12 Titel 13 12 Heldentenortimbre, Soulschmelz oder...

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Und jetzt Overdrive! Heldentenortimbre, Soulschmelz oder Flamencoheiserkeit? Alles für alle machbar und allein eine Frage der Technik – so der Grundsatz der «Complete Vocal Technique ». Die Chorzeit geht der Methode aus Dänemark auf den Grund I ch brauche etwas mehr Twang für den Mode Curbing in hel- ler Klangfarbe! » Wie bitte?, werden sich viele ChorsängerIn- nen verwundert fragen. Dass es bei dieser Anweisung ums Singen geht, erschließt sich allenfalls aus dem Begriff Klang- farbe. Wer allerdings mit der «Complete Vocal Technique » (CVT) vertraut ist, weiß genau, was hier gefragt ist: nämlich etwas mehr Schärfe für die Stimme, um einen so genannten halb-metallischen Klang zu erzeugen, und zwar in heller Klangfarbe. Die ungewohnte Terminologie ist Bestandteil einer Gesangstech- nik, die von der dänischen Sängerin und Stimmforscherin Cathrine Sadolin entwickelt wurde und vor allem im Pop und Jazz immer mehr Anhänger gewinnt. Wenn man den unverwechselbaren Sound skandi- navischer Formationen im Ohr hat, ist man akustisch schon auf dem richtigen Weg zur Complete Vocal Technique. Ein Aushängeschild von internationalem Format ist beispielsweise der vielfach preisgekrönte dänische Pop- und Jazzchor Vocal Line, dessen Gründer und Leiter Jens Johansen die Methode vor mehr als zwanzig Jahren von seiner damali- gen Stimmbildnerin Cathrine Sadolin erlernte. Von Friedegard Hürter Der dänische Popchor Vocal Line arbeitet schon lange mit «Complete Vocal Technique» Foto: Alexander Zuckrow Titel Titel Chorzeit 2~2014 12 13 Chorzeit 2~2014

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Und jetzt Overdrive!

Heldentenortimbre, Soulschmelz oder Flamencoheiserkeit? Alles für alle machbar und allein eine Frage der Technik –

so der Grundsatz der «Complete Vocal Technique ». Die Chorzeit geht der methode aus Dänemark auf den Grund

Ich brauche etwas mehr Twang für den Mode Curbing in hel-ler Klangfarbe! » Wie bitte?, werden sich viele ChorsängerIn-nen verwundert fragen. Dass es bei dieser Anweisung ums Singen geht, erschließt sich allenfalls aus dem Begriff Klang-farbe. Wer allerdings mit der «Complete Vocal Technique »

(CVT) vertraut ist, weiß genau, was hier gefragt ist: nämlich etwas mehr Schärfe für die Stimme, um einen so genannten halb-metallischen Klang zu erzeugen, und zwar in heller Klangfarbe.

Die ungewohnte Terminologie ist Bestandteil einer Gesangstech-nik, die von der dänischen Sängerin und Stimmforscherin Cathrine Sadolin entwickelt wurde und vor allem im Pop und Jazz immer mehr Anhänger gewinnt. Wenn man den unverwechselbaren Sound skandi-navischer Formationen im Ohr hat, ist man akustisch schon auf dem richtigen Weg zur Complete Vocal Technique. Ein Aushängeschild von internationalem Format ist beispielsweise der vielfach preisgekrönte dänische Pop- und Jazzchor Vocal Line, dessen Gründer und Leiter Jens Johansen die Methode vor mehr als zwanzig Jahren von seiner damali-gen Stimmbildnerin Cathrine Sadolin erlernte.

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Singen ist nicht schwer und die Stimme nicht so kompliziert, wie viele Menschen glauben. Davon ist die klassisch ausgebildete Sängerin, die auch als Folk- und Rocksängerin Konzerte gegeben hat, über-zeugt. Sie selbst sei nie ein Naturtalent gewesen, was das Singen angeht, sagt Cathrine Sadolin. Ihre ersten Gesangsstunden dienten dazu, asthmatisch bedingte Atmungsprobleme zu überwinden. Vielleicht war es gerade dieses Handicap, das sie herausforderte und zum Antrieb für ihre seit Jahrzehnten andauernde, intensive Erforschung der Stimme wurde.

Sie beschäftigte sich mit Anatomie wie auch Phy-siologie und begann mit Klängen zu experimentieren. Ihr Ziel war es, Techniken zu entwickeln, mit deren Hilfe sie alle nur denkbaren Klän-ge auf gesunde Art und Wei-se erzeugen konnte. Dabei halfen ihr die unterschiedli-chen Arten von Musik, die sie hörte, während sie jahrelang an ihren technischen Proble-men arbeitete.

Auffallend war, dass die Stimmen aus Blues, Pop, Rock, Gospel oder ethni-scher Musik häufig nicht so klangen, wie sich «gesunder » Gesang nach traditioneller westlicher Auffassung anhö-ren sollte. Wie aber konnte es dann sein, dass viele dieser SängerInnen – man denke nur an den Flamencogesang

– öfter und zum Teil über einen längeren Zeitraum auftreten konnten als ihre klassische ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen, ohne sich die Stimme zu ruinieren?

Es musste Gemeinsamkeiten in ihrer Technik geben, eine übergeordnete Struktur, die den unter-schiedlichen Klängen zugrunde liegt. Um herauszu-finden, wie diese erzeugt werden, analysierte die wiss-begierige Forscherin unterschiedliche Gesangsstile und trennte die Gesangstechniken von den mit ihnen verbundenen Klangidealen. Dass ausschließlich der klassische Gesang als stimmschonend akzeptiert wur-de – damit wollte sie sich nicht zufriedengeben.

Nach und nach wurde ein Schema sichtbar, mit dem Sadolin alle Klänge zwei übergeordneten Katego-rien zuweisen konnte. Diejenige für den härteren, rau-eren und direkteren Klang nannte sie «metallisch », die

andere «nicht-metallisch ». Nach einer weiteren Dif-ferenzierung ergaben sich vier Hauptkategorien oder Vocal-Modes: ein nicht-metallischer, weicher Klang, genannt «Neutral », ein halb-metallischer, verhaltener («Curbing », deutsch: zügeln, dämpfen, drosseln) sowie zwei voll-metallische, rufend («Overdrive », deutsch: übersteuern) und schreiend («Edge », deutsch: Kante).

Jeder Mensch verfügt über alle Modes und wendet sie beim Sprechen ganz natürlich an.

Als die Stimmforscherin genau diese vier Hauptka-tegorien in allen bekannten Gesangsstilen wiederfand, in den strahlenden Tönen eines Heldentenors ebenso wie im sanften Schmelz einer Soulsängerin, sah sie

sich darin bestätigt, dass die Vocal-Modes die eigentliche Grundlage der Stimmer-zeugung darstellen und alle Klänge und alle Gesangssti-le darauf basieren. Damit war die Complete Vocal Technique geboren.

Die vier grundlegenden Arten zu singen unterschei-den sich durch das Maß an «Metall », also durch das Obertonspektrum. Man kann sich, so erklärt Sadolin, die Modes als die vier Gänge eines Autos vorstellen. Der niedrigste Gang ist «Neu-tral ». Wenn man in einen höheren Gang schaltet, wird der Klang metallischer, und man kann eine höhere Laut-

stärke erzielen. Jeder Mode zeichnet sich durch einen bestimmten Charakter aus und hat spezielle Vorteile und Einschränkungen.

«Curbing » zum Beispiel ist mit seinem verhaltenen, etwas klagenden Charakter der dezenteste der metal-lischen Modes, weicher und nicht ganz so laut wie «Overdrive » und «Edge », aber im Vergleich mit «Neu-tral » immer noch kraftvoll. Im Alltag hört man ihn, wenn jemand jammert oder stöhnt. In mittlerer Laut-stärke gesungen, wird er in softer Soulmusik, im R&B oder im klassischen Gesang eingesetzt. Je höher man in «Curbing » singt, desto mehr steigt die Lautstärke, wäh-rend die Klangfarbe immer heller wird. Sehr nie drige und sehr hohe Lautstärken sind in «Curbing » jedoch nicht möglich.

Für alle Vocal-Modes gilt, dass der Klang heller oder dunkler gefärbt werden kann, je nachdem, wie

man den Vokaltrakt, also den gesamten Bereich ober-halb der Stimmlippen, einstellt. Hebt man den Kehl-kopf, wird der Vokaltrakt verkleinert und der Klang heller. Senkt man ihn, wird er vergrößert und der Klang dunkler.

Als Ausdrucksmittel oder um seinen persönlichen Stil zu unterstreichen, stehen einem Sänger zusätzlich spezielle Klänge zur Verfügung, die so genannten Ef-fekte, die nicht mit Melodie und Text verbunden sind. Sie bilden so etwas wie das künstlerische Sahnehäub-chen und müssen – in Abhängigkeit von zum Beispiel Anatomie, Physiologie und Fitness – für jede Person maßgeschneidert werden. Deshalb ist Vorsicht gebo-ten bei dem beherzten Versuch, Schreie und Vibrato zu erzeugen oder Hauch auf die Stimme zu legen.

Wie die Effekte auf gesunde Weise gelingen und welche Grundlagen dafür geschaffen sein müssen, hat Cathrine Sadolin anschaulich und übersichtlich in einem Lehrbuch zusammengefasst. 1998 erschien die «Komplette Gesangstechnik », wie die Complete Vocal Technique lange hieß, erstmals in Buchform. Seitdem sind nicht nur mehrere Auflagen in dänischer Sprache erschienen, sondern auch Ausgaben in sechs weiteren Sprachen. Zielgruppe sind neben Chorsängern und -leitern auch Anfänger sowie Berufssänger.

Zu Beginn mag die englischsprachige Terminologie, die eine internationale Kommunikation erleichtert, etwas gewöhnungsbedürftig sein. So tauchen neben den bereits erwähnten vier Vocal-Modes zum Beispiel Begriffe wie «Support » anstelle von Stütze auf oder «Screams » (Schreie), «Vocal Breaks » (Brüche) und «Grunt » (Stöhnen), die bestimmte Effekte bezeichnen.

Davon sollten sich Interessierte jedoch keinesfalls abschrecken lassen, denn Sadolin hat ihr Buch sehr klar strukturiert, und sie benutzt – abgesehen von ei-nigen etwas komplizierten stimmphysiologischen Er-klärungen – eine allgemein verständliche Sprache. Je nachdem, über welchen Wahrnehmungskanal man am besten lernt, wird man sich stärker auf anatomische und physiologische Erklärungen konzentrieren, auf Abbildungen oder die mehr als 400 Hörbeispiele, die als Download aus der Sound Library zur Verfügung stehen.

Noch anschaulicher in Darstellung und Vermitt-lung ist natürlich der Besuch eines Workshops zur Complete Vocal Technique. 2002 rief Sadolin eine drei-jährige Diplom-Ausbildung für Profis ins Leben, die die CVT intensiv studieren wollen. 2005 gründete sie in Kopenhagen das Complete Vocal Institute mit Filia-len in vielen Ländern. Im vergangenen Jahr haben sich die im deutschsprachigen Raum tätigen autorisierten

CVT-LehrerInnen zu einem Netzwerk zusammenge-schlossen, um die wachsende Nachfrage nach qualifi-ziertem Unterricht abzudecken.

Auch mit kompletten Chören kann an konkreten Wünschen gearbeitet werden. Dass der pädagogische Aspekt in der Ausbildung nicht zu kurz kam, macht sich in den Workshops wohltuend bemerkbar. Gut strukturiert und auf eine angenehme, lockere Weise dargestellt, vermitteln die Profis die Grundzüge der CVT-Technik theoretisch wie praktisch. Dass sie alles, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, auch selbst vormachen können, ist durchaus beeindruckend. Da ist die Neugierde geweckt, ja geradezu hellwach!

Die Autorin ist Musikwissenschaftlerin und freie Journalistin.

www.completevocalinstitute.com

www.cvtdeutschland.de

Cathrin Sadolin hat vor gut 20 Jahren die Methode entwickeltIn Blues, Rock oder

ethnischer Musik

klingen Stimmen nach

traditionell­westlicher

Auffassung nicht

« gesund » – warum

ruinieren sich Sänger

trotzdem nicht die

Stimme?

Cathrine Sadolin, Complete Vocal Technique Deutsche Ausgabe. Bosworth Musikverlag 2013 ISBN 978-87-996427-0-0 272 Seiten inkl. Download von über 400 Hörbei-spielen und Gesangsübungen € 57

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