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23 23 Vitamine Georg Löffler, Regina Brigelius-Flohé 23.1 Allgemeine Grundlagen und Pathobiochemie – 680 23.1.1 Definition und Einteilung – 680 23.1.2 Täglicher Bedarf an Vitaminen – 680 23.1.3 Pathobiochemie – 680 23.2 Fettlösliche Vitamine – 683 23.2.1 Vitamin A – 683 23.2.2 Vitamin D – 688 23.2.3 Vitamin E – 691 23.2.4 Vitamin K – 695 23.3 Wasserlösliche Vitamine – 697 23.3.1 Vitamin C – 697 23.3.2 Vitamin B1 – 699 23.3.3 Vitamin B2 – 700 23.3.4 Niacin und Niacinamid – 700 23.3.5 Vitamin B6 – 703 23.3.6 Pantothensäure – 704 23.3.7 Biotin – 705 23.3.8 Folsäure – 707 23.3.9 Vitamin B12 – 709 23.4 Vitaminähnliche Substanzen – 711 Literatur – 712

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23 Vitamine Georg Löffler, Regina Brigelius-Flohé

23.1 Allgemeine Grundlagen und Pathobiochemie – 68023.1.1 Definition und Einteilung – 68023.1.2 Täglicher Bedarf an Vitaminen – 68023.1.3 Pathobiochemie – 680

23.2 Fettlösliche Vitamine – 68323.2.1 Vitamin A – 68323.2.2 Vitamin D – 68823.2.3 Vitamin E – 69123.2.4 Vitamin K – 695

23.3 Wasserlösliche Vitamine – 69723.3.1 Vitamin C – 69723.3.2 Vitamin B1 – 69923.3.3 Vitamin B2 – 70023.3.4 Niacin und Niacinamid – 70023.3.5 Vitamin B6 – 70323.3.6 Pantothensäure – 70423.3.7 Biotin – 70523.3.8 Folsäure – 70723.3.9 Vitamin B12 – 709

23.4 Vitaminähnliche Substanzen – 711

Literatur – 712

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680 Kapitel 23 · Vitamine

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>> Einleitung

Bei den großen Seefahrten zu Beginn der Neuzeit wurde beobachtet, dass Menschen unter lang dauernder, einseitiger Ernäh-rung spezifische Krankheitsbilder entwickeln. Aber erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Entstehung dieser Krankheiten tierexperimentell durch das Verfüttern so genannter Mangeldiäten untersucht, was letztendlich zur Disziplin der modernen Ernährungswissenschaft führte. Versuchstiere starben trotz ausreichender Energiezufuhr, wenn sie mit einer nur aus hoch ge-reinigten Kohlenhydraten, Fetten, Proteinen und Elektrolyten bestehenden Diät ernährt wurden. Die Erkenntnis, dass das Feh-len einer bestimmten Komponente in der Nahrung krank machen kann, war insofern eine Revolution, als man hierfür bis zu diesem Zeitpunkt nur giftige oder verdorbene Nahrungsbestandteile verantwortlich machte. Die für das Überleben fehlenden Bestandteile wurden Vitamine genannt, weil man annahm, dass es sich ausschließlich um stickstoffhaltige Verbindungen hand-le. Später zeigte sich allerdings, dass viele Vitamine keinen Stickstoff enthalten, dass Vitamine untereinander keinerlei chemi-sche Verwandtschaft aufweisen und ihr Wirkungsspektrum alle Aspekte der Biochemie höherer Zellen umfasst.

male Versorgung ist jedoch in den meisten Fällen nicht ge-nau bekannt. Man begnügt sich daher mit Empfehlungen für die wünschenswerte Höhe der Zufuhr, bei denen4 die individuellen Schwankungen4 der veränderte Bedarf bei erhöhtem/erniedrigtem Ka-

lorienverbrauch4 Wachstum4 Schwangerschaft und Stillzeit

sowie ein angemessener Sicherheitszuschlag berücksichtigt sind (. Tabelle 23.2).

Wegen der üblich gewordenen Einnahme großer Men-gen an Vitaminen mit Nahrungsergänzungsmitteln, wur-den im Jahr 2000 für einige Vitamine eine obere tolerierba-re Zufuhr (tolerable upper intake level,) eingeführt, welche die Menge eines Vitamins angibt, die täglich aufgenommen werden kann, ohne dass es zu unerwünschten Nebenwir-kungen kommt (. Tabelle 23.2).

23.1.3 Pathobiochemie

! Hypo- und Hypervitaminosen führen zu unterschiedli-chen Krankheitsbildern.

Die mangelhafte Versorgung mit einem Vitamin führt in der leichten Form zur Hypovitaminose, in der schweren, voll ausgebildeten zur Avitaminose. Ein Vitaminmangel kann bedingt sein durch4 eine unzureichende Zufuhr4 gestörte intestinale Resorption oder4 genetische Defekte

Da viele Vitamine, besonders diejenigen aus der Gruppe der wasserlöslichen, Coenzyme der Enzyme von Haupt-stoffwechselwegen sind, ist die Symptomatik von Hypovi-taminosen häufig unspezifisch, da meist der gesamte Inter-mediärstoffwechsel gestört ist. Betroffen sind vor allem Gewebe mit hoher Stoffwechselleistung (z. B. Myocard, Gastrointestinaltrakt) oder hoher Zellteilungsrate (Blut bil-dende Gewebe des Knochenmarks, epitheliale Gewebe).

23.1 Allgemeine Grundlagen und Pathobiochemie

23.1.1 Definition und Einteilung

! Vitamine sind organische, in Mikromengen benötigte essentielle Nahrungsbestandteile.

Vitamine sind Verbindungen, die in geringen Konzentra-tionen für die Aufrechterhaltung fast aller physiologischen Funktionen benötigt werden. Pflanzen und Mikroorganis-men können diese Verbindungen selbst produzieren, höher organisierte Lebensformen haben im Zuge der Evolution diese Fähigkeit eingebüßt. Ihnen fehlen die für die Biosyn-these von Vitaminen benötigten Enzyme, sodass für sie Vitamine zu essentiellen Nahrungsbestandteilen gewor-den sind [vgl. essentielle Aminosäuren (7 Kap. 13.4), essen-tielle Fettsäuren (7 Kap. 12.4.1)].

Dem mengenmäßig geringen täglichen Bedarf an Vit-aminen entspricht ihre katalytische bzw. regulatorische Funktion. Vitamine4 wirken als Coenzyme oder4 Hormone4 sind Wasserstoff- Donoren bzw. Akzeptoren4 sind an Redoxprozessen beteiligt 4 sind an der Modifizierung und damit der Regulation

der Aktivität von Proteinen beteiligt4 sind Liganden für Transkriptionsfaktoren

Nach ihren chemischen Eigenschaften werden die Vitamine in wasser- bzw. fettlösliche Vitamine eingeteilt (. Tabel-le 23.1). Diese Einteilung hat aber keinerlei Bezug zur bio-chemischen Funktion.

23.1.2 Täglicher Bedarf an Vitaminen

! Der tatsächliche Vitaminbedarf hängt von individuellen Gegebenheiten ab.

Exakte Zahlen für den täglichen Minimalbedarf wurden an Versuchspersonen für einige Vitamine ermittelt. Die opti-

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23.1 · Allgemeine Grundlagen und Pathobiochemie23681

Ein Vitaminmangel kann – besonders auch im präkli-nischen Stadium – durch die Bestimmung einer vitaminab-hängigen biochemischen Funktion erfasst werden: So z. B. die Ausscheidung eines Metaboliten im Urin, wenn das Vi-tamin für dessen enzymatische Umsetzung fehlt. Durch orale Gabe der umzusetzenden Substanz in Belastungstests kann die Ausscheidung des Metaboliten noch provoziert werden. Weiterhin ist die Aktivitätsminderung bestimmter Enzyme in Erythrozyten nachweisbar, wenn die aus Vita-minen gebildeten Coenzyme nicht in ausreichender Kon-zentration vorliegen (. Tabelle 23.3). Zu den durch Vita-minmangel bedingten Störungen mit unspezifischer Sym-ptomatik kommen mit fortschreitender Dauer des Mangels morphologische Veränderungen an den verschiedensten Organen. Nach dem Aufbrauchen der Speicher treten Stö-rungen des Zellstoffwechsels auf, die graduell abgestuft sein können. Danach folgen klinische Symptome und anato-mische Veränderungen (. Abb. 23.1). Die Erkennung und Behandlung eines Vitaminmangels ist von außerordent-licher praktischer Bedeutung. Zurzeit sind zwar die Bewoh-ner der sog. westlichen Länder durch ein ausreichendes und vielseitiges Nahrungsangebot sowie von Vitaminpräpara-ten vor Hypovitaminosen weitgehend geschützt. Wegen der oft einseitigen Ernährung sind ältere Menschen eher von Vitaminmangelsituationen bedroht. Auch während der Gravidität und Stillperiode, bei einseitigen Ernährungs-formen oder Abmagerungskuren kann es zu Vitaminman-

. Tabelle 23.1. Einteilung der Vitamine nach ihrer Löslichkeit

Fettlösliche Vitamine

Buchstabe Name Biologisch aktive Form Biochemische Funktion

A Retinol Retinoat bzw. Retinal Photorezeption, Stabilisierung von Membranen,Glycoproteinbiosynthese, Genexpression, Kontrolle von Wachstum und Differenzierung

D Cholecalciferol 1,25-Dihydroxycholecalciferol Regulation der extrazellulären Calciumkonzentration

E α-Tocopherol Tocopherol Schutz von Membranlipiden vor (Per-)Oxidation, Rolle in der Reproduktion und bei der neuromuskulären Signalüber-tragung

K Phyllochinon Difarnesylnaphthochinon Carboxylierung von Glutamylresten in Proteinen (Coenzym)

Wasserlösliche Vitamine

Buchstabe Name Biologisch aktive Form Biochemische Funktion

C Ascorbinsäure Ascorbinsäure Redoxsystem, Hydroxylierungen

B1 Thiamin Thiaminpyrophosphat Dehydrierende Decarboxylierungen (Coenzym)

B2 Riboflavin FMN, FAD Wasserstoffübertragungen (Coenzym)

Niacin(amid) NAD+, NADP+ Wasserstoffübertragungen (Coenzym)

B6 Pyridoxin Pyridoxalphosphat Transaminierungen, Decarboxylierungen,Transsulfurierung (Coenzym), Aldolspaltungen

Pantothensäure CoA-SH, Phosphopantethein Acylübertragungen (Coenzym)

Biotin Biocytin (Biotin an Carboxylase gebunden)

Carboxylierungen (Coenzym)

Folsäure Tetrahydrofolsäure 1-Kohlenstoffatomübertragungen (Coenzym)

B12 Cobalamin 5 -DesoxyadenosylcobalaminMethylcobalamin

C-C-Umlagerungen (Coenzym)1-Kohlenstoffatomübertragungen (Coenzym)

. Tabelle 23.2. Referenzwerte für die tägliche Vitaminzufuhr für gesunde Erwachsene (linke Spalte) und obere tolerierbare Zufuhr (rechte Spalte) jeweils in mg.

Fettlösliche Vitamine

Vitamin A 0,8–1,1a, D/0,7–0,9F 3F

Vitamin D 0,005b 0,05F

Vitamin E 12–15 1000f, F

Vitamin K 0,06–0,08D/0,09–0,12F

Wasserlösliche Vitamine

B1, Thiamin 1,0–1,3

B2, Riboflavin 1,2–1,50/1,0–1,1F

Niacin 13–17

B6, Pyridoxin 1,2–1,6 100F

Pantothensäure 6D/5F

Biotin 0,03–0,06D/0,03F

Folsäure 0,4d 1F

B12, Cobalamin 0,003D/0,0024F

Vitamin C, Ascorbinsäure 100e 2000F

a mg Retinol-Äquivalenteb ab 65 Jahre bis zu 0,015 mg/Tagd Frauen mit Kinderwunsch: zusätzlich 0,4 mge Raucher: 150 mgf von der europäischen Kommission wurde hier ein Wert von 300

eingesetztD Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für ErnährungF Empfehlungen des »Food and Nutrition Board« der USA

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682 Kapitel 23 · Vitamine

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gel kommen. Infolge der weltweit zunehmenden Nahrungs-mittelknappheit ist anzunehmen, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Hypovitaminosen in erschreckendem Umfang zunehmen werden und entsprechend ärztlicher Behand-lung bedürfen.

Während überschüssige Mengen wasserlöslicher Vitami-ne mit dem Urin ausgeschieden werden, trifft dies nicht für alle fettlöslichen Vitamine zu. So können Hypervitaminosen nach hoher Gabe Vitamin A oder D-Supplemente auftreten. Abgesehen von den Beobachtungen, dass der Genuss größe-rer Mengen Eisbärenleber (bei Eskimos) oder die bevorzugte Ernährung mit Karottensäften zu einer Vitamin A-Hypervit-aminose führen kann, sind Hypervitaminosen durch einsei-tige Ernährungsformen nicht bekannt geworden.

! Störungen im Vitaminstoffwechsel gehen häufig mit der Symptomatik eines Vitaminmangels einher.

Viele Vitamine fungieren als Coenzyme bei enzymatischen Reaktionen . Tabelle 23.1. . Abbildung 23.2 fasst dabei die einzelnen Schritte zusammen, die von der Aufnahme eines Vitamins in den Organismus bis zu seinem Einbau in ein Apoenzym durchlaufen werden müssen. Vitamine werden in meist spezifischen Prozessen intestinal resorbiert. Ihr Transport über das Blut zu den Zielzellen erfolgt häufig in Bindung an spezifische Transportproteine. Nach Auf-nahme in die Zielzellen erfolgt die Umwandlung des Vita-mins zum entsprechenden Coenzym, das an das Apoen-zym assoziiert, und das fertige Holoenzym entsteht. Wie klinisch-biochemische Untersuchungen gezeigt haben, las-sen sich eine Reihe von Erkrankungen mit der Symptoma-tik eines Vitaminmangels auf Defekte im Vitaminstoff-wechsel zurückführen, sind also nicht durch Fehlernährung verursacht. Solche Defekte beruhen häufig auf Mutationen in Genen für Proteine bzw. Enzyme des Stoffwechsels des

betreffenden Vitamins. Sie sind bisher für die Vitamine Bio-tin, Cobalamin, Tocopherol, Folsäure, Pyridoxin, Ribofla-vin und Thiamin beschrieben worden und können jeden individuellen Schritt im Vitaminstoffwechsel be treffen.

Es handelt sich um relativ seltene Erkrankungen, deren Symptomatik durch Zufuhr supra-nutritiver Mengen des betroffenen Vitamins behoben werden kann.

! Antivitamine sind Derivate von Vitaminen, die deren biochemischen Wirkungsmechanismus hemmen.

Bereits geringfügige strukturelle Änderungen der für die Wirkung eines Vitamins verantwortlichen Struktur können zum Verlust der biologischen Aktivität führen. Wenn der-artige Verbindungen das eigentliche Vitamin wegen ihrer strukturellen Ähnlichkeit von seinem Wirkort, meist einem Enzym, verdrängen, spricht man von Antivitaminen. Die-se werden erfolgreich in der klinischen Medizin verwendet, z. B. als Folsäureantagonisten bei der Behandlung von Tu-morerkrankungen.

. Abb. 23.1. Zeitlicher Verlauf der durch einen Vitaminmangel verursachten Störungen am Beispiel des Thiamins

. Abb. 23.2. Überblick über die einzelnen Schritte des Vitamin-stoffwechsels

. Tabelle 23.3. Biochemische Tests zur Erfassung von Vitamin-mangelzuständen

Vitamin Beobachtung bei Mangelzuständen

Phyllochinone Verlängerung der Gerinnungszeit

L-Ascorbinsäure Ausscheidung von p-Hydroxyphenylpyruvat im Urin nach Belastung mit Tyrosin

Thiamin Verminderung der Aktivität der Transketolase in den Erythrozyten

Riboflavin Vermehrte Ausscheidung von Kynurenin und 3-Hydroxykynurenin im Urin nach Belastung mit Tryptophan

Pyridoxin Verringerte Aktivität von Transaminasen in den Erythrozyten; vermehrte Ausscheidung von Xanthurensäure, Hydroxykynurenin und Kynurensäure im Urin nach Belastung mit Tryptophan

Folsäure Vermehrte Ausscheidung von N-Formimino-glutamat im Urin nach Belastung mit Histidin

Cobalamin Ausscheidung von Methylmalonsäure im Urin

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In Kürze

Vitamine sind essentielle Nahrungsbestandteile, die dem Organismus täglich in Mikromengen zugeführt werden müssen und ohne die der normale Ablauf der Stoffwech-selprozesse nicht möglich ist. Ihrer chemischen Natur nach kann man sie in fett- bzw. wasserlösliche Vitamine einteilen. Vitaminmangelzustände (Hypovitaminosen

23.2 Fettlösliche Vitamine

23.2.1 Vitamin A

! Retinolderivate sind für den Sehvorgang, und für die Re -gulation von Zellwachstum und -differenzierung wichtig.

Chemische Struktur. Die Bezeichnung Vitamin A umfasst alle Verbindungen, die qualitativ die gleiche biologische

bzw. Avitaminosen) führen zu oft schweren Krankheits-bildern mit meist unspezifischer Symptomatik. Hyper vita-minosen sind lediglich für fettlösliche Vitamine beschrie-ben worden und werden in aller Regel nicht durch Fehler-nährung, sondern durch zu hohe Supple mentierung aus- gelöst.

Aktivität wie Retinol besitzen. Die Bezeichnung Retinoide schließt alle natürlichen Formen von Vitamin A und zu-sätzlich synthetische Analoga ein. Vitamin A besteht aus 4 Isopreneinheiten (20 C Atomen), von denen die Atome 1–6 zu einem Iononring geschlossen sind. Es hat 5 Doppel-bindungen und eine polare Gruppe am azyklischen Ende, die ein Alkohol (Retinol), ein Aldehyd (Retinal) oder eine Säure (Retinsäure) sein kann (. Abb. 23.3). Als Pro-Vita-min A werden Carotinoide bezeichnet, die 8 Isoprenein-

. Abb. 23.3. Vom β-Carotin abgeleite-te Vitamin A-Derivate. -Carotin wird durch die 15,15'-Dioxygenase zu all-trans-Retinal gespalten, welches zu 11-cis-Re ti nal isomerisieren kann. Durch Oxida-tion der Aldehydgruppe entsteht aus all-trans-Retinal das all-trans-Retinoat, das zu 9-cis-Retinoat isomerisiert werden kann. Durch Reduktion der Aldehydgruppe des all-trans-Retinals kommt man zum all-trans-Retinol, die Reduktionsäquivalente werden vom NADPH/H+ geliefert. Oxida-tion von Retinal liefert in einer nicht rever-siblen Reaktion Retinsäure bzw. Retinoat. REH = Retinylesterase; ARAT = Acyl-CoA: Retinol-Acyltransferase; LRAT = Lecithin:Retinol-Acyltransferase

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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684 Kapitel 23 · Vitamine

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heiten aufweisen und von denen β-Carotin die ergiebigste Vitamin A-Vorstufe ist.

Vorkommen. Tierische Quellen – wie Leber, Milch, Eier oder Fisch – enthalten Retinoide, die als langkettige Fett-säureester von Retinol, bevorzugt als Retinylpalmitat, vor-liegen. Pflanzliche Quellen sind vor allem gelbe Gemüse und Früchte (z. B. Karotten und gelbe Pfirsiche) sowie die Blätter der grünen Gemüse (Spinat, Fenchel, Grünkohl), die Carotinoide, also Provitamin A enthalten.

Resorption und Verteilung. Retinylester werden im Darmlumen durch Pankreaslipasen oder Esterasen, an der Mukosamembran durch eine Retinylesterase (REH) gespalten. Für die intestinale Resorption ist eine Mizellen-bildung nötig, für die Gallensäuren einen unerlässlichen Cofaktor darstellen. Die Resorption erfolgt analog der Fettresorption (7 Kap. 32.2.2). Für den intrazellulären Trans-port wird Vitamin A an Rezeptoren gebunden, die in . Ta-belle 23.4 zusammengefasst sind. Retinol- und Retinoat-Bindeproteine gehören zu einer Gruppe von Lipid-Trans-portproteinen, die als Lipocaline bezeichnet werden.

In den Mukosazellen des Intestinaltrakts (Enterozyten) wird Retinol wieder verestert. Die beteiligten Enzyme sind die Lecithin: Retinol Acyltransferase (LRAT) oder die Acyl-CoA: Retinol Acyltransferase (ARAT). Die LRAT verestert nur an CRBP-II (. Tab. 23.4) gebundenes Retinol, während die ARAT auch freies Retinol akzeptiert. Dies stellt sicher, dass auch bei hohen Konzentrationen, wenn die zellulären Bindeproteine gesättigt sind, kein freies Retinol vorliegt.

-Carotin wird zu Retinal gespalten, eine Reaktion, die von der 15,15 -Dioxygenase katalysiert wird. (. Abb. 23.3). Das entstehende Retinal wird zu Retinol reduziert und ver-estert. Retinylester werden in Chylomikronen eingebaut und in die Lymphe sezerniert. Daneben besteht die Mög-lichkeit des Transports von freiem Retinol über die V. por-tae zur Leber.

An der Plasmamembran werden Retinylester wieder gespalten und freigesetztes Retinol an CRBP-I (. Tab. 23.4) gebunden. In dieser Form wird Retinol zu den metabolisie-renden Enzymen transportiert (. Abb. 23.3) oder zur Spei-cherung mit Palmitat verestert. Die Speicherung in der Leber erfolgt in den sog. Stern- oder Ito-Zellen (7 Kap. 33.5). Die in diesen Zellen gespeicherte Vitamin A-Menge ist be-trächtlich und sichert den Bedarf für mehrere Monate. Zur Verteilung in periphere Zellen wird Retinol an das Retinol-bindende Protein (RBP) gebunden und ins Blut abgegeben. Da RBP nur 21,2 kDa groß ist und deshalb über die Niere ausgeschieden würde, wird der RBP-Retinol Komplex im Blut an Transthyretin assoziiert. Leber- und periphere Ziel-zellen haben einen Rezeptor, der RBP erkennt und RBP-gebundenes Retinol aufnimmt.

Metabolismus. In den Zellen wird Retinol in die benötigte funktionelle Form umgewandelt, wobei die Oxidation von Retinal zu Retinsäure irreversibel ist (. Abb. 23.3). Retinal-dehyd und Retinsäure werden isomerisiert, Retinol und Retinsäure hydroxyliert oder zum Zweck der Ausscheidung glucuronidiert.

Funktion. Die verschiedenen Formen von Vitamin A haben spezifische biologische Funktionen:4 verestertes Retinol dient als Speicherform von Vita-

min A4 Retinal ist für den Rhodopsinzyklus im Auge essentiell4 Retinsäure steuert über die Regulation von Genaktivi-

täten Wachstum und Entwicklung von Zellen

Molekulare Vorgänge bei der Photorezeption. Vitamin A ist in Form des 11-cis- bzw. all-trans-Retinals Bestandteil des Sehpigments Rhodopsin in den Stäbchen der Retina. Rho-dopsin (Molekulargewicht ca. 27 kD) besteht aus dem Trans-membranprotein Opsin und Retinal, das covalent an die -Aminogruppe eines Lysylrests des Opsins gebunden ist.

. Tabelle 23.4. Extra- und intrazelluläre Retinolbindeproteine

Name Natürlicher Ligand Wirkort Funktion

Retinol-BindeproteinRBP

all-trans-Retinol Blut Extrazellulärer Transport von Retinol

Zelluläres Retinol-Bin-deprotein, Typ 1CRBP-I

all-trans-Retinol In Zellen Vitamin A-emp-findlicher Gewebe

intrazellulärer Transport von Retinol zu den veresternden En-zymen (LRAT)

Zelluläres Retinol-Bin-deprotein, Typ IICRBP-II

all-trans-Retinolall-trans-Retinal

Intestinale Mukosazellen Intrazellulärer Transport von Retinol zu den metabolisie-renden Enzymen. Schutz vor Oxidation. Schutz der Zelle vor freiem Retinol, das die Struktur von Membranen stören kann

Zelluläres Retinsäure-Bindeprotein, Typ ICRABP-I

all-trans-Retinoat In Zellen Vitamin A-emp-findlicher Gewebe

Intrazellulärer Transport von Retinsäure in den Zellkern

Zelluläres Retinsäure-Bindeprotein, Typ IICRABP-II

all-trans-Retinoat Hautzellen Intrazellulärer Transport von Retinsäure in den Zellkern

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Opsin gehört zu den heptahelicalen G-Protein-gekop-pelten Rezeptoren für chemische Signalstoffe (7 Kap. 25.6). Der Einbau des Pigments Retinal wandelt also einen Rezep-tor für chemische Signalstoffe einen solchen für Lichtquan-ten um.

Die in den für das Farbsehen verantwortlichen Zapfen (7 u.) vorkommenden lichtempfindlichen Pigmente mit Absorptionsmaxima von4 420 nm (Blau-empfindlich)4 530 nm (Rot-empfindlich) und4 560 nm (Grün-empfindlich)

sind grundsätzlich gleichartig aufgebaut.

Nur minimale Unterschiede in der Primärstruktur des Op-sins führen zu drastischen Veränderungen der jeweiligen Absorptionsmaxima.

Diese Befunde haben zur Aufklärung der molekula-ren Grundlagen der Rot-Grün-Blindheit geführt. Durch Southern-Blot-Hybridisierung der genomischen DNA von Patienten mit angeborener Rot-Grün-Blindheit mit den klonierten Genen für die Rot- bzw. Grün-empfindlichen Photopigmente wurde nachgewiesen, dass die Erkrankung Folge einer Genkonversion bzw. nichtreziproken Rekombi-nation ist. Dies führt entweder zum völligen Verlust oder zu

Strukturdefekten im Bereich des für das rotempfindliche bzw. grünempfindliche Pigment codierenden Gens.

Stäbchen und Zapfen, die Sehzellen der Wirbeltiere, sind morphologisch und funktionell in mehrere Abschnitte gegliedert (. Abb. 23.4). Das Außensegment eines Stäb-chens ist mit flachen Membransäcken oder -scheiben ange-füllt, die wie Münzen einer Geldrolle innerhalb der Hüll-membran gestapelt sind. Sie enthalten ebenso wie die Hüll-membran das Rhodopsin. Ein Stäbchenaußensegment besteht z. B. bei der Ratte aus etwa 1000 derartigen Mem-bransäckchen. Im Innensegment des Stäbchens befinden sich in großer Zahl Mitochondrien und endoplasmatisches

. Abb. 23.4. Schematisierte Darstellung von Stäbchen und Zapfen der Retina. (Einzelheiten 7 Text). Modifiziert nach Schmidt, Lang, Thews (2005)

. Abb. 23.5. Rhodopsin-Spaltung und Zyklus des Retinals bei der Belichtung der Photorezep-tormembran. Die cis- bzw. trans-Doppelbindun-gen sind gelb unterlegt (Einzelheiten 7 Text)

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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Retikulum, an dem u.a. die Biosynthese des Opsins stattfin-det. Darauf folgen der Abschnitt mit dem Zellkern und ein längerer Fortsatz, der mit der nachfolgenden Nervenzelle eine Synapse bildet. Über diese Schaltstelle wird die Erre-gung aus der Lichtsinneszelle weitergeleitet.

Die Zapfen unterscheiden sich von den Stäbchen durch ihre konische Form und den abweichenden Aufbau des Membransystems im Außensegment. Die flachen Einfal-tungen der Photorezeptormembran werden nicht als flache Säckchen abgeschnürt, sondern behalten ihre Verbindung zur Außenmembran. Statt Rhodopsin enthalten Zapfen die oben geschilderten farbempfindlichen Photopigmente.

Im Dunkeln, sind in den Plasmamembranen der Stäb-chen und Zapfen Natriumkanäle geöffnet, was eine Depo-larisierung dieser Zellen bewirkt. Dies hat die Öffnung von spannungsregulierten Calciumkanälen zur Folge. Die nach Calciumeinstrom erhöhte intrazelluläre Calciumkonzen-tration löst die Freisetzung des Transmitters Glutamat an der Synapse zwischen der Photorezeptorzelle und den affe-renten Neuronen, den Bipolarzellen der Retina, aus. Diese verfügen über unterschiedliche Glutamatrezeptoren, die das »Dunkelsignal« weitergeben.

Bei Belichtung der Photorezeptormembran kommt es zu einer photoinduzierten Stereoisomerisierung der 11-cis- zur all-trans-Form des Retinals, und zur schrittweisen Konformationsänderungen des Opsins, bis schließlich Re-tinal vom Opsin abgespalten wird (. Abb. 23.5). Eine der Zwischenverbindungen wird als Metarhodopsin II (aktives Rhodopsin, R*) bezeichnet und ist für die in . Abb. 23.6 dargestellte Signalübermittlung verantwortlich. Metarhod-opsin II bindet an Transducin, ein oligomeres Membran-protein, das zur Gruppe der heterotrimeren G-Proteine gehört (7 Kap. 25.6.1). Es löst den Austausch des an die

-Untereinheit von Transducin gebundenen GDP durch GTP aus. Die GTP-beladene -Untereinheit wird freige-setzt und übernimmt die inhibitorische -Untereinheit einer cGMP-spaltenden Phosphodiesterase (PDE). Diese wird dadurch aktiviert, was zu einem außerordentlich raschen Abfall des cGMP-Spiegels im Stäbchen bzw. Zapfen führt.

Da cGMP die für die Depolarisierung notwendigen Ionenkanäle offen hält, schließen sich diese, und es kommt zu einer mit einem Abfall der intrazellulären Calciumkon-zentration einhergehenden Hyperpolarisierung der Seh-zelle. Die Glutamatfreisetzung an der Synapse wird be endet, was als »Lichtsignal« dient.

Für die erforderliche schnelle Löschung des Lichtsi-gnals sind v.a. zwei Vorgänge verantwortlich:4 GTP wird an der -Untereinheit des Transducins durch

dessen intrinsische GTPase-Aktivität hydrolysiert. Die -Untereinheit erlangt so eine Konformation, in der sie

die Transducin / -Untereinheiten erneut binden kann. Die inhibitorischen -Untereinheiten der cGMP-spal-tenden PDE assoziieren anschließend an das Enzym und inaktivieren es. Die Guanylatzyklase wird aktiviert, die cGMP-Spiegel steigen an, die Ionenkanäle werden

geöffnet, die intrazelluläre Calciumkonzentration steigt an und das »Dunkelsignal« ist wieder aktiv

4 Auch am Opsin finden Abschaltreaktionen statt. Wäh-rend der Lichtreaktion kommt es mit der Abnahme der Ca2+-Konzentration zur Aktivierung einer Rhodopsin-kinase und damit zur Phosphorylierung des Metarho-dopsins II, die mit Dauer und Stärke des Lichtreizes zunimmt. Das phosphorylierte Metarhodopsin II bin-det Arrestin (7 Kap. 6.2.5), was eine erneute Aktivie-rung von Transducin verhindert. Die anschließende Dephosphorylierung führt zu Dissoziation von Arres-tin (Dunkeladaptation), wonach Metarhodopsin II in Opsin und all-trans-Retinal zerfällt. Anschließend wird Rhodopsin regeneriert

Dieser Vorgang erfolgt durch die enzymatische Isomerisie-rung des all-trans- zum 11-cis-Retinal mit anschließender Assoziation an das Opsin. Bei sehr starker Belichtung kommt es zusätzlich zur Reduktion von Retinal zu Retinol, das wieder oxidiert werden muss. Unter normalen Umstän-den sind in der Retina die Geschwindigkeiten der Rho-dopsinspaltung und -regeneration gleich groß. Bei Retinol-mangel ist jedoch die Regeneration des Rhodopsins ver-langsamt, was mit Nachtblindheit assoziiert ist.

. Abb. 23.6. Reaktionskaskaden bei der Reizübertragung in photosensiblen Zellen. (Einzelheiten 7 Text)

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Regulation der Genexpression. Eine Vielzahl essentieller biologischer Vorgänge ist Vitamin A-abhängig. Hier sind vor allem zu nennen:4 Reproduktion4 Embryogenese4 Morphogenese4 Wachstum und Differenzierung von Zellen

Die Notwendigkeit von Vitamin A für die Differenzierung von Zellen ist Grund für seine Funktion in der Immunab-wehr sowie in der Aufrechterhaltung der Integrität epithe-lialer Barrieren im Gastrointestinaltrakt, in der Lunge und im Genitaltrakt. Eine besondere Rolle spielt Vitamin A in der Reproduktion. Retinsäure, in geringem Maß auch Re-tinol, ist unerlässlich für eine ungestörte Implantation des Embryos bis zur Geburt lebensfähiger Nachkommen. Spe-ziell ist die Entwicklung von Herz, Lunge, Skelett, Gefäß- und Nervensystem Retinsäure-abhängig. Die Ausbildung von Extremitäten und die Polarisierung der Körperachse sind abhängig von Konzentrationsgradienten von Retin-säure und/oder seiner metabolisierenden Enzyme. Retin-säure sorgt auch für eine ungestörte Spermatogenese, was die Essentialität von Vitamin A für die Reproduktion gene-rell deutlich macht.

Retinsäure übt ihre genregulatorischen Funktionen über Liganden-aktivierte nukleäre Rezeptoren aus. Nuk-leäre Rezeptoren, zu denen auch die Steroidhormonrezep-toren (7 Kap. 25.3.1) gehören, besitzen charakteristische Domänen: eine variable N-terminale Region, eine konser-vierte DNA-bindende Domäne (DBD) mit 2 Zinkfingern (7 Kap. 8.5.2) und eine Liganden-Bindedomäne (LBD). An beiden Enden befinden sich Regionen, die für die Trans-kriptionsaktivierung erforderlich sind, AF-1 am N-Termi-nus und AF-2 am C-Terminus. Während sich AF-1 in einer hypervariablen Region befindet und unabhängig von einer Ligandenbindung agieren kann, ist AF-2 am C-Terminus konserviert und Liganden-abhängig (. Abb. 23.7). Der Ligand stabilisiert eine Konformation des Rezeptors, die in der Lage ist, mit Co-Aktivatoren zu interagieren. Dies geschieht über ein Leu-X-X-Leu-Leu-Motiv in der Se-quenz von AF-2. In dieser aktiven Konformation wird die Bindung eines Co-Repressors verhindert. Der Liganden-beladene nukleäre Rezeptor bildet Dimere (7 unten) und bindet an bestimmte Sequenzen in den Promotoren der regulierten Gene, die als Hormon-responsive Elemente bezeichnet werden. Ihre Sequenz (Consensus-Sequenz) kommt häufig in einer hintereinander geschalteten Wie-derholung, DR (direct repeat) vor, die je nach Promotor und Rezeptortyp durch 1–5 Basenpaare getrennt ist (. Abb. 23.8).

Die Retinsäurerezeptoren lassen sich in zwei Gruppen mit jeweils verschiedenen Isoformen einteilen:4 Der natürliche Ligand für die klassischen Retinsäure-

Rezeptoren RAR (retinoic acid receptor) mit den Iso-formen , und ist die all-trans-Retinsäure

4 Der Retinsäure-X-Rezeptor (RXR), welcher ebenfalls in drei Isoformen , und vorkommt, wird durch 9-cis-Retinsäure aktiviert

Während Steroidhormon-Rezeptoren als Homodimere an die DNA binden, binden nicht-steroidale Rezeptoren als Homo- oder Heterodimere an ihre Erkennungssequenz. Der häufigste Partner für nukleäre Rezeptoren ist RXR. In-sofern kann RXR selbst als mit 9-cis-Retinsäure beladenes Homodimer die Transkription aktivieren oder als Hetero-dimerisierungspartner für RAR, für Rezeptoren für Schild-drüsenhormone (TR, 7 Kap. 27.2.2; 27.2.6), Vitamin D (VDR, 7 Kap. 23.2.2) oder PPARs (7 Kap. 21.5.3) dienen. Über 500 Gene werden direkt oder indirekt von Retinsäure reguliert. Zu den direkt regulierten Genen gehören solche, die Retinoide selbst transportieren, metabolisieren oder für die Retinoidfunktion nötig sind oder Homeobox Gene. Beispiele sind:4 die Retinolbindeproteine (7 Kap. 23.2.1)4 Alkoholdehydrogenase 1C4 -Crystallin (beteiligt an der Photorezeption)4 Dopamin D2 Rezeptor

. Abb. 23.8. Mit RXR homo- oder heterodimerisierende nukleäre Rezeptoren und ihre DNA-Erkennungssequenzen. Die DNA-Erken-nungssequenzen sind oft direkte Wiederholungen von z. B. AGGTCA. Sie sind je nach Promotor bzw. nukleärem Rezeptor durch ein bis fünf Nucleotide getrennt. Homo- bzw. Heterodimerisierungspartner für RXR (RXR = 9-cis-Retinsäure-X-Rezeptor) sind RXR selbst, RAR (RAR = all-trans-Retinsäurerezeptor), VDR (VDR = Vitamin D-Rezeptor), TR (TR = T3-Rezeptor), PPAR (PPAR = Peroxisomen Proliferator-aktivier-ter Rezeptor (peroxisome proliferator-activated receptor)) oder CRABPI (CRABPI = zelluläres Retinsäure-bindendes Protein I (. Tabelle 23.4)). (Weitere Einzelheiten 7 Text)

. Abb. 23.7. Domänenaufbau von nukleären Rezeptoren. AF1 = Liganden-unabhängige Transaktivierungsdomäne; DBD = DNA-Bindedomäne mit 2 Zinkfingern; hinge = Scharnier- Domäne; LBD = Li-gandenbindedomäne AF-2 = Liganden-abhängige Transaktivierungs-domäne; P = für die Erkennung des responsiven Elements nötige P-Box; D = für die Dimerisierung benötigte D-Box; CTE = für eine Monomer-Bindung benötigte C-terminale Extension. Die Zinkatome in den Zinkfingern der DBD sind an je 4 Cysteinen koordiniert

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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688 Kapitel 23 · Vitamine

23

Bei indirekt regulierten Genen ist u.a. die Regulation der RNA-Stabilität oder die Aktivierung anderer nucleärer Re-zeptoren Vitamin A-abhängig. Beispiele sind4 Apolipoprotein AI (7 Kap. 18.5.1) 4 die PEP-Carboxykinase (7 Kap. 11.3)4 sowie verschiede Keratine (7 Kap. 24.8.2)

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Das klassische Früh-Symptom eines Vitamin A-Mangels ist die Nachtblindheit (Hemeralopie). Es handelt sich um eine mehr oder weniger ausgeprägte Störung der Rhodopsinregenerierung.

Ist der Retinolmangel so weit fortgeschritten, dass es zu einer Abnahme der Plasmakonzentration kommt, macht sich die fehlende Wirkung von Retinol auf die Epithelien bemerkbar. Normales sekretorisches Epithel wird durch ein trockenes verhorntes Epithel ersetzt, das besonders leicht von Mikroorganismen angegriffen wird. Die Xerophthal-mie, eine zur Blindheit führende Verhornung der Cornea, ist ein spätes Symptom des Retinolmangels. Sie ist beson-ders bei Kindern in Entwicklungsländern eine der Haupt-ursachen der Blindheit.Bei Jugendlichen treten zusätzliche Störungen des Wachstums und der Knochenbildung auf.

Hypervitaminose: Hypervitaminosen wurden nach Aufnahme hoher Dosen synthetischer Vitamin A-Präparate bei Kindern und Heranwachsenden beobachtet. Haupt-symptome sind Schmerzattacken, Verdickung des Periosts der langen Knochen sowie Verlust der Haare (Alopezie). Nach Vitamin A-Überdosierung während der Schwanger-schaft sind auch teratogene Wirkungen bekannt geworden.

23.2.2 Vitamin D

! Vitamin D ist an der Regulation der Calciumhomöosta-se und der Expression von Genen beteiligt.

Chemische Struktur. Die D-Vitamine oder Calciferole ge-hören zur Gruppe der Steroide (7 Kap. 2.2.1, 2.2.5). Die bei-den wichtigsten Calciferole sind:4 Vitamin D2 (Ergocalciferol) und4 Vitamin D3 (Cholecalciferol)

Sie entstehen aus ihren Provitaminen Ergosterol bzw. 7-Dehydrocholesterin durch eine Spaltung des Rings B des Steranskeletts, die durch die UV-Strahlung des Sonnen-lichts katalysiert wird (. Abb. 23.9). Ergocalciferol (nicht gezeigt) unterscheidet sich vom Cholecalciferol lediglich durch den Besitz einer Doppelbindung zwischen C22 und C23 sowie einer zusätzlichen Methylgruppe an C24 in der Seitenkette.

Vorkommen. In hoher Konzentration kommen Calciferole in Meeresfischen vor (Lebertran). Daneben finden sich be-trächtliche, allerdings mit der Jahreszeit schwankende, Mengen auch in Milchprodukten und Eiern.

Stoffwechsel. 7-Dehydrocholesterin (Provitamin D3) kann im Organismus (Leber) aus Squalen (7 Kap. 18.3.1) synthe-tisiert werden. Calciferole sind deshalb keine Vitamine im eigentlichen Sinn und könnten auch den Hormonen zuge-rechnet werden (7 u.). Durch Bestrahlung mit ultravio-lettem Licht wird das in der Haut abgelagerte Provitamin in das Vitamin D3, das Cholecalciferol, umgewandelt. Tat-sächlich ist ein Vitamin D-Mangel bei Naturvölkern, die mit minimaler Bekleidung im Wesentlichen im Freien le-ben, unbekannt. Erst die durch die Zivilisation und Indus-trialisierung geänderte Lebensweise hat die durch die Son-nenbestrahlung begrenzte Kapazität des Organismus zur Vitamin D-Biosynthese gezeigt. Das Auftreten des Vitamin D-Mangelsyndroms Rachitis bei Kindern, der erhöhte Vitaminbedarf in der Wachstumsphase, der Schwanger-schaft und der Lactationsperiode macht eine adäquate Substitu tion mit Vitamin D notwendig.

Auch Cholecalciferol stellt noch nicht die biologisch aktive Form der D-Vitamine dar, sondern wird – nach dem

. Abb. 23.9. Biosynthese von 1,25-Dihydroxycholecalciferol aus 7-Dehydrocholesterin. (Einzelheiten 7 Text)

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Transport in die Leber – zu 25-Hydroxycholecalciferol hy-droxyliert (. Abb. 23.9). 25(OH)D3 verlässt die Leber und gelangt über das Blut zu den Nieren, wo es durch ein mito-chondriales Enzym erneut – diesmal in Position 1 – hydro-xyliert wird. Es entsteht 1,25-Dihydroxycholecalciferol (1,25(OH)2D3, Calcitriol), die biologisch aktive Form von Vitamin D. In der Niere wird auch 24,25-Dihydroxychole-calciferol gebildet, das als Ausscheidungsform gilt, aber auch eigene Wirkungen zu haben scheint.

Wegen der Bedeutung der Calciferole für die Regu la-tion der extrazellulären Calciumkonzentration (7 Kap. 28.6.3) wird die Biosynthese von 1,25-Dihydroxychole-calciferol sehr genau reguliert. Dies betrifft weniger die hepatische Bildung von 25-Hydroxycholecalciferol, wel-che lediglich einer einfachen Produkthemmung unter-liegt, sondern vielmehr die Biosynthese der für die 1,25-Dihydroxycholecalciferol-Bildung notwendigen 1α-Hy-droxylase in den proximalen Tubulusepithelien der Niere (. Abb. 23.10):4 Für den Transport von Calciferolen im Blut wird ein

spezifisches Protein, das Vitamin D-Bindungspro-tein (DBP) benötigt. Calciferol, besonders 25-Hydro-xycholecalciferol, wird als Komplex mit diesem Pro-tein glomerulär filtriert. Um einen Verlust an 25-Hy-droxycholecalciferol im Urin zu verhindern, verfügen die proximalen Tubulusepithelzellen über den Mega-linrezeptor aus der Familie der Lipoproteinrezeptoren (7 Kap. 18.5). Er bindet den Komplex aus DBP und 25-Hydroxycholecalciferol, was dessen Internalisie-

rung und die intrazelluläre Freisetzung von 25-Hydro-xycholecalciferol auslöst

4 Die 1 -Hydroxylase wird auf der Ebene der Genexpres-sion reguliert. cAMP ist der wichtigste Induktor, wäh-rend Phosphat, Calcium und 1,25(OH)2D3 die Tran-skription des 1 -Hydroxylasegens hemmen

4 Parathormon (PTH) 7 Kap. 28.6.3) wird bei niedrigem Serum Ca2+-Spiegel von der Nebenschilddrüse ausge-schüttet. Es wird über den PTH-Rezeptor von den re-nalen Tubulusepithelzellen aufgenommen und ist der wichtigste Aktivator der Adenylatcyclase und deswe-gen für erhöhte cAMP-Spiegel verantwortlich. Frei-setzung von Parathormon führt also zu einer verstärk-ten Bildung von 1,25(OH)2D3. Ähnlich wie in den Nebenschilddrüsen ist auch in den proximalen Tubulu-sepithelien ein Calcium-Sensorprotein nachgewiesen worden. Es gehört zur Familie der heptahelicalen Re-zeptoren (7 Kap. 25.3.3). Seine Aktivierung durch hohe Serum Ca2+-Konzentrationen führt über entsprechen-de G-Proteine zu einer Hemmung der Adenylatcyclase sowie zu einer Zunahme der freien intrazellulären Cal-ciumkonzentration der Tubulusepithelzellen und löst somit eine Hemmung der 1 -Hydroxylaseaktivität aus. Dies bedeutet eine verminderte Bildung von biologisch aktivem Vitamin D

4 Steigen die Serum-Ca2+-Spiegel, wird die Ausschüttung von PTH vermindert, die Wirkung auf die Niere bleibt aus, die Produktion von 1,25-Dihydroxycholecalciferol wird gebremst

. Abb. 23.10. Regulation der Bil-dung von 1,25-Dihydroxycholecalci-ferol in den Epithelien der proxima-len Tubuli der Nieren. (Einzelheiten 7 Text). DBP = Vitamin D-Bindeprotein; VDR = Vitamin D-Rezeptor; PTH = Para-thormon; PTHR = PTH-Rezeptor; 25(OH)D3 = 25-Hydroxycholecalciferol; 1,25(OH)2D3 = 1,25-Dihydroxycholecal-ciferol

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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690 Kapitel 23 · Vitamine

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Wirkungen von Vitamin D. Wichtige Funktion der Calci-ferole ist die Regulation der Calciumhomöostase (7 Kap. 28.6.3), an der auch Parathormon (7 o.) und Thyreocal-citonin (7 Kap. 28.6.3) beteiligt sind. Der Nettoeffekt von Vitamin D ist immer eine Erhöhung des Plasmacalcium-spiegels. Dies wird erreicht durch:4 vermehrte intestinale Calciumresorption4 gesteigerte renale Calciumreabsorption und4 gesteigerte Calciummobilisation aus dem Skelett-

system

Hauptzielorgane von Vitamin D sind demnach Darm, Niere und Knochen (. Abb. 28.32).

Wirkung von Calciferolen auf die intestinale Calciumre-sorption: Für die intestinale Calciumresorption ist ein transzellulärer Transport von Calciumionen von der lu-minalen auf die basolaterale Seite notwendig. Dieser benö-tigt folgende Komponenten:4 einen elektrogenen Calciumkanal auf der luminalen

Seite der Enterozyten, der für die Calciumaufnahme in die Mukosazellen verantwortlich ist

4 Calbindin, ein Calcium bindendes Protein mit einer Molekülmasse von 9 kD sowie

4 eine auf der basolateralen Seite der intestinalen Muko-sazelle lokalisierte Calcium-ATPase

1,25-Dihydroxycholecalciferol induziert sowohl Calbindin als auch die Calcium-ATPase.

Darüber hinaus stimuliert 1,25-Dihydroxycholecalcife-rol die Phosphatresorption im Intestinaltrakt. Hierbei spielt offensichtlich die gesteigerte Expression eines Na+/Pi-Sym-porters eine wichtige Rolle.

Wirkung von Calciferolen auf die Nieren: Wichtigster Effekt von 1,25-Dihydroxycholecalciferol in den Nieren ist die Steigerung der Calciumrückresorption. Außerdem wird auch die Phosphatrückresorption gesteigert, ein Effekt, der sich allerdings nur dann nachweisen lässt, wenn Parathor-mon vorhanden ist. Ausreichendes bzw. überschüssiges 1,25(OH)2D3 hemmt die Transkription des 1α-Hydroxyla-se-Gens, also seine eigene Synthese. Dieser feed back Me-chanismus führt zu verminderter Produktion von aktivem Vitamin D. Durch gleichzeitige Stimulierung der 24-Hy-droxylase-Aktivität entsteht aus 25-Hydroxycholecalciferol 24,25-Dihydroxycholecalciferol (7 oben).

Wirkung von Calciferolen auf den Knochenstoff-wechsel: In Osteoblasten induziert 1,25-Dihydroxychole-calciferol eine Reihe von Proteinen, die am Aufbau der Knochenmatrix und der Calcifizierung beteiligt sind (. Tabelle 23.5).

In Osteoklasten, in denen keine Gene aktiviert werden, da sie keine Vitamin D Rezeptoren (7 unten) enthalten, wird besonders bei Hypocalcämie die Demineralisierung des Knochens stimuliert. Man nimmt an, dass ein durch Calciferole in Knochenmarksstammzellen und/oder Osteo-

blasten gebildeter Faktor für die Differenzierung von Osteo-klasten aus Promonozyten des Knochenmarks und für de-ren Aktivierung verantwortlich ist.

Weitere Wirkungen von Calciferolen: Vitamin D-hat eine Reihe weiterer biologischer Effekte. Es reguliert die Ex-pression von Genen, deren Produkte beteiligt sind an der:4 Stimulierung der Differenzierung von Zellen des häma-

topoetischen Systems4 Stimulierung der Differenzierung epidermaler Zellen4 Modulation der Aktivität des Immunsystems

Damit hat Vitamin D neben seiner Calcium-mobilisie-renden Wirkung auch anti-kanzerogene und immunsup-pressive Wirkungen. Deren Ausnutzung wird durch die immer auftretenden hypercalcämischen Effekte bei Vita-min D-Gabe erschwert, weswegen man versucht, diese durch Herstellung synthetischer Calciferole für die Thera-pie zu unterdrücken. Eine Auswahl von Genen, deren Ex-pression durch 1,25-Dihydroxycholecalciferol reguliert wird, ist in . Tabelle 23.5 zusammengestellt.

Wirkungsmechanismus von Calciferolen. Die meisten Ef-fekte von Vitamin D werden durch Aktivierung der Tran-skription spezifischer Gene bewirkt. 1,25-Dihydroxycho-lecalciferol bindet an einen im Kern lokalisierten Rezeptor, der wie der Rezeptor von Vitamin A zu den nukleären Re-zeptoren gehört (7 dort, . Abb. 23.7 und 23.8). Ähnlich wie der bereits besprochene Retinsäurerezeptor, RAR, oder der Schilddrüsenhormonrezeptor, TR, (7 Kap. 27.2.6) bindet auch der aktive Vitamin D-Rezeptor (VDR) als Heterodi-mer mit einem Retinsäurerezeptor des Typs RXR an die DNA (7 Kap. 23.2.1).

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Die bekannteste Hy-povitaminose des Vitamin D ist die Rachitis. Es handelt sich um ein im Wachstumsalter auftretendes Krankheits-bild, das durch eine schwere Mineralisierungsstörung des Skelettsystems gekennzeichnet ist.

Entscheidend ist der Calciummangel, der durch Fehlen der intestinalen Calciumresorption infolge des Calciferol-

. Tabelle 23.5. Proteine, deren Expression durch 1,25-Dihydroxy-cholecalciferol reguliert wird (Auswahl); PTH-RP PTH-Related Poly-peptide

Expression induziert Expression reprimiert

Protein Protein

24-Hydroxylase 1α-Hydroxylase

Calbindin Parathormon

Osteocalcin PTH-RP

Osteopontin Kollagen I

p21Ras c-myc

β3-Integrin Interleukin-2

Vitamin D-Rezeptor Calcitonin

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mangels hervorgerufen wird. Diese Krankheit trat erstmals nach Industrialisierung in England auf und wurde deshalb auch ‚Englische Krankheit‘ genannt. Grund für die Krank-heit waren neben unzureichender Zufuhr auch die unzurei-chende Sonneneinstrahlung durch das Arbeiten in geschlos-senen Räumen oder unter Tage sowie die langen Winter.

Vitamin D-Mangel beim Erwachsenen wird als Osteo-malacie (7 u.) bezeichnet. Sie tritt als Folge von Störungen der Vitamin D-Resorption (z. B. bei chronischem Gallen-gangverschluss) auf. Bei chronischen Leber- und Nierener-krankungen kommt es sehr häufig zum Calciumschwund des Skelettsystems, der wahrscheinlich durch eine vermin-derte Umwandlung von Calciferol in 1,25-Dihydroxychole-calciferol ausgelöst ist (sekundärer Hyperparathyreoidis-mus, 7 Kap. 28.6.4).

Hypervitaminose: Eine Hypervitaminose des Vitamin D durch Fehlernährung ist unbekannt, kann aber bei Über-dosierung von Vitamin D-Präparaten vorkommen. Netto-effekt ist eine Hypercalcämie. Außerdem kommt es zu einer

Osteoporose. Das hierbei freigesetzte Calcium muss über die Nieren ausgeschieden werden. In Extremfällen erreicht es im Nierentubulus eine so hohe Konzentration, dass es zur Ausfällung von Calciumphosphat und damit zur Nephro-calcinose kommt.

23.2.3 Vitamin E

! Vitamin E ist mehr als ein Antioxidans.

Chemische Struktur. Vitamin E ist ein Sammelbegriff für 4 Tocopherole ( , , und ) und 4 Tocotrienole ( , , und

). Sie gehören zu den Prenyllipiden. Alle bestehen aus einem in 6 Stellung hydroxylierten Chromanring, der in Position 2 mit einer aliphatischen Seitenkette (C16) ver-knüpft ist, die in Tocopherolen gesättigt ist und in Tocotri-enolen 3 Doppelbindungen aufweist (. Abb. 23.11). Die Anzahl und Stellung der Methylgruppen am Chromanring

. Abb. 23.11. Metabolismus von Vitamin E. a Physiologischer Abbauweg. CEHC = Carboxyethylhydroxychroman (Einzelheiten siehe Text). b Reaktionen als Antioxidans. Tocopherol reagiert mit einem

Radikal (R ) zum Tocopheroxylradikal. Wenn dieses nicht wieder durch z. B. Ascorbat zum Tocopherol regeneriert wird, wird es abgebaut und ausgeschieden

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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692 Kapitel 23 · Vitamine

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bestimmt die Zugehörigkeit zu den -, -, -, -Formen. Tocopherole haben 3 Chiralitätszentren, Tocotrienole eines, die natürlicherweise in der RRR-Konfiguration vorliegen. Synthetische Tocopherole sind Racemate aus den mög-lichen Kombinationen von R- und S-Konfiguration.

Vorkommen. Vitamin E wird nur von Pflanzen und einigen Cyanobakterien synthetisiert. Oliven, Weizenkeime, Son-nenblumenkerne und Kerne der Färberdistel sind reich an

-Tocopherol, Mais und Sojapflanzen enthalten -Toco-pherol. Tocotrienole findet man in Samen der Ölpalme, in Reis, Weizen, Gerste und Hafer.

Resorption und Verteilung. Die Absorption aller Formen von Vitamin E erfolgt mit den Fetten in die Enterozyten des Dünndarms (. Abb. 23.12). In der Mukosazelle wird Vita-min E an Chylomikronen assoziiert und so, zusammen mit anderen fettlöslichen Vitaminen, Triglyzeriden, Choleste-rin und Phospholipiden, in die Lymphe sezerniert. Über Chylomikronen-Remnants gelangt es in die Leber.

In der Leber wird -Tocopherol aus allen ankommen-den Tocopherolen und Tocotrienolen mit Hilfe des -Toco-pherol-Transferproteins ( -TTP) aussortiert, in VLDL eingebaut und wieder ins Plasma sezerniert. Die Affinitäten von -TTP zu nicht- -Tocopherolen und zu Tocotrienolen ist vergleichsweise niedrig. Sie beträgt für -Tocopherol 38, -Tocopherol 9, -Tocopherol 2 und -Tocotrienol 12% der

Affinität für -Tocopherol, was die Präferenz des mensch-

lichen und tierischen Organismus für -Tocopherol ent-scheidend mitbestimmt.

Die Aufnahme von Vitamin E in periphere Zellen er-folgt je nach Zelltyp oder Lipoprotein4 beim Abbau von Chylomikronen oder VLDL durch die

Lipoproteinlipase4 über Lipidtransferproteine4 über Rezeptor-vermittelte Endozytose oder4 über die Aufnahme durch Rezeptoren, die selektiv Lipi-

de innerhalb der Lipoproteine erkennen, wie z. B. über den Scavenger-Rezeptor-B1 (7 Kap. 18.6.2)

Die Abgabe von α-Tocopherol aus den peripheren Gewe-ben verläuft wahrscheinlich ähnlich der von Cholesterin und es sind auch hier Transporter der ABC (ATP-binding cassette)-Familie beteiligt.

Der -Tocopherol Plasmaspiegel ist abhängig vom Li-pidgehalt des Plasmas. Als Normalwerte für Erwachsene gelten 12–46 μmol/L bzw. 4–7 μmol/mmol Cholesterin oder 0,8 mg/g Gesamtlipid. Die Plasmakonzentration von -Tocopherol ist etwa 1/10 der Konzentration von -Toco-

pherol. -Tocopherol Plasmaspiegel sind sättigbar. Unab-hängig von der Dauer oder Höhe einer Supplementation kann der -Tocopherol-Plasmaspiegel nur etwa 2–3-fach erhöht werden.

Die höchsten Vitamin E Gewebskonzentrationen findet man in der Leber, im Fettgewebe und in der Nebenniere. Der Umsatz im Plasma ist mit einem t1/2 von 5–7 Tagen

. Abb. 23.12. Resorption, Transport und Verteilung von Vitamin E. ABC-A1 = ABC-Trans-porter A1; Toc = Tocopherol; T3 = Tocotrienol; PLTP = Phospholipid-Transferprotein; SR-B1 = sca-venger-Rezeptor B1; LDL = low density lipoprotein; LDL-R = LDL-Rezeptor; LPL = Lipoproteinlipase; VLDL = very low density lipoprotein; HDL = highdensity lipoprotein. (Einzelheiten 7 Text.)

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relativ schnell. Der Umsatz im Fettgewebe ist dagegen lang-sam. Fettgewebe dient jedoch nicht als Speicher; typische Speicher, wie z. B. für Vitamin A, existieren für Tocophero-le nicht.

Nicht aufgenommenes Tocopherol wird über Faeces, nicht in peripheres Gewebe eingebaute Tocopherole und Tocotrienole über die Galle eliminiert. Carboxyethylhydro-xychromane (CEHCs, 7 u.) werden glucuronidiert oder sulfatiert und im Urin ausgeschieden.

Metabolismus. Die ersten Tocopherolmetabolite wurden in den 50er Jahren beschrieben. Hierbei handelt es sich um Tocopheronsäure und Tocopheronolacton, die durch einen geöffneten Chromanring und eine verkürzte Seitenkette gekennzeichnet sind. Der geöffnete Chromanring wurde als Hinweis dafür genommen, dass Tocopherol als Anti-oxidanz gewirkt haben musste, und wurde als Beweis für die antioxidative Funktion von Vitamin E in vivo gewertet. Der größte Teil der Metabolite sind aber solche mit ver-kürzter Seitenkette aber intaktem Chromanring, sie können also nicht aus oxidativ zerstörtem Tocopherol entstanden sein. Der initiale Schritt der Seitenkettenverkürzung ist eine -Hydroxylierung, die Oxidation der Hydroxylgruppe zur Carboxylgruppe, und dann eine -Oxidation, wie sie für Fettsäuren mit Methylverzweigungen oder Doppel-bindungen üblich ist. Die Endprodukte sind die ent-sprechend methylierten Carboxyethylhydroxychromane (CEHC; . Abb. 23.11a), deren Vorstufen die Carboxyme-thylbutylhydroxychromane (CMBHC). Der Abbauweg ist für alle Formen von Vitamin E gleich. Der Anteil, der ver-stoffwechselt wird, ist jedoch für die einzelnen Vitamere deutlich verschieden. Während -Tocopherol nur zu einem geringen Teil abgebaut wird, wird von den anderen Formen ein Anteil von bis zu 50% beschrieben. Vollständige Bi-lanzen, die auch längerkettige Vorstufen von CEHC be-rücksichtigen, wurden allerdings bislang nicht beschrieben. Der quantitativ unwesentliche Abbau von -Tocopherol wird neben der Spezifität des -TTP als Erklärung für die bevorzugte Nutzung von -Tocopherol herangezogen. Die hohe Metabolismusrate der anderen Formen von Vitamin E dürfte deren Effizienz in vivo begrenzen (7 u.).

Biochemische Funktionen. Antioxidative Funktion: Alle Formen von Vitamin E haben antioxidative Eigenschaften, was im strengen Sinn als die Fähigkeit, mit einem Radikal zu reagieren, definiert wird. Die hierfür nötige Gruppe im Molekül ist die OH-Gruppe an Position 6 des Chroman-rings (. Abb. 23.11b). Alle Formen von Vitamin E besitzen diese Gruppe und somit reagieren alle als Antioxidantien, jedoch mit unterschiedlicher Reaktivität und Spezifität. Als lipophiles Molekül wird Vitamin E in Membranen oder Li-poproteine eingebaut und reagiert hauptsächlich mit Lipid-radikalen (LO ). Es wird daher als wichtigstes lipophiles Antioxidans bezeichnet, das Membranen vor oxidativer Zerstörung schützt. Tocopherol (TOH) reagiert mit Lipid-

oxy/Alkoxy (LO (RO ))- und Peroxyl-Radikalen (LOO (ROO )) nach folgenden Gleichungen:

Die antioxidativen Eigenschaften nehmen in der Reihenfol-ge > = > ab. Eine Regeneration von Tocopherol ist über das Ascorbat/Ascorbylradikal-System möglich, das ein negativeres Redoxpotential (280–320 mV) als das Toco-pheroxylradikal/Tocopherol System (480–500 mV) hat. Während die Radikalreaktionen von Tocopherolen in vitro bis ins Detail untersucht und beschrieben sind, gibt es für solche Reaktionen in vivo nur wenig überzeugende Bewei-se. Das Tocopheroxylradikal kann auch als Radikal weiter-reagieren und wirkt so pro-oxidativ, in physiologischen Konzentrationen allerdings mit geringer Effizienz.

Die Reaktivität von -Tocopherol gegenüber Stickstoff-Radikalen ist weitaus höher als die von -Tocopherol, da die freie Position 5 im Chromanring eine Nitrierung des Rings erlaubt. Die Bildung von 5-Nitro- -Tocopherol ( -NO2-TOH) ist sowohl durch die Reaktion mit Peroxynitrit (ONOO–) als auch mit NO2, das aus Peroxynitrit entsteht, möglich.

Inwieweit dies mit den beobachteten anti-inflammato-rischen und anti-kanzerogenen Effekten von -Tocopherol in Zusammenhang steht, bedarf der Klärung.

Nicht-antioxidative Funktionen: Vitamin E wurde als Faktor entdeckt, der in der Lage war, in Ratten die Resorp-tion von Föten zu verhindern. Diese Eigenschaft wird zur Bestimmung der biologischen Effizienz herangezogen. Im sog. Resorption-Gestations Test ergab sich eine abgestufte Wirksamkeit von -Tocopherol (100%) > -Tocopherol (57%) > -Tocopherol (37%) > -Tocotrienol (30%) >

-Tocotrienol (5%) > -Tocopherol (1,4%). Die antioxida-tive Wirkung individueller Tocopherole und Tocotrienole in vitro korreliert also nicht mit ihrer biologischen Aktivität. Deshalb wird seit einigen Jahren verstärkt nach Funktionen von Vitamin E gesucht, die seine Essentialität besser erklä-ren können.

-Tocopherol hemmt die Blutgerinnung, die Plättchen-aggregation, die Expression zellulärer Adhäsionsmoleküle, die Freisetzung von Interleukin-1 aus stimulierten Makro-phagen und die Proliferation von glatten Muskelzellen. Auf Enzymebene hemmt -Tocopherol die Aktivität der NADPH-Oxidase, der Phospholipase A2 und der 5-Lipoxy-genase. Somit hemmt es Entzündungsprozesse, stimuliert aber auch die Apoptose und verbessert die Zell-vermittelte Immunität. Viele dieser Effekte lassen sich durch die Hem-mung der Proteinkinase C (PKC) erklären, die wiederum durch Stimulierung der Proteinphosphatase 2A (PP2A) er-reicht wird. PP2A dephosphoryliert und inaktiviert so PKC. Ein hauptsächlich von -Tocopherol ausgeübter Effekt ist die Hemmung der Cyclooxygenase 2 (. Tabelle 23.6).

23.2 · Fettlösliche Vitamine

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Vitamin E – und hier wiederum hauptsächlich -Toco-pherol – kann die Aktivität von Genen beeinflussen. So wird die Expression einer Reihe von Atherosklerose-rele-vanten Genen, wie z. B. des Scavenger Rezeptors CD36, von Adhäsionsmolekülen oder Collagen 1(1), inhibiert. Die Expression Apoptose-stimulierender Gene, wie CD95L, wird inhibiert, während Apoptose-hemmende Gene wie Bcl2-L1, induziert werden. Dies entspräche einer anti-inflammatorischen Wirkung. Zellzyklus-sti-mulierende Gene, wie z. B. CyclinD1 oder E, werden inhi-biert. Produkte Zellzyklus-hemmender Gene, wie z. B. p27 werden induziert, Ereignisse, die eher zu den anti-kanzerogenen zu zählen wären. Die HMG-CoA-Reduk-tase, der LDL-Rezeptor oder -TTP, Proteine, die den Lipid- und Vitamin E-Stoffwechsel bestimmen, werden induziert (. Tabelle 23.7).

Viele dieser nicht-antioxidativen Funktionen können die viel diskutierte anti-atherosklerotischen und anti-kan-zerogenen Funktionen von Vitamin E stützen, erklären aber nicht seine Essentialität. Ein gemeinsamer regulatori-scher Mechanismus, der alle genannten Effekte auf die Gen-expression erklären könnte, ist bisher nicht beschrieben. Insbesondere wurde noch kein spezifischer Vitamin E-Re-

zeptor gefunden, der wie im Falle von Vitamin D oder A ein Transkriptionsfaktor wäre.

Pathobiochemie. Hypovitaminosen: Einen nahrungsbe-dingten isolierten Vitamin E-Mangel gibt es beim Men-schen praktisch nicht. Eine ausreichende Vitamin E-Zufuhr ist offenbar ohne Supplemente möglich. Vitamin E muss aber zusammen mit Fetten aufgenommen werden. Bei ge-störter Fettresorption, wie sie z. B. bei Sprue, cystischer Fi-brose, chronischer Pankreatitis oder Cholestase auftritt, kommt es häufig zu Vitamin E Mangel. Schwerer Vitamin E-Mangel tritt auch bei genetisch bedingten Erkrankungen auf. Ein Defekt im Gen für das -Tocopherol-Transferpro-tein führt zu extrem niedrigen Plasma-Vitamin E-Spiegeln und zur Entwicklung schwerer neurologischer Störungen, die denen der Friedreich’schen Ataxie ähneln. Symptome sind progressive periphere Neuropathien, die in den typi-schen Ataxien resultieren. Die Krankheit wird deshalb auch als Ataxia with Vitamin E Deficieny (AVED) oder Familial, Isolated Vitamin E deficieny (FIVE) bezeichnet. Weitere Folgen sind Tremor, Muskelschwäche und geistige Retar-dierung, manchmal auch Retinitis pigmentosa. -TTP wurde zuerst in der Leber entdeckt. Es wird aber auch im Gehirn exprimiert, insbesondere in Bergmann-Glia-Zel-len, die die Purkinje-Zellen des cerebralen Cortex umgeben und diese mit Nährstoffen versorgen. Die Lokalisation von

-TTP im Gehirn und die Symptome bei seinem Fehlen deuten auf eine Rolle von Vitamin E bei der neuro-musku-lären Signalübertragung hin, die aber keinesfalls verstan-den ist. Durch sehr hohe Dosen von -Tocopherol (bis 2 g pro Tag) können die Plasma -Tocopherol-Spiegel der AVED Patienten auf ein normales Maß gebracht werden und die Progredienz der pathologischen Symptome weitge-hend beherrscht werden. Kürzlich wurde -TTP auch in

. Tabelle 23.6. Von Vitamin E beeinflusste biologische Prozesse

Hemmung Aktivierung

Proliferation glatter Muskelzellen,Fibroblasten, einiger Krebszellen

Plättchenaggregation

Aktivität der PKC Phosphoproteinphos-phatasen

Aktivität der Cyclooxygenase-2 und der 5-Lipoxygenase

. Tabelle 23.7. Beispiele für Proteine, deren Gene von Vitamin E reguliert werden

Form von Vitamin E Induktion Repression

α-Tocopherol: sog. Scavenger-Rezeptoren:CD36, SR-B1, SR-AI, SR-AII

Cytoskelettprotein: Proteine der extrarzellulären Matrix:

α-Tropomyosin E-Selectin, L-Selectin, ICAM-1, einige Integrine, Kollagen α1(I), Glycoprotein IIb

Cytokine und Wachstumsfaktoren:connective tissue growth factorApoptosehemmer: Bcl2-L1

Cytokine und Wachstumsfaktoren:MCP-1, IL-8, TGF-β, IL-4, IL-1βApoptoseaktivator: CD95 Ligand

andere:HMG-CoA ReduktaseLDL-RezeptorCRABP-IIγ-Glutamyl-Cystein-Synthetase

γ-Tocopherol PPARγ, endotheliale-NO Synthase

α- und γ-Tocopherol Zellzykluskontrolle: p27 Zellzykluskontrolle: Cyclin D1, Cyclin E

α- und δ-Tocopherol Vitamin E Metabolismusα-TTP, CYP3A

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menschlichen Plazenten gefunden. Ein Zusammenhang mit der essentiellen Rolle von Vitamin E im Fertilitäts ge sche-hen konnte bisher aber noch nicht nachgewiesen werden.

Bei Tieren ist Vitamin E für die Reproduktion, die Funktion des Nervensystems, der Muskulatur sowie der endokrinen Drüsen (Hypophyse, Nebennierenrinde) von Wichtigkeit. Bei einer Vitamin E-Unterversorgung kommt es zu degenerativen Veränderungen an Skelett- und Herz-muskulatur, am Bindegewebe, am Gefäßsystem, an den endokrinen Drüsen und der Leber sowie zur Hämolysenei-gung (Akanthozytose). Vitamin E-arm ernährte Tiere sind außerdem sehr anfällig für Infektionskrankheiten. Die Symptome sind von Spezies zu Spezies unterschiedlich stark ausgeprägt.

Hypervitaminosen: Vitamin E-Hypervitaminosen gibt es praktisch nicht. Nur bei Supplementierung mit sehr ho-hen Dosen kann es zu Blutungsneigungen kommen, vor allem bei Patienten, die wegen vorausgegangener kardiovas-kulären Störungen unter Antikoagulationstherapie stehen.

23.2.4 Vitamin K

! Vitamin K ist Coenzym für die Carboxylierung von Glut-amylresten in Proteinen.

Chemische Struktur. Vitamin K ist der Überbegriff für 2-Methyl-1,4-naphthochinon (Menadion)-Derivate mit antihämorrhagischer Aktivität. Die einzelnen Vitamin K Vitamere sind Seitenkettenhomologe (. Abb. 23.13):4 Vitamin K1 (Phyllochinon) trägt eine Phytylseiten-

kette4 Vitamin K2 (Menachinon, MK) besitzt eine Seitenkette

mit 4-13 Isopreneinheiten (MK4-13) 4 Vitamin K3 (Menadion) hat keine Seitenkette

Für die biologische Wirkung ist die Methylgruppe in Posi-tion 2 essentiell.

Vorkommen. Phyllochinone kommen in allen grünen Pflanzen (daher der Name) und vielen Ölen in größeren Mengen vor. Menachinone werden von Mikroorganismen des menschlichen Darms synthetisiert.

Stoffwechsel. Als lipophile Verbindungen werden Phyllo-chinone zusammen mit den Lipiden resorbiert, wofür die Anwesenheit von Gallensäuren notwendig ist.

Die biologisch aktive Form der K2-Vitamine ist das Di-farnesylnaphthochinon (MK6). Der Difarnesylrest wird in der Leber nach Abspaltung etwaiger anderer Seitenketten angeheftet.

Biochemische Funktion. Die einzige bekannte Funktion für Vitamin K bei höheren Organismen ist die eines Cofaktors für die Carboxylierung von Glutamylresten in Proteinen.

γ-Carboxyglutamylreste enthaltende Proteine werden als Vitamin K-abhängige Proteine bzw. VKD-Proteine (VKD, Vitamin K-dependent) oder als Gla-Proteine (Gla = Carbo-xyglutamat Domäne) bezeichnet.

Zu Zeit sind ungefähr 12 Mitglieder der VKD-Proteine bekannt (. Tabelle 23.8). Von besonderer medizinischer Bedeutung sind die für die Blutgerinnung notwendigen -carboxylierten Faktoren, zu denen die Faktoren VII, IX

und X, sowie Prothrombin und die Proteine C und S gehö-ren. Durch die -Carboxylierung erhalten die Proteine eine größere Anzahl negativer Ladungen, die die Wechselwir-kungen der Blutgerinnungsproteine mit den für die Akti-vierung notwendigen Phospholipiden und Calcium ermög-lichen (7 Kap. 29.5.3).

Weitere Gla-Proteine sind Osteocalcin, Matrix Gla Pro-tein und Protein S im Knochen, ein Protein im Zahn-schmelz, sowie unter pathologischen Bedingungen das Atherocalcin in arteriosklerotischen Plaques der Arterien und ein Gla-Protein in Nierensteinen. Dies alles sind calci-fizierte Matrices, deshalb nimmt man an, dass sie in den Calcifizierungsprozess eingeschaltet sind.

. Abb. 23.13. Strukturen von Vitamin K

. Tabelle 23.8. Vitamin K-abhängige Proteine (Auswahl)

Protein Funktion

Prothrombin Blutgerinnung

Faktor VII Blutgerinnung

Faktor IX Blutgerinnung

Faktor X Blutgerinnung

Protein C Antikoagulation

Protein S Antikoagulation

Osteocalcin Knochen-Morphogenese

Matrix Gla Protein, Gas 6 hemmt die Calcifizierung von nicht-KnochengewebeLigand für Rezeptortyrosinkinasen, reguliert Zellwachstum?

Protein Z Koagulationshemmer

23.2 · Fettlösliche Vitamine

Page 18: 23 - Vitamine

696 Kapitel 23 · Vitamine

23

Der Mechanismus der -Glutamyl-Carboxylierung ist in . Abb. 23.14 zusammengefasst:4 Vitamin K wirkt in der Hydrochinonform und muss

deshalb zunächst über die Chinonreduktase zum Vita-min K-Hydrochinon reduziert werden

4 Dieses reagiert mit Sauerstoff, sodass als starke Base das Vitamin K-Alkoxid entsteht

4 Dieses zieht ein Proton von dem zu modifizierenden Glutamylrest eines VDK-Proteins ab, es entsteht ein Carbanion, an das unter Bildung eines -Carboxygluta-mylrests CO2 angelagert werden kann

4 Außer dem K-Alkaloid entsteht unter Abgabe eines OH– das Vitamin K-Epoxid, das durch eine entspre-chende Epoxidreduktase wieder in die Chinonform umgewandelt wird

Sowohl die Epoxidreduktase als auch die Chinonreduktase enthalten vicinale SH-Gruppen, die die Reduktionsäquiva-lente liefern und die bei der Reduktion zu intramoleku-laren Disulfiden oxidiert werden. Die Reduktion der SH-Gruppen benötigt Thioredoxin. Vitamin K Antagonisten, wie z. B. Cumarine, blockieren diese SH-Gruppen und ver-hindern die Regeneration von Vitamin K Hydrochinon. Alternativ kann sowohl das Epoxid als auch das Chinon von entsprechenden NADPH-abhängigen mikrosomalen Dehydrogenasen reduziert werden. Diese Enzyme haben aber einen wesentlich höheren Km-Wert und sind deshalb erst bei hohen Konzentrationen von Epoxid bzw. Chinon aktiv.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Die Entstehung eines Phyllochinonmangels durch Fehl- oder Mangelernährung ist beim Erwachsenen praktisch nicht möglich, da das Vita-min in ausreichender Konzentration in den Nahrungsmit-teln vorkommt und außerdem intestinale Mikroorganis-men Menachinone synthetisieren. Bei Vernichtung der gastrointestinalen Mikroorganismen durch lang dauernde orale Therapie mit Antibiotika und gleichzeitiger nutritiver Unterversorgung kann es zu Vitamin K-Mangel kommen. Wie bei anderen fettlöslichen Vitaminen führt eine Störung der intestinalen Fettresorption zur verminderten Resorp-tion von Vitamin K.

Ein funktioneller Vitamin K-Mangel kann durch Dau-ertherapie mit Cumarinderivaten (7 Kap. 29.5.3) ausgelöst werden, die bei allen Zuständen verwendet werden, bei de-nen die Blutgerinnungszeit verlängert werden soll (Throm-bose- und Infarktprophylaxe). Eine Überdosierung mit Vitamin K-Antagonisten kann durch große Mengen an Vit-amin K behoben werden. Die durch Cumarinderivate ge-senkten Prothrombinspiegel normalisieren sich gewöhn-lich 12–36 h nach der Gabe des Vitamins. Eine oft überse-hene Folge eines Vitamin K-Mangels ist die verminderte Bildung von Osteocalcin. Der dadurch gestörte Calcium-stoffwechsel im Knochen führt zu Osteoporose und ver-mehrten Knochenbrüchen.

. Abb. 23.14. Reaktionsmechanismus der Vitamin K abhängigen Carboxylierung von -Glutamylresten. (Einzelheiten 7 Text)

Page 19: 23 - Vitamine

23697

In Kürze

Vitamin A ist als Retinal in den Sehvorgang und als Reti-noat in die Regulation der Genexpression eingeschaltet.

Vitamin D steuert die Calcium-Homöostase, sowie Wachs-tum und Differenzierung von Zellen überwiegend durch Regulation der hierfür benötigten Gene.

Vitamin E hat unabhängig von seiner Antioxidans-Funktion essentielle Funktionen bei der Reproduktion

und in der Regulation von neuromuskulären Signalübertra-gungen, deren Mechanismen noch nicht verstanden wer-den..

Vitamin K ist das Coenzym für die γ-Carboxylierung von Glutamylresten in spezifischen Proteinen, v.a. solchen, die für die Blutgerinnung notwendig sind.

23.3 Wasserlösliche Vitamine

23.3.1 Vitamin C

! Vitamin C wirkt als redoxaktiver Cofaktor von Hydroxy-lasen bzw. schützt enzymgebundenes Fe2+ vor der Oxidation zu Fe3+.

Chemische Struktur. Vitamin C oder L-Ascorbinsäure wird chemisch als 2,3-Endiol-L-Gulonsäure-γ-Lacton (2,3-dide-hydro-L-threo-hexano-1,4-lacton) bezeichnet. Die oxidierte Form ist Dehydroascorbinsäure (DHA) (. Abb. 23.15).

Vorkommen. Ascorbinsäure kommt in erheblichen Men-gen in grünen und roten Paprikaschoten, Petersilie, dem Saft von Tomaten, Zitronen, Apfelsinen und Grapefruit so-wie in Spinat, Kartoffeln, Zwiebeln und Rosenkohl vor.

Ascorbinsäure wird durch Kochen – besonders in Ge-genwart von Kupfer, Eisen und anderen Metallen – leicht zerstört. Mit Ausnahme von Primaten, einschließlich Men-schen, und des Meerschweinchens können alle Tierspezies L-Ascorbinsäure aus Glucose synthetisieren (7 Kap. 17.1.2). Menschen und Tieren, die L-Ascorbinsäure nicht bilden können, fehlt das Enzym L-Gulonolacton-Oxidase, das L-Gulonolacton zu 2-Ketogulonolacton oxidiert, aus dem spon tan, d. h. nichtenzymatisch, L-Ascorbinsäure entsteht.

Stoffwechsel. Nach der intestinalen Resorption wird L-As-corbinsäure als Dehydroascorbinsäure über das Blut zu Ge-weben transportiert, wo sie wieder zu Ascorbinsäure redu-ziert wird. Fast alle Organe können Ascorbinsäure über Natrium-abhängige Vitamin C Transporter (SVCT, sodium dependent vitamin C transporter) aufnehmen. Wesentlich schneller gelangt Vitamin C als Dehydroascorbinsäure über die Glucosetransporter GLUT1 und GLUT3 in die Zellen wo es wieder zu Ascorbinsäure reduziert wird (7 unten). Den höchsten Ascorbinsäuregehalt weist die Nebennieren-rinde auf. Das Vitamin wird entweder als solches, als Dike-togulonsäure oder Oxalat über die Nieren ausgeschieden.

Biochemische Funktion. Vitamin C ist ein starkes Re-duktionsmittel. Ascorbinsäure wird in zwei 1-Elektronen-schritten zu Dehydroascorbinsäure oxidiert, als Zwischen-stufe entsteht das relativ stabile Ascorbyl-Radikal (. Abb.

23.15). Diese Reaktionsfähigkeit macht es zu einem effi-zienten Elektronendonor in vielen biologischen Prozessen, die auch das Abfangen freier Radikale einschließt:

Entsprechend ihrem Redoxpotential kann Ascorbinsäure mit den radikalischen Formen von Tocopherolen und Glu-tathion reagieren und so regenerieren. Das Ascorbylradikal wird von einer NADPH-abhängigen Reduktase zu Ascor-binsäure reduziert oder durch Reaktion zweier Moleküle Ascorbylradikal zu Ascorbinsäure und Dehydroascorbin-säure dismutiert. Dehydroascorbinsäure wird über eine GSH-abhängige DHA-Reduktase, Glutaredoxin oder die NADPH-abhängige Thioredoxinreduktase zu Ascorbin-säure reduziert.

Neben generellen antioxidativen Effekten hat Vitamin C – wie alle Vitamine – spezifische Funktionen, die für sei-

. Abb. 23.15. Ascorbinsäure als Redoxsystem

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

Page 20: 23 - Vitamine

698 Kapitel 23 · Vitamine

23

ne Essentialität entscheidend sind. Ascorbinsäure ist Co-Faktor für eine Reihe von Enzymen, die Übergangsmetal-lionen benötigen. Die Rolle von Vitamin C ist die Aufrecht-erhaltung des für die Aktivität benötigten reduzierten Zustandes der Metallionen (. Tabelle 23.9). Solche Enzyme sind:4 die Prolylhydroxylase4 die Hydroxylasen in der Carnitinbiosynthese4 die Dopamin-β-Monooxygenase4 die 4-Hydroxyphenyl-Pyruvathydroxylase sowie4 die Peptidylglycin α-amidierende Monooxygenase

Bei den ersten beiden Enzymen sorgt Vitamin C für die Aufrechterhaltung des zweiwertigen Eisens im aktiven Zen-

trum, während es bei den letzten drei als Elektronendonor fungiert.

Die Prolyl-4-Hydroxylase hydroxyliert cotranslational Prolinreste in Kollagenmolekülen (. Abb. 23.16). In seiner aktiven Form enthält das Enzym Fe2+. Für die Reaktion werden O2 und -Ketoglutarat benötigt. Während der Re-aktion wird -Ketoglutarat decarboxyliert und ein Atom des Sauerstoffmoleküls in Prolin eingebaut, das andere zur Oxidation der Carbonylgruppe des nach Decarboxylierung von -Ketoglutarat entstehenden Succinatsemialdehyds verwendet. Die Prolylhydroxylase ist somit eine Dioxyge-nase. Als Endprodukte entstehen Succinat und hydroxylier-te Prolinreste im Kollagen. Findet der Reaktionszyklus je-doch in Abwesenheit von Kollagen statt, wird nur -Keto-

. Tabelle 23.9. Enzymatische Reaktionen, die durch Ascorbinsäure beeinflusst werden

Vorgang Reaktion Name des Enzyms Beteiligtes Metallion

Cosubstrate

Kollagenbiosynthese ProlinhydroxylierungProlinhydroxylierungLysinhydroxylierung

Prolyl-4-HydroxylaseProlyl-3-HydroxylaseLysyl-Hydroxylase

Fe2+

Fe2+

Fe2+

α-Ketoglutarat, O2

α-Ketoglutarat, O2

α-Ketoglutarat, O2

Carnitinbiosynthese Hydroxylierung von Trimethylysin Trimethyllysin-Hydroxylase Fe2+ α-Ketoglutarat, O2

Noradrenalinbio-synthese

β-Hydroxylierung von Dopamin Dopamin-β-Monooxigenase Cu2+ O2

Tyrosinabbau Bildung von Homogentisat aus 4-Hydroxyphenylpyruvat

4-Hydroxyphenylpyruvat-Hydro-xylase

Fe2+ O2

Herstellung von Pep-tidhormonen aus Präkursoren

Amidierung eines Peptids mit C-terminalem Glycin

Peptidylglycin-amidierende Monooxigenase

Fe2+ O2

. Abb. 23.16. Schema des Mechanismus der Prolylhydroxylie-rung durch die Prolyl-4-Hydroxylase. Beim normalen Reaktions-zyklus (A) entsteht ein Hydroxyprolyl-Peptid unter Decarboxylierung und Oxidation von -Ketoglutarat zu Succinat. Die Wertigkeit des enzymgebundenen Eisens ändert sich nicht. Bei entkoppeltem Reak-

tionszyklus (B) kommt es zur Decarboxylierung und Oxidation von -Ketoglutarat, Sauerstoff wird dabei als O – abgespalten und Fe2+ zu

Fe3+ oxidiert. Eine Regenerierung des Enzyms mit Fe2+ ist mit Hilfe von Ascorbat möglich. (Nach Padh 1990)

Page 21: 23 - Vitamine

23699

glutarat decarboxyliert, das zweite Sauerstoffmolekül verbleibt als reaktiver Eisen-Oxo-Komplex im Enzym. Der Sauerstoff wird als O– abgespalten. Dabei wird Fe2+ zu Fe3+ oxidiert und das Enzym so inaktiviert. Fe3+ wird durch As-corbinsäure reduziert und so reaktiviert. Damit übernimmt Ascorbinsäure beim Kollagenstoffwechsel und analog bei der Carnitinbiosynthese eine Schutzfunktion. Neuere Ar-beiten beschreiben darüber hinaus einen direkten Einfluss von Vitamin C auf die Transkription von Kollagen, was seine Rolle bei der Kollagenbiosynthese noch wichtiger macht.

Des weiteren ist Ascorbinsäure an der O2-abhängigen Hydroxylierung der -Untereinheit des Transkriptions-faktors HIF (hypoxia inducible factor, 7 Kap. 28.1.10) betei-ligt, der ein wichtiger Sensor der Sauerstoffhomöostase ist und die Aktivität von Genen für Proteine reguliert, die für die Anpassung von Zellen an ein niedriges Sauerstoffange-bot nötig sind. Hierzu gehören z. B. Erythropoietin (7 Kap. 28.1.10), der vasculäre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF), und der Glucosetransporter GLUT-1.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Die klassische Vitamin C Mangelkrankheit ist Skorbut. Sie ist vor allem von See-fahrern bekannt, die zu Beginn der Neuzeit ohne ausrei-chende Versorgung mit Vitamin C-haltigen Lebensmitteln auf lange Seereisen gingen. Die Krankheit beginnt nach einer Latenzzeit von wenigen Monaten mit schweren Störungen des Bindegewebestoffwechsels (mangelnde Bil-dung von Kollagen in Knochen, Gelenken und Blutgefäßen, 7 Kap. 24.2.1). Es kommt zu Zahnfleischbluten, Zahnausfall, gestörter Wundheilung, Knochen- und Gelenkverände-rungen.

23.3.2 Vitamin B1

! Vitamin B1 (Thiamin) ist Coenzym der -Ketosäure-Decarboxylasen sowie der Transketolase.

Chemische Struktur. Thiamin (. Abb. 23.17) besteht aus einem mit einer CH3- und NH2-Gruppe substituierten Py-rimidinring, der über eine CH2-Gruppe mit einem 4-Me-thyl-5-Hydroxyethylthiazol verbunden ist. Ersatz der Me-thylgruppe am Pyrimidinring durch Ethyl-, Propyl- oder Butylreste führt zu einer weitgehenden Aktivitätseinbuße, der Ersatz der Aminogruppe durch eine Hydroxylgruppe zum vollständigen Verlust der Vitamin B1-Aktivität. Die CH-Gruppe zwischen dem N und S Atom im Thiazolring ist wesentlich saurer als die meisten anderen CH-Gruppen. Durch Dissoziation entsteht ein Carbanion, das leicht an Aldehyde und Ketone addiert, was die biologische Aktivität von Thiamin bestimmt.

Vorkommen. Thiamin kommt praktisch in allen pflanz-lichen und tierischen Nahrungsmitteln vor. Die höchsten Konzentrationen finden sich in ungemahlenen Getrei-

desorten, in Leber, Herz, Nieren, Gehirn und magerem Schweinefleisch. Bei langem Kochen geht das Vitamin ver-loren.

Stoffwechsel. In den meisten Nahrungsmitteln liegt Vita-min B1 als biologisch aktives Thiaminpyrophosphat vor und wird gelegentlich auch als Thiamindiphosphat be-zeichnet. Da in dieser Form eine Resorption nicht möglich ist, wird der Pyrophosphatrest im Darm durch Pyrophos-phatasen abgespalten. Die Resorption im Darm erfolgt über den Thiamintransporter-2 (THTR2), die Abgabe in die Zir-kulation über den THTR1. Die Thiamintransporter gehö-ren zur Familie der ›soluble carrier Proteine‹ (SLC19A).

Intrazellulär erfolgt die Phosphorylierung zum Thia-minpyrophosphat unter Bildung von AMP durch die mito-chondriale Thiaminkinase. Im Blut nachweisbares Thiamin befindet sich zum größten Teil in den Blutzellen.

Biochemische Funktion. Thiaminpyrophosphat ist Coen-zym der oxidativen Decarboxylierung von -Ketosäuren [ -Ketopropionat (Pyruvat), -Ketoglutarat, -Ketoisova-lerianat, -Ketoisocapronat und -Keto- -methylvaleria-nat], an der außerdem Liponamid, Coenzym A, FAD und NAD+ beteiligt sind (7 Kap. 14.2).

Thiaminpyrophosphat ist auch Coenzym der Transke-tolase, eines Enzyms des Glucoseabbaus über den Hexose-monophosphat-Weg. Bei Thiaminmangel ist als Erstes die Transketolase betroffen. Dies macht sich in einem Anstieg von Pentosephosphaten bemerkbar, der leicht in Erythro-zyten gemessen werden kann (. Tabelle 23.3). Erst danach treten schwerere Symptome auf.

Pathobiochemie. Hypovitaminosen: Das klassische Vita-minmangelsyndrom ist die Beriberi-Krankheit, die auch heute noch endemisch dort vorkommt, wo polierter Reis das Hauptnahrungsmittel ist (durch Polieren geht die Vita-min B1-enthaltende Keimanlage verloren). Besonders be-troffen sind die Gewebe mit hohem Glucoseumsatz (Ner-vensystem, Gastrointestinaltrakt und kardiovaskuläres System). Die Symptome sind Appetitmangel, Übelkeit, Er-brechen, Müdigkeit, periphere Nervenstörungen, geistige Störungen, Muskelatrophie und gelegentlich eine Enzepha-lopathie. Die Erkrankung stellt immer noch ein Problem in Entwicklungsländern dar. Ein der Beriberi sehr ähnliches

. Abb. 23.17. Thiamin. Der für die Wirkung verantwortliche Teil des Moleküls ist rot hervorgehoben

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

Page 22: 23 - Vitamine

700 Kapitel 23 · Vitamine

23

Krankheitsbild findet sich häufig bei chronischem Alkoho-lismus (Wernicke-Korsakoff-Syndrom). Der Vitaminman-gel ist dabei auf unzureichende Nahrungszufuhr und er-höhten Bedarf bei Alkoholabusus zurückzuführen. Auch in der Schwangerschaft kommt es gelegentlich zu Thiamin-hypovitaminosen.

23.3.3 Vitamin B2

! Vitamin B2 (Riboflavin) ist als Bestandteil von Flavinnu-cleotiden am Wasserstoff- und Elektronentransport beteiligt.

Chemische Struktur. Riboflavin ist ein substituierter Iso-alloxazin-Ring, der mit einem Ribitol verbunden ist . Abb. 23.18. Phosphorylierung führt zum Riboflavin-5 -Phos-phat oder Flavinmononucleotid (FMN), Verknüpfung von FMN mit AMP (aus ATP) zum Flavin-Adenin-Dinu-cleotid (FAD). Die Bezeichnung Flavinmononucleotid ist nicht ganz korrekt, da es sich nicht um ein Nucleotid, d. h. ein N-Glycosid des Ribosephosphats, sondern um ein De-rivat des Zuckeralkohols Ribitol handelt.

Vorkommen. Riboflavin ist im Pflanzen- und Tierreich weit verbreitet. Milch, Leber, Nieren und Herzmuskel sind gute Quellen. Viele Gemüse enthalten es in ausreichenden Men-gen, Getreideprodukte haben jedoch einen niedrigen Ribo-flavingehalt. Bei der Keimung steigt die Riboflavinkonzen-tration in Weizen, Gerste und Mais an.

Stoffwechsel. Riboflavin befindet sich als solches oder als Protein-gebundenes FMN oder FAD in der Nahrung. Im Dünndarm wird Riboflavin freigesetzt, in die Mukosazelle aufgenommen und dort wieder phosphoryliert. Der Trans-port im Plasma erfolgt als Riboflavin oder FMN über Ribo-flavin-spezifische Plasmaproteine. Die intrazelluläre Um-wandlung in FMN wird von der Flavokinase katalysiert, die in FAD von der FAD Synthetase. Biologisch aktive Formen sind FMN und FAD.

Biochemische Funktion. Riboflavin ist Baustein der beiden Coenzyme von Wasserstoff übertragenden Flavoproteine (. Abb. 23.18):4 Flavinmononucleotid (FMN) ist u.a. Bestandteil des

Komplexes I der Atmungskette (7 Kap. 15.1.2) und der L-Aminooxidase (7 Kap. 13.3.4)

4 Flavin-Adenindinucleotid (FAD) ist die prosthetische Gruppe bzw. covalent gebundener Bestandteil einer Reihe von Flavoproteinen

Flavoproteine katalysieren4 oxidative Desaminierungen (z. B. Aminosäureoxida-

sen, 7 Kap. 13.3.4)4 Dehydrierungen von CH2-CH2-Gruppen zu CH = CH-

Gruppen (z. B. Acyl-CoA-Dehydrogenase, 7 Kap. 12.2.1)4 Oxidationen von Aldehyden zu Säuren (z. B. Xanthin-

oxidase, 7 Kap. 19.3.1) sowie4 Transhydrogenierungen (Dihydrolipoatdehydroge na se,

7 Kap. 14.2, Glutathionreduktase, 7 Kap. 29.2.1, Thio re-doxinreduktase, 7 Kap. 19.1.3)

Dabei übernimmt eines der in . Abb. 23.18 hervorgehobe-nen Stickstoffatome ein Hydridanion, das andere ein Pro-ton. Es können aber auch radikalische Zwischenstufen bei dem Redoxprozess durchlaufen werden.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Der seltene isoliert auftretende Riboflavinmangel ist durch charakteristische Schäden der Lippen, Mundwinkelfissuren (Cheilosis), lokalisierte seborrhoische Dermatitis des Gesichts sowie eine besondere Form der Glossitis (Landkartenzunge) und verschiedene funktionelle und organische Störungen des Auges gekennzeichnet.

23.3.4 Niacin und Niacinamid

! NAD+ und NADP+ enthalten Niacin als den für ihre Funktion essentiellen Bestandteil.

Chemische Struktur. Niacin ist die Bezeichnung für Pyri-din-3-Carboxylsäure und Derivate. Die gängigsten Vertre-ter sind Nicotinsäure und Nicotin(säure)amid (auch Nia-cinamid genannt). Für die biologische Wirkung ist die Car-boxyl- bzw. Säureamidgruppe notwendig, Substitutionen

. Abb. 23.18. Riboflavin und die von ihm abgeleiteten Coenzyme FMN und FAD

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23701

führen zu wirkungslosen Verbindungen bzw. zu Antivita-minen (3-Acetylpyridin, Isonicotinsäurehydrazid).

Vorkommen. Das Vitamin kommt bei Tieren vorwiegend als Nicotinamid, in Pflanzen als Nicotinsäure vor. Beson-ders reiche Quellen sind Hefe, mageres Fleisch, Leber und Geflügel. Beim Rösten von Kaffee entsteht Nicotinsäure in beträchtlichen Mengen. In Mais liegt Niacin als Niacytin, d. h. an kleine Peptide gebunden, vor und muss durch alka-lische Hydrolyse freigesetzt werden (traditionelles Einwei-chen von Mais in Kalkwasser in der zentralamerikanischen Küche).

Stoffwechsel. Niacin wird nach seiner Resorption von allen Geweben des Organismus aufgenommen und zur NAD+- bzw. NADP+-Biosynthese (. Abb. 23.19) verwendet. Hier-bei kondensiert Nicotinat zunächst mit 5 -Phosphoribosyl-pyrophosphat, wobei Nicotinat-Mononucleotid entsteht. Dieses reagiert unter Pyrophosphat-Abspaltung mit ATP. Die Nicotinat-Gruppe des dabei entstandenen Desamido-NAD+ wird mit Glutamin unter Verbrauch von ATP zur Nicotinamid-Gruppe aminiert und das so gebildete NAD+ gegebenenfalls mit ATP zu NADP+ umgesetzt.

Die N-glycosidische Bindung ist eine energiereiche Bin-dung, die eine Übertragung der ADP-Ribose ermöglicht (7 unten).

Im NADP+ trägt der Adenosinteil in 2 -Stellung einen dritten Phosphatrest (. Abb. 23.19).

Das bei der Synthese von NAD+ als Zwischenprodukt auftretende Nicotinatmononucleotid kann auch endogen aus Tryptophan (7 Kap. 13.6.6) gebildet werden. Das Aus-maß der Nutzung von Tryptophan für die Niacinbildung ist abhängig von der Tryptophanzufuhr, von hormonellen und wahrscheinlich von genetischen Faktoren. Außerdem sind zur Niacinsynthese auch Vitamin B6, Riboflavin und Eisen nötig, sodass bei genereller Mangelernährung schwer abzu-schätzen ist, inwieweit Tryptophan zur Niacin-Versorgung beiträgt. Als Faustregel gilt, dass aus 60 mg Tryptophan 1 mg Niacin gebildet werden kann. Die Ausscheidung von Niacin erfolgt nach Methylierung zum 1-Methylnicotin-säureamid in der Leber über den Urin.

Biochemische Funktion. Als Bestandteil von zwei Wasser-stoff übertragenden Coenzymen,4 dem Nicotinamid-Adenindinucleotid (NAD+) und4 dem Nicotinamid-Adenindinucleotidphosphat

(NADP+)

ist Niacin an einer Vielzahl von Redoxreaktionen und Was-serstoffübertragungen des Intermediärstoffwechsels betei-ligt, was die Essentialität von Niacin in der Ernährung des Menschen verständlich macht. Über die Funktion von NAD+ bzw. NADP+ bei Redoxreaktionen (7 Kap. 4.1.2).

Außer als Wasserstoff übertragendes (Hydrid-akzeptie-rendes) Coenzym wird NAD+ für eine Reihe von Protein-

modifikationen sowie bei der Signaltransduktion benötigt. Es ist Substrat für4 ADP-Ribosylierungen sowie4 für die Biosynthese von cyclo-ADP-Ribose

ADP-Ribosylierung: Bei der Mono-ADP-Ribosylierung wird ein aus dem NAD+ stammender ADP-Ribose-Rest auf entsprechende Akzeptoraminosäuren spezifischer Proteine

. Abb. 23.19. Biosynthese von NAD+ und NADP+ aus Niacin

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

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702 Kapitel 23 · Vitamine

23

übertragen. Niacin wird hierbei freigesetzt (. Abb. 23.20). Die Funktion einer ADP-Ribosyltransferase wurde zuerst bei bakteriellen Toxinen entdeckt. Das bekannteste Beispiel ist die ADP-Ribosylierung der Gs -Untereinheit von an die Adenylatcyclase gekoppelten heterotrimeren G-Proteinen durch das Choleratoxin (7 Kap. 25.6.2). Dies führt zu Hem-mung der intrinsischen GTPase-Aktivität der Gs -Unter-einheit und damit zur Daueraktivierung der Adenylatcyc-lase.

Die Poly-ADP-Ribosylierung dient zur posttranslatio-nalen Modifizierung von Proteinen des Zellkerns und wird von der Poly(ADP-Ribose)Polymerase (PARP) katalysiert. Diese wird durch DNA Strangbrüche aktiviert. Als Folge werden ADP-Ribose Reste an PARP selbst aber auch an Histone, Topoisomerasen oder DNA Polymerasen ge-knüpft. Diese Reste können linear oder verzweigt sein. Die dadurch negativ geladenen Proteine verlieren ihre Affinität zu DNA und somit ihre Aktivität. DNA wird dadurch zu-gänglich. Die Funktion der PARP ist nicht vollständig ge-klärt. Sie ist beteiligt an Reparaturmechanismen geschädig-ter Basen in der DNA insbesondere in nicht-transkribierten Bereichen. PARP, ADP-Ribosylierung und damit Niacin kommt somit eine wichtige Funktion bei der Erhaltung der genomischen Integrität zu. ADP-Ribose Polymere werden von der poly (ADPR) Glycohydrolase wieder gespalten.

cyclo-ADP-Ribose: cyclo-ADP-Ribose entsteht durch die Aktivität von NAD+-Glycohydrolasen/ADP-Ribosyl-cyclasen aus NAD+ unter Abspaltung von Nicotinsäure-amid (. Abb. 23.21). Cyclo-ADP-Ribose ist ein aktivieren-der Ligand des Ryanodinrezeptors (7 Kap. 30.3.2) und führt auf diese Weise zu einer Erhöhung der cytosolischen Calciumkonzentration.

Nicotinsäure-Adenindinucleotid-Phosphat (NAADP+): NAADP+ (nicotinic acid adenine dinucleotide phosphate)

entsteht durch Austausch von Nicotinamid gegen Nicotin-säure in NADP+. Seine Bildung wird z. B. von Glucose sti-muliert. NAADP+ ist der potenteste Mediator einer intra-zellulären Erhöhung des Ca2+-Spiegels, wobei die Ca2+-Quellen und die Mechanismen der Freisetzung nicht bekannt sind.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Klassisches Symptom eines Niacinmangels ist die Pellagra (Pelle agra, schwarze oder raue Haut). Niacin-Mangel trat in Europa erstmals nach der Einführung von Mais aus Süd- und Mittelamerika nach Spanien auf. Mais enthält Niacin in Form von Niacytin und ist zudem Tryptophan-arm (7 Vorkommen). Wie bei Vitaminmangelzuständen, die durch eine allgemeine Fehl-ernährung gekennzeichnet sind, ist auch Niacinmangel mit dem anderer Vitamine (Thiamin, Riboflavin und Pyrido-xin) vergesellschaftet. Auch Alkoholismus kann durch Fehl-ernährung zu Pellagra führen.

. Abb. 23.20. Mechanismus der (Poly)ADP-Ribosylierung. (Einzel-heiten 7 Text)

. Abb. 23.21. Bildung von cyclo-ADP-Ribose aus NAD+. (Einzel-heiten 7 Text)

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23.3.5 Vitamin B6

! Das vom Pyridoxin abgeleitete Pyridoxalphosphat ist das zentrale Coenzym des Aminosäurestoffwechsels.

Chemische Struktur. Vitamin B6 beschreibt 3-Hydroxy-2-Methylpyridin Derivate mit der biologischen Aktivi-tät von Pyridoxin. Zur Vitamin B6 Gruppe gehören Pyri-doxol (Pyridoxin, Alkohol), Pyridoxamin (Amin) und Py-ridoxal (Aldehyd) . Abb. 23.22.

Vorkommen. In hoher Konzentration ist das Vitamin in Hefe, Weizen, Mais, Fisch, Leber und in etwas geringerer in Milch, Eiern und grünen Gemüsen enthalten.

Stoffwechsel. Resorbiertes Pyridoxol und Pyridoxal wer-den im Blut zu den Geweben transportiert und dort durch die ATP-abhängige Pyridoxalkinase zu Pyridoxalphosphat (PALP) phosphoryliert. Zur Ausscheidung mit dem Urin wird Pyridoxal in der Leberzelle durch die Aldehydoxidase (7 Kap. 33.6.1) zur biologisch inaktiven Pyridoxinsäure oxi-diert.

Biochemische Funktion. Pyridoxalphosphat ist das Coen-zym des Aminosäurestoffwechsels (7 Kap. 13.6.6,13.6.7).

In pyridoxalphosphatabhängigen Enzymen ist Pyridoxal-phosphat als Schiff ’sche Base an ein Lysin des Enzyms ge-bunden. Für die zu katalysierende Reaktion wird das Lysin durch die Aminosäure verdrängt. Die Bindung wird durch eine kationische Gruppe des aktiven Zentrums des Enzyms stabilisiert. Durch die Elektronen anziehende Wirkung des Pyridinstickstoffs (und auch der kationischen Gruppe) kommt es zu Elektronenverschiebungen innerhalb des Co-enzym-Substrat-Komplexes, die die Schwächung einzelner Bindungen am -C-Atom der Aminosäure bewirken. Je nachdem, welche Bindung – in Abhängigkeit vom Enzym-protein – labilisiert wird, werden4 Transaminierungen4 Decarboxylierungen4 Eliminierungen unterschieden (. Abb. 23.23)

Eine Auswahl Pyridoxalphosphat-abhängiger Reaktionen ist in . Tabelle 23.10 zusammengefasst. Pyridoxalphos-phat ist außerdem Bestandteil der Glycogenphosphory-lase (7 Kap. 11.2.2) wo es als Säure-Basen-Katalysator fun-giert.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Die Symptome des tierexperimentellen Pyridoxinmangels sind uncharakteris-tisch und unterscheiden sich von Spezies zu Spezies (Der-matitis, Wachstumsstörungen, Anämien (7 Kap. 23.1.3)).

Wegen der weiten Verbreitung von Pyridoxin tritt beim Menschen ein Mangel nur selten auf. Sollte er auftreten, kommt es zu ähnlichen Störungen wie bei Tieren, außer-dem zu zentralnervösen Funktionsstörungen (Ataxien, Pa-resen), die vermutlich mit Störungen des Glutamatstoff-wechsels zusammenhängen (pyridoxalphosphatabhängige Decarboxylierung von Glutamat zum Neurotransmitter -Aminobutyrat, 7 Kap. 31.3.4).

Da einige enzymatische Schritte im Tryptophanab-bau Pyridoxin-abhängig sind, können verschiedene Zwi-schen- und Nebenprodukte des Tryptophanabbaus beim Pyri doxinmangel vermehrt im Urin nachgewiesen wer-den (. Tabelle 23.3). Bei Behandlung der Tuberkulose mit Isonicotinsäurehydrazid (INH) muss gleichzeitig Pyrido-xin ver abreicht werden, da INH als Pyridoxinantagonist wirkt.

. Abb. 23.22. Pyridoxol, Pyridoxamin und Pyridoxal sowie das Coenzym Pyridoxalphosphat. Wegen der leicht basischen Natur des

Pyrimidinstickstoffs und der leicht sauren der OH-Gruppe kommen die beiden tautomeren Formen des PALP vor

. Abb. 23.23. Reaktionen am -C-Atom der an Pyridoxalphos-phat gebundenen Aminosäure. a Transaminierung; b Decarboxylie-rung; c Spaltung der , -Bindung (Gruppenübertragung, Eliminie-rung, Isomerisierung). (Einzelheiten 7 Text)

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

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704 Kapitel 23 · Vitamine

23

23.3.6 Pantothensäure

! Coenzym A und Fettsäuresynthase enthalten Panto-thensäure.

Chemische Struktur. Pantothensäure (. Abb. 23.24) ent-steht durch Kondensation von -Alanin mit 2,4-Dihydro-xy-3,3-Dimethylbutyrat (Pantoinsäure). Säuger können Pantoinsäure und -Alanin nicht miteinander verknüpfen.

Vorkommen. Pantothensäure ist fast in allen (daher der Name) pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln ent-halten. Besonders hoch ist die Konzentration in Eigelb, Nie-ren, Leber und Hefe. Außerdem wird Pantothensäure von Darmbakterien gebildet.

Stoffwechsel. Die biologisch aktive Form der Pantothen-säure ist das Coenzym A, das in der Zelle durch Koppelung mit ATP und Cystein entsteht (. Abb. 23.24).

Biochemische Funktion. Die Aktivierung von Metaboliten erfolgt durch Bindung an die Sulfhydrylgruppe von Coen-zym A unter Ausbildung eines Thioesters. Thioester gehö-ren zur Gruppe der sog. energiereichen Verbindungen. Die bei der Hydrolyse von Thioestern auftretende Ände-rung der freien Enthalpie (7 Kap. 4.1.2) liegt bei 30–42 kJ/mol und damit im Bereich der Hydrolyseenergie von ATP. Wegen der Bedeutung der Sulfhydrylgruppe des Pan-tetheinrests für den Umsatz des Coenzyms A, hat es sich eingebürgert, neben CoA auch die Abkürzung CoA-SH zu verwenden.

CoA-Verbindungen sind zentrale Metabolite im Inter-mediärstoffwechsel.4 Acetyl-CoA, das mit Recht als der Drehpunkt des Inter-

mediärstoffwechsels bezeichnet wird, stellt ein Endpro-dukt des Kohlenhydrat-, Fett- und Aminosäurestoff-wechsels dar

4 Acetyl-CoA ist der Ausgangspunkt für die Biosynthese von Ketonkörpern (7 Kap. 12.2.2) sowie des Choleste-rins und anderer Isoprenlipide (7 Kap. 18.3.1)

4 Durch Addition von Acetyl-CoA an Oxalacetat werden Kohlenhydrat-, Fett- und Aminosäurekohlenstoffato-me in den Citratzyklus (7 Kap. 14) eingeschleust

4 Acetyl-CoA reagiert mit Cholin unter Bildung von Acetylcholin (7 Kap. 31.3.3) oder mit Arzneimitteln, die zu ihrer Ausscheidung acetyliert werden müssen (7 Kap. 33.3.1)

4 Succinyl-CoA, eine weitere wichtige Zwischenstufe im Citratzyklus, reagiert mit Glycin zum -Aminolävuli-nat, dem ersten Zwischenprodukt der Hämbiosynthese (7 Kap. 20.1.2). Aus diesem Grund findet sich bei Panto-thensäuremangel im Tierversuch häufig eine Anämie

4 Im Lipidstoffwechsel (7 Kap. 12.2.1) ist CoA unabding-lich für die Aktivierung der Fettsäuren durch Bildung des entsprechenden Acyl-CoA-Derivats, dem ersten Schritt in der Fettsäureoxidation

4 In der -Oxidation wird die Abtrennung von Acetylre-sten durch thiolytische Spaltung mit Hilfe von Coen-zym A bewirkt (7 Kap. 12.2.1)

4 Bei der Fettsäurebiosynthese ist Pantothensäure in proteingebundener Form Bestandteil des Acyl-Carrier-Proteins (7 Kap. 12.2.3)

Weitere Funktionen umfassen:4 die Acetylierung von Proteinen, wobei besonders die

Acetylierung von Histonen, die bei der Regulation von Genaktivitäten eine wichtige Rolle spielt, zu nennen ist, und die

4 Acylierung von Proteinen mit z. B. Palmitinsäure, über die Signalproteine an der Zellmembran verankert wer-den, Membranrezeptoren reguliert werden oder eine Neuordnung des Cytoskeletts nach Stimulierung be-werkstelligt wird

. Tabelle 23.10. Pyridoxalphosphat-abhängige Enzyme

Enzym Reaktion

Aminotransferasen Austausch einer Aminogruppe gegen eine Ketogruppe in Aminosäuren

Aminosäure Decarboxylasen Synthese biogene Amine (Histamin, Tyramin, Tryptamin) und von Neurotransmittern (Dopamin, Sero-tonin, γ-Aminobuttersäure)

Aminosäurespaltende Enzyme

Serinhydroxymethyltransferase Bildung von Glycin und einer Hydroxymethylgruppe, die auf Tetrahydrofolsäure übertragen wird, aus Serin

Threoninaldolase Bildung von Glycin und Acetaldehyd aus Threonin

Kynureninase Bildung von 3-Hydroxyanthranilsäure aus 3-Hydroxy Kynurenin im Tryptophanabbau

Cystathionin-β-Synthase Bildung con Cystathionin aus Homocystein und Serin bei der Cysteinsynthese im Transsulfurierungsweg

δ-Aminolävulinsäure-Synthase Bildung von δ-Aminolävulinsäure aus Succinyl-CoA und Glycin (Hämbiosynthese)

Lysyloxidase Quervernetzung von Kollagenfibrillen

Serin-Palmityl-Transferase Bildung von 3-Ketosphinganin in der Biosynthese von Ceramid

Glycogenphosphorylase Phosphorolytische Spaltung von Glucogen, Bildung von Glucose-1-phosphat

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Somit übernimmt Pantothensäure nicht nur Funktionen im Metabolismus von Zellen, sondern ist auch an der Regula-tion von Wachstum und Differenzierung beteiligt.

23.3.7 Biotin

! Biotin wird ATP-abhängig carboxyliert und dient als Überträger von Carboxylgruppen durch Carboxylasen.

Chemische Struktur. Biotin ist formal eine Verbindung aus Harnstoff und einem mit Valeriansäure substituierten Thiophanring (. Abb. 23.25).

Vorkommen. Besonders biotinreich sind Leber, Niere, Ei-gelb und Hefe.

Stoffwechsel. Biotin ist covalent in einer Säureamidbin-dung an die -Aminogruppe eines Lysylrests an Enzympro-teine gebunden. Über die Nahrung gelangt es als Biotinen-

. Abb. 23.24. Biosynthese von Coenzym A aus Pantothensäure

. Abb. 23.25. Biotin und seine Funktion als Coenzym bei Carboxy-lierungen

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

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706 Kapitel 23 · Vitamine

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zym oder nach proteolytischem Abbau desselben als Bio-cytin ( -N-Biotinyllysin) in den Gastrointestinaltrakt. Dort wird Biotin über die Biotinidase freigesetzt und wahr-scheinlich über Natrium-abhängige Multivitamin Trans-porter (SMVT, sodium dependent multivitamin transporter) oder über ›solute carrier‹ (SLC) resorbiert. Intrazellulär wird Biotin an die entsprechenden Biotin-abhängigen Carboxy-lasen gebunden. Das hierfür zuständige Enzym ist die Ho-locarboxylase Synthetase. Durch proteolytischen Abbau entsteht wieder Biocytin, das von der intrazellulären Bioti-nidase gespalten wird (. Abb. 23.26).

Biochemische Funktion. Biotin ist das Coenzym für vier Carboxylasen des Menschen. Es bindet ATP-abhängig eine Carboxylgruppe in Form von HCO3

– und überträgt diese auf die zu carboxylierenden Substrate (. Abb. 23.25).

Die vier Carboxylasen sind:4 Acetyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 12.2.3)4 Pyruvatcarboxylase (7 Kap. 11.3)4 Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 12.2.1) und4 Methylcrotonyl-CoA-Carboxylase

Davon besitzen beim Warmblüter die quantitativ größte Bedeutung die Acetyl-CoA-Carboxylase und die Pyruvat-carboxylase. Erstere ist die Startreaktion zur Fettsäurebio-

synthese (7 Kap. 12.2.3), letztere gehört zu den sog. anap-lerotischen Reaktionen des Citratzyklus (7 Kap. 14.4). In dieser Reaktion wird aus Pyruvat Oxalacetat gebildet, um ausreichende Mengen des Kondensationspartners von Ace-tyl-CoA zur Citratbildung zur Verfügung zu stellen. Über die Beziehungen der Pyruvatcarboxylasereaktion mit der Gluconeogenese (7 Kap. 11.3). Die Propionyl-CoA-Car-boxylase wird beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren und verzweigtkettiger Aminosäuren benötigt, die Methylcroto-nyl-CoA-Carboxylase beim Leucinabbau.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Ein ernährungsbe-dingter Biotinmangel beim Menschen ist selten, da die Darmbakterien substantielle Mengen Biotin synthetisieren, die aber nicht bedarfsdeckend sind. Nur bei biotinarmer Ernährung mit medikamentöser Stilllegung der Darmflora, z. B. mit Antibiotika, kommt es zu einem Biotinmangel, dessen Symptome in Dermatitiden, Haarausfall, nervösen Störungen und EKG-Veränderungen bestehen. Ein ähn-liches Krankheitsbild kann durch Aufnahme größerer Mengen von rohem Hühnereiweiß erzeugt werden. Dieses enthält das Glycoprotein Avidin, das Biotin mit hoher Af-finität bindet und biotinkatalysierte Reaktionen hemmt.

Genetische Defekte der Holocarboxylase Synthetase oder der Biotinidase führen zu schwerem Biotinmangel

. Abb. 23.26. Der Biotin-Zyklus. (Einzel-heiten 7 Text)

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(multipler juveniler Carboxylasemangel), der sich in Me-thylcrotonylglycinurie, Hautausschlägen, Haarausfall, Mus-kelschwäche, Entwicklungsrückstand, progressiven neuro-logischen Symptomen, schweren Azidosen und Krämpfen äußert und der ohne lebenslange Supplementierung mit sehr hohen Dosen Biotin zum Tod führt.

23.3.8 Folsäure

! Folsäure ist das Coenzym für Ein-Kohlenstoffübertra-gungen.

Chemische Struktur. Folsäure (Pteroylpolyglutamat) ist aus einem Pteridinkern, p-Aminobenzoesäure und L-Glut-amat aufgebaut (. Abb. 23.27). In der Nahrung kommen unterschiedliche Formen vor, die sich lediglich in der An-zahl der Glutamylreste, die am Pteridin-p-Aminobenzoe-säure-Komplex angeheftet sind, unterscheiden.

Vorkommen. Besonders reich an Folsäure sind dunkel-grünes Blattgemüse (lat. folium, das Blatt), Avocados, Boh-nen, Spargel, Weizenkeimöl, Leber, Nieren und Hefe.

Stoffwechsel. Mikroorganismen bilden Pteroylmonoglut-amat aus p-Aminobenzoesäure, Glutamat und dem Pteri-dinring (. Abb. 23.27). Die antibakterielle Wirkung von Sulfonamiden beruht auf der kompetitiven Hemmung des Einbaus von p-Aminobenzoesäure. Damit kommt die Fol-säurebiosynthese pathogener Mikroorganismen zum Er-liegen.

Mit der Nahrung aufgenommene Folsäure wird über den SLC 19A1 in den Enterozyten resorbiert und im Plasma in Bindung an Folsäure-bindende Proteine transportiert. Die Aufnahme in die Zellen wird durch einen spezifischen Transporter vermittelt, dessen geringe Affinität für Folsäu-re durch Interaktion mit einem Folatrezeptor, welcher mit Hilfe eines Glycosylphosphatidylinositol (GPI)-Ankers in die Plasmamembran eingebaut ist, deutlich gesteigert wird.

Die biologisch aktive Form der Folsäure ist die Tetrahy-drofolsäure (THF), die durch Reduktion der Folsäure zu Dihydrofolsäure und anschließend zu Tetrahydrofolsäure mit Hilfe der NADPH/H+-abhängigen Folatreduktase bzw. Dihydrofolatreduktase entsteht (. Abb. 23.27).

Biochemische Funktion. Die Vitamine der Folsäuregruppe sind die Coenzyme für Übertragungen von C1-Gruppen (Methyl-, Formyl-, Formiat-, Hydroxymethylreste).

Träger der C1-Gruppen sind die N-Atome in Position5 bzw. 10 des Pteroylrests (. Abb. 23.28). Durch Dehydroge-nase- bzw. Isomerasereaktionen können die 1-Kohlenstoff-reste ineinander überführt werden. . Abbildung 23.28 gibt gleichzeitig darüber Aufschluss, aus welchen Quellen die 1-Kohlenstoffreste stammen und welche weiteren Reak-

tionsmöglichkeiten ihnen im Intermediärstoffwechsel zur Verfügung stehen.

Herkunft der C1-Gruppen: Folsäure übernimmt und überträgt C1-Gruppen unterschiedlicher Oxidationsstufen. Die höchste Oxidationsstufe hat Formiat, das als N5-For-myl-, N10-Formyl-, N5-Formimino- oder N5, N10-Methe-nyl-Rest an die Tetrahydrofolsäure gebunden ist. Die nächst niedrigere Oxidationsstufe ist die des Formaldehyd in der N5, N10-Methylen-THF, die niedrigste ist die Stufe des Me-thanol in der N5-Methyl-THF. Formiat kann ATP-abhängig über die Formyl-THF-Synthetase direkt an Tetrahydrofol-säure angelagert werden. Da der Formiatspiegel in der Zel-le gering ist, hat diese Reaktion unter physiologischen Be-dingungen jedoch nur geringe Bedeutung. Wichtiger ist die Bildung von N5, N10-Methylen-THF durch Übertragung des -Kohlenstoffs des Serins als Hydroxymethylgruppe (7 Kap. 13.5.4, 13.6.2). Sehr wahrscheinlich erfolgt zunächst eine Anlagerung der Hydroxymethylgruppe an N5 gefolgt von einer intramolekularen Wasserabspaltung, sodass die reaktionsfreudige N5, N10-Methylenkonfiguration entsteht. In ähnlicher Weise werden die Methylgruppen von Methio-nin, Cholin und Thymin nach Oxidation zur Hydroxyme-thylgruppe in die Tetrahydrofolsäure eingebaut. Die beim Histidinabbau entstehende Formiminogruppe von Formi-minoglutamat wird als N5-Formimino-THF eingebaut,

. Abb. 23.27. Die Bildung von Tetrahydrofolat aus Folat

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

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708 Kapitel 23 · Vitamine

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zum N5-Formyl-THF desaminiert und danach in N5, N10-Methylen-THF umgewandelt.

Schicksal der 1-Kohlenstoffreste: N10-Formyl-THF ist Kohlenstofflieferant für die C-Atome 2 und 8 des Purin-kerns (7 Kap. 19.1.1). Außerdem stellt es die Formylgruppe der N-Formylmethionin-tRNA, die bei Prokaryonten die Biosynthese von Proteinen startet. N5, N10-Methylen-THF

liefert den Kohlenstoff für die Methylgruppen von Thymin und Hydroxymethylcytosin, sowie den -Kohlenstoff des Serins bei der Umwandlung von Glycin in Serin (7 Kap. 13.6.2). In einer NAD+-abhängigen Reaktion wird N5, N10-Methylen-THF irreversibel durch die N5,N10-Methylen-THF-Reduktase zu N5-Methyl-THF reduziert. Die Methyl-gruppe von N5-Methyl-THF wird für die Cholinbiosyn-

. Abb. 23.28. Funktion der Tetrahydrofolsäure als Coenzym bei Übertragungen von 1-Kohlenstoffresten. (Einzelheiten 7 Text)

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these benötigt und bei der Methioninbiosynthese auf Homocystein übertragen (7 Kap. 13.6.2). Letztere Reaktion ist Vitamin B12 abhängig. Methionin wird in S-Adeno-sylmethionin (SAM) eingebaut, als welches es wie THF als Methylgruppendonor fungiert. SAM hemmt die N5,N10-Methylen-THF-Reduktase. Bei Vitamin B12 Man-gel kann N5-Methyl-THF nicht zu THF demethyliert wer-den. Gleichzeitig wird wenig SAM gebildet, sodass eine Hemmung der N5,N10-Methylen-THF-Reduktase unter-bleibt. Es kommt zu ungehinderter Synthese von N5-Me-thyl-THF, das nicht weiter verstoffwechselt werden kann. So kann es trotz Folsäurezufuhr bei Vitamin B12-Mangel zu einem funktionellen Folsäuremangel kommen. Das Phäno-men der Anhäufung von N5-Methyl-THF nennt man auch ›Methylfalle‹.

Pathobiochemie. Hypovitaminose: Die Essentialität der Folsäure für die Biosynthese von Purinen und Pyrimidinen wird besonders beim Wachstum und bei der Zellteilung deutlich. Da die blutbildenden Zellen des Knochenmarks eine besonders hohe Teilungsrate haben, sind Störungen des Blutbilds ein frühes Zeichen des Folsäuremangels. Bei länger dauerndem Mangel kommt es zu einer generellen Störung des Zellstoffwechsels. Es ist nicht nur die Nuclein-säuresynthese, sondern auch der Phospholipidstoffwechsel (Cholinbiosynthese) und der Aminosäurestoffwechsel be-einträchtigt. Beim Menschen tritt ein im Blutbild nachweis-barer Folsäuremangel (megaloblastäre Anämie) dann auf, wenn über 6 Monate weniger als 5 μg Folsäure/Tag zuge-führt werden. Eine gleichartige Symptomatik zeigt sich auch beim Cobalaminmangel (7 Kap. 23.3.9), die jedoch nur durch Gaben von Cobalamin und nicht durch Folsäure behoben werden kann. Deswegen sollte bei megaloblastä-ren Anämien grundsätzlich der Folsäure- und der Cobala-minspiegel des Serums gemessen werden. Eine Behandlung dieser Anämien nur durch Folsäure würde die durch gleich-zeitigen B12-Mangel verursachten neurologischen Schäden irreversibel machen (7 Kap. 23.3.9). Im Histidinbelas tungs-test kann eine gesteigerte Ausscheidung von Formimino-glutaminsäure im Urin als Folge eines Folsäuremangels nachgewiesen werden (7 o.) (. Tabelle 23.3).

Medikamentös kann Folsäuremangel durch Folsäu-reantagonisten hervorgerufen werden. Durch Substitution der Hydroxylgruppe an Position 4 des Pteridinkerns der Folsäure durch eine Aminogruppe entsteht die 4-Amino-folsäure, das Aminopterin. Wird gleichzeitig an Stellung 10 methyliert, kommt man zum Amethopterin (. Abb. 19.12). Beide Verbindungen wirken als Antivitamine, da sie durch Hemmung der Dihydrofolatreduktase die Bildung von Tetrahydrofolat aus Folsäure blockieren.

Durch beide Folsäureantagonisten kommt es zu einer Konzentrationsabnahme besonders von N5,N10-Methylen-THF. Dadurch werden die Biosynthesen von Purin- und Pyrimidinnucleotiden schwer beeinträchtigt (7 Kap. 19.1.1, 11.1.3).

Amethopterin (Methotrexat) ist ein besonders effekti-ver Hemmstoff der Dihydrofolatreduktase. Deshalb wird Amethopterin als Cytostaticum bei diversen Karzinomen und Sarkomen verwendet.

Täglicher Bedarf. Der Folsäuremangel ist der am weitesten verbreitete Vitaminmangel in Nordamerika und Europa. Besonders Frauen mit Kinderwunsch sollten auf ihren Fol-säurestatus achten, da ein Mangel Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen zur Folge hat. Häufig kann der Bedarf nicht durch die Nahrung gedeckt werden.

Folsäuremangel tritt außerdem bei Alkoholismus, hämo-lytischer Anämie, tropischer und nichttropischer Sprue sowie bei malignen Erkrankungen auf. Der tägliche Bedarf wird mit 400 μg Folsäure angegeben, während der Schwan-gerschaft sollten es 600 μg/Tag sein.

23.3.9 Vitamin B12

! Vitamin B12 (Cobalamin) wird für intramolekulare Um-lagerung von Alkylresten sowie für die Methylierung von Homocystein benötigt.

Chemische Struktur. Der innere Teil des Cobalamin-(Vit-amin-B12-) Moleküls (. Abb. 23.29) besteht aus vier redu-zierten und voll substituierten Pyrrolringen, die um ein zentrales Kobaltion gelagert sind, das koordinativ an die Stickstoffatome der Pyrrolringe gebunden ist (Corrin-Ringsystem). Cobalamin ist der einzige Naturstoff, in dem Kobalt (Name!) bisher nachgewiesen wurde. Im Gegensatz zu den ähnlich aufgebauten Porphyrinen (7 Kap. 22.1.2) sind zwei der Pyrrolringe (I und IV) direkt und nicht durch einen Methinkohlenstoff verbunden.

Cobalamin enthält weiterhin ein 5,6-Dimethylbenzimi-dazol-Ribonucleotid, das über Aminoisopropanol an eine eine Seitenkette des Rings IV gebunden ist. Von dort bildet es eine Brücke zur 5. Koordinationsstelle des Kobaltions. Die 6. Koordinationsstelle kann mit verschiedenen Resten (R) substituiert sein (. Abb. 23.29). Im 5-Desoxyadenosyl-cobalmin ist der 5-Desoxyadenosylrest (Ado) covalent über das C5-Atom der Desoxyribose an das Kobalt gebunden. Dies ist eine der nur 2 bekannten Kohlenstoff-Metallbin-dung in der Biologie.

Vorkommen. Die besten Quellen für die Versorgung des Menschen mit Cobalamin sind tierische Lebensmittel. Nur Mikroorganismen, zu denen auch die Bakterien der Darm-flora gehören, können dieses Vitamin synthetisieren.

Eine besonders hohe Vitamin B12-Konzentration fin-det sich im Pansen von Wiederkäuern, was wahrschein-lich auf den dort vorhandenen Bakterienreichtum zu-rückzuführen ist. Auch die Leber von Wiederkäuern ist wesentlich reicher an Cobalamin als die von Nichtwieder-käuern.

23.3 · Wasserlösliche Vitamine

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710 Kapitel 23 · Vitamine

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Stoffwechsel. In der Nahrung liegt Cobalamin in protein-gebundener Form vor. Durch proteolytische Prozesse im Magen und vor allem im Duodenum wird es freigesetzt und bindet an ein von den Belegzellen der Magenschleimhaut gebildetes, speziesspezifisches Glycoprotein mit einem Mo-lekulargewicht von etwa 50 kD, das als intrinsic factor (IF) bezeichnet wird. Das Protein weist einen hohen Neuramin-säuregehalt auf, der es vor dem Abbau durch Pankreasen-zyme schützt. Im Gegensatz zu den übrigen Nahrungsbe-standteilen erfolgt die Resorption des Cobalamins im un-teren Ileum. Die dort lokalisierten Enterozyten enthalten einen spezifischen Rezeptor der den Cobalamin-intrinsic-factor-Komplex bindet, was dessen Endozytose auslöst. In Lysosomen erfolgt die Trennung vom Rezeptor sowie der proteolytische Abbau des intrinsic factors. Freies Cobalamin wird an ein zweites Transportprotein gebunden, das Trans-cobalamin II, welches für den Transport von Cobalamin

im Blutplasma verantwortlich ist. Die Aufnahme von Trans-cobalamin II-gebundenem Cobalamin in periphere Zellen geschieht über einen weiteren spezifischen Rezeptor eben-falls durch Endozytose des Komplexes. Transcobalamin II wird lysosomal abgebaut. Das freigesetzte Cobalamin wird im Cytosol in Methylcobalamin oder in den Mitochondrien in 5 -Desoxyadenosylcobalamin umgewandelt.

Biochemische Funktion. In Abhängigkeit vom Rest R (.Abb.23.29) unterscheidet man zwei Coenzymformen des Coba-lamins,4 das 5 -Desoxyadenosylcobalamin und4 das Methylcobalamin

Die Biosynthese des 5 -Desoxyadenosylcobalamins erfolgt in einer zweistufigen Reaktion: Zuerst wird Kobalt FAD- und NAD+-abhängig in die 1-wertige Form reduziert, da-nach die aus ATP stammende 5 -Desoxyadenosylgruppe gebunden, wobei die drei Phosphatgruppen des ATP in Form von anorganischem Trimetaphosphat freigesetzt wer-den.

Eine katalytische Funktion des 5 -Desoxyadenosylco-balamins ist die intramolekulare Umlagerung von Alkyl-resten wie z. B. die Isomerisierung von Methylmalonyl-CoA zu Succinyl-CoA beim Abbau ungeradzahliger Fett-säuren (7 Kap. 12.2.1). Diese Reaktion erfolgt über einen Mechanismus, der die Bildung freier Radikale einschließt (. Abb. 23.30). Die Reaktion beginnt mit einer homolyti-schen Spaltung des 5 -Desoxyadenosylrests vom Co3+. Es entsteht Co2+ und ein 5 -Desoxyadenosyl-Radikal (Ado-Radikal). Dieses abstrahiert ein H-Atom von der Methyl-gruppe des Methylmalonyl CoA. Das entstehende Radikal greift das C-Atom der Thioestergruppe an, es entsteht ein indermediäres Radikal am Sauerstoff der Thioestergruppe. Die Bindung zwischen dem - und -C-Atom des Malonyl-teils löst sich, es entsteht das Succinyl-Gerüst. Danach wird wieder das Ado-Radikal gebildet, das mit dem Co2+ rea-giert, das Co3+-Ado ist regeneriert. Die Rolle des 5 -De-oxyadenosylrests ist somit die eines Generators, eines Ra-dikals in der Mutase-Reaktion. Bei Cobalaminmangel wird Methylmalonyl-CoA zu Methylmalonsäure hydroly-siert und mit dem Urin ausgeschieden. Die Ausscheidung dieser Säure ist deshalb ein empfindlicher Indikator eines Cobalaminmangels (. Tabelle 23.3). Methylcobalamin ist an der folatabhängigen Remethylierung von Homocystein zu Methionin (Verknüpfung von Folat- und Cobalamin-stoffwechsel!, 7 Kap. 23.3.8, 13.6.2), beteiligt.

Pathobiochemie. Länger dauernder Cobalaminmangel führt zu perniziöser oder megaloblastärer Anämie (7 Kap. 23.3.8). Der Mangelzustand wird dabei seltener durch einseitige Ernährung (wobei Veganer eher betroffen sind als Vegetarier) ausgelöst. Seine häufigsten Ursachen sind eine verminderte Resorption bei Erkrankungen der Dünn-darmmukosa (z. B. Sprue, 7 Kap. 33.2.7) oder eine fehlende

. Abb. 23.29. Struktur von Cobalamin (Vitamin B12)

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oder mangelhafte Sekretion des für die Resorp tion uner-lässlichen intrinsic factor. Diese kommt bei Erkrankungen der Magenschleimhaut, nach Gastrektomie sowie im Ge-folge spezifischer Autoimmunerkrankungen vor.

Darüber hinaus sind eine Reihe hereditärer Störungen des Cobalamin-Transports und intrazellulären Stoffwech-sels beschrieben worden, die ebenfalls zur Symptomatik der perniziösen Anämie führen. Die Störungen können dabei in allen Schritten des Cobalamin-Stoffwechsels lokalisiert sein, beginnend mit einem Defekt der Bildung von intrinsic factor oder intrinsic factor-Rezeptoren, von Transcobala-min II-Rezeptoren, Störungen der intrazellulären Prozes-sierung der aufgenommenen Cobalamin-Transportprote-in-Komplexe bis zur Methylierung oder Adenosylierung von Cobalamin.

Da die Leber beträchtliche Mengen an Cobalamin speichern kann, vergehen meist Jahre bis zur Manifestation des Krankheitsbildes. Hauptsymptome sind Störungen der Erythropoiese sowie eine Leuko- und Thrombozytopenie. In vielen Fällen treten neurologische Störungen des peri-pheren und zentralen Nervensystems vor den hämatologi-schen Veränderungen auf. Es kommt zu funiculärer Mye-lose, einer herdförmigen Entmarkung der Hinterstrang- und Pyramidenbahnen mit ataktisch spastischen Störungen und zu ähnlichen Polyneuropathien an peripheren Ner-ven. Diese Störungen sind eine Folge der durch den Vita-minmangel ausgelösten Verminderung der Cholin- und damit Phospholipidsynthese sowie der Nucleinsäurebio-synthese.

23.4 Vitaminähnliche Substanzen

Außer den eigentlichen Vitaminen gibt es noch einige vitaminähnliche Wirkstoffe, über deren Vitamincharakter, d. h. Biosyntheseweg bzw. Fähigkeit der menschlichen Zelle zur Biosynthese des betreffenden Stoffes, noch keine Klarheit existiert. Dazu zählt man Inositol, Cholin, Carni-tin, Ubichinone, Flavonoide und die Liponsäure.

. Abb. 23.30. Postulierter Radikalischer Mechanismus der Vit-amin B12-katalysierten Methylmalonyl-CoA-Isomerisierung in der Methylmalonyl-CoA-Mutase-Reaktion. Co3+-Ado = 5 -Des-oxyadenosyl-Cobalamin; Ado = 5 Desoxyadenosylrest; Co2+ = Cobala-min mit zweiwertigem Kobaltion (Einzelheiten 7 Text)

In Kürze

Mit Ausnahme von Ascorbinsäure und Thiamin werden alle wasserlöslichen Vitamine nach Überführung in die je-weils biologisch aktive Form als Gruppen-übertragende Coenzyme verwendet. Übertragene Gruppen sind5 Wasserstoff (Niacin und Riboflavin)5 CO2 (Biotin)5 Acyl-Reste (Pantothensäure) und5 C1-Gruppen (Folsäure, Vitamin B12)

Thiamin ist als Coenzym der oxidativen Decarboxylierung von -Ketosäuren beteiligt. Ascorbinsäure ist ein effizientes Reduktionsmittel und hält Eisen- bzw. Kupferionen in Enzy-men in der für die Katalyse notwendigen reduzierten Form.

23.4 · Vitaminähnliche Substanzen

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712 Kapitel 23 · Vitamine

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