacht. Der Schulleiter hat mich auch unterstützt und die Schüler

waren hoch motiviert.

Ein Mädchen geht zum Mikrofon, trägt einen Text vor: Ausschnitte aus der

Autobiografie von Olaudah Equiano. Der Afrikaner wurde Mitte des 18.

Jahrhunderts als elfjähriger Junge von Sklavenjägern in Nigeria verschleppt und

als Sklave verkauft. Dieser Text habe sie sehr berührt, sagt die Lehrerin.

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Ich komme aus Guadeloupe, stamme also selbst von Sklaven ab. Bis zu

meinem elften Lebensjahr habe ich auf den Antillen gelebt. Als ich dann

mit meiner Familie nach Paris zog, wurde mir bewusst, dass ich anders

war, schon aufgrund meiner Hautfarbe. Manchmal spürte ich, dass mir

bestimmte Leute – wie soll ich sagen – na ja, nicht sehr freundschaftlich

begegneten. Ich fühlte auf einmal ganz deutlich, dass Andersartigkeit

Ablehnung hervorrufen kann. Später dann, als Lehrerin, dachte ich, es sei

meine Aufgabe dies zu vermitteln und das Wissen über den Sklavenhandel

und die Sklaverei zu verbreiten.

Sie selbst wüsste gerne, aus welchem afrikanischen Land ihre Familie stammt.

Aber wie die meisten Sklaven haben auch ihre Vorfahren keine Zeugnisse

hinterlassen.

Einzelne Schüler lassen jetzt Ketten rasselnd durch die Hände gleiten, andere

schlagen auf einen Holzblock. Alle zusammen singen sie ein englisches Lied,

das an die harte Arbeit auf den Zuckerrohr und Kaffee-Plantagen erinnert. Sie

und ihre Kollegen, sagt Elise Dan Ndobo, haben mit der Klasse nicht nur Lieder

und Texte studiert. Sie haben sich auch die Spuren des Sklavenhandels in

Nantes zeigen lassen und sind sogar nach Liverpool gereist, um zu erfahren wie

die Briten den Sklavenhandel betrieben und später bekämpft haben. Mit den

Lehrplänen des Bildungsministeriums sei das heute voll und ganz vereinbar.

Im Jahr 2001 wurde ein Gesetz erlassen, das den Sklavenhandel und die

Sklaverei zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt. Außerdem

verpflichtet es die Schulen, diese Themen zu unterrichten. Seit drei Jahren

gibt es dazu Material in den Schulbüchern der 8. und der 10. Klassenstufe.

Die Lehrpläne empfehlen, dass wir das Thema interdisziplinär behandeln.

Unser Projekt erfüllt diese Vorgaben.

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Elise Dan Ndobo dreht sich um, schaut auf die Loire, die breit und gemächlich

in Richtung Atlantik fließt. Am anderen Ufer sind alte Kaianlagen zu sehen.

Dort hat der Bürgermeister im Frühjahr eine große Gedenkstätte zur Erinnerung

an die Sklaverei und ihre Abschaffung eingeweiht. Elise hat sie mit ihrer Klasse

besichtigt. Das Mahnmal liege unter der ehemaligen Landungsbrücke und

erinnere an einen Schiffsbauch, erzählt sie. An einer Wand seien Texte von

Sklaven und von Gegnern der Sklaverei zu lesen.

Der Geschichtsverein „Les Anneaux de la mémoire“ hat wesentlich dazu

beigetragen, dass Nantes dieses Kapitel seiner Vergangenheit aufgearbeitet hat.

Heute fördert das Rathaus Initiativen wie ihr Unterrichtsprojekt und das

Musiktheater der Klasse ganz bereitwillig, sagt die Lehrerin.

Die Schüler auf der Bühne singen jetzt ein jazziges Lied zu Ehren von Ella

Fitzgerald, den Text haben sie selbst gedichtet. Danach tanzt ein Junge zu Hip

Hop-Musik. Vergangenheit und Gegenwart - Elise Dan NDobo ist es wichtig,

dass ihre Schüler historische Zusammenhänge erkennen, nicht nur in der Musik.

Frankreich hatte Kolonien in der Karibik, die zu Departements geworden

sind. Aber vor Ort herrschen heute große Spannungen. Die Bewohner

fragen sich, welchen Platz sie eigentlich in der französischen Republik

einnehmen. Deshalb kam es auch vor ein paar Jahren zu Unruhen.

Guadeloupe, Martinique und Guyana wollen darauf aufmerksam machen,

dass es sie gibt. Sie wollen anerkannt sein – das ist nicht immer der Fall.

Aber die Dinge entwickeln sich, wir sind auf dem Weg dorthin.

Seit 2006 ist der 10. Mai offiziell der „Nationale Tag zur Erinnerung an den

Sklavenhandel, die Sklaverei und ihre Abschaffung“. Für Elise Dan NDobo ist

das keine Nebensache.

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Dieser Gedenktag ist wichtig. Für mich und alle anderen Nachkommen von

Sklaven beweist er, dass sich die Republik darüber bewusst ist, welche

Verbrechen sie über 400 Jahre lang begangen hat. Dieser Tag gibt mir das

Gefühl, dass meine Geschichte zur französischen Geschichte dazugehört.

LITERATUR

Da sie eine tiefschwarze Haut hatte, nannte ich sie Ursprungs-Farbe. In der

Heimat glaubt man noch, die Neger, die in Frankreich geboren werden, seien

grundsätzlich weniger schwarz als wir. Nun, ist nicht so, Pech gehabt, ich bin

noch nie einer Person über den Weg gelaufen, die so schwarz ist wie meine Ex.

Es gibt Leute, die sind, wenn Du sie siehst, so schwarz wie Mangan oder Teer,

du sagst dir, klar, die haben unter der Tropensonne geschmort, und sie

antworten dir ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie in Frankreich geboren

sind.

Wenn das so ist, verlange ich auf der Stelle, dass mir ihren Personalausweis

zeigen. Und wenn ich zu meiner großen Verwunderung feststellen muss, dass sie

recht haben, dass sie tatsächlich in Frankreich geboren sind, sogar mitten im

härtesten Winter, wie dem von Abbé Piere 1954, drehen bei mir gleich die

Räder durch. Ich sage mir: In welcher Welt leben wir eigentlich, wenn die Leute

ständig die kleinen Gewissheiten zerstören, die unsere Vorurteile festigen? Bin

ich denn ein Idiot, dass ich solche Geschichten schlucke? Wie kann man derart

schwarz und gleichzeitig in Frankreich geboren sein?

Nantes, Bordeaux, La Rochelle, Le Havre. Den französischen Hafenstädten am

Atlantik bescherte der Sklavenhandel märchenhafte Gewinne. In Nantes sind die

Spuren dieses Reichtums noch heute sichtbar: Das sind die prächtigen

Stadtpaläste der Reeder aus dem 18. Jahrhundert, umgeben von Gärten und

Parkanlagen mit exotischen Bäumen und Pflanzen. Die Stadt Nantes war die

erste in Frankreich, die sich ihrer problematischen Vergangenheit stellte. Und

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die nun versucht, die Lücken in den Geschichtsbüchern zu schließen. Der

Historiker Eric Saugéra kann dabei auf die Mithilfe einiger alteingesessener

Reederfamilien bauen, die ihm bereitwillig ihre Archive öffnen.

Reportage 3: Der Reichtum der Reeder in Nantes

und die Lücken in der Stadtgeschichte

Nantes, Place du Commerce: Ganz gleich ob morgens, mittags, abends…, hier

sind immer Menschen unterwegs. Kneipen, Boutiquen und ein großes Kino -

Auf dem „Platz des Handels“ kehrt nie Ruhe ein. Schon vor 200 Jahren war der

Platz ein wirtschaftliches Zentrum, sagt der Historiker Eric Saugéra und zeigt

auf ein schmales Haus neben dem Kino. Dort wohnte der Reeder und

Sklavenhändler Mathurin Trottier.

Früher floss hier die Loire vorbei, erst vor dem Zweiten Weltkrieg wurde

der Flussarm zugeschüttet. Wo wir jetzt stehen war ein Anlegekai für

Handelsschiffe. Mathurin Trottier wohnte von 1793 bis 1807 Nummer 10,

Place du Commerce, die Adresse heißt bis heute so. In dieser Zeit rüstete

Trottier sein Schiff „La Bonne Mère“ für den Sklavenhandel aus.

Der Dreimaster „La Bonne Mère“ segelte mit Kapitän und 37 Mann Besatzung

an die westafrikanische Küste, tauschte dort edle Stoffe, Waffen und Alkohol

gegen 303 schwarze Männer, Frauen und Kinder ein, verschiffte die Gefangenen

in die Karibik, wo sie als Sklaven verkauft wurden. Trottier kannte sich aus im

so genannten Dreieckshandel. Bis zur haitianischen Revolution lebte er selbst

als Siedler in der französischen Kolonie Saint Domingue und hielt Sklaven, die

für ihn Kaffee anbauten, sagt Saugéra.

Fremde können die Spuren des Sklavenhandels in Nantes kaum erkennen. Eric

Saugéra schon. Er hat erforscht, wie und wo das mörderische Geschäft geplant

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und abgewickelt wurde. Der große, sportlich aussehende Mann mit dem weißen

Stoppelhaar geht federnden Schritts über die Straße, hält vor einem imposanten

Bürgerhaus: Hohe Fenster, schmiedeeiserne Balkone, ein graues Schieferdach.

Sechs Maskenköpfe zieren die Fassade, einer hat negroide Züge. Ein

Straßenschild weist das Viertel als „Ile Feydeau“ aus. Die ehemalige Insel war

ein beliebtes Wohnviertel der reichen Händler von Nantes, sagt Saugéra.

Mit dem Geld, das Mathurin Trottier beim Sklavenhandel verdiente, kaufte

er den ganzen Häuserblock. Er hatte 19 Mieter, das zeigt, wie reich er war.

Später ist er hier selbst mit seiner Familie eingezogen. Seine Nachkommen

wohnen heute noch in diesem Haus, zwei Jahrhunderte später.

Das ehemals prächtige Gebäude sieht vernachlässigt aus. Im Putz sind

Einschüsse aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, von den Fensterrahmen

blättert die Farbe ab. Aber Saugéra ist dieses Haus wichtig, denn hier konnte er

erste Kontakte zu den Nachfahren des Sklavenhändlers Trottier knüpfen. Der

Wissenschaftler zeigt auf das Klingelschild.

Hier steht der Name: Pichelin. Als ich die Familie vor fast 30 Jahren

aufgesucht habe, hat sie mir alle Unterlagen anvertraut, die sie besaß, vor

allem die Briefe des Reeders. Es gibt nicht viele Nachkommen von

Sklavenhändlern, die ihre Archive so bereitwillig offen legen. Die

Geschichte ist noch zu frisch, die letzten Sklavenschiffe waren vor gut 150

Jahren unterwegs, das ist nicht so lange her.

Es beginnt zu nieseln. Saugéra setzt eine grüne Basketballkappe auf, stellt sich

unter den Balkon mit den Maskenköpfen. Kürzlich bekam er ein einzigartiges

Dokument in die Hände.

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„La Bonne Mère“ ist zweimal zum Sklavenhandel ausgelaufen, im Jahr

1802 und im Jahr 1815. Ein anonymer Stifter hat das Tagebuch der zweiten

Expedition letztes Jahr bei einem städtischen Geschichtsverein abgegeben.

Darin sind alle Waren verzeichnet, mit dem das Schiff an der afrikanischen

Küste gehandelt hat. Es wird auch exakt aufgelistet, wie viele Schwarze

dem afrikanischen König abgekauft wurden: 355 Neger, Negerinnen,

Negerjungen und Negermädchen.

In den engen Gassen der Ile Feydeau fasst Saugéra die wichtigsten Daten

zusammen: 1670 haben die Reeder von Nantes mit dem Sklavenhandel

begonnen. Im 18. Jahrhundert kam der atlantische Dreieckshandel hier richtig in

Schwung. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Nantes sogar zum größten Hafen

für Sklavenhandel in ganz Europa, weil Großbritannien aus dem Geschäft

ausstieg, die Regierung in London verbot es im Jahr 1807. Frankreich untersagte

den Sklavenhandel acht Jahre später. Die meisten Häfen respektierten das

Verbot, aber Nantes setzte sich darüber hinweg. Die Sklaverei selbst wurde in

Frankreich erst 1848 verboten.

Offiziell fand die letzte Expedition 1830 statt, aber wahrscheinlich hat

Nantes den Sklavenhandel noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts

fortgesetzt. Hier sind 1.800 Expeditionen ausgerüstet worden. Jedes Schiff

hat ungefähr 300 Gefangene transportiert. Somit wurden etwa 450.000

Schwarze aus Afrika deportiert. Wenn man bedenkt, dass für jeden

einzelnen Afrikaner, der versklavt wurde, drei oder vier Schwarze an der

afrikanischen Küste gestorben sind, dann wird einem klar, wie ungeheuer

groß der Preis war, den Afrika bezahlen mussten.

Eric Saugéra hat kürzlich ein Buch über die Expeditionen des Sklavenschiffes

„La Bonne Mère“ veröffentlicht. Jetzt arbeitet er an einem neuen Projekt: Der

Historiker sucht die Spuren des Sklavenhandels in Nantes, er will sie

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fotografieren und erklären. An diesem lukrativen Geschäft waren längst nicht

nur die Reeder beteiligt, sagt er.

Am Sklavenhandel haben sich alle bereichert. Um sein Schiff bauen und

ausrüsten zu lassen, brauchte der Reeder ein Dutzend Geldgeber. Die

Mannschaft bestand aus 30 bis 40 Leuten. In der Rue Racine gab es einen

Schmied, der Fußeisen und Ketten für die Sklaven herstellte. Eine Frau

strickte Wolljacken, die an der afrikanischen Küste eingetauscht wurden.

Eine Manufaktur im Süden von Nantes webte Baumwollstoffe für den

Handel. Am Quai de la Fosse lebte ein Glashersteller, dessen Karaffen in

Afrika verkauft wurden. Die Schiffe waren auch immer voll geladen mit

Nahrungsmitteln, Wein und Schnaps aus dem Hinterland.

Eric Saugéra hat sogar Volkslieder gefunden, die den Sklavenhandel besingen.

Vor 20 Jahren hat Nantes endlich begonnen, dieses Kapitel seiner Geschichte

aufzuarbeiten, sagt der Historiker. Jetzt sei es höchste Zeit für ein solches Buch.

LITERATUR

Bereits in der Zeit, als meine Freundin und unsere Tochter noch hier wohnten,

spähte Monsieur Hippocrate durch seinen Spion, sobald es auf dem

Treppenabsatz laut wurde. Ich wusste es, denn ich hörte, wie er auf Samtpfoten

heranschlich und hinter der Tür seinen Lurchatem zu unterdrücken versuchte.

Und als unsere Tochter geboren war, wollte er wissen, ob ich Drillinge statt

eines einzelnen Babys hätte, weil, ein einziges Kind könne doch nicht

herumplärren wie ein ganzer Kindergarten. Und er heulte sich bei unserem

Vermieter aus, dass es afrikanische Gruppierungen gebe, die im Wohnblock

einen Heidenzirkus veranstalteten, die das Gebäude in eine Tropenhauptstadt

verwandelten, die um fünf Uhr in der Frühe Hähne schlachteten und ihr Blut

sammelten, die die ganze Nacht herumtrommelten und ihren Buschgeistern

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verschlüsselte Botschaften zukommen ließen und ganz Frankreich verhexten.

Diese Kakaoköpfe müssten endlich nach Hause zurückgeschickt werden.

Lilian Thuram spielte bei den sogenannten „black, blanc, beur“. Der

französischen Fußball-Nationalmannschaft, die 1998 den Weltmeister-Titel

holte. Gefeiert wurde die Équipe damals nicht nur wegen ihres sportlichen

Erfolgs. Sondern auch als ein Modell der Integration von Spielern mit familiären

Wurzeln in Afrika und in den arabischen Ländern. Als ein Musterbeispiel für ein

multi-ethnischen Frankreich. Doch ganz soweit reichte die Macht des Fußballs

dann doch nicht. Nichtsdestotrotz steht Lilian Thuram noch heute für die

Akzeptanz schwarzer Fußballspieler in Frankreich. Auch wenn seine Profi-

Karriere längst vorbei ist. Der Franzose aus Guadeloupe ergreift regelmäßig das

Wort, wenn es um Rassismus geht. Er scheut sich nicht, gegen

fremdenfeindliche Äußerungen vorzugehen, selbst wenn sie von Ministern oder

sogar vom früheren Staatspräsidenten Sarkozy stammen.

Wachsam sein und Aufklären: Das ist Thurams Motto und das Ziel seiner

Stiftung, der „Fondation Lilian Thuram“. Regelmäßig geht er selbst in Schulen,

um mit Jugendlichen über die Ursprünge von Fremdenhass zu diskutieren. Wie

in Mitry Mory, in der Nähe von Paris.

Reportage 4: Überholte Rassentheorien und Tabus

– Lilan Thuram im Unterricht

Ein kahler Raum, Neonlicht. Zwei achte Klassen sitzen an den Tischen, fast 60

Mädchen und Jungen. Sie warten auf einen Vortrag zum Thema Rassismus. Es

klopft. Die Tür geht auf. Lilian Thuram - schwarzer Lederhut, schwarzer

Trenchcoat - betritt den Saal. Die Schüler tuscheln aufgeregt, flüstern seinen

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Namen. Der Fußballweltmeister geht die Tischreihen ab, schüttelt Hände, klopft

auf Schultern. Einem Jungen fährt er kumpelhaft durchs Haar.

Dann legt er Hut und Mantel ab, setzt sich vor die Klasse, winkt drei

Schülerinnen neben sich. Der 40-Jährige sieht elegant aus im beigen Pullover,

schwarzer Stoffhose, Wildlederschuhen. Thuram beugt sich zu den Mädchen

hin, flüstert einer nach der anderen vertraulich ins Ohr. Die Drei überlegen kurz,

flüstern zurück. Die Klasse kichert. Später, verspricht der Fußballstar, verrate

ich, was wir uns gesagt haben.

Aber zuerst erkläre ich euch, warum ich die Stiftung `Bildung gegen

Rassismus´ gegründet habe. Ich wurde auf Guadeloupe geboren. Wisst ihr,

wo das liegt? Stammt hier vielleicht noch jemand von Guadeloupe?

Einige Schüler heben die Hand, auch das Mädchen zu seiner Rechten. Thuram

lacht erfreut und umarmt es herzlich.

Im Alter von neun Jahren bin ich in der Pariser Gegend eingetroffen.

Damals lief ein Zeichentrickfilm im Fernsehen, mit einer sehr intelligenten

weißen Kuh und einer schwarzen Kuh, die Schwärzchen hieß und

strohdumm war. Mich haben sie in der Schule auch Schwärzchen genannt,

das hat mich getroffen. Meine Mutter sagte nur: Die Menschen sind

rassistisch, das wird sich nie ändern. Das war keine besonders kluge

Antwort. Später habe ich begriffen, dass in unserer Gesellschaft Bilder und

Vorurteile zirkulieren, die – oft unbewusst - von Generation zu Generation

weiter gegeben werden, weil uns gewisse Erkenntnisse fehlen. Meine

Stiftung will dieses Wissen verbreiten, damit wir lernen, anders zu denken.

Die Jugendlichen hören gespannt zu. Ihre Schule liegt in Mitry Mory. Ein

ehemaliges Dorf, nahe des Pariser Flughafens Charles de Gaulle. In den

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vergangenen 50 Jahren haben sich hier zahlreiche Fabriken angesiedelt, in denen

Einwanderer aus aller Welt arbeiten. So kommt es, dass die beiden Schul-

Klassen ethnisch sehr gemischt sind.

Ich habe eure drei Kameradinnen vorhin gefragt, wie viele Rassen sie

kennen. Was hast du mir ins Ohr gesagt?

Vier, antwortet die dunkelhäutige Loraine und zählt auf: die schwarze, weiße,

gelbe und die rote Rasse. Ihre Mitschülerinnen glauben, dass es drei

Menschenrassen gibt. Vermutlich, sagt Lilian Thuram, denken das noch mehr

von euch.

Das ist komplett falsch, hört ihr? Aber Irren ist menschlich. Die Gelben,

sind das vielleicht die Simpsons?

Thuram spielt auf die bekannte amerikanische Fernsehserie an. Mit seinem

Scherz nimmt er den 14-Jährigen das Gefühl, etwas Schlimmes gesagt zu haben.

Die Rassentheorien, erklärt er dann, seien im 18. und 19. Jahrhundert entstanden

und auch in den Schulen unterrichtet worden. Über Generationen hinweg sei

gelehrt worden, der Andere sei minderwertig. Zum Beweis zieht er ein altes

Lehrbuch aus der Tasche. Ein Junge liest vor.

Habt ihr gehört: „Die weiße Rasse ist die perfekteste Rasse, die es gibt“,

steht da. Es ist noch nicht sehr lange her, dass wir begonnen haben, die

Rassentheorie in Frage zu stellen und zu widerlegen. Heute wissen wir, dass

es nur eine Rasse gibt: Homo sapiens. Aber warum gibt es denn

unterschiedliche Hautfarben?

Ein Junge weiß, dass dafür die Sonneneinstrahlung auf den jeweiligen

Kontinenten verantwortlich ist. Thuram warnt vor gängigen Klischees.

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Früher hieß es, die einzelnen Rassen hätten besondere Eigenschaften. Auch

heute hört ihr oft: Die Schwarzen rennen schneller. Sie singen und tanzen

besser. Glaubt ihr wirklich, dass es an der Hautfarbe liegt, wenn man

schnell rennt?

Die Schüler sollen jetzt Fragen stellen. Christopher hebt die Hand. Der Junge

will wissen, warum man Menschen anderer Hautfarbe so oft misstraut. Das liegt

an der Gesellschaft, in der man aufwächst, sagt Lilian Thuram, und verkündet

das Motto seiner Stiftung: „Niemand wird als Rassist geboren, dazu wird man

erst gemacht.“ Ein Mädchen fragt, warum es so schwer sei, rassistische

Vorurteile zu beseitigen. Weil die meisten Menschen an ihren überkommenen

Überzeugungen festhalten wollen, sagt Thuram. Jede Veränderung löse ein

Gefühl der Unsicherheit aus.

Thuram will jetzt wissen, wer hier Franzose ist. Die meisten Schüler, aber nicht

alle, strecken die Hände hoch. Eine Junge ruft: „die schämen sich“.

Schämen? Was soll denn dieser Quatsch! Wer schämt sich hier, Franzose

zu sein? Nehmt euch in Acht! Franzose sein, das ist keine Frage der

Hautfarbe und auch keine Frage der Abstammung. Ihr seid in Frankreich

geboren, damit seid ihr Franzosen. Wenn ihr die Dinge hier ändern wollt,

müsst ihr euch unbedingt als Franzosen verstehen und später, wenn ihr

volljährig seid, zur Wahl gehen. Sonst wird es immer Rassismus und

Ungerechtigkeit geben.

In den vergangenen Jahren, sagt Thuram später, hätten viele Politiker und sogar

Minister den Einwanderern und ihren französischen Kindern eingehämmert,

dass sie keine echten Franzosen seien. Solche Reden zeigten ihre Wirkung.

Der Fußballer investiert viel Zeit, um Fremdenhass zu bekämpfen und

staatsbürgerliches Engagement zu fördern. Im Namen seiner Stiftung reist er

durchs ganze Land, besucht auch Schulen auf dem Land, wo es kaum farbige

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Schüler gibt. Dort, sagt er, seien die rassistischen Vorurteile oft besonders

ausgeprägt.

Ich diskutiere gerne mit den Kindern, und versuche, meine Botschaften zu

vermitteln. Viele meinen ja, diese Themen seien tabu. Ich bin anderer

Ansicht. Es ist unglaublich! Im Jahr 2012 glauben noch so viele Kinder,

dass es verschiedene Rassen gibt. Sie sind immer noch in diesen alten

Ideologien verhaftet, die auf den Hautfarben basieren. Aber um das

überhaupt zu erfahren, und um es zu ändern, müssen wir erst einmal mit

ihnen darüber reden. Ich glaube, dass sehr wenige Familien zuhause über

Rassismus sprechen.

Die Schulstunde ist um. Zum Abschluss, sagt Thuram, beantworte ich noch

genau zwei Fragen zum Thema Fußball. Ein Dutzend Hände schießen in die

Höhe. Die Kinder wollen wissen, wen er für den derzeit besten Spieler hält, den

besten Torwart, welches sein bestes Spiel war, seine schönste Erinnerung, ob er

Kontakt hält zu seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Zinédine Zidane.

Gutmütig geht der Sportler doch auf alle Wünsche ein, dann stellt er sich zum

Klassenfoto auf. Die Jugendlichen drängeln, alle wollen neben ihm stehen.

Lilian Thuram breitet die Arme aus.

Das französische Integrationsmodell stößt an seine Grenzen. Es setzt auf

Anpassung und verspricht, dass aus allen Fremden gleichberechtigte Bürger der

Republik werden, ungeachtet ihrer Herkunft. Aufgrund dieses Gleichheitsideals

erkennt der Staat Minderheiten nicht an. Das heißt, Schwarze sind offiziell

unsichtbar, da ethnische Statistiken in Frankreich verboten sind. Doch die

Erfahrungen der Schwarzen Franzosen sind andere. Sie werden eben nicht als

gleichberechtigte Bürger wahrgenommen, sondern ihre Hautfarbe spielt sehr

wohl eine Rolle, wenn es darum geht in Politik, Industrie und Medien Karriere

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zu machen. Umso mehr fallen diejenigen auf, die es doch geschafft haben. Eine

davon ist Rokaya Diallo.

Reportage 5: Meinungsmacher in den Medien

– Die Einzelkämpferin Rokaya Diallo

7 Uhr morgens in der Garderobe des französischen Fernsehsenders Canal Plus.

Rokhaya Diallo probiert ein Kleid an. Wie jeden Dienstag wird sie wieder life in

der Morgensendung über ein gesellschaftliches Thema diskutieren, das

Frankreich beschäftigt. Diesmal geht es um den Vorschlag des

Bildungsministers, die Noten in der Grundschule abzuschaffen.

Ich mache das seit fast drei Jahren. Der Privatsender „Canal Plus“ will

trendig sein und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. So kommt

es, dass hier mehr Menschen ausländischer Herkunft im Programm

auftauchen als anderswo. Canal Plus hat mich mit meiner Meinung geholt.

Die Fernsehanstalt weiß genau, wofür ich stehe.

Das Kleid ist zu eng. Die Garderobenfrau hängt es zurück auf den Ständer,

schlägt eine rosa Bluse vor. Rokhaya Diallo zieht sie über, schaut in den

Spiegel, nickt. Die schwarze Frau trägt das Haar Millimeter kurz. Frisur und

große baumelnde Gold-Ohrringe bringen ihr gleichmäßiges Gesicht zur Geltung.

Die Kolumnistin ist jung, strahlend, unkompliziert, selbstbewusst. Obwohl erst

34 Jahre alt, wird ihre Meinung in Frankreich gehört, seit sie mit Freunden -

jungen Schwarzen, Arabern, Asiaten und Weißen – den Verein „Les

Indivisibles“ gegründet hat. Der Name „die Unteilbaren“ spielt auf den ersten

Artikel der französischen Verfassung an: „Frankreich ist eine unteilbare

Republik“. Mit ihrem Verein wolle sie Politikern und Journalisten Kontra

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bieten, die das Klima im Land vergifteten und die Menschen gegeneinander

aufbrächten, sagt Rokhaya. Und zwar mit Spott und Humor.

Wir haben einen Anti-Preis ins Leben gerufen, eine Trophäe für

rassistische Äußerungen. Die Gewinner finden das meist gar nicht lustig.

Uns geht es darum, laut und deutlich gegen fremdenfeindliche Parolen

anzukämpfen, die nicht so schlimm sind, dass sie vor Gericht als Anstiftung

zum Rassenhass angefochten werden, die aber symptomatisch sind für

einen weit verbreiteten Rassismus in den Medien.

Mit dem Anti-Preis hat sie sich einige Prominente zu Gegnern gemacht, zum

Beispiel den Chefredakteur der Wochenzeitung "L'Express“, Christophe

Barbier, die feministische Autorin Caroline Fourest oder die linke Senatorin

Françoise Laborde.

Rokhaya Diallo geht in die Maske, setzt sich an den Schminktisch. Ihre Eltern

sind aus Senegal eingewandert, sie selbst ist in Paris geboren und in der Vorstadt

La Courneuve aufgewachsen. Dort habe sie sich immer als Französin gefühlt,

erzählt sie, dabei spricht sie so schnell, als müsse sie innerem Druck Luft

machen. In ihrer Siedlung stammten fast alle Familien aus dem Ausland. Daher

waren immer auch viele Hautfarben vertreten, sie spielten dort schlicht keine

Rolle. Das änderte sich, als Rokhaya Jura studierte und anschließend auf eine

Hochschule für Management ging.

In der Hochschule waren wir nur zwei Schwarze. Dennoch wurden wir

ohne Unterschied mit dem Vornamen der einen oder der anderen

angesprochen. Man verwechselte uns als seien wir austauschbar. Später im

Job wurde ich zu Hip Hop und andere Themen befragt, die Leute stereotyp

mit uns Schwarzen verbinden. Oft hieß es auch: ´Sie sprechen aber gut

Französisch´. - Es war der Blick der Anderen, der mich zur Schwarzen

gemacht hat.

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Die junge Frau schaut sich im Spiegel an. Die Maskenbildnerin nimmt einen

Pinsel, tuscht blauen Puder über die Augenlider, bürstet Farbe auf die Wimpern,

zieht die Brauen nach. Rokhaya wurde bewusst: Für ihre Umwelt war es nicht

selbstverständlich, dass eine Schwarze wie sie gebildet und Französin war.

Richtig hellhörig wurde sie aber erst, als in der Politik immer häufiger zwischen

„Urfranzosen“ und „Franzosen aus der Immigration“ unterschieden wurde. Der

frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte sogar ein Ministerium für

Einwanderung und Nationale Identität eingerichtet, das es heute nicht mehr gibt.

Für Rokhaya war das ein besonders krasser Versuch, Menschen auszugrenzen.

Sie hat eine andere Vorstellung von der nationalen Identität ihres Landes.

Kürzlich hat sie ein Buch veröffentlicht mit dem programmatischen Titel:

„Frankreich gehört uns“. Darin betont sie, dass Frankreich nicht mehr so weiß

und katholisch sei wie früher. Genau diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse

beflügle den Rassismus im Land.

Viele Menschen haben Angst. Sie akzeptieren nicht, dass sich Frankreich

verändert und wollen ihren Status verteidigen, ihre Privilegien. Aber der

Prozess ist unaufhaltsam. Man muss nur die Metro nehmen oder vor einer

Grundschule warten oder auf einen Picknickplatz gehen, dann sieht man:

Frankreich ist ethnisch vielfältig, multikulturell. Das ist eine Tatsache,

Proteste nützen nichts. Frankreich sollte die Vorteile dieser Entwicklung

ausschöpfen.

Aber die Lage der Minderheiten bessere sich, sagt sie, trotz vieler

Abwehrreaktionen. Ein Beweis dafür sei ihre Karriere: Rokhaya tritt nicht nur

regelmäßig in der Morgensendung von Canal Plus auf. Zweimal pro Woche ist

sie auf RTL zu hören, dem beliebtesten Radiosender des Landes. Mehr noch:

Seit diesem Herbst engagiert sie erstmals auch der öffentlich-rechtliche

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Fernsehsender France 2 für eine Talkshow. Obwohl sie so gefragt ist, macht sich

Rokhaya keine Illusionen.

Als wir den Verein „Les Indivisibles“ vor fünf Jahr en gegründet haben,

wollten wir einen anderen Diskurs verbreiten. Damals hätte ich mir nicht

träumen lassen, dass ich heute in so vielen Medien Rede und Antwort

stehen darf. Ich weiß allerdings genau, dass ich in dieser Rolle immer vom

guten Willen des jeweiligen Redaktionschefs abhängig bin. Wenn er

beschließt, dass er mich nicht mehr beschäftigen will, wird auch meine

Ansicht nicht mehr zu hören sein. Ich bin nämlich ziemlich allein auf weiter

Flur. Für mich ist ganz wichtig, dass noch viel mehr Farbige aus den

Vorstadtsiedlungen diese Rolle wahrnehmen können. Menschen wie ich

also, aber mit anderen Lebenswegen und anderen Meinungen. Ich hoffe,

dass diese Tür, die man mir geöffnet hat, auch für andere geöffnet wird.

Der Mund ist rot, das Make-up fertig. Rokhaya geht ins Fernsehstudio. Die Star-

Moderatorin stellt ihr die erste Frage.

300 Jahre gemeinsame Geschichte – Schwarze in Frankreich. Das waren

Gesichter Europas mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge

entnahmen wir dem Roman „Black Bazar“ von Alain Mabanckou. Gelesen hat

sie Jean Paul Baeck. Musik und Regie: Babette Michel, am Mikrofon war Katrin

Michaelsen.