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Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling (Hg.) „Die Schweiz“ im Klang

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Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling (Hg.)

„Die Schweiz“ im Klang

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Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling (Hg.)

„Die Schweiz“ im Klang

Repräsentation, Konstruktion und Verhandlung (trans)nationaler Identität

über akustische Medien

Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV)

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Dieses eBook entstand im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Sinergia-Projekts Broadcasting Swissness – Musikalische Praktiken, institutionelle Kontexte und Rezeption von „Volksmusik“. Zur klingenden Konstruktion von Swissness im Rundfunk an den Universitäten Basel und Zürich sowie der Hochschule Luzern, in Zusammenarbeit mit memoriav (Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgu-tes der Schweiz) sowie mit der Unterstützung des Archivs der Generaldirektion der Schweizerischen Radio- und Fernsehge-sellschaft und swissinfo.ch (internationaler Service der SRG SSR).

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbiblio-thek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publi-kation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bib-liografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf-bar.

Redaktion: Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling Korrektorat: Marc Schwegler Satz, Layout: Karoline Oehme-Jüngling Umschlagsgestaltung: Hanna Zielińska ([email protected]), Fanny Gutsche

© 2014 Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV), Basel www.volkskunde.ch [email protected] ISBN 978-3-908122-96-8

Diese Publikation ist nur als eBook erhältlich (unter www.volkskunde.ch/sgv/publikationen/buecher und http://edoc.unibas.ch/dok/A6289086). Die Publikation enthält Hyperlinks zu anderen Websites, insbesondere zu Hörbeispie-len. Sollten diese nicht mehr aktuell sein, wird um Nachricht an den Verlag gebeten.

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling

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Klang und (trans)nationale Identität. Eine Einleitung

Karoline Oehme-Jüngling

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Ma-schinen. Zur Inszenierung einer (hyper)modernen Schweiz an der Expo 1964

Patricia Jäggi

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Orte und Zeiten im Remix. Künstlerische und symbolische Stra-tegien in der Verarbeitung von Referenzen in translokalen Mu-sikproduktionen. Eine theoretisch-methodische Annäherung

Thomas Burkhalter

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„Nationalheiligthum soll die Tonkunst unter uns werden.“ Hans Georg Nägelis Sicht auf die Schweiz in seinen musikali-schen Schriften

Miriam Roner

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Die Sammlung Fritz Dür. Erste Einblicke in das Forschungskor-pus des Projekts Broadcasting Swissness und die Frage, ob man „Swissness“ musikalisch darstellen kann

Thomas Järmann

93

Mundart-Rock: Zeitgemässe „Swissness“?

Dieter Ringli

109

„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“. Ein-blicke in die Mediennutzung von Schweizer_innen im Ausland am Beispiel der Rezeption von Swiss Radio International

Fanny Gutsche

119

Zur Konstruktion des „Schweizer Klangs“: Kulturwissenschaftli-che Forschungsperspektiven. Ein Resümee

Konrad J. Kuhn

135

Kurzbiografien der Autor_innen

141

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VORWORT

Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling

Die Schweiz ist immer wieder Thema der kulturellen Ausei-nandersetzung, die in nationalen Symbolen, Narrationen oder Erinnerungsorten konkrete Formen annimmt. Während die visuelle Repräsentation der Schweiz in den letzten Jahren in-tensiv erforscht wurde, fragt dieser Band dezidiert nach der akustischen Dimension der Verhandlung und Vermittlung der Schweiz: Wo wird das Verhandlungsfeld Schweiz akustisch hörbar und wie wird Musik/Klang als „typisch schweizerisch“ praktiziert, konstruiert und vermittelt? In welchen Medien wird die Schweiz akustisch repräsentiert, welche Wege der Vermittlung zeichnen sich ab? Wo und wie wird mit den gängi-gen Vorstellungen der Schweiz gebrochen?

Dieser Band entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Broadcasting Swissness – Musikalische Praktiken, institutio-nelle Kontexte und Rezeption von „Volksmusik“ – Zur klingen-den Konstruktion von Swissness im Rundfunk, gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds. Das interdisziplinäre Projekt, das sich aus Forschenden der Universität Basel, der Universität Zürich und der Hochschule Luzern – Musik zusammensetzt, untersucht die Konstruktion und Vermittlung von „Swissness“ mittels (Volks)Musik. Im Zentrum des Forschungsprojekts steht die „Sammlung Dür“ – ein zwischen 1957 und 1967 vom Musikwissenschaftler Fritz Dür im Auftrag von Schweizer Radio International als musikalische Visitenkarte der Schweiz zu-sammengestelltes Konvolut von zirka 8.000 Tonbändern mit „Schweizer Volksmusik“. Leitfrage des gesamten Projektes ist, wie und vor welchen gesellschaftlichen wie institutionellen Hintergründen sich volksmusikalisches Schaffen mit der Insti-tution Rundfunk zu einer wirkmächtigen Stimme zur Verbrei-tung von – klingender – „Swissness“ etablieren konnte.

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Fanny Gutsche, Karoline Oehme-Jüngling

Der Band versammelt Beiträge der ersten Arbeitstagung von Broadcasting Swissness, die im September 2013 unter dem Titel „Die Schweiz“ im Klang - Repräsentation, Konstruktion und Verhandlung (trans)nationaler Identität über akustische Medien vom Basler Teilprojekt veranstaltet wurde.

Permanent sind wir in natürliche und mediatisierte Klänge, Töne und Geräusche unserer Umwelt eingebettet, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Gleichzeitig wissen wir über die kulturelle Bedeutung von Klängen noch viel zu wenig. Mit die-ser Publikation möchten wir dazu anregen, die wissenschaftli-che und öffentliche Beschäftigung mit dem Thema Klang und (trans)nationale Identität weiterzuführen und neue Forschun-gen und Diskussionen in diesem Feld anzustossen.

Wir danken dem Schweizerischen Nationalfonds für die finan-zielle Förderung des Forschungsprojekts. Weiterhin danken wir memoriav (Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kultur-gutes der Schweiz), dem Archiv der Generaldirektion der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft und swiss-info.ch (internationaler Service der SRG SSR) für die Unterstüt-zung bei der Forschung. Ausserdem bedanken wir uns bei un-seren Projektleitern Prof. Dr. Thomas Hengartner, Prof. Dr. Walter Leimgruber und Dani Häusler und unseren Projektkol-legen Dr. des. Johannes Müske (Universität Zürich) und Prof. Dr. Marc-Antoine Camp (Hochschule Luzern – Musik). Gedankt sei auch Prof. em. Dr. Christine Burckhardt-Seebass (Universi-tät Basel), Prof. Dr. Ute Holl (Universität Basel) und Prof. Dr. Cristina Urcheguía (Universität Bern) für ihr Engagement als Diskussionsleiterinnen während der Tagung. Vor allem aber danken wir den in diesem Band versammelten Autor_innen für ihre anregenden und vielschichtigen Beiträge.

Fanny Gutsche und Karoline Oehme-Jüngling

Basel, im Oktober 2014

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KLANG UND (TRANS)NATIONALE IDENTITÄT

Eine Einleitung

Karoline Oehme-Jüngling

Im Sommer 2013 fand in Altdorf im Kanton Uri das Internatio-nale Musikfestival Alpentöne statt. Die erste Festivalausgabe gab es im Jahr 1999 und so war es bereits das achte Mal, dass dieser Anlass zahlreiche Besucher_innen aus der ganzen Schweiz, aber auch aus vielen anderen Ländern in den Tell-Ort lockte. Gemeinsam galt es in Konzerten, Klangperformances und Klanginstallationen, den Sound des Alpenraums auszulo-ten und zu hören, wie die Alpen musikalisch in den ver-schiedensten Stilrichtungen verarbeitet und verhandelt wer-den. Protagonist_innen dieser musikalischen Verhandlung wa-ren nicht nur Komponist_innen, Arrangeur_innen, Inter-pret_innen und Performer_innen, sondern auch der Ort und die Natur selbst, deren Potential als Klangerzeuger und Reso-nanzraum zur Geltung kam. Obwohl Alpentöne grundsätzlich Musik- und Klangschaffende aus dem gesamten Alpenraum, also auch aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Slowenien, versammelt, waren in diesem Jahr überdurch-schnittlich viele Künstler_innen aus der Schweiz eingeladen. Von Dani Häusler, Albin Bruhn, Hans Kennel, Christine Lauter-burg über Marcel Oetiker, Balthasar Streiff, Töbi Tobler bis Isa Wiss, Fredy Studer und Endo Anaconda – alle waren sie da. Das Thema „Alpentöne“ hatte sie gepackt und zu neuen musi-kalischen Experimenten inspiriert.

Zentrale Motivation für diese zeitgenössische musikalische Auseinandersetzung ist das sich in den letzten Jahren immer weiter verdichtende Interesse am kulturell „Eigenen“. Dies bekommt man nicht nur beim Alpentöne-Festival zu spüren, sondern es betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche: So bricht nicht nur das Eidgenössische Schwingerfest von Ausgabe zu Ausgabe den Rekord an Besucherzahlen, auch andere regio-nale Feste und Brauchtumsanlässe sind beliebter denn je. Mo-delabel wie das Ostschweizer Projekt Sentis integrieren tradi-tionelle Kleidung in ihre Kollektionen, die einheimische Küche ist ein nachgefragtes Thema in Kochsendungen und Kochbü-chern und überhaupt das ländliche Leben scheint bei so man-

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Karoline Oehme-Jüngling

chen wieder Sehnsüchte zu wecken – jedenfalls boomen Zeit-schriften wie Landliebe oder Liebes Land. Im Bereich der Volksmusikszene sind in den letzten 10 Jahren zahlreiche neue Projekte und Festivals entstanden, die sich mit volksmusikali-schen Repertoires, Instrumenten, Spieltechniken oder einfach nur mit der Idee einer „Volksmusik“ auseinandersetzen. Und während lange Zeit das „Innovative“ der Kultur als Massstab der kulturpolitischen Förderung galt, diskutiert die Kulturpoli-tik heute verstärkt auch das „Eigene“ in der Kultur. Dies unter anderem im Programm echos – Volkskultur für Morgen der schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia (2006-2009) oder in der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Schutz des Immateriellen Kulturerbes in der Schweiz durch das Bundes-amt für Kultur, die kantonalen Kulturstellen und Vertreter von Kulturinstitutionen.

Es ist offensichtlich, dass die Beschäftigung mit dem „Eigenen“ in der Kultur auf grosses Interesse stösst – und auch die Wis-senschaft ist davon nicht ausgenommen: Ausgangspunkt für diese Publikation ist das Forschungsprojekt Broadcasting Swissness1 (angesiedelt an den Universitäten Basel und Zürich sowie der Hochschule Luzern), das sich mit einer spezifischen Sammlung „Schweizer Musik“ beschäftigt – einer Sammlung, die der Basler Musikwissenschaftler Fritz Dür in den 1950/60er Jahren für den Schweizer Kurzwellendienst anlegte und die über Schweizer Radio International in alle Welt verbreitet wurde.2 In der Sammlung – vor allem in ihrer thematischen Ausrichtung und Struktur – manifestiert sich ein „Bild“ oder besser: eine Klangvorstellung der Schweiz, die akustisch nach aussen getragen und nicht nur an Auslandsschweizer_innen, sondern an Interessierte aus aller Welt vermittelt werden sollte. Dieser Klangvorstellung, die im Kontext der Geistigen Landesverteidigung und des Kalten Krieges auch einen politi-schen Auftrag erfüllen sollte, ist das Projekt Broadcasting Swissness auf der Spur. Um näher einzuordnen, in welcher Klangtradition diese Sammlung zu verorten ist, unter welchen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und über wel-che Medien und Techniken sich diese Klangtradition weiter-entwickelte, veranstaltete das Basler Teilprojekt von Broadcas-

1 Vgl. URL: www.broadcasting-swissness.ch (Stand: 16. Januar 2014). 2 Vgl. den Beitrag von Thomas Järmann in diesem Band. 8

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Klang und (trans)nationale Identität

ting Swissness eine Tagung, deren Referate in dieser Publika-tion nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.

Uns interessiert dabei vor allem, wo das Verhandlungsfeld „Schweiz“ akustisch hörbar wird, wie Musik und Klang als ty-pisch „schweizerisch“ vermittelt werden und welche Medien und Techniken an diesem Aushandlungsprozess beteiligt sind. So beschäftigen sich die Beiträge in diesem Band unter diesem Fokus mit den unterschiedlichsten musikalischen Feldern, Techniken und Medien.

Diese Einleitung soll einen Überblick zum Thema „Klang und (trans)nationale Identität“ geben. Es wird gezeigt, in welchen Kontexten Klänge und Musik in der Suche nach Identität – vor allem in der Suche einer „schweizerischen“ Identität – eine Rolle gespielt haben. Dabei lassen sich verschiedene Konjunk-turen feststellen, in denen die Verständigung über das „Ei-gene“ nicht nur in der Musik, sondern in allen gesellschaftli-chen Bereichen, von grosser Bedeutung war. Diese Konjunktu-ren der nationalen Selbstverständigung waren massgeblich von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontexten und drängenden Fragen ihrer Zeit abhängig. Im Rahmen dieser gesellschaftlich oft sehr einschneidenden Diskussionen wurde versucht, auch jenseits der Sprache den Menschen sinnliche und emotionale Zugänge zu den Zeitdiskursen zu eröffnen. Hierbei spielten Klang und Musik eine nicht zu unterschät-zende Rolle. Im Fokus meines Beitrags sollen so Klangvorstel-lungen stehen, die „schweizerische“ Identität gestiftet und vermittelt haben – Klangvorstellungen, die dann stereotypisch wurden, aber auch immer wieder neu kontextualisiert oder gar dekonstruiert wurden. In diesem Zusammenhang soll auch nach konkreten Techniken gefragt werden, die es ermöglich-ten und ermöglichen, dass eine Musik/ein Klang mit nationaler Signifikanz ausgestattet wird.

Die genannten Fragen bewegen sich vor allem im Bereich der Klangforschung bzw. Klanganthropologie – einem neueren Forschungszweig der Kulturwissenschaft, der sowohl begriff-lich als auch methodisch grosse Herausforderungen birgt. Zwei dieser Herausforderungen, die bei der Beschäftigung mit der „‚Schweiz‘ im Klang“ eine wesentliche Rolle spielen, sollen kurz angerissen werden:

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a) Zum mehrdeutigen Begriff des Klangs: Die Schweiz wird klanglich sehr schnell mit volkstümlichen Tönen wie Kuhrei-hen, Alphornmelodien und Jodel kurz: mit naturverbundener Volksmusik assoziiert. Doch was meint der Begriff des „Klangs“ eigentlich genau? Von welchem Klangbegriff können wir aus-gehen? Der Begriff des Klangs verweist zunächst einmal auf jegliches physikalisches Klanggeschehen – das heisst auf Schallwellen, die von uns Menschen durch das Ohr wahrge-nommen und neuronal verarbeitet werden. Neben dieser phy-sikalisch-medizinischen Dimension des Begriffs „Klang“ kom-men jedoch weitere Definitionen hinzu, die verschiedene Reichweiten haben. Während in der klassischen Musiktermi-nologie der Begriff des „Klangs“ eher eng als das Auftreten eines natürlichen Tons – bestehend aus einem Grundton und mehreren Obertönen – bezeichnet wird, meint „Klang“ im kul-turanthropologischen Verständnis und im Anschluss an den englischsprachigen Begriff „Sound“ einen unbestimmten Teil der Schallumwelt, das heißt alle akustischen Manifestationen, die durch ein Subjekt produziert, wahrgenommen, und gedeu-tet werden. Für die Kulturanthropologie ist der Fokus auf die Deutung bzw. die akteursspezifischen Konzepte der jeweiligen Klangpraktiken essentiell – beispielsweise ob Klang als Musik oder Lärm gedeutet wird.3 Dieser Fokus soll auch für die Aus-einandersetzung mit der „Schweiz im Klang“ wegleitend sein.

b) Zum methodischen Problem der Klangforschung, insbeson-dere der Forschung zur „Schweiz im Klang“: Wenn man sich wissenschaftlich mit Klängen beschäftigt, ist man darauf an-gewiesen, diese Klänge auch zu hören. Allerdings befinden wir Forscher_innen uns in der schwierigen Situation, dass in dem Moment, in dem sich die Nation formierte und versucht wurde, auch über kulturelle Ausdrucksformen wie Lieder, Mu-sik und Klang nationale Einheit zu stiften, die Tonaufzeichnung noch gar nicht erfunden war. So müssen wir uns in dieser wichtigen Phase vor allem auf schriftliche und bildliche Quel-len stützen bzw. über Notationen Musik rekonstruieren. Nota-tionen mögen uns bei der Analyse von Musik, zum Beispiel Volksliedern, helfen, und auch visuelle Quellen können uns

3 Vgl. Oehme-Jüngling, Karoline: Auditive Feldforschung. In: Christine Bischoff u. a. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Basel 2014, S. 351-366, hier S. 354f. 10

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beispielsweise Auskunft darüber geben, welche Musikinstru-mente, Besetzungen und Anlässe wichtig waren; für die Be-schäftigung mit den alltäglichen Klangsphären, den Alltagsge-räuschen und Soundkulissen, die vor der Erfindung der Klang-aufzeichnung existent waren, bringen sie jedoch nur wenig. Damit ist man in dem methodischen Dilemma, sich nicht für jeden relevanten Zeitabschnitt auf vergleichbare und ähnlich aussagekräftige Quellen stützen zu können.

Die ersten Tonaufnahmen von „realen“ Klängen konnten übri-gens erst mit der Erfindung des Wachswalzen-Phonographs von Thomas Edison im Jahr 1888 umgesetzt werden, wenn auch noch nicht technisch und qualitativ auf dem hohen Ni-veau, wie dies heute möglich ist.

Der Klang des „Volks“

Möchte man sich mit als „typisch“ verhandelten Klangvorstel-lungen der Schweiz beschäftigen, so ist es naheliegend nach Musik und Klang zu fahnden, die genau aus der Zeit stammen, in der sich die Schweiz konstituierte und das Nation Building seine Hochzeit erlebte. Dieser Prozess, der zeitlich vor allem das 18. und 19. Jahrhundert betraf, wurde in der Schweiz un-ter besonderen Bedingungen vollzogen: Anders als in anderen europäischen Ländern war hier die Diversität – das heisst die kulturelle, sprachliche, konfessionelle und politische Vielfalt – besonders gross; eine Vielfalt, die sich noch heute in vier offi-ziellen Sprachen und 26 selbstständigen Kantonen nieder-schlägt.

In die Zeit des Nation Buildings fiel nicht von ungefähr die Ent-deckung des „Volks“, das als Basis des sich formierenden na-tionalen Gefüges verstanden wurde und für dessen „Sitten und Bräuche“ sich vor allem bildungsbürgerliche Kreise inte-ressierten. Dabei gilt die anbrechende Moderne als eine we-sentliche Reflexionsfläche, vor der die Hinwendung zum Volk verstehbar wird: Die fortschreitende Industrialisierung, die im deutschsprachigen Raum vor allem seit Ende des 18. Jahrhun-derts einsetzte, führte zu massiven Veränderungen der gesell-schaftlichen Strukturen.

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Karoline Oehme-Jüngling

Das Interesse am Volk fällt in der Schweiz in erster Linie mit der Alpenbegeisterung zusammen. Galten die Alpen vor 1750 noch als verschlossene und von Naturgewalten bedrohte Re-gion, änderte sich diese Sicht im ausgehenden 18. Jahrhun-derts radikal. Durch Reiseberichte oder andere literarische Abhandlungen wurde das Interesse des städtischen Bildungs-bürgertums am Gebirgsmassiv geweckt. Die Alpen wurden zunehmend als ästhetischer und damit positiv konnotierter Wert wahrgenommen.4 Neben der Entwicklung einer touristi-schen Infrastruktur in den Alpen wurden zunehmend auch die Traditionen und Lebensweisen der Älpler_innen zur Schau ge-stellt. Bei den beiden Unspunnenfesten, die 1805 und 1808 bei Wilderswil (BE) im Berner Oberland stattfanden, wurden die Spiele und Wettkämpfe der Alphirten präsentiert. Die in Un-spunnen gezeigte „Volkskultur“ diente schliesslich als geistes-geschichtliche Grundlage der Schweiz auf dem Weg zu einer modernen Nation; dies vor allem in einer Zeit, in der nach dem Scheitern der Helvetischen Republik (1803) und den Feldzügen Napoleons durch ganz Europa (ab 1805) eine politische Neu-ordnung angestrebt wurde.

Der politische Prozess des Nation Buildings sollte auch kultu-rell untermauert und sinnlich erfahrbar gemacht werden. Aus diesem Grund wurden kulturelle Ausdrucksformen wie Volks-lied, Volksmärchen oder Volkspoesie nicht nur wiederbelebt, sondern vielfach neu erfunden. Hinzu kam die Entstehung zahlreicher nationaler Mythen wie der Tell-Sage oder dem Rütli-Schwur, die Ausprägung kollektiver Symbole sowie die Thematisierung nationaler (Erinnerungs)Orte. Musik erfüllte im Prozess des Nation Buildings die Funktion, die kulturelle Identität zu beglaubigen5 und sinnlich erfahrbar zu machen.

Ein erstes Dokument, das einen spezifisch schweizerischen Klang beschreibt, ist der Bericht von Johannes Hoferus (1669-1752) aus dem Jahr 1688 über die Wirkung der „Kuhreihen“6 –

4 Vgl. Risi, Marius: Alltag und Fest in der Schweiz. Eine kleine Volkskunde des kulturellen Wandels. Zürich 2003, S. 9-19. 5 Gerhard, Anselm: Einleitung. In: Anselm Gerhard, Annette Landau (Hg.): Schweizer Töne. Die Schweiz im Spiegel der Musik. Zürich 2000, S. 11-15, hier S. 13. 6 Vgl. Hoferus, Johannes: Dissertatio medica de nostalgia, oder Heimwehe. Basel 1688. Vgl. auch das Hörbeispiel eines der bekanntesten vokalen Kuhreihen: Ranz de vaches (trad.), gesungen vom Choeur des Armaillis de la 12

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Hirtenlieder, die bei den Schweizer Söldnern im Ausland Heimwehzustände hervorrufen sollten. Die sogenannte „Schweizer Krankheit“ konnte laut Hoferus Entkräftung, Fieber oder gar Tod zur Folge haben und die Soldaten zur Fahnen-flucht verleiten.

Die Legende von der durch die Kuhreihen verursachten „Schweizer Krankheit“ wurde von verschiedenen Gelehrten im 18. Jahrhundert aufgegriffen und weiterverfolgt: Unter ande-rem durch den Zürcher Philologen Johann Jakob Bodmer (1698-1783), der sich für die literarischen Ausdrucksformen des „Volks“, insbesondere die Mundart, interessierte. Er machte sich um 1724 auf die Suche nach den noch gesunge-nen Kuhreihen seiner Zeit.7 Für ihn galten die Kuhreihen als spezifisch schweizerische Lieder und Ausdruck von helveti-schem Patriotismus.8 Dass sich seine Deutung vom Kuhreihen als helvetischer Musikgattung wirkmächtig durchsetzte, zeigt die Sammlung Schweizer Kuhreihen, die Franz Sigismund Wag-ner anlässlich des ersten Unspunnenfests 1805 herausgab und die in der Folge kontinuierlich überarbeitet wurde. Die Sammlung weckte das Interesse der bildungsbürgerlichen Elite Europas. Spätestens die Verwendung eines Kuhreihens durch Gioachino Rossini im dritten Teil seiner Tell-Ouvertüre im Jahr 1829 zeigt, dass der Kuhreihen den Status eines stereotypi-schen Schweizer Klangs angenommen hatte.

Wie bereits erwähnt, bereiteten die Unspunnenfeste auch den Weg für einen zweiten als „typisch schweizerisch“ verhandel-ten Klang: den Klang des Alphorns. Das Alphorn als Sig-nalinstrument der Alphirten wurde hier erstmals einem brei-ten Publikum bekannt gemacht9 – obwohl die Veranstalter

Gruyère, CD Eusi Schwiiz. Tell 1994, Track 10. Eine andere Version findet sich unter URL: www.youtube.com/watch?v=dj_t5t8zsXQ (Stand: 12. Mai 2014). 7 Vgl. den Briefwechsel zwischen Laurenz Zellweger und Johann Jakob Bodmer zitiert nach Tobler, Alfred: Kühreihen oder Kühreigen. Jodel und Jodellied in Appenzell. Leipzig, Zürich 1890, S. 130. 8 Vgl. Baumann, Max Peter: Musikfolklore und Musikfolklorismus.Eine ethnomusikologische Untersuchung zum Funktionswandel des Jodels. Winterthur 1976, S. 118. 9 Vgl. Bachmann-Geiser, Brigitte: Volksmusikinstrumente der Schweiz. Geschichte – Herstellung – Verwendung. In: Kornhaus Burgdorf, Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Musée gruérien Bulle (Hg.): Musikinstrumente der Schweiz 1685-1985. Volksmusik, Militärmusik, bürgerliche Musik, Kirchenmusik und Musikdosen. Ausstellungskatalog zur

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beim ersten Fest vor dem Problem standen, gerade noch zwei Alphornbläser ausfindig machen zu können:

„Es scheint, dass mehrere derselben sich noch nicht getrauten, aufzutreten, und die abgelegten Proben beweisen ebenfalls, wie recht die Stifter dieses Festes hatten, diese Schweizerische Eigen-heit und alte rührende Musik nicht in Verfall kom-men zu lassen.“10

In der Argumentation der Veranstalter von Unspunnen stand fest, dass hier eine alte, jahrhundertelang praktizierte Tradi-tion im Verschwinden begriffen ist und gerettet werden muss. Indem die Veranstalter darüber hinaus dem Alphorn den Sta-tus einer „schweizerischen Eigenheit“ zuwiesen, wurde der Mythos vom Alphorn als Nationalinstrument der Schweiz ge-boren. Die Bemühungen der Wiederbelebung der Alphorn-Praxis erwiesen sich als erfolgreich: Schon beim zweiten Un-spunnenfest spielten ein Dutzend Alphornspieler auf.

Alphorn und Kuhreihen passen sich ein in den Mythos, dass gerade die Landschaft der Alpen einen spezifischen Klang pro-duziere oder diesen zumindest begünstige. Viele Thesen zur Entstehung der alpinen Musik – wie Alphornspiel und Jodelge-sang – basieren auf der Annahme, dass das Echo – als zentra-les akustisches Phänomen der Berge – diese Musizierformen erst ermöglicht habe. Die These vom helvetischen Echoraum11 ist aber umstritten, finden wir hölzerne Langtrompeten doch in allen Landschaften dieser Erde, und auch das Prinzip des Jodels wird beispielsweise von den zentralafrikanischen Pyg-mäen im Flachland verwendet. Die Assoziation von Alphorn und Jodel mit der Landschaft der Alpen ist demnach Resultat der für die schweizerische Identität immens wichtigen Deu-tung, das diese Musikgattungen quasi natürlichen Ursprungs seien. Das Ideal des Natürlichen war auch für die damaligen Vertreter der Kunst massgebend: Der Komponist und Päda-

gleichnamigen Ausstellung im Kornhaus Burgdorf. Zürich 1985, S. 17-20, hier S. 18. 10 Franz Sigismund Wagner zitiert nach Gallati, Rudolf, Christoph Wyss: Unspunnen 1805-2005. Die Geschichte der Alphirtenfeste. Interlaken 2005, S. 47. 11 Sánchez, Yvette, Joseph Jurt, Ottmar Ette: Wie klingt die Confoederatio Helvetica? In: Dies. (Hg.): Die Schweiz ist Klang. Basel 2007, S. 9-13, hier S. 11. 14

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goge Hans Georg Nägeli sah die Aufgabe der Kunst in der Er-höhung und Veredelung des Naturlebens.12

Die Wirkmächtigkeit der Deutung vom natürlichen Ursprung zeigt sich auch im Umkehrschluss: Wo diese Deutung nicht angewendet werden konnte, weil ein Klang zum Beispiel me-chanisch produziert war und damit dem Ideal des Natürlichen widersprach, konnten Klänge nicht in diesem Masse nationale Signifikanz erlangen wie andere Klänge. Das betrifft zum Bei-spiel den Klang der Musikdose. Obwohl dieses mechanische Musikinstrument eine genuin schweizerische Erfindung war – der Genfer Uhrmacher Antoine Favre-Salomon erfand 1796 das Prinzip der klingenden Stahlzunge – und die Herstellung dieser Instrumente für eine ganze Region wichtig werden sollte, ist die schweizerische Herkunft des Instruments heute eher Insidern bekannt. Der Musikdose wurde das Label des „Modernen“ zugewiesen. Das führte dazu, dass die Musikdose nicht wie selbstverständlich mit der heimischen „Volkskultur“ konnotiert wurde, dafür aber als bahnbrechende Innovation in alle Welt verkauft werden konnte. Wenn der Klang der Musik-dose sich zwar nicht als „typisch schweizerisch“ durchsetzte, so wurde die Musikdose später doch noch zum Träger bzw. Medium nationaler Identität: Das Museum für Mechanische Musikinstrumente in Seewen bewahrt eine Musikdose auf, die die Melodie des Schweizerpsalms – das heisst der Schweizer Nationalhymne – spielt.13

Wenn von nationalen Klängen gesprochen wird, dann müssen auch Nationalhymnen thematisiert werden. Während als Aus-druck von Patriotismus die Franzosen die Marseillaise singen, so haben viele Schweizer heute ein ambivalentes Verhältnis zu „ihrer“ Nationalhymne und kritisieren vor allem den veralteten Text. Das Unbehagen an der eigenen Nationalhymne dürfte jedoch weiter zurückgehen und spiegelt sich auch darin, dass die Nationalhymne erst im Jahr 1981 offiziell anerkannt wurde. Woran mag das liegen? Einerseits könnte der stark katholische Hintergrund des Liedes ein Grund dafür sein, dass das Lied im

12 Vgl. den Beitrag von Miriam Roner in diesem Band. 13 Vgl. Beyer, Theresa: Der Reiz des Künstlichen. URL: http://norient.com/blog/musikautomaten/ (Stand: 21. Januar 2014). Auf der Website findet sich auch ein Hörbeispiel von der genannten Musikdose. Zugebenermassen ist die Melodie des Schweizerpsalms nicht einfach zu erkennen, da sie speziell für die Musikdose bearbeitet wurde.

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Karoline Oehme-Jüngling

multikonfessionellen Gefüge der Schweiz keine breite Zustim-mung fand: So ist der Text, der von Leonhard Widmer verfasst wurde, von tiefer Ehrfurcht vor Gott geprägt. Auch die Melo-die, die der Zisterziensermönch Alberich Zwyssig im Jahr 1841 anfertigte, basiert auf dem Messegesang Diligam te Domine, den Zwyssig einige Jahre vorher komponiert hatte. Anderer-seits waren analog zum Beispiel der Musikdose die natürlich entstandenen Klangtraditionen für die Ausbildung nationaler Identität in der Schweiz immer wichtiger als die komponierten Werke. Der Ruch des Künstlichen war so prägend, dass bei-spielsweise der Berner Theologe und Liedtexter Gottlieb Jakob Kuhn (1775-1849) seine in Mundart verfassten Lieder anonym veröffentlichte und über Hausierer und Bänkelsänger verbrei-ten liess, um zu verschleiern, dass diese eigentlich komponiert waren.14

Zentrale Techniken der akustischen Stiftung und Vermittlung von Identität im 18. und 19. Jahrhundert waren damit das Komponieren von Liedern im Volkston (in Mundart) und vor allem das Sammeln von Liedern aus dem „Volk“. Zu den wich-tigsten Volksliedsammlern der damaligen Zeit gehörten unter anderem die Berner Johann Rudolf Wyss (1781-1830) und Fer-dinand Fürchtegott Huber (1791-1863) sowie die Zürcher Jo-hann Martin Usteri (1763-1835), David Hess (1770-1843) und Ulrich Hegner (1759-1840).

Der Klang des „Eigenen“ im Spiegel des „Anderen“

Während die Idee eines schöpferisch tätigen „Volks“ in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung um den Zweiten Welt-krieg noch einmal aufflammte, kam es ab Mitte des 20. Jahr-hunderts zu einer Neubewertung nationaler Identität. Auf der einen Seite hatte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs vor allem in Europa die Idee der Nation ins Wanken gebracht und in schrecklicher Weise die Gefahr eines überbordenden Natio-nalismus offenbart. Andererseits wurden ausserhalb von Eu-ropa die einst kolonialisierten Länder unabhängig – Länder, die

14 Vgl. Baumann, Max Peter: Älplerfeste zu Unspunnen und die Anfänge der Volksmusikforschung in der Schweiz. In: Anselm Gerhard, Annette Landau (Hg.): Schweizer Töne. Die Schweiz im Spiegel der Musik. Zürich 2000, S. 155-186, hier S. 162. 16

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Klang und (trans)nationale Identität

sich nun auf der Suche nach einer eigenen, nationalen Identi-tät befanden. In der Dialektik der grundsätzlichen Infragestel-lung des Konzepts der Nation (in Europa) und des Bedürfnisses nach Aufbau nationaler Identität (in den ehemaligen Kolonien) formierte sich im Jahr 1944 die UNESCO – die Organisation der Vereinigten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur – der die Schweiz im Jahr 1949 beitrat. Zwar hält die UNESCO schon allein auf Basis ihrer Organisation an nationalen Struktu-ren fest, dennoch erfuhr das Konzept der Nation einen wichti-gen Richtungswechsel. Die Vergewisserung der eigenen natio-nalen Identität wurde als wichtig erachtet – allerdings vor dem Hintergrund eines Pluralismus der Kulturen. So empfahl der von der UNESCO in Auftrag gegebene MacBride Report aus dem Jahr 1980 die Erarbeitung nationaler Kulturpolitiken, die Förderung der eigenen kulturellen Identität und Kreativität, aber auch die Offenheit und Achtung gegenüber anderen Kul-turen und Identitäten. Nationale Identität im Kontext der UN-ESCO-Diskussionen stützt sich demnach vor allem auf die Be-wahrung der Tradition, der Geschichte, der gesellschaftlichen Werte sowie der Grundpfeiler der eigenen sozialen Systeme.

Obwohl die als „schweizerisch“ erachteten Klänge dieser Zeit im Wesentlichen auf denen des 18. und 19. Jahrhunderts ba-sierten, wurden sie nun durch Komponist_innen, Arran-geur_innen und Interpret_innen in neue Zusammenhänge ge-stellt. „Schweizerische“ Klänge wurden vielfach mit Internatio-nalität verbunden und über die neuen Massenmedien verbrei-tet. Der musikalische Austausch über die Grenzen der eigenen Nation hinweg wurde positiv bewertet, die „eigene“ Musik im Spiegel der „anderen“ erkannt.

Ein Beispiel dafür sind die Radio-Unterhaltungsorchester, wie das 1946 durch Cédric Dumont gegründete Unterhaltungsor-chester von Radio Beromünster. Die Idee der Unterhaltungs-orchester, die populäre Musik ihrer Zeit mit Swing verbanden, kam aus den USA nach Europa und machte – neben Holly-woodfilmen – eine breite Bevölkerung in der Schweiz mit US-amerikanischer Unterhaltungskultur bekannt. Die Orchester verknüpften den Swing aber auch mit heimischen Tönen. Ein Beispiel dafür ist die Dixieland-Bearbeitung der beiden Schwei-

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zer Volkslieder Dört obe-n-uf em Bärgli und Im Aargau sy zwöi Liebi.15

Als Vermittler nationaler Identität wichtig war im Kontext des Rundfunks der Schweizerische Kurzwellendienst, später be-kannt unter dem Namen Schweizer Radio International. Als „Stimme der Schweiz“ hatte der Sender die Aufgabe, Informa-tionen, aber auch kulturelle Berichte aus der Schweiz ins Aus-land zu tragen und Kulturförderung zu betreiben; er richtete sich dabei einerseits an eine auslandsschweizerische Commu-nity, andererseits an interessierte Hörer_innen aus aller Welt.16 „Schweizer Klänge“ wurden auch zur Verbesserung der Erkennbarkeit des Senders im Äther eingesetzt – die Übertra-gung per Kurzwellentechnologie war für Störungen anfällig und so war es wichtig, einen Sound mit Wiedererkennungs-wert zu generieren. Dieser Sound wurde vor allem im Klang der Handorgel gefunden – ein Instrument, das in der Ländler-musik eine wichtige Rolle spielte und sich über Kurzwelle aus-gezeichnet übertragen liess. Ein weiteres Erkennungszeichen des Senders war das Pausenzeichen des Kurzwellendiensts.17 In geschickter Weise wurde hier die bereits erwähnte Musik-dose – als Instrument schweizerischer Herkunft, aber globaler Verbreitung – mit der Melodie des bekannten Volkslieds Lu-eged vo Bärg und Tal18 verknüpft – einem Lied, das im 19. Jahrhundert dem Kanon des schweizerischen Liedguts zuge-wiesen wurde. Das Pausenzeichen lässt sich also als ein Cross Over von Tradition und Innovation deuten.

Schweizer Radio International setzte aber nicht nur auf diese quasi stereotypischen Klänge der Schweiz, sondern produ-zierte auch Aufnahmen „realer“ Klangumwelt, die der Sender für seine Reportagen verwendete.19

15 Vgl. das Medley Dört obe-n-uf em Bärgli und Im Aargau sy zwöi Liebi (Arr. Raymond Droz, Interpreten: Unterhaltungsorchester Beromünster unter der Leitung von Hans Moeckel). In: Musica Helvetica No. 48 (Pop Music from Switzerland: Swiss Folk Music Goes Pop). Swiss Broadcasting Corporation. European and Overseas Services (Transcriptions) 1974. 16 Vgl. den Beitrag von Fanny Gutsche in diesem Band. 17 Vgl. ein Hörbeispiel des Pausenzeichens auf URL: www.sarganserland-walensee.ch/radio_tv_historisch/audio/schwarzbg.mp3 (Stand: 21. Mai 2013). 18 Text: Josef Anton Henne (1823), Melodie: Ferdinand Fürchtegott Huber. 19 Vgl. den Beitrag von Patricia Jäggi in diesem Band. 18

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Klang und (trans)nationale Identität

Unter dem Eindruck vor allem amerikanischer und britischer Vorbilder setzte sich zunehmend auch die Rock- und Popmusik in der Schweiz durch. Nur wenige Bands aus der Schweiz konn-ten, wie zum Beispiel Krokus, internationale Beachtung erlan-gen. Im Mundartrock und -pop versuchte diese Szene jedoch eine eigene Sprache zu finden.20

Die Schweiz wurde nicht nur von innen, das heisst von Schwei-zer Komponist_innen, Interpret_innen etc., thematisiert. Für den Bereich der Popmusik sei hier auf ein Beispiel des Italo-Popmusikers Lou Sern verwiesen, der in seinen Song Swiss Boy21 auf stereotypische Schweizer Klänge zurückgreift: Mit Uhrticken, Kuckucksuhr und Kuhglocken greift Lou Sern zwar ganz tief in die „Klischeekiste“, das Beispiel zeigt aber auch, wie wirkmächtig diese Stereotypen einzustufen sind.

Zentrale Techniken der akustischen Stiftung und Vermittlung nationaler Identität waren im Rahmen der neukontextualisier-ten und in internationale Zusammenhänge gestellten Nation nicht mehr das Sammeln wie im 19. Jahrhundert, sondern vor allem das Vermischen von Stilrichtungen (die sogenannten „Cross Over“) und das Nutzen der neuen Massenmedien, aus-gehend vom Rundfunk zum Fernsehen sowie bei den Tonträ-gern von der Schallplatte bis später zur CD.

Tönende „Swissness“

Wie steht es heute mit „Klang und nationaler Identität“? Ei-nerseits ist die nationale Identität einem Gefüge verschiedens-ter anderer Identitäten gewichen. So reicht das Spektrum von regionalen bis globalen, von subkulturellen bis lifestyle-ge-prägten Identitätsangeboten, die zueinander auch in Konkur-renz treten können. Im Gegensatz zur früheren Deutung von nationaler Identität als kollektiver Handlungsorientierung sind Identitäten heute in hohem Masse individuell verhandelbar, fragmentarisch oder hybrid. Andererseits erlebt nationale Identität trotz oder gerade wegen der postmodernen Deu-tungsvielfalt von Identität wieder ein Revival – und zwar vor allem in Form der Rede von der „Swissness“. Obwohl „Swiss-

20 Vgl. den Beitrag von Dieter Ringli in diesem Band. 21 Vgl. ein Hörbeispiel des Songs auf URL: www.youtube.com/watch?v=Ik-1v2_SOoY (Stand: 21. Januar 2013).

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ness“ zunächst als wirtschaftliches Konzept im Rahmen der Dachmarkenstrategie Schweiz gebildet wurde22, wird es heute auf alle gesellschaftlichen Bereiche angewendet. So werden nationale Mythen, kollektive Symbole und Techniken der Her-stellung nationaler Identität aktuell wieder aufgegriffen und im Kontext der Erlebnis- und Konsumgesellschaft neu gedeutet. Es geht dabei nicht mehr um Nation-Building oder Kulturwer-bung sondern um die Rolle der modernen Schweiz angesichts von Globalisierung, Transnationalisierung und Transkulturali-sierung.

Dadurch, dass das, was durch die Menschen individuell als „die Schweiz“ oder „typisch schweizerisch“ gedeutet wird, vielfältig sein kann, ist auch das Spektrum der „Schweizer Töne“ weiter geworden. Alles kann zu einem „Heimatklang“ werden, wenn es durch eine Gruppe oder Einzelne so gedeutet wird.

Darauf hat auch die kürzlich im Landesmuseum in Zürich ge-zeigte Sonderausstellung tü-ta-too. Das Ohr auf Reisen hinge-wiesen – eine Hörausstellung, die von der Nationalphonothek in Lugano kuratiert wurde. „Die Schweiz im Klang“ begegnet uns demnach heute nicht nur in Liedern, Musikstücken, Mu-sikinstrumenten oder speziellen Spiel- und Auftrittspraktiken, sondern auch in unserem akustischen Klangalltag. Ein solches Alltagsgeräusch sind zum Beispiel die Jingles der Schweizeri-schen Bundesbahnen – für jede Sprachregion spezifisch, aber kombiniert ergeben sie eine Melodie.23 Diese werden von vie-len In- und Ausländer_innen wie selbstverständlich mit der „Schweiz“ assoziiert. Manche dieser Alltagsgeräusche rekurrie-ren aber auch wieder auf den im 19. Jahrhundert gebildeten Klangkanon. Das Posthorn der Schweizer Postautos24 beispiels-weise greift mit seinem unverwechselbaren Dreiklang auf den Tönen „cis‘-e-a“ auf den erwähnten Kuhreihen in der Ouver-türe zu Rossinis Oper Wilhelm Tell25 zurück.

Doch auch Klänge, die nicht stereotypisch für „die Schweiz“ sind, können heutzutage als Klänge „der Schweiz“ gedeutet

22 Vgl. URL: www.ige.ch/juristische-infos/rechtsgebiete/swissness/verlauf.html (Stand: 22. Januar 2014). 23 URL: www.youtube.com/watch?v=ss3wlIx1oC0 (Stand: 12. Mai 2014). 24 URL: www.postauto.ch/pag-startseite/pag-ueberuns/pag-portrait/pag-posthorn/pag-nat-posthorn-original.mp3 (Stand: 12. Mai 2014). 25 URL: www.youtube.com/watch?v=xoBE69wdSkQ, ab 06:10 (Stand: 12. Mai 2014). 20

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Klang und (trans)nationale Identität

werden. Ein Beispiel dafür ist die musikalische Expedition Ton & Tal, die im Sommer 2013 in der Schweiz stattfand und von Lydia Jeschke, Thomas Meyer und Johannes Rühl inszeniert wurde. 13 Musiker_innen, die die Schweiz zu Fuss, per Schiff und Bahn durchquerten, stellten sich gemeinsam die Frage „Wie klingt die Schweiz?“.26 Innerhalb ihrer Klangaktionen ver-banden sie Klänge der Umwelt mit Kompositionen schweizeri-scher Künstler_innen.27

Wenn in der postmodernen Deutungsvielfalt alles zu „Schwei-zer“ Klängen werden kann, dann bedarf es Techniken, die diese Deutungen veranschaulichen bzw. hörbar machen. Eine solche Technik ist die des Samplings, die nicht mehr nur von Profis wie Radiomacher_innen oder Musikproduzent_innen eingesetzt wird, sondern in Folge der schnell verfügbaren digi-talen Technologien auch von Laien und Amateurkünst-ler_innen angewendet werden kann.28 Beim Sampling können die unterschiedlichsten Klänge miteinander vermischt, überla-gert, verfremdet werden und damit der gewünschte Deu-tungszusammenhang herstellt werden. Das Künstlertrio – Si-mon Grab, Thomas Burkhalter und Michael Spahr – ist in sei-nem Projekt Sonic Traces from Switzerland dem Klang der Schweiz auf der Spur. Sie mixen stereotypische mit unbekann-ten, heimatliche mit verstörenden Klängen und geben ihrer Deutung „der Schweiz im Klang“ Ausdruck.29

Wie gezeigt werden konnte, weisen die als „schweizerisch“ konnotierten Klänge eine Klangtradition auf, die vor allem im 19. Jahrhundert zur Zeit des Nation Buildings, der sich mani-festierenden Industrialisierung und den damit einhergehenden Romantisierungsbestrebungen entwickelt und für die Nach-welt zugänglich gemacht wurde. Die Klangvorstellung der „Schweiz“ ist dabei eng an den Mythos des Alpinen und damit an das Paradigma des „Naturhaften“ gebunden und erfüllte

26 URL: www.neue-musik-ruemlingen.ch (Stand: 9. September 2013). 27 Vgl. ein Hörbeispiel zu einer Klangaktion von Ton & Tal, die auf einer Rolltreppe im Bahnhof Luzern durchgeführt wurde. URL: www.youtube.com/watch?v=eqYBqArJfN8 (Stand: 21. Januar 2014). 28 Vgl. den Beitrag von Thomas Burkhalter in diesem Band. 29 Vgl. ein Hörbeispiel zu Sonic Traces of Switzerland unter URL: https://soundcloud.com/norient/sonic-traces-from-switzerland-001 (Stand: 21. Januar 2014).

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die Funktion, gesellschaftliche Einheit auch akustisch und äs-thetisch erfahrbar zu machen. Nach dem zweiten Weltkrieg und den Nachkriegsjahren stand die Schweiz als Nation auf festen Füssen; die nationale Selbstvergewisserung verlor zeit-weilig an Bedeutung. Die stereotypen „Schweizer Klänge“ wa-ren zwar vielfach immer noch präsent, wurden über die Mas-senmedien aber zunehmend in internationale Kontexte ge-stellt und für die Vermarktung der Schweiz im Ausland ge-nutzt. Heute scheint das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Selbstverständigung angesichts von Globalisierung und Trans-kulturalisierung zu erstarken. Das macht die „Schweiz im Klang“ wieder zu einem beliebten Sujet der kulturellen Aus-einandersetzung. Die postmoderne Deutungsvielfalt erlaubt allerdings mannigfache Zugänge zu den Klängen der „Schweiz“ – auch solche die mit den stereotypen Klangvorstellungen bre-chen.

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STIMMKONSERVEN, ELEKTRONISCHE KLÄNGE UND MUSIZIERENDE MASCHINEN

Zur Inszenierung einer (hyper)modernen Schweiz an der Expo 1964

Patricia Jäggi

Das schlagerhaft beschwingte Landidörfli-Lied mit seinen kennzeichnenden Jodeleinlagen wurde noch Jahre nach der Landesausstellung von 1939 im Radio gesendet. Es findet sich neben ähnlichen Musikstücken, die sich durch einen gewissen vaterländischen Pathos oder einen Appell an ein nationales Wir-Gefühl charakterisieren lassen, in der Sammlung Dür. Diese Musiksammlung, die der Schweizer Kurzwellendienst in den 1950er und 1960er Jahren durch den Musikwissenschaft-ler Fritz Dür zusammenstellen liess, kann im Rahmen des Pro-jekts Broadcasting Swissness als musikalische Visitenkarte der Schweiz der Nachkriegsjahre gesehen werden.1 Durchforstet man die fast 8000 Stücke der „Volksmusik“-Sammlung, findet man eine heterogene Zusammenstellung akustischer „Schweizbilder“, die sich nicht nur in einem traditionellen Klanggut verorten lassen. Denn zwei der jüngsten Sammlungs-objekte sind Stücke elektronisch hergestellter Musik des Schweizer Komponisten Werner Kaegi. Die beiden Stücke Sonorisation und Illumination mit ihrer modernen avantgardis-tischen Klangsprache stellte Kaegi für den Schweizer Auftritt an der Weltausstellung von 1970 in Osaka her.2 Das Beispiel verdeutlicht nicht nur die Vielseitigkeit der Sammlung, in der neben Volksmusik im engeren Sinne wie Alphorn-Trios, Jo-delchören und Ländler-Kapellen auch Blasorchester-Gruppie-rungen, das Radio-Unterhaltungsorchester und eine Varietät an klassischer Musik vertreten sind. Das Beispiel verweist auch auf die Diversität des für Landes- oder auch Weltausstellungen im 20. Jahrhundert gewählten „Schweiz-Sounds“. Der ökono-mische Aufschwung der Nachkriegszeit und folgend die ge-

1 Vgl. den Beitrag von Thomas Järmann in diesem Band sowie URL: www.broadcasting-swissness.ch (Stand: 17. Juni 2014). 2 Vgl. Werner Kaegi: Sonorisation. Elektronische Musik. URL: www.memobase.ch/#document/SRF-BE_MG_DUR_B66625 (Stand: 20. Februar 2014) [Memobase-ID: SRF-BE_MG_DUR_B66625].

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Patricia Jäggi

sellschaftlichen Veränderungen stellten die Schweiz für die Expo 1964 auch vor die Frage nach dem eigenen Selbstbild insbesondere auch im Verhältnis zur äusserst beliebten Lan-desausstellung von 1939. Vor dem Hintergrund dieser Frage-stellung wurde das akustische Schweizbild der Landesausstel-lung von 1939 mit demjenigen der Expo 1964 näher unter-sucht und verglichen. Es wird im Folgenden an Beispielen dar-gestellt, wie das Akustische in den Landesausstellungen als symbolischer Raum des Nationalen eingesetzt wurde. Es wird aufgezeigt, wie das akustische Selbstbild der Schweiz von 1939 sich an einer historisch-traditionellen Idee von Schweiz orien-tierte, hingegen traditionsbezogene Elemente 1964 schlecht in das angestrebte Bild einer technisch-innovativen, modernen und zukunftsorientierten Nation passten. Als Quellenmaterial dienten dokumentarische Aufnahmen des Schweizer Kurzwel-lendienstes und der Lausanner Tonjäger3, sowie ergänzendes Archivmaterial des Schweizer Radios.

Landi 39: Die traditionelle Schweiz als Heimatidylle

Das Landidörfli war der Hit der 1939 in Zürich stattfindenden Landesausstellung. Das von Robert Barmettler komponierte Stück erinnerte die Hörer_innen noch Jahrzehnte an die be-liebte rechte Uferseite der Ausstellung, einer Nachbildung bäuerlicher Architektur und Lebensweise. Nach einem kurzen Auftakt von Schwyzerörgeli, Klavier, Euphonium und einem Bassinstrument singt Marthely Mumenthaler gemeinsam mit den zwei sie begleitenden Männerstimmen die erste Strophe des Walzers:

„Ih känn es Dörfli, am Züri-See (Jodel) es schöners Dörfli, git’s nümmemeh (Jodel) es isch erschaffe, lueg au die Pracht, so dass mer meint, de Herrgott hett’s gmacht. Es Stückli Heimet, lyt dert am See (Jodel) oh üser Heimat sie isch so schön (Jodel)

3 Tonjäger sind Amateure, die sich meist als Hobby mit dem Aufnehmen und Bearbeiten von Tönen beschäftigen. Mit der Erfindung des Magnetbands und der Weiterentwicklung von tragbaren Aufnahmegeräten war es Tonjägern möglich, selbständig Radiosendungen zu erstellen. 24

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

s’isch’s Landidörfli, s’isch’s Landidörfli, s’isch’s Landidörfli am Zürisee“4

Der zitierte Liedtext verdeutlicht die hohe Emotionalität, mit der die Landesausstellung auch über die Musik abgebildet und wahrgenommen wurde. Das im Text generierte Bild eines klei-nen Flecken irdischen Paradieses widerspiegelt sich klanglich in einer volksliedhaften Melodie und Einsprengseln kurz aus-geführter Jodellaute, die für die Komposition charakterisierend sind. Das Landidörfli als die traditionelle Seite der Landesaus-stellung wird zum Symbol für die Heimat; die Schweiz wird in den Lyrics zum prachtvollen, gottgemachten Heimatland stili-siert. Die Vorstellung der Heimat erhielt angesichts der dama-ligen Bedrohung von aussen eine noch höhere symbolische Aufladung. Marion Baumann schreibt in ihrer Untersuchung des akustischen Fingerabdrucks der Landi 39 über das Stück:

„Die beschwingte Melodie traf offensichtlich den Nerv der Zeit – als Erinnerung an die beliebte Lan-desausstellung, möglicherweise aber auch, weil ge-rade dieses unbeschwerte Heimatidyll gegenüber Gefühlen der Beklemmung und Angst vor dem drohenden Krieg eine gewisse Zuversicht ver-sprach.“5

Neben dem Landidörfli war das fanfarenhafte Landi-Tonsignet von Hans Haug, der Landi-Marsch von Jakob Bieri oder das Volkslied Chumm Bueb und lueg dis Ländli a Ausdruck des an der Landi auch über das Massenmedium Radio mitinszenierten Heimatgefühls.6 Die akustischen Aushängeschilder waren ganz der Idee eines „Mythos Landi“ verpflichtet, den man mit der Ausstellung zu erzeugen beabsichtigte. Denn der moderne Teil der Ausstellung habe im Akustischen überhaupt keinen Wi-derhall gefunden, schreibt Baumann.7 Über die für die Landi gewählte und produzierte Musik und deren Klangsymbolik sei nationaler Zusammenhalt suggeriert worden, folgert sie in ihrer Untersuchung. Sie charakterisiert das ebenfalls über den

4 Vgl. Trio Marthely Mumenthaler: Landidörfli. URL: www.youtube.com/watch?v=-cmIW1MH65ov (Stand: 20. Februar 2014). 5 Baumann, Marion: „Chumm Bueb und lueg dis Ländli a“. Ansätze zu einer akustischen Historiographie der Schweizerischen Landesausstellung von 1939. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 62 (2012), Nr. 1, S. 96. 6 Vgl. Baumann: Chumm Bueb, S. 95ff. 7 Vgl. ebd., S. 99.

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Landi-eigenen Sound evozierte Schweiz-Bild zusammenfassend wie folgt:

„Eine in ihrer Vielfältigkeit harmonisch vereinte, wehrhafte und auf einer heroischen Vergangenheit gründende Nation, die neben Landwirtschaft, Trachten und traditionellem Handwerk auch fort-schrittliche Technologien und eine innovative In-dustrie zu bieten hat.“8

Tradition und Folklore sind prägend für das hoch emotionali-sierte Schweizbild, das an der Landi 1939 zelebriert wurde. Das von Mumenthaler gesungene Landidörfli ist musikalischer Ausdruck eines spezifischen nationalen Selbstverständnisses. Dahinter verbirgt sich die Idee einer Schweiz, die sich vom Ausland und allem Nicht-Schweizerischem abgrenzt, ja letzte-res sogar als grundsätzlich feindlich sieht. Angesichts der in-ternationalen Bedrohung wurde an der Landi eine „Bunker-mentalität“ hochgehalten, die sich auch in der in den 1930er Jahren wiederauflebenden Idee der Schweiz als einzigartige Alpennation respektive Alpenfestung und dem Ursprungsmy-thos der Schweizer_innen als Bergbewohner und Hirtenmäd-chen niederschlug. Diese Ideologie wurde unter dem Begriff des „Landigeist“ zum Teil schweizerischer Geschichte – auch Musikgeschichte wie obige Beispiele aufzeigen.9 Auf was für ein schweizerisches Selbstbild die akustische Gestaltung der Expo 64 Bezug nimmt, wird folgend anhand von Feldaufnah-men von Tonamateuren eruiert.

8 Ebd., S. 114. 9 Vgl. Torriani, Riccarda: The Dynamics of National Identity. A Comparison of the Swiss National Exhibitions of 1939 and 1964. In: Journal of Contemporary History 37 (2002), Nr. 4, S. 559-573, hier S. 8. 26

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

Klingende Erinnerungen an die Expo von 1964

Für die Untersuchung der akustischen Spuren der Expo 64 ist die Schallplatte Souvenirs Sonores de l’Expo eine besondere Trouvaille.10 Die Lausanner Tonjäger haben die Ausstellung nach akustischen Aussichtspunkten durchwandert und ihren Soundwalk dokumentiert.

Abb. 1: Das Plattencover der von Lausanner Tonjägern und Radioamateuren aufgenommenen klingenden Erinnerungen der Landesaussstellung von 196411

Wie auf dem Plattencover vermerkt, war sie auch dazu ge-dacht, eine Projektion von Diapositiven akustisch zu unterma-len. Die einzelnen Schnappschüsse werden von einer Klarinet-ten-Serenade von Wolfgang Amadeus Mozart begleitet. Oder anders gesagt, jeder Expo-Klangschnipsel unterbricht das eingespielte Stück, das, so könnte man meinen, das Flanieren durch die Ausstellung verkörpert. Die kurzen klanglichen Im-

10 Vgl. Souvenirs sonores de l'Expo. Fono 1964 (Reihe: Stimmen, Töne und Geräusche). [Schallplatte]. URL: www.fonoteca.ch/cgi-bin/oecgi3.exe/inet_fnbasedetail?REC_ID=18348.011&LNG_ID=DEU (Stand: 20. Februar 2014) [Archivnr: LP7576]. 11 Quelle: Souvenirs sonores de l'Expo. Fono 1964.

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pressionen sind einerseits Aufnahmen der akustischen Umge-bung vor Ort; von Fahrzeugen, Brunnen und dem menschli-chen Treiben auf Plätzen und in der Festhalle. Andererseits dokumentieren sie auch die über Lautsprecher abgespielten Stimmen und Klänge in den Pavillons.

Die Platte beginnt mit dem Expo-Signet, einem elektronisch hergestellten zweiteiligen Jingle von Bernard Schulé. Es be-steht aus einem Intro aus drei wohl mittels Oszillatoren herge-stellten Tönen, die sich stets wiederholen. Nach einem Durch-gang durch die Tonfolge setzt die Melodie eines elektronisch bearbeiteten, perkussiv gespielten Klaviers ein. Die künstlich lange nachhallenden Klaviertöne werden von Kontrabässen auf gleicher Tonhöhe begleitet. Man hört Schwebungen. Die zunehmende Lautstärke und die vollere Klangfarbe im zweiten Teil klingen signet-typisch nach dem Höhepunkt aus.

Sucht man in den Tonarchiven nach weiteren Quellen, die über das Expo-Tonsignet Auskunft geben könnten, gelangt man auf die Bruitage Expo 64, einer Sammlung von Expo-Klängen des Schweizer Kurzwellendienstes. Erstaunlicherweise wird dort das Signet als jenes des PTT-Pavillons aufgeführt. Als Expo 64-Signet erklingt hingegen eine in der Tonhöhe und Spielweise adaptierte Version des Audio-Logos der Landi 1939, der von Hans Haug komponierten Melodie mit Trompeten und Posau-nen, die ebenfalls in der Bruitage-Sammlung enthalten ist. Sucht man nach weiteren Klangquellen, die über das richtige Signet Auskunft geben könnten, wird man im französischspra-chigen Fernsehwerbespot der Ausstellung fündig.12 Dort er-tönt gegen Schluss das elektronisch erzeugte Signet des Schweizer Komponisten Schulé und nicht etwa die Landi 39-Adaption Haugs.

Das Signet von Schulé unterscheidet sich durch die Herstellung der Klänge in seiner ästhetischen Erscheinung auffallend vom Signet der Landi 1939, das im klassischen Signet-Format mit Blasinstrumentierung daherkommt. Über die Künstlichkeit der synthetisch generierten und nachhallenden Klänge wird vor allem auch im Kontrast zur „Bodenständigkeit“ der Haugschen Komposition eine Art technifiziert-futuristische Klangat-

12 Vgl. Expo 64: Die Landesausstellung von 1964 in Lausanne. Ci-némathèque suisse 2004. [DVD] [Kapitel: Bonus: Werbetrailers für die Expo]. 28

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

mosphäre erzeugt. André Ruschkowski schreibt in seiner Ab-handlung über die Geschichte und Funktionsweise elektroni-scher Musik, dass Synthesizer in den 1960er und 70er Jahren zu einem Symbol des musikalischen Fortschritts wurden und daher „alle, die nicht als musikalisch konservativ gelten woll-ten, sich, je nach finanziellen Möglichkeiten, mit den entspre-chenden Geräten umgaben“.13 Das synthetisch erzeugte oder überarbeitete Expo-Jingle Schulés drückt demnach Fortschritt und Modernität aus und grenzt sich dadurch vom sozusagen konservativ klingenden Landi-Signet Haugs ab.

Auf den elektronischen Expo-Jingle folgt in den Souvenirs So-nores ein Stück der Mozart-Serenade, die von einem eintref-fenden Zug und der aufgenommenen Lautsprecherdurchsage am Expo-Bahnhof durchbrochen wird. Danach ertönen – wei-terhin vom Mozart-Stück umrahmt – die Begrüssungsdurch-sage beim Nordeingang der Ausstellung, einige Akkorde des Expo-Marschs und schon ist man lauschend im lärmenden Nestlé-Kinderparadies.

Die Schallplatte besteht aus 57 solcher akustischer Schnapp-schüsse. Um die kulturelle Bedeutung der unterschiedlichen Laute zu verorten, können sie anhand referenzieller Aspekte untersucht und eingeordnet werden. Dieses Vorgehen lehnt sich an R. Murray Schafers Abhandlung Die Ordnung der Klänge von 1977 an, in der er den Bezug von Lauten der Um-welt zu den „Objekten“, die sie hervorbringen, untersucht hat. Einer Deutung der Objektlaute geht die Problematik voraus – so schreibt Schafer –, dass Laute keine objektive Bedeutung haben, sondern diese immer vom Beobachter und dessen kul-tureller Prägung abhängt. So hat Schafer auf Basis empirischer Grundlagen wie Ohrenzeugenberichten einen Katalog und ein Ordnungssystem erstellt, das sechs Laut-Kategorien umfasst.14 Die Klänge auf der Souvenirs-Sonores-Schallplatte decken da-bei alle sechs Kategorien ab. Unter der Rubrik „natürliche“ Laute lassen sich die rauschenden Brunnen, die verschiedenen Tierlaute aus der Landwirtschaftsausstellung oder das einge-spielte Vogelgezwitscher im Ausstellungsteil „Das Moderne

13 Vgl. Ruschkowski, André: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen. Stuttgart 1998, S.136f. 14 Vgl. Schafer, Raymond Murray: Die Ordnung der Klänge – eine Kulturge-schichte des Hörens. Mainz 2010, S. 233-243.

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Leben“ einordnen. Unter „menschliche Laute“ finden sich in Schafers Kategorisierung menschliche Stimm- und Körper-laute. Da die Schallplatte keine direkten Aufnahmen von Ein-zelpersonen aufführt, fallen hierunter die Ansagen aus den Lautsprechern oder einzelne Stimmen wie die Voice-Overs aus Tonfilmen. In die Kategorie „Laute der Gesellschaft“ fallen die meisten Geräusche und Klänge des Datenträgers. Neben Auf-nahmen aus den bevölkerten Parkanlagen und Transportmit-teln lassen sich hier auch die aufgenommene Musik, sei sie vor Ort live präsentiert oder als Konserve abgespielt worden, ein-ordnen. Besondere Schwierigkeit ergab die Abgrenzung zwi-schen den von Menschen produzierten Lauten zu jenen, die unter die Kategorie „Mechanische Laute“ fallen, also alle Arten an Tönen von Maschinen, Motoren und technischen Geräten. So ist die in der Monorail, einer Einschienenbahn, musizie-rende Schwyzerkapelle ein Beispiel einer Mischform gesell-schaftlicher und mechanischer Laute. Klangerzeugende me-chanische Objekte zeigen sich neben der „Gesellschaft“ als gewichtigster Lautproduzent, so findet sich sogar das Geräusch einer startenden und landenden Swissair-Maschine auf der Vinylplatte. Damit ergibt sich ein weiteres Problem aus der Schaferschen Klassifizierung heraus, die davon auszugehen scheint, dass Geräusche direkt am Objekt selbst aufgenommen werden. Aufnahmen von Klängen, die aus Lautsprechern stammen, sind eigentlich Aufnahmen von Aufnahmen. Min-destens ein Drittel der Tonschnipsel der Schallplatte sind somit eine Referenz von einer Referenz.

In die Kategorie „Zeigelaute“ lassen sich eine Schiffsirene und die Glocken der Expo-Kapelle einordnen. Keines der Schnipsel ist reiner Ausdruck von „Stille und Ruhe“, es gibt aber Auf-nahmen, die Momente der Stille beinhalten wie beispielsweise in den Klangpausen der langsam ratterenden Drehtüre am Ostausgang der Ausstellung. Diese beschreibt zugleich auch den Schluss der Schallplatte.

Die Untersuchung der Souvenirs Sonores anhand von Schafers referenzieller Kategorisierung konnte aufzeigen, dass eine Ein-teilung besonders in Bezug auf die Trennung von gesellschaft-lichen und mechanischen Klängen schwer zu bewerkstelligen ist. Bei mehr als zehn der Einzelaufnahmen war die Entschei-dung, in welche Kategorie die Laute eingeordnet werden sol-

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len, nicht eindeutig zu treffen. Da die Trennung der beiden, zugleich auch dominantesten Kategorien von gesellschaftli-chen und mechanischen Klängen sich am schwierigsten her-ausnahm, soll dies folgend an zwei Beispielen etwas näher angesehen werden. Das eine Beispiel wurde bereits erwähnt; es ist die „Stubete“ in der Monorail.15

Es ist nicht eindeutig hörbar, ob die Hauptstimme ein Sop-ransaxophon oder eine Klarinette innehatte, da die geringe Qualität der Aufnahme die Klänge verzerrt wiedergibt. Die Begleitinstrumente Akkordeon und Bass können aufgrund der Hintergrundgeräusche noch weniger gut erkannt werden. Ne-ben der gespielten Musik ist ein langsam lauter werdendes Geräusch eines Antriebsmotors zu hören. Dabei vermischen sich die Melodie der Instrumente mit der beschleunigenden Monorail, wobei in der Aufnahme das Saxophon immer die Überhand behält, die Begleitinstrumente und die Motorenge-räusche sich aber an der Stelle, wo der Monorail-Fahrer am meisten Gas gibt, in einem nicht mehr differenzierbaren Ge-räuschedschungel vermischen. Nachdem die Monorail ver-nehmbar auf Fahrttempo beschleunigt hat, verstummt sie und man hört im letzten Teil des 12-sekündigen Schnipsels nur noch den fröhlichen Ländler-Walzer.

An das eingangs erwähnte Beispiel des Landidörfli-Lieds zu-rückdenkend und somit den Blick auf die Volksmusik richtend, ist in Bezug auf die Souvenirs Sonores de l’Expo auffallend, dass die Schwyzer-Kapelle als traditionelle Volksmusik, die meist privat und von Laien gespielt wird, alleine dasteht. Militär- und Marschmusik sind ihr gegenüber besser vertreten. Der Expo-Marsch wurde als Beispiel bereits erwähnt. Das Treiben in der Festhalle wird auf der Schallplatte mit drei Musikbeispielen dokumentiert: Man hört Trommler einen Ordonnanzmarsch spielen, ein vorbeiziehendes Blasorchester spielt ebenfalls ein Marschstück und zuletzt klingt dumpf und aus weiter Distanz unbestimmbare heitere Unterhaltungsmusik heran. Auch wenn die Schallplatte für die Ausstellung nicht repräsentativ sein muss, scheint die Untervertretung traditioneller Schwei-

15 Eine „Stubete“ ist ein Musiker_innen-Stammtisch oder Musikspiel im Wirtshaus, das nach keinem vorgefassten Programm verläuft. Die Stubete wird als eine für die instrumentale Schweizer Volksmusik charakteristische Aufführungsweise betrachtet.

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zer Musik trotzdem darauf hinzuweisen, dass Volksmusik im Ausstellungsalltag wenig vertreten war. Selbstverständlich war sie aber an den Umzügen der Kantonalstage oder in Form von Konzerten präsent.16

Es fällt auf, dass das klangliche Repertoire der vom Kurzwel-lendienst hergestellten Bruitage Expo 64, einer aus 12 Auf-nahmen bestehenden Sammlung, ebenfalls kein Stück auf-führt, das einem Landidörfli-Lied nahekommt.17 Neben den bereits erwähnten drei Expo-Tonsigneten findet sich in der Sammlung des Kurzwellendienstes ein Marsch von Frank Mar-tin, ein Stück klassische Unterhaltungsmusik sowie Aufnahmen von Hunden, Schafen, Schweinen, Vögeln und Glocken. Die Aufnahmen dienten höchstwahrscheinlich der akustischen Untermalung eines Radiobeitrages, was die Bezeichnung Brui-tage (Geräuschkulisse) nahelegt. In der Bruitage Expo 64 findet sich neben den bereits erwähnten natürlichen und gesell-schaftlichen Lauten zudem eine Aufnahme der klappernden Metallplastik Heureka von Jean Tinguely und des P’tit Train, einer umfangreichen Modelleisenbahn-Anlage. Beide gehörten zu den Hauptattraktionen, die auch von den Lausanner Tonjä-gern dokumentiert wurden. Als Mischung von mechanischen und Zeigelauten findet sich zudem ein abfahrendes Exposchiff, das hupt. Zwei kurze Interviews ergänzen das akustische Bild der Expo 64, das man sich durch die Geräuschsammlung des KWD machen kann. Im einen werden amerikanische Kinder auf dem Spielplatz gefragt, wie ihnen die Ausstellung gefalle und wen sie zu Hause grüssen möchten. Im zweiten Interview wird eine Souvenir-Verkäuferin befragt, die dem Interviewer ein klingendes Miniaturchalet vorspielt. Der im Chalet eingebaute Musikautomat spielt eine volks- und wiegenliedhafte Melodie. Alle Souvenir-Häuschen, so betont sie, seien „Made in Switzerland“. Kuckucksuhren habe sie keine, da diese in Deutschland hergestellt würden. Sie präsentiert dem Intervie-wer Kuhglocken in unterschiedlichen Grössen, auf deren Gurt Kühe und das Expo-Logo gestickt seien.

16 Vgl. Expo 64: Die Landesausstellung von 1964 in Lausanne. 17 Vgl. Bruitage. EXPO Lausanne 1964. Kurzwellendienst 1964. URL: www.fonoteca.ch/cgi-bin/oecgi3.exe/inet_fnbasedetail?REC_ID=255.029&LNG_ID=DEU (Stand: 20. Februar 2014) [Archivnr.: DAT11127]. 32

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Abb. 2: Die Landi 39 blieb aufgrund der traditionellen Archi-tektur des Landidörfli in Erinnerung: Ein Trachtenmädchen vor einem Ausstellungspavillon im Stil eines Emmentaler Bauern-hauses18

Abb. 3: Die Expo 64 stand für modernste Architektur ein: Be-sucher_innen auf dem Place de la joie de vivre vor dem Aus-stellungssektor L’art de vivre19

18 Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Fotograf: Louis Beringer (1904-1978). 19 Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Fotograf: unbekannt.

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Ein explizit folklorehaftes Bild der Schweiz, wie es an der Landi 1939 zelebriert wurde, lässt sich in den beiden dokumentari-schen Tonsammlungen höchstens am Rande wiederfinden: Die Ländler-Kapelle spielt in der Monorail und ein Chalet wird zur Miniatur-Volksmusikmaschine. Das klangliche Bild der Schweiz scheint sich 1964 im Gegensatz zur Landi 1939 keinesfalls in einer traditionell-historischen Schweiz verankern zu lassen. Es stellt sich darum die Frage, was denn der „Hit“ der Expo 64 war oder welche akustischen Hauptattraktionen es gab.

Expo 64: Musique Concrète anstatt Folklore?

Unter den klingenden Erinnerungen der Lausanner Tonjäger findet sich auch der Sektor 5, der „Echanges“ oder „Waren und Werte“, klanglich widerspiegelt. In jenem Teil der Ausstellung wurden die verschiedenen Aspekte des Handels mit Gütern, der Währungshaushalt, die Aussenwirtschaft und der Welt-handel thematisiert. Um den Expo-Besuchenden die komple-xen ökonomischen Prozesse zu veranschaulichen, wurden die Maschinen selbst zum Sprachrohr, die in den im Sektor gezeig-ten Büros und Verkaufsstätten alltäglich genutzt wurden. Im „offiziellen Führer der Landesausstellung“ wird darüber ge-schrieben:

„Im Herzen des Sektors stellt die Symphonie ‚Les échanges‘ eine aufsehenerregende Neuheit dar. Es ist eine Komposition mit konkreter Musik, die durch ein mechanisches Orchester, vorwiegend aus Büromaschinen bestehend, gespielt wird.“20

Der Schweizer Komponist Rolf Liebermann hatte ein aus 156 Maschinen bestehendes mechanisches Orchester zusammen-gestellt, das sein komponiertes Stück wie von Geisterhand gesteuert spielte. Unter den Musikinstrumenten befanden sich Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, Registrierkassen, Fern-schreiber, Hupen und „Telephon-Apparate“. Die Maschinen waren auf einer oval-förmigen, leicht ansteigenden Fläche regelmässig angeordnet. Analog zur Orchesteraufstellung nach Instrumentengruppen stand Schreibmaschine bei Schreibma-schine und Kasse bei Kasse.

20 Vgl. Offizieller Führer der Schweizerischen Landesausstellung: Lausanne 1964. Lausanne 1964. [Ausstellung, 30. April-25. Oktober 1964], S. 38. 34

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Abb. 4: Ein musikalisches wie technisches Highlight der Expo 64: 156 Büromaschinen spielten elektronisch gesteuert die Symphonie les Echanges von Rolf Liebermann21

Im Goldenen Buch der Expo, einem 500 Seiten umfassenden Erinnerungskatalog mit umfangreichem Bildmaterial, wird die Wirkung und Funktion des 3-minütigen Konzerts wie folgt be-schrieben:

„Das ganze hört sich als ein rhythmisch interessan-tes Klangspiel an, das sich am ehesten mit einem Konzert für Schlagzeuge vergleichen lässt. Das Wagnis ist zweckgebunden und hat den Sinn, den Besucher auf neuartige Weise in das Zusammen-

21 Quelle: Schweizerische Landesausstellung Lausanne 1964: Goldenes Buch. Lausanne 1964, S. 335.

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spiel der Wirtschaft einzuführen. Der bekannte Zürcher Komponist Rolf Liebermann hat dazu die Partitur geschrieben, die durch Techniker in die Computer-Sprache übersetzt und zu einer Compu-ter-Partitur umgeschrieben wurde. Ein elektroni-scher Apparat ‚liest‘ den Lochstreifen und dirigiert das Spiel.“22

Die Maschinenmusik war damals für die Besucher_innen ein Knüller. Sie vermittelte musikalische Avantgarde, populärkul-turell aufbereitet und inszeniert. Dabei faszinierte die Partitur durch ihre Ausgeklügeltheit und Verspieltheit: Liebermann arbeitete mit unterschiedlichen rhythmischen Elementen und Akzentuierungen. Auf der Plattenedition des Stücks wird sogar angepriesen, es lehne sich an eine Mambo-Rhythmik an.23 Das Spiel mit den Maschinen, die zu Musikinstrumenten gemacht wurden, vermochte aber nicht nur durch die Komposition mit aus dem Alltag bekannten Maschinen die Besucher_innen in Bann ziehen. Es setzte ebenfalls durch die technische Raffi-nesse in Erstaunen: Im Hintergrund agierten Maschinen, die Maschinen steuerten. Durch die Arbeit von Technikern konnte die Partitur in „Computersprache“ übersetzt und über eine Steuerung auf die Instrumente übertragen werden. Zudem wurden die musizierenden Maschinen durch Resonanzkörper akustisch optimiert, was das Musikerlebnis zu einer visuellen wie akustischen Attraktion machte.

Hinter der Klanginstallation stand die Idee, die Maschinen, die im Betrieb von Banken, Handelsunternehmen, Versicherungen oder Logistikfirmen alltäglich sind, durch ihre akustischen Ei-genheiten selber sprechen zu lassen. Die für die Komposition verwendeten Maschinen produzierten mit Ausnahme der Bahnsignalglocken alle nicht gewünschten Schall. Die Geräu-sche aus den Geräten stellten demnach ursprünglich einen Ne-beneffekt dar, der durch die in den Maschinen stattfindenden mechanischen Abläufe generiert wird. Sie haben somit keine

22 Schweizerische Landesausstellung Lausanne 1964: Goldenes Buch. Lausanne 1964, S. 334. 23 Siehe Rolf Liebermann: Symphonie „Les Echanges“. Komposition für 156 Maschinen. Philips 1962. [Schallplatte]. URL: http://ubu.com/sound/liebermann.html, www.srf.ch/kultur/im-fokus/der-archivar/schweizer-techno-anno-1964-les-echanges-von-rolf-liebermann (Stand: 29. Januar 2014). 36

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

direkte Funktion und könnten auch als Störschall gesehen werden. Die Idee, Umweltgeräusche zu Musik zu verarbeiten oder sie in Kompositionen miteinzubeziehen, hat mit der als „Musique Concrète“ bezeichneten Musikrichtung in der zwei-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Lauf genommen. Als innovative Leistung der konkreten Musik wird gesehen, dass sie sich mit der „inhaltlichen, abbildenden und expressiven Dimension der Geräusche unseres Alltags sowie der empiri-schen Realität insgesamt“24 auseinandersetzte, indem sie die Reproduktions- und Speichermedien der damaligen Zeit nutzte. Für Kompositionen der konkreten Musik wurden die neuen Möglichkeiten medialer Verarbeitung von Klängen ge-nutzt, um daraus eine neue Form von Musik zu schaffen, die sich als experimentell herausnahm. Dabei kamen Tonbandge-räte, Oszillatoren und später Synthesizer zum Einsatz, um Klänge aufzunehmen, zu verfremden und künstlich herzustel-len. Liebermanns Maschinen-Symphonie grenzt sich von Ton-bandmusik aber insofern ab, als die Maschinengeräusche nicht ab Band, sondern live gespielt werden. Diese Idee war nicht neu: Bereits die Futuristen machten Anfang des Jahrhunderts mit Maschinen Musik. Das aussergewöhnliche an Liebermanns Komposition war die computergestützte Umsetzung und somit das Fehlen jeglicher Interpret_innen. Für ihre Kompositions- respektive Vertonungsaufträge im Rahmen der Landes- und Weltausstellungen bezogen Liebermann wie Kaegi die neuen technisch-akustischen Möglichkeiten für ihre Musik mit ein. Die Beispiele konnten aufzeigen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Ausstellungen auch andere akustische Schweizbilder geschaffen wurden, die sich von jenem, das an der Landi 1939 zelebriert wurde, abgrenzt.

In den Pavillons von 1964 wurden noch exzessiver visuelle und akustische Medien eingesetzt als es 1939 der Fall war. Die sich rasant entwickelnde technisch-mediale Ausrüstung führte zu neuen Möglichkeiten der nationalen Selbstdarstellung: Klänge aus Lautsprechern, die Filme, Fotografien oder Objekte un-termalten, machten einen gewichtigen Teil der Inszenierung aus. Am Beispiel der klanglichen Dokumentation der Expo 64

24 Sanio, Sabine: Form und Konkretheit in der Musik. Die Musique Concrète und die Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert. In: Helga de la Motte-Haber (Hg.): 50 Jahre Musique concrète. Saarbrücken 1999, S. 116.

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in den Souvenirs Sonores und der Bruitage Expo 64 konnte gezeigt werden, dass die Szenografie stark mit dem Medium des Akustischen, mit Stimmen und Musik arbeitete. Techni-sche Innovationen als Sinnbild des Fortschritts und der Mo-dernität der Schweiz dominieren somit 1964 nicht nur die Themengebiete, sondern sie sind gleichzeitig auch das Me-dium, um die Schweiz zeitgemäss darzustellen. Die Technik dient als Ausdruck industriellen Know-hows sowie als natio-nales Repräsentationsmittel zugleich. Dies hat sich am Beispiel des Expo 64-Signets und der Maschinenkomposition Lieber-manns zeigen lassen. Mit klanggenerierenden Geräten wurden elektronische Töne und mit den mechanischen Lauten einer technifizierten Arbeitswelt Musik produziert. Sie wurden 1964 zum akustischen Sinnbild einer fortschrittsgläubigen Schweiz. Die durch technische Hilfsmittel erzeugten Stimmen, Geräu-sche und Musiken werden dabei zum Ausdruck eines schwei-zerischen Selbstverständnisses, das sich deutlich vom Heimat-pathos eines Landidörfli abgrenzt. Das an der Expo 64 gene-rierte Klangbild der Schweiz lässt sich somit an Begriffe wie Fortschritt, Technik oder Modernität anlehnen – im Spiegel von 1939 verdeutlicht dies auch eine gewisse Skepsis dem heimischen Brauchtum, der Tradition ganz allgemein gegen-über. Dies soll folgend anhand kulturhistorischer Kontexte verdeutlicht werden.

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Expo 64: Tradition als Unbeweglichkeit

Der Schweizer Historiker Jean Rudolf von Salis, der durch seine Berichterstattung im Radio zur Zeit des 2. Weltkriegs bekannt wurde, lobt in der Radiosendung Mini Meinig, dini Meinig (Deutsch: Meine Meinung, deine Meinung) vom Oktober 1964 das Erscheinungsbild der Schweiz an der Expo:

„Ich glaube, die Ausländer waren geradezu über-rascht, dass die Schweizer so viel Fantasie und Modernismus und neuartige Architektur und Grafi-ken etc. gezeigt haben. Im Ausland hat man leicht das Vorurteil, dass die Schweiz mit Käse, Uhren und noch einigen Sennentrachten erledigt sei. Dass nun eine solch moderne Art von Landesausstellung gemacht worden ist, hat beispielsweise die franzö-sischen Journalisten, auch die deutschen über-rascht. Auch die Journalisten aus den osteuropäi-schen Ländern fanden das sehr offen und sehr mo-dern.“25

Das Lob auf die Landesausstellung gipfelt im 40-minütigen Rückblick in der Aussage von Edmund Richner, damals Chef der Inlandredaktion der Neuen Zürcher Zeitung: Die Expo 64 halte in ihrer modernen und grosszügigen Gestaltung jedem Vergleich mit der Weltausstellung in New York stand.26 Der Anlass in den USA fand im selben Jahr statt. Schon die Landes-ausstellung von 1939 zeichnete am linken Seeufer über zeitge-nössische Architektur und die Präsentation technischer Inno-vationen wie beispielsweise im Bereich elektrischer Hoch-spannung oder des aufkommenden Mediums Fernsehen ein modernes und zukunftsgerichtetes Schweizbild, das das tradi-tionsbewusste, historisch-idyllische rechte Seeufer kontras-tierte. Eine Verbindung zwischen den beiden Seeufern ermög-lichte damals nicht nur die Zürcher Schifffahrt, sondern eine über dem Zürichsee schwebende Gondelbahn. Diese kann nicht nur als ein Symbol der technischen Eroberung der Schweizer Berge oder deren touristischen Attraktivität gese-

25 Vgl. Mini Meinig dini Meinig – Expo (50. Sendung). Schweizer Radio und Fernsehen, 24. Oktober 1964. URL: www.memobase.ch/#document/SRF-ZH_MG_21200 (Stand: 20. Februar 2014) [Memobase-ID: SRF-ZH_MG_21200]. 26 Vgl. Ebd.

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hen werden, sondern auch als eine Errungenschaft einer Mo-derne, die sich in der Mobilität und einer Mechanisierung aller Lebensbereiche zeigt. Die Gondelbahn der Landi 1939 wird 1964 nicht nur durch die kleinere Version der Télécanapés sowie einer Monorail ersetzt, sondern von Auguste Piccards Unterseeboot Mesoscaphe übertrumpft.

Wo sich in der Ausstellungskonzeption von 1939 eine zwischen Tradition und Moderne gespaltene, aber dank moderner Transportmittel trotzdem verbundene Schweiz zeigte, führt die Expo 64 nur die Idee des linken Zürcher Seeufers fort. Der traditionelle oder folkloristische Teil der Schweiz, der 1939 im Dörfli seinen Ausdruck fand, das rurale Architektur aus der ganzen Schweiz in Lebensgrösse zeigte, wurde weder konzep-tionell noch architektonisch berücksichtigt. Sogar die Abteilung zu „Feld und Wald“, wo die Schweizer Landwirtschaft sich prä-sentierte, zeigte zwar ein seines traditionellen Erbes bewusste Bauerntum, doch wurde die Landwirtschaft mit Absicht „ent-mystifiziert“ präsentiert, wie es die Verantwortlichen selbst formulierten.27 In der Landwirtschaftsshow wurden neben der Viehausstellung vor allem moderne, modulare Stallbauten gezeigt, die eine Rationalisierung in der Milch- oder Fleisch-produktion und dadurch eine Produktivitätssteigerung unter-stützen sollten. Der land- und forstwirtschaftliche Ausstel-lungsteil der Expo 64 präsentiert sich auch dem Ausstellungs-motto entsprechend zukunftsgerichtet. In der erwähnten Mei-nungssendung des Schweizer Radios lobt Rolf Liebermann die Expo 64 dafür, dass keine falschen patriotischen Töne ange-schlagen wurden. Auch die Eröffnungsrede von Ständerat Gab-riel Despland verdeutlicht die beabsichtigte Distanzierung vom „Landigeist“. Die Zeitung Luzerner Neuste Nachrichten berich-tete über den Auftakt zur Expo 64:

„Ständerat Despland glaubte sogar mit Blick auf die unvergessliche Landi die Existenzberechtigung ei-ner Landesausstellung ohne betont nationale Sammlung und fern von politischen Konflikten ei-gens begründen zu müssen. Und eben in dieser

27 Landwirtschaftliche Bauten Typ Expo 1964: Arbeitsgemeinschaft für die Landwirtschaftlichen Bauten der 12. Schweizerischen land- und forstwirt-schaftlichen Ausstellung des Sektors „Feld und Wald” der Landesausstel-lung 1964 in Lausanne. In: (Das) Werk 52 (1965), S. 162. 40

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Begründung zeigte sich Sinn und Geist der Expo 64: Öffnung auf eine neue Welt hin, eine Welt der Technik und des Fortschritts. [...] Die Tradition, die 1939 nur in ihren positiven Seiten gesehen und dargestellt worden war, erhält heute einen ande-ren Aspekt, die Gefahr der Unbeweglichkeit. ‚Glücklich und zufrieden sind wir nur zu oft dazu geneigt‘, so warnte Ständerat Gabriel Despland, ‚uns mit dem zu begnügen, was wir erreichen konnten, umgeben von einem Traditionsbewusst-sein, das in seiner Unbeweglichkeit gefährliche Auswirkungen zeitigen könnte; dies vor allem zu einem Zeitpunkt, wo alles um uns her Umbruch und Geschwindigkeit ist.‘“ 28

Im Zitat von Despland, Vorsitzender des Ausstellungskomitees, wird deutlich, dass aus seiner oder der damals vorherrschen-den Sicht Tradition als Hemmnis für den Fortschritt galt. Die Ausstellung, die unter das Credo „Pour la Suisse de demain: Croire et créer“ gestellt wurde, stand offiziell im Zeichen der Zukunft. Diese sah man damals in den „phantastischen Fort-schritten der Technik, die den Menschen Möglichkeiten eröff-nen, deren Weiterentwicklung praktisch keine Grenzen gesetzt sind“, wie Despland es in seiner Eröffnungsrede formulierte.29

Auch die Erinnerungsschrift Das Buch der Expo nimmt an einer Stelle besonders deutlich Bezug auf das Thema Tradition: „Die Folklore wird an der Expo nicht übermässig hervorgehoben, sie schwingt in den Herzen mit. Hier finden sich keine kitschigen Schweizer Chalets. Die Architekten haben den Charakter des Landes in ihre moderne Sprache frei übersetzt.“30 Neben zwei Architekturbildern von bevölkerten Restaurants in der Aus-stellung, findet man unterhalb des zitierten Textes ein Bild von in Trachten gekleideten Puppen in beleuchteten Vitrinenkäs-ten. Die Glasvitrinen mit den in Gruppen zusammenstehenden Trachtenmädchen und -buben vermitteln einen Eindruck von Abgeschlossenheit. Die Puppen werden zum historischen Ob-

28 Expo feierlich eröffnet. In: Luzerner Neuste Nachrichten Nr. 101, 1. Mai 1964, S. 4. 29 Ebd. 30 Cordey, Pierre (Hg.): Das Buch der Expo. Erinnerungsbuch der Schweizeri-schen Landesausstellung Lausanne 1964. Bern 1964, S. 106.

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jekt stilisiert. Sie dokumentieren eine Zeit, die vergangen zu sein scheint. Dieser Eindruck wird im Vergleich zur Szenografie der Puppen im Mode-Teil des Pavillons „Echanges“ noch ver-stärkt. Die modern gekleideten Schaufensterpuppen stehen keinesfalls hinter Glas, sondern sind lebensgross und für die Besucher_innen berührbar nahe. Es zeigt sich ganz allgemein in der visuellen Dokumentation der Ausstellung, dass Vitrinen kaum vorkommen, sondern die Objekte „ungeschützt“ auf die Zuschauer wirken können.

Das Bild der Schweiz, das auch über die Szenografie der Aus-stellung transportiert werden will, ist das eines modernen und offenen Landes, das auf technischer wie wirtschaftlichen Ebene international Schritt hält und sich mehr über die neus-ten Errungenschaft der eigenen Industrie definiert als über Traditionsgüter. Auch wenn diese nicht fehlen, werden sie – wie im Beispiel – objektiviert, tendenziell kühl, wenn nicht gar möglichst emotionslos ausgestellt. Folklore, wie es auch das Expo-Erinnerungsbuch dokumentiert, sollte nicht über-schwänglich zelebriert werden, sondern war viel eher eine Erscheinung am Rande. Sie wurde nur in einem fest vorgege-benen Rahmen, wie beispielsweise an den Kantonstagen oder dem Trachtenfest gelebt.31

31 Siehe Expo 64: Die Landesausstellung von 1964 in Lausanne. [Kapitel: Schweizer Filmwochenschau „Tessiner Kantonaltag“ vom 29. Mai 1964, „Die Urschweiz an der Expo“ vom 12. Juni 1964 oder „Eidgenössisches Trachtenfest“ vom 4. September 1964.]. 42

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Abb. 5 und 6: Die Expo 64 stellte eine Schweiz unter dem Credo der Zukunft aus: Historische Trachtenpuppen standen in abgeschlossenen Vitrinen (oben) – moderne Modepuppen wurden offen im Raum platziert (unten)32

32 Quelle: Cordey: Das Buch der Expo, S. 166 und 87.

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Expo 64: Ausdruck des Paradigmas der Moderne?

Auf die eingangs des vorigen Kapitels erwähnte Radiosendung Mini Meinig, dini Meinig zur Expo zurückkommend, wird die zuletzt präsentierte Ansicht des Radio-Aussenkorresponden-ten Heiner Gautschy interessant, der hinter der grossen Kritik, welche die Expo bereits im Vorfeld erfuhr, auch ein Problem des Themas sah. Man habe sich mit dem Ziel, die Schweiz von morgen zu zeigen, auf eine Aufgabe eingelassen, die nicht zu meistern sei. Daher sei man Fragen nationaler Existenz ausge-wichen und habe die Schweiz von morgen im Handgreiflichen, im Technischen dargestellt. Die Kehrseite dieser Selbstdar-stellung sei, dass dies nichts mit Gefühl zu tun habe. Dort, wo auf die Vergangenheit Bezug genommen worden sei, habe man dies in einer solch abstrahierten und ungewohnten Form getan, dass man damit „nicht warm“ geworden sei. Das Volk sei aus seiner Sicht in der Ausstellung zu kurz gekommen: Die Expo 64 habe keinesfalls das Herz angesprochen.33 Die ange-sichts der Kriegsbedrohung 1939 aufflammenden Heimatge-fühle, welche die Landi produzierte und die im Landidörfli ih-ren musikalischen Ausdruck fanden, vermochten den Besu-cher_innen die Schweiz emotional näher bringen. Die Landi war Förderin eines nationalen Gemeinschaftsgefühls, indem sie bewusst an einen Nationalstolz appellierte. Die äussere Bedrohung vermochte innenpolitische Konflikte und auch dem Föderalismus geschuldete interkantonale Spannungen somit einfach zu nivellieren. Riccarda Torriani macht in ihrem histo-risch-politischen Vergleich der nationalen Identitäten der bei-den Landesausstellungen deutlich, dass eine nationale Identi-tät 1939 in einzigartiger Weise vor der sonst stark föderalis-tisch geprägten Identitätslandschaft, also vor den sonst domi-nierenden lokalen und regionalen Identitäten, virulent wurde.34 Die Expo 64 lässt sich somit keinesfalls als Wiederho-lung dieser Art der Zelebration nationaler Identität lesen.

Auch mit Blick auf die ökonomischen und sozialen Verände-rungen der dazwischen liegenden 25 Jahre kann die Expo 64 viel eher im Licht einer modernen Lebenswelt und deren Iden-titätsverständnis verortet werden. Dies ist eine Identität, die sich über Fortschrittsoptimismus, Technikgläubigkeit und ma-

33 Vgl. Mini Meinig dini Meinig – Expo. 34 Vgl. Torriani: Dynamics of National Identity. 44

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terielles Besitztum formiert. Thomas Nipperdey beschreibt die gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit und ihre Fluchtpunkte wie folgt:

„[...] die nahezu exklusiv identitätsstiftende Bedeu-tung von Arbeit, Leistung, Erfolg, Konsum, Fort-schritt; der Glaube an Dynamik und Wandel im Sinne einer materiellen Veränderbarkeit der eige-nen und der gesamtgesellschaftlichen Lebenssitua-tion; das Vertrauen auf den Sinn des technisch-wissenschaftlich Machbaren, unabhängig von der Frage der tatsächlichen Wünschbarkeit alles tech-nisch Möglichen; eine Skepsis gegenüber dem Im-mer-schon-so-Gewesenen der Tradition, die in al-lem Vormodernen fast automatisch Hemmnisse weiterer Modernisierung sieht; [...].“35

Die langen 50er Jahre, wie die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis in die Mitte der 60er Jahre auch genannt wurde, gilt retro-spektiv auch als „Wirtschaftswunderzeit“, da sich ein ausser-gewöhnlich stabiles wirtschaftliches Hoch bis Mitte der 1970er Jahre installierte. Die Epoche der „goldenen Jahre“ beschreibt den Beginn der Massenkonsumgesellschaft, die sich durch ein reichhaltiges Warensortiment, hochentwickelte Kommunikati-onssysteme, die Entwicklung einer Freizeitindustrie und von Lifestyle-Gruppen, einer Shopping-Kultur und einer gewissen Ambivalenz dem „Konsumterror“ gegenüber auszeichnet.36 Die technischen Errungenschaften werden dabei nicht nur zum scheinbaren Wundermittel eines erhofften immerwährenden ökonomischen Fortschritts, sondern spielen eine gewichtige Rolle im gesellschaftlichen Selbstverständnis.37 Nipperdey ver-deutlicht im zitierten Abschnitt den in jener Zeit herrschenden, fast naiven Glauben an die technisch-wissenschaftlichen Er-rungenschaften, die in Zukunft geschaffen würden und damit an einen immerwährenden Wohlstand. Der technische und

35 Nipperdey, Thomas: Probleme der Modernisierung in Deutschland. In: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1979, S. 53. 36 Vgl. Tanner, Jakob: Lebensstandard, Konsumkultur und American Way of Life. In: Walter Leimgruber, Werner Fischer (Hg.): „Goldene Jahre“. Zur Geschichte der Schweiz seit 1945. Zürich 1999, S. 102-113. 37 Vgl. Kunze, Rolf-Ulrich: Mit der Technik auf du. Technik als soziale Konstruktion und kulturelle Repräsentation, 1930-1970. Karlsruhe 2012.

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Patricia Jäggi

wirtschaftliche Fortschritt als gesellschaftliches Ideal schlug sich auch in der Gestaltungsweise der Expo 64 deutlich nieder.

Expo 64: Diffuse nationale Identität

Das US-amerikanische Time Magazine lobte 1983, also fast 20 Jahre danach, die Lausanner Ausstellung als die bisher schönste des 20. Jahrhunderts: „an exemplary work of art, excitingly varied and yet harmonious“.38 1964 hingegen wur-den die Ausstellungsinhalte von der ausländischen Presse als selbstbeschönigend und idealisierend beurteilt:

„Alle 25 Jahre verspüren die Schweizer ein Krib-beln. Dann zwicken sie sich in den Arm, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch immer existieren. Dies ist dann die Ausstellung. Die Schweizer sind vollständig unkritisch sich selbst gegenüber,“

schrieb der Londoner Daily Telegraph.39 Eine schweizerische intellektuelle Autorengruppe stimmte in diese Kritik mit ein. Die Autoren von Expo 64 – Trugbild der Schweiz sahen hinter dem Grossanlass den Einfluss gouvernementaler Macht und Zensur. Dadurch sei eine realistische und kontroverse Dar-stellung aktueller politischer Fragen, wie der EWG-Beitritt, soziale Probleme wie die Migration aus Südeuropa oder die Zersiedelung und Agglomerationsentwicklung absichtlich ver-hindert worden. Sie vertraten die Meinung, dass unter dem Gesichtspunkt der Expo als politischer Manifestation Slalom gefahren worden sei und man lauter wässrige Lösungsvor-schläge präsentiert habe, die niemandem weh getan, aber auch keine Denkanstösse geliefert hätten.40 Aus ihrer Sicht wurde eine konstruktive Diskussion um die Zukunft der Schweiz, insbesondere auch in Bezug auf das Verhältnis der Schweiz zu Europa, unterbunden.

In ihrer Untersuchung der Expo 64 anhand der für sie wichtigs-ten nationalen Identifikationsfaktoren – die Alpen, die Ge-

38 Vgl. Kunst + Architektur in der Schweiz: k+a. Expo 64. 45 (1994), Nr. 1, S. 10. 39 Vgl. Arnold, Martin: Von der Landi zur Arteplage. Schweizer Landes- und Weltausstellungen (19.-21. Jh.) – Hintergründe und Erinnerungen. Zürich 2001, S. 100. 40 Vgl. Rippmann, Peter u. a. (Hg.): Expo 64 – Trugbild der Schweiz. Basel 1964. 46

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

schichte und das politische System – verweist Torriani auch auf das vermittelte Bild einer Europa gegenüber offenen Schweiz. Das Land habe sich 1964 keinesfalls mehr als isolierte Nation wie 1939 dargestellt, sondern hätte sein europäisches Erbe hervorgehoben. Sie merkt aber im gleichen Zug eine gewisse Diffusität der an der Expo 64 präsentierten nationalen Identi-tät an. Auf der einen Seite habe sich die Schweiz über zahlrei-che Ausstellungsinhalte als offen repräsentiert, auf der ande-ren Seite sei ebenso ein Isolationismus im Sinne einer „Geisti-gen Landesverteidigung“ mitgetragen worden.41 Dies kam im besonders umstrittenen Pavillon der Armee zum Ausdruck, einem überdimensionierten Igelbau mit Stacheln, der Sinn und Zweck militärischer Aufrüstung vermitteln wollte.

Die Expo 64 war im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin von 1939 viel weniger beliebt. Die in der Landi 39 mystifizierte Heimat Schweiz wurde 1964 durch ein Aufgebot moderner architekto-nischer und technischer Effekte gewissermassen ‚entemotio-nalisiert’. Diese stark technologisch geprägte Art der Selbstre-präsentation führte zu einem von verschiedenen Seiten be-klagten Verlust eines gemeinsamen nationalen Wir-Gefühls. Wie Christine Müller Horn in ihrer Dissertation deutlich machte, war dabei die Schweiz nicht alleine mit dem Problem konfrontiert, dass die alten, oft traditionsverankerten Sym-bole, Mythen, Bild- und Klangmotive nicht mehr zur nationalen Selbstdarstellung gereichten oder aus politischen Gründen sogar gemieden werden mussten. In ihrer Untersuchung der Weltausstellungen von 1851 bis 2010 zeigte sie auf, dass die Ausstellungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch ihre spektakulären Bauwerke in der Erinnerung verankert geblieben seien: „Bei allen [Weltausstellungen] trat in der Rückschau ihre Funktion als nationale Repräsentanten in den Hintergrund, sie standen mehrheitlich für innovative Bau-leistungen.“42 Ergänzen könnte man diese Aussage mit Blick auf die Expo 64 noch damit, dass nicht nur eine zeitgemässe Architektur, sondern auch eine innovative mediale Inszenie-rung und Szenografie einen gewichtigen Teil der Selbstdar-stellung ausmachte. Die Klanginstallation Les Echanges kann

41 Vgl. Torriani: Dynamics of National Identity, S. 566-570. 42 Müller Horn, Christine: Bilder der Schweiz. Die Beiträge auf den Weltaus-stellungen von 1851 bis 2010. Zürich 2012, S. 195.

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Patricia Jäggi

als sprechendes Beispiel dafür gesehen werden: In den be-nutzten und inszenierten Maschinen sowie den „computeri-sierten“ Abläufen widerspiegelt sich das damalige Moderni-tätsparadigma.

Versucht man diese Auseinandersetzung abschliessend auf die eingangs des Artikels erwähnte Sammlung Dür zu beziehen, eröffnet sich über die beiden Landesausstellungen ein zwie-gespaltenes Bild. In der Sammlung des Schweizer Kurzwellen-dienstes finden sich Stücke, die als Ausdruck einer idealisier-ten, idyllisierten und sich isolierenden „Heimat Schweiz“ fun-gieren. Es finden sich aber auch Musikstücke in der „Volksmu-sik“-Sammlung, die abgesehen vom Pass ihres Komponisten oder der Interpret_innen ein eher diffuses akustisches Schweizbild zeichnen. Die im Rahmen des Projekts Broadcas-ting Swissness43 gestellte Frage nach einer gewissen nationa-len klanglichen Identität, einem nationalen Sound hinter der Sammlung schlägt hier fehl, da die musikalische Heterogenität und das Vorkommen zahlreicher Stücke, die genausogut von einem anderen Land stammen könnten, keine auf nationale Identität gründende Distinktion erlauben. Stücke wie jene von Kaegi lassen sich in gesellschaftlichen, kulturellen und klangli-chen Werthaltungen verorten, die grenzübergreifend und da-mit nicht nationsgebunden sind, wie dies das Zitat Nipperdeys und die Ausführungen Müller Horns verdeutlichen. Aus einer kultur- und klangwissenschaftlichen Perspektive ist dabei von besonderem Interesse, dass sich je nach gesellschaftlichem Kontext die Bedeutsamkeit von gewissen Klangarten oder Lautkategorien veränderten und dabei spezifische Musiken oder Klänge zur Verkörperung nationaler Identität respektive transnationaler gesellschaftlicher Idealvorstellungen gewählt wurden. Dabei hat sich während der Untersuchung der Expo 64 auch abgezeichnet, dass sich widersprechende Schweizbil-der und damit heterogene Identifikationsangebote im Rahmen der Konzeption einer Landesausstellung koexistieren können. Eine eingehendere Analyse der im vorliegenden Kapitel er-wähnten Kritik an den Inhalten des Anlass könnte dies deutli-cher machen.

43 Vgl. URL: www.broadcasting-swissness.ch (Stand: 17. Juni 2014). 48

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Stimmkonserven, elektronische Klänge und musizierende Maschinen

Fazit

Über einen Vergleich der akustischen Höhepunkte der beiden Landesausstellungen konnte die Virulenz des kulturellen Span-nungsfelds von Traditionalität versus Modernität für die Nach-kriegszeit verdeutlicht werden: Wo sich die Schweiz 1939 räumlich-klanglich national und lokal verortete, zeigte die Un-tersuchung der Expo 1964 eine starke Orientierung an euro-päischen oder westlichen Idealvorstellungen. Vor dem Hinter-grund damals aktueller kultureller Werthaltungen wurden für die Landesausstellungen Klanglandschaften mit oder ohne „(stereo)typisch Schweizerischem“ konstruiert. Tonkonserven aus Lautsprechern, elektronisch erzeugte Klänge und Maschi-nen, die zu Musikern wurden, dienten 1964 dem Ausdruck eines modernen Landes, das sich von seiner vormodernen Vergangenheit deutlich distanzieren wollte. Wo sie 1939 noch ein reines Mittel zum Zweck war, um die traditionellen Schweizklänge zu verbreiten, wanderte die Technik 1964 in die gezeigten Klänge und Musikkompositionen selbst hinein, um dem Paradigma der Modernität Ausdruck zu verleihen. Eine nationale Repräsentation durch avantgardistische Musik liesse sich anhand Kaegis Stücke des Schweizer Auftritts an der Weltausstellung 1970 weiterverfolgen. Die Heterogenität der Sammlung Dür widerspiegelt die an den beiden Landesaus-stellungen exemplarisch gezeigten unterschiedlichen Klangäs-thetiken, die gesellschaftlich verhandelt wurden und noch heute werden. In den Verhandlungsprozessen – so konnte weiter aufgezeigt werden – verändert sich die kulturelle Be-deutung und dabei auch die gesellschaftliche Popularität ge-wisser Musikstile und Klangästhetiken. Folgt man dem Landidörfli und Liebermanns Echanges bis ins heutige digitale Zeitalter, zeigt sich 2014 ein erstaunlich ausgewogenes, ja sozusagen demokratisch-schweizerisches Bild: Die kühl musi-zierenden Büromaschinen liegen auf Youtube mit 14.201 Hits nur ein Weniges hinter dem idyllischen Heimatlied von Mar-thely Mumenthaler mit 15.051 Hits.44

44 Vgl. URL: www.youtube.com (Stand: 15. April 2014).

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ORTE UND ZEITEN IM REMIX

Künstlerische und symbolische Strategien in der Verarbeitung von Referenzen in translokalen Musik-produktionen

Eine theoretisch-methodische Annäherung1

Thomas Burkhalter

„Ethnomusicology enjoys the advantages of being an inherently interdisciplinary discipline, seemingly in a perpetual state of experimentation that gains strength from a diversity and plurality of approa-ches. (…) In this sense, ethnomusicologists are in a unique position to question established methods and goals of the social sciences, and to explore new perspectives. These new perspectives are not just for ethnomusicologists but also for all ethno-graphic disciplines.“2

Die beschleunigten Prozesse der Globalisierung und Digitalisie-rung revolutionieren das Musizieren tagtäglich auf vielen Ebe-nen. Weltweit finden Musiker_innen heute neue Möglichkei-ten, ihre Musik zu produzieren und zu vertreiben. Fast jede Musik und fast jedes Geräusch sind mit ein paar wenigen Mausklicks verfügbar. Sie lassen sich entweder als Sample auf dem Heimcomputer speichern, einfacher denn je mit digitaler Musiksoftware manipulieren und in die eigene Musik einpas-sen, oder aber mit herkömmlichen Instrumenten nachspielen und als musikalische Referenz ins eigene musikalische Schaffen integrieren. Einstige Bedeutung und Herkunftskontext des Samples schwingen im einen Track mit, im anderen klingt das Sample losgelöst von jeglicher Referenz, im dritten ist das Sample zur Unkenntlichkeit seziert. Das libanesisch-schweize-rische Duo Praed montiert arabische Alltags- und Medi-

1 Dieser Artikel ist entstanden in Verbindung mit dem Forschungprojekt Globale Nischen: Musik in einer transnationalen Welt, das Thomas Burkhalter von 2011 bis 2014 an der Zürcher Hochschule der Künste (Institute for Cultural Studies in the Art) durchgeführt hat, finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds. 2 Barz, Gregory, Timothy J. Cooley (Hg.): Shadows in the Field. New Perspectives for Fieldwork in Ethnomusicology. Oxford 2008, S. 3.

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Thomas Burkhalter

ensounds zu einer experimentellen Musik. Die Palästinenserin Kamilya Jubran und der Schweizer Werner Hasler spielen eine elektronische arabische Maqam-Musik – anstelle einer elektronischen Musik mit Orientalismen, wie sie sonst oft zu hören ist. Die National Fanfare of Kadebostany aus Genf ko-piert den spanischen Saeta-Ostergesang und setzt ihn in eine komplett neue musikalische Umgebung.

Die Videoclips von Kadebostany, die Tracks und Live-Perfor-mances von Praed, Kamilya Jubran und Werner Hasler werden auf Soundcloud, YouTube oder Vimeo veröffentlicht und via Facebook, Twitter, Google+, Instagram, Tumblr und andere Onlineplattformen beworben. Sie tauchen blitzschnell in neuen geographischen und kulturellen Kontexten auf und er-halten dort neue Bedeutungen. Um dieses Spiel der Überset-zungen von Materialen und ihren Bedeutungen soll es in die-sem Artikel gehen.

Der Artikel schaut über die Schweizer Grenzen hinaus. Denn Schweizer Musiker_innen arbeiten heute längst nicht mehr ausschliesslich mit Samples, Referenzen, und mit Musi-ker_innen aus der Schweiz, Europa und den USA, sondern im-mer öfter auch mit solchen aus Afrika, Asien und Lateiname-rika. Joy Frempong – mit Künstlernamen OY – produzierte ih-ren Videoclip Market Place mit dem ghanaischen Filmemacher King Luu in Accra. Das Genfer Imperial Tiger Orchestra musi-ziert derweil mit Sänger_innen und Musiker_innen in Äthio-pien. Auch hier werden kulturelle Referenzen neu sortiert.

Methodische und theoretische Ansätze

Die Musikethnologie, die Popular Music Studies und die Mu-sikwissenschaften tun sich heute schwer damit, diese rasanten Entwicklungen und Veränderungen in der Produktion, Distri-bution und Weiterverwertung von Musik adäquat zu erfor-schen. Tagg und Clarida argumentierten bereits 2003, dass verschiedene akademische Disziplinen, die das Phänomen Mu-sik angehen, nicht mit dem rasanten technologischen Wandel haben mithalten können3 – heute hat sich dieses Problem noch verschärft. Es gibt zwar viele aktuelle und vielverspre-

3 Vgl. Tagg, Philip, Bob Clarida: Ten Little Tunes. Towards a Musicology of the Mass Media. New York 2003. 52

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Orte und Zeiten im Remix

chende Forschungsprojekte und Ansätze, viele von ihnen blei-ben aber zu sehr scharfen Disziplinengrenzen verhaftet und sind Opfer der eingespielten universitären Strukturen. Trans-disziplinäre Zusammenarbeit und die Verknüpfung von Theorie und Praxis wird zwar gefordert, in der Realität aber selten um-gesetzt. Der Medienwissenschaftler und Popmusikforscher Christoph Jacke fordert deshalb für deutsche Universitäten eine fächerübergreifende Popmusikwissenschaft als eigenes, transdisziplinäres Fach. In diesem würden die einzelnen Per-spektiven im Idealfall integriert und nicht addiert.4

Dieser Artikel offeriert Auszüge aus dem Forschungsprojekt Globale Nischen – Musik in transnationalen Netzwerken, das ich zwischen 2011 und 2014 an der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt habe und derzeit auswerte. Globale Ni-schen sucht ausgehend von empirischen Fallbeispielen von Musiker_innen in der Schweiz nach einem theoretischen und methodischen Ansatz, mit dem sich die zunehmend komplexe Praxis der translokalen Musikproduktion adäquat analysieren lässt. Der Fokus in diesem Artikel liegt auf den Strategien, mit denen Musiker_innen Materialien und Referenzen aus ande-ren Orten und Zeiten verarbeiten und in neue Kontexte über-setzen. Der vorgestellte Diskussionskatalog soll auf musikali-sche Praktiken innerhalb und ausserhalb der Schweiz ange-wandt werden können und als mögliches Analyseinstrument für translokale Musikproduktionen dienen. Der theoretisch-methodische Ansatz soll nahe bei den Musiker_innen und ih-rer Musik sein und gleichzeitig die Praxis in den Musik-, Kultur- und Medienmärkten nicht aussen vor lassen. Globale Nischen arbeitet eng mit sieben Schlüsselmusiker_innen zusammen, aber auch mit schweizerischen und internationalen Ak-teur_innen in der Kultur- und Musikindustrie. Der Forschungs-ansatz verbindet Theorien und Methoden aus der Musiketh-nologie, den Popular Music Studies, den Medienwissenschaf-ten, der Kultur- und Sozialanthropologie. Er stellt Bezüge zwi-schen ästhetischen, soziokulturellen und technologischen Fragestellungen her und untersucht Wechselwirkungen zwi-schen Musiker_innen, Musik und Kontext.

4 Vgl. Jacke, Christoph: Einführung in Populäre Musik und Medien. Münster 2009, S. 37.

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Thomas Burkhalter

Als Forschungssample dienen Tracks von ausländischen Musi-ker_innen der ersten, zweiten und dritten Einwandergenera-tion in der Schweiz, sowie von Schweizer Musiker_innen, die direkt oder virtuell mit Musiker_innen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zusammenarbeiten:

Joy Frempong (Ghana/Schweiz): Market Place

Kamilya Jubran + Werner Hasler (Palästina, Schweiz): Wanabni

Elina Duni (Albanien/Schweiz): Cobankat

Imperial Tiger Orchestra (Äthiopien/Schweiz): De-mamaye

Meduoteran (Türkei/Serbien/Schweiz): Mediterran

Praed (Raed Yassin & Paed Conca) (Libanon/Schweiz): 8 Giga

Kadebostany (Schweiz): Walking With a Ghost

Tim+Puma Mimi (Japan/Schweiz): Acchi Kocchi

Diese Musiker_innen und ihre Netzwerke werden multi-lokal aus verschiedenen Perspektiven analysiert, etwa von Spezia-list_innen aus den Herkunftsländern dieser Musiker_innen, oder von Spezialist_innen für einen bestimmten Musikstil.

Der Forschungsansatz analysiert Musiker_innen und ihre Mu-sik aus drei Hauptperspektiven:

Perspektive 1 analysiert das Musizieren als Praxis. Musi-ker_innen wollen zunächst über ihre Musik wahrgenommen werden, weshalb diese Forschungsperspektive an erster Stelle steht. Die Perspektive untersucht unter anderem die Eigenge-setzlichkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses und die Einwirkungen der verwendeten Instrumente, Hard- und Soft-ware auf die Musik. „Mit Noten komponieren und mit Sound-Samples arbeiten sind zwei komplett verschiedene Dinge“, erklärt Joy Frempong; „Die kompositorischen Ideen entwickeln sich oft erst beim Editieren und Manipulieren.“5 Um die eige-nen Musikanalysen multi-perspektivisch zu erweitern, beant-worten Expert_innen aus verschiedenen Ländern ganz spezifi-

5 Interview mit Joy Frempong vom 10. August 2011. 54

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Orte und Zeiten im Remix

sche Fragen zu einem Track, Song oder Videoclip in kurzen Texten (der Ansatz ist inspiriert von den Hörtests von Philipp Tagg6, Yngvar B. Steinholt7 und Thomas Burkhalter8). Ziel die-ser externen Analysen ist, die Diskussion zu vertiefen, Ideen breiter anzustossen und sie anschliessend mit Musiker_innen rückzudiskutieren.

Perspektive 2 fokussiert auf die Musik als Medienprodukt. Sobald die Musik vermittelt und weiterverarbeitet wird, ent-wickelt sie ein Eigenleben, das oft für die Musiker_innen kaum kontrollierbar ist. Gleichzeitig verlangen Promotions- und Ver-triebsprozess von ihnen ganz andere Fähigkeiten als das Pro-duzieren und Musizieren – zum Beispiel müssen sie sich sozia-lisieren, entweder in realen Szenetreffs oder auf Blogs im vir-tuellen Raum.

Die Definition „Medienprodukt“ beinhaltet dabei nicht bloss die Musik (gespeichert auf CD, Schallplatte, als Medienfile oder gar Kassette), sondern auch Videoclips, Remixes, Album-covers (mit Fotos, grafischem Design, Schrifttypen etc.), Logos, Titel, Poster, Webseiten und Promotionsfotos, die zur media-len Performance der Musiker_innen dazugehören. Der Begriff „Plattform“ wird als Sammelbegriff für alle physischen und virtuellen „Orte“ verwendet, in denen diese Medienprodukte auftauchen: Auf lokalen oder internationalen Konzertbühnen, auf Medienplattformen wie Soundcloud oder YouTube, in ei-nem Computer Game oder einem Film. Die Musiker_innen agieren gleichzeitig auf verschiedenen dieser Plattformen – mit mehr oder weniger Erfahrung, Wissen und Erfolg.

Die Perspektive untersucht ebenfalls, wie Musiker_innen und ihre Medienprodukte in einem komplexen Netzwerk von Ver-anstalter_innen, Agenturen, Kulturförderern, Sponsoren, La-bels und Medien agieren und zirkulieren. Die Netzwerk-partner_innen werden dabei wie bei Kiwan in die Sphären der „human“, „spatial“, „institutional“ und „spatial hubs“ aufge-

6 Vgl. Tagg, Philipp: Music Analysis for ‚Non-musos’. Paper presented at conference on Popular Music Analysis, University of Cardiff, November 17 2001, S. 9-14. 7 Vgl. Steinholt, Yngvar Bordewich: Rock in the Reservation. Songs from the Leningrad Rock Club 1981-86. New York 2005. 8 Vgl. Burkhalter, Thomas: Local Music Scenes and Globalization. Transnational Platforms in Beirut. New York 2013.

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Thomas Burkhalter

teilt. 9 Laut Susanne Binas-Preisendörfer ist es eine zentrale Aufgabe von Wissenschaftler_innen, diese Interaktionen zwi-schen verschiedenen Akteur_innen (und Institutionen) zu re-konstruieren und über die resultierenden ästhetischen Ideen zu reflektieren. 10 Genau dies ist eines der Ziele des Forschungsprojektes. Dabei werden wichtige Netzwerkpartner der Schlüsselmusiker_innen interviewt. Durch diese Interviews sollen die Musiker genauer in Künstlerszenen, sozialen Milieus, lokalen und internationalen Netzwerken verortet werden. Die skizzierten Wirkungsfelder bieten den Musiker_innen Hand-lungsoptionen, die sie teilweise geschickt selber kreieren oder nutzen.

Die Perspektive 3, Musiker_innen als Akteur_innen, umfasst schliesslich alle Wirkungsfelder, die sehr nah mit den Musi-ker_innen als Mensch und Künstler verknüpft sind. Der aktu-elle Lebensstandort, dessen weltpolitische und wirtschaftliche Position in Geschichte und Gegenwart, entscheidet unter an-derem mit, welche Zugänge Musiker_innen offenstehen. Diese Perspektive wird vorwiegend mit sozial- und kulturwissen-schaftlichen Methoden erarbeitet. Im Zentrum stehen Inter-views mit den Musiker_innen. Die Interviews basieren mehr-heitlich auf Fragestellungen, die sich aus den Forschungsper-spektiven 1 und 2 ergeben. Durch die Interviews lernen wir, wie sich die Musiker_innen zu diesen Fragen stellen. Wir er-kennen finanzielle, politische, taktische Beweggründe für spe-zifische Handlungen. Wir erkennen, wie sich Musiker_innen national oder international positionieren; wir erfahren, wie sie sozialisiert und ausgebildet worden sind.

Die Unterscheidung in die drei Teilbereiche ist für die For-schung zentral: Globale Nischen will nahe an die Musi-ker_innen heran und gleichzeitig kritisch bleiben. Die empiri-sche Analyse der Musiker und die Analyse ihrer Musik werden gleichwertig behandelt. Die Musikanalyse deckt auf, was Mu-siker_innen oft nur unbewusst wissen oder was ihnen im Ge-spräch nicht zuvorderst auf der Zunge liegt. Die Interviews mit

9 Kiwan, Nadia, Ulrike Hanna Meinhof: Cultural Globalization and Music. African Artists in Transnational Networks. Hampshire 2011. 10 Vgl. Binas-Preisendörfer, Susanne: Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Ein Beitrag zu Fragen von Popmusik und Globalisierung. Bielefeld 2010. 56

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Orte und Zeiten im Remix

den Musiker_innen vermögen hingegen die aus der Musik ge-wonnenen Erkenntnisse zu erweitern, zu bestätigen und zu vertiefen. Ein fundiertes und auch faires Vorgehen mit beiden Methoden führt zu Respekt, Akzeptanz und Nähe zwischen den Wissenschaftler_innen und den Schlüsselmusiker_innen (Informant_innen). Erst in dieser Konstellation – in der das Vertrauen zu den Musiker_innen durch kritisches Nachfragen wächst und nicht zerstört wird – können auch die tieferen Mo-tivationen, Ziele und Ängste von Musiker_innen thematisiert werden.11

Letztlich dient der bisherig beschriebene multi-perspektivische Ansatz vor allem dazu, möglichst viel über Musiker_innen und ihre Medienprodukte zu erfahren. Die Inspiration dazu kommt vom Musikwissenschaftler und Heavy-Metal-Forscher Robert Walser, der sagt, man müsse jede musikalische Referenz in einem Musikstück kennen, bevor man seine Analyse starten kann12 – eine letztlich unerreichbare Forderung, aber doch ein Ideal, dem man sich so weit als möglich annähern sollte.

Theoretische Raster zur Analyse von Musik in Referenzkultu-ren

Im folgenden möchte ich genauer auf den Teilaspekt „Künstle-rische und symbolische Verarbeitungsstrategien im Umgang mit Referenzen in translokalen Musikproduktionen“ eingehen. Im Zentrum steht dieser Fragekatalog:

1. Welche Referenzen (Sounds, Texte, Bilder) verarbeiten die Musiker_innen in ihren Medienprodukten?

2. Wie verarbeiten sie diese Referenzen?

3. Welche Wichtigkeit geben die Musiker_innen den verarbeiteten Referenzen? Werden die Referenzen of-fen zitiert?

11 Vgl. Terkessidis, Mark: Distanzierte Forscher und selbstreflexive Gegenstände. Zur Kritik der Cultural Studies in Deutschland. In: Christoph Jacke, Eva Komminich, Siegfrid J. Schmidt (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Bielefeld 2006, S. 148-164. 12 Vgl. Walser, Robert: Popular Music Analysis. Ten Apothegms and Four Instances. In: A. F. Moore (Hg.): Analyzing Popular Music. Cambridge 2003. S. 16-28.

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Thomas Burkhalter

4. Wie gut kennen die Musiker_innen die verarbeiteten Referenzen?

5. Wie positionieren sich die Musiker_innen zu den Refe-renzen?

Die Analyse soll Motivationen und Visionen von Musi-ker_innen und Hörer_innen aufzeigen. Sie soll auf die ver-schiedenen Positionierungen zu einer Idee, einem Stil, einem Ort oder gar der Welt hinweisen. In diesem Artikel dient der Track 8 Giga des libanesisch-schweizerischen Duos Praed als Fallbeispiel. Beispiele von anderen Schlüsselmusiker_innen werden bei Bedarf hinzugezogen.

Welche Referenzen (Stile, Sounds und Geräusche) verarbei-ten Musiker_innen in ihrer Musik?

Diese Fragestellung fördert eher deskriptive Antworten, führt aber zu einer Art Verankerung der Musik und der potentiellen Fragestellungen. Für diese Referenzsuche sollten möglichst viele Hörer_innen eingebunden werden. Die Musiker_innen selber geben ihre Referenzen und Samples oft nicht gerne preis, vor allem aus rechtlichen und aus künstlerischen Grün-den. „Je schwieriger es ist, aus diesem Wust das Original her-auszuhören, um so interessanter wird für mich das Stück“, erklärt Matt Black von Coldcut in einem Interview.13 Zitieren, wie in der Wissenschaft, will Matt Black nicht.

Joy Frempong, Kadebostan, Imperial Tiger Orchestra und Praed arbeiten mit unterschiedlichen Ausgangsmaterialen: Frempong arbeitet gerne mit Alltagsgegenständen oder mit Aufnahmen von Alltagsdiskussionen. Praed verarbeitet Sounds aus der kommerzialisierten pan-arabischen Medienwelt. Das Imperial Tiger Orchestra blickt zurück und erforscht die Musik Äthiopiens der 1960er und 70er Jahre. Kadebostan arbeitet sehr lose mit eklektischem Material – von der andalusischen Saeta zu Symbolen von Militarismus und Faschismus – und baut daraus eine eigene Welt; die Republik Kadebostan, wie sie in Pressetexten schreibt.

13 Zitiert nach Poschardt, Ulf: DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur. Berlin 1997, S. 283. 58

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Orte und Zeiten im Remix

Der Libanese Raed Yassin und der Schweizer Paed Conca ma-nipulieren im Duo Praed populäre Mediensounds aus der ara-bischen Welt mit experimentellen Spieltechniken. Auf ihrem Album Made in Japan werden akustische Angebote von ges-tern und heute feilgeboten: Raed Yassin singt zu einem Sample des ägyptischen Popstars Mahmoud El Husseini, er mimt den Alleinunterhalter auf dem Keyboard, während im Badezimmer ein Rohr bricht. Japanische Stimmen, Schreie, Gewehrsalven und Dub-Grooves werden dazu eingeflochten. Kitschige „Bil-ligsounds“ und Rhythmen drehen in endlosen Schleifen, kom-men von nirgends und zielen nirgendwo hin. Alles wird durch den „Fleischwolf“ gedreht und mit Techniken der experimen-tellen Musik verarbeitet: Mit präpariertem Kontrabass und E-Bass, variantenreichen Spieltechniken auf der Klarinette, und mit Scratches auf Plattenspieler und Kassettengerät.

Der Track 8 Giga von Praed basiert auf einigen wenigen, dafür sehr prägnanten musikalischen Elementen. Raed Yassin spielt auf einem Micro-Korg-Synthesizer eine sich ständig wiederho-lende Melodie. Diese bleibt bis zum Endes des Tracks unver-ändert, ohne Unterbrüche, Dynamik und Modulation. Die Tonhöhen der Melodie (C, B und Es) steuert Yassin mit dem Pitch-Bend-Wheel des Micro-Korgs.

Hörbsp. 1: 8 Giga von Praed14

Die Musikethnologin Shayna Silverstein, Spezialistin für arabi-sche Musik, hört – auf Anfrage – in der Melodie des Micro-Korg die Doppelrohr-Oboe Mijwiz – ein typisches Instrument in der Volksmusik der Levante, das vor allem im Dabké-Tanz ge-spielt wird.

„The repeating melodic phrase comprised of rapid chromatic alternations between C and B flat [...] recall the pedal tones of the mijwiz reedpipe in Le-vantine dabke music”15

Eine klare Referenz an die arabische Welt bildet der Maqsum-Rhythmus, der das ganze 8 Giga-Stück hindurch läuft – ohne

14 URL: https://soundcloud.com/praed/8-gega (Stand: 29. Juli 2014). 15 Shayna Silverstein, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter vom 7. November 2013.

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sich zu verändern: 1 + 2 + 3 + 4 + (betont auf 1 und 3, unbetont auf 1.5, 2.5 und 4). Maqsum ist einer der bekanntesten Rhythmen der arabischen Welt. Er wird in verschiedensten Kontexten angewandt, von Volksmusik zu Popmusik, bis hin zur aktuellen Mahragan-Musik in Kairo. Die Mahragan Künstler Oka & Ortega verwenden den Rhythmus in ihrem Track 8 Giga, der denselben Namen trägt wie der Track von Praed.

Spieltechniken und Sounds, die sowohl aus der frei improvi-sierten Musik als auch der zeitgenössischen Kunstmusik be-kannt sind, bilden eine weitere zentrale Referenz. Von 0’00 bis 0’43 hören wir ausschliesslich „Multiphonics-Sounds“, gespielt von Paed Conca auf der Klarinette: Durch bestimmte Blas- und Grifftechniken kann Conca live mehrstimmig spielen – und braucht dabei nicht auf die Mehrspurtechnik im Studio zurück-zugreifen. „Multiphonics“ wurden in der Vergangenheit in Jazz (John Coltrane, Roland Kirk, Albert Ayler, Archie Shepp, Pharoah Sanders...), Rock (Ian Anderson von Jethro Tull), Neuer Musik (z.B. Heinz Holliger in Studie über Mehrklänge, 1971), Frei Improvisierter Musik (Albert Mangelsdorff, Vinko Globokar etc.) und anderen Musikstilen angewandt. Ab 0’43 nimmt Conca „Multiphonics-Sounds“ mit einem Loop-Gerät auf und spielt sie über ein Fusspedal auf Bedarf hinzu. Er ver-bindet so live gespielte und aufgenommene Melodien. In Live-Konzerten spielt Paed Conca 8 Giga ab Notenblatt. Das mag bereits auf seine Interessen hinweisen, das Spiel zwischen freier Improvisation und europäischer Kunstmusik:

„Ich spiele in der international gut vernetzten Szene der Frei Improvisierten Musik, komponiere aber auch, von zeitgenössisch bis kammermusika-lisch. Die letzten Jahre bin ich in Deutschland, Ita-lien, Belgien, Holland, Schweden und Norwegen aufgetreten, und immer wieder in Japan und im Li-banon.“16

Hinzu kommen die „Allah“-Rufe von Raed Yassin bei 8’48. Sie sind Referenzen an die klassische Sufi-Musik. Die Rufe sind übers Mikrofon verzerrt aufgenommen – sie weisen weder auf hoch-kulturelle Sufi-Musik noch auf die teuren Weltmusik-Um-setzungen dieser Kunst hin, sondern auf die Low-Budget-Pro-

16 Interview mit Paed Conca vom 18. Februar 2011. 60

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duktionen, die überall in der arabischen Welt für wenig Geld auf mp3-CDs und Kassetten feilgeboten werden. Silverstein bemerkt:

„Rather than Quranic recitation (tajwid), Yassin’s vocals echo Sufi chants at zikr remembrance rituals through the rhythmic emphasis on the downbeat and the sustained ‚lam’ syllable. Unlike Sufi chant practices, Yassin alters the final invocation by syn-copation, pitch distortion, and duration.”17

Wie verarbeiten Musiker_innen diese Referenzen? – Künstle-rische Verarbeitungsstrategien

Die oben diskutierten Referenzen sind deutlich erkennbar und bleiben zu einem gewissen Grad auch unverändert im Tradi-tionsstrom des spezifischen Genres verortet. Der arabische Maqsum-Rhythmus bildet stoisch das solide Fundament von 8 Giga. Die „Multiphonics-Klänge“ und Melodien von Paed Conca auf der Klarinette bleiben in der Welt der Frei Improvi-sierten Musik und der Neuen Musik verortbar. Allenfalls kön-nen die verwendeten Mikroton-Skalen als eine Anlehnung an arabische Musik gehört werden – wobei diese Referenz nichts Neues ist: Viele der oben genannten Protagonisten des „Mul-tiphonics-Spiels“ inspirierten sich auf ihrer Suche nach neuen Skalen (ausserhalb der temperierten Stimmweise) an der Mu-sik der arabischen Welt oder Asiens. Praed verwandelt die ein-zelnen Referenzen also nicht, sondern kombiniert sie lediglich neu: Keyboard-Sounds und ein populärer arabischer Rhythmus treffen auf „Multiphonics-Sounds“ aus der Frei Improvisierten und der Neuen Musik.

Wechseln wir hier kurz zum Track Wanabni der palästinensi-schen Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran und des Schweizer Elektronikers und Trompeters Werner Hasler. An Wanabni lässt sich das theoretische Arbeitsmodell „Künstleri-sche Verarbeitungsstrategien“ gut vorstellen, das ich derzeit entwickle.18

17 Shayna Silverstein, Kommentar via Email. 18 Vgl. Burkhalter, Thomas, Christoph Jacke, Sandra Passaro: Das Stück „Wanabni“ der Palästinenserin Kamilya Jubran und des Schweizers Werner Hasler im multilokalen Hörtest. Eine multiperspektivische Analyse. In: Diet-

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Hörbsp. 2: Wanabni von Kamilya Jubran und Werner Hasler19

Wanabni folgt den Prinzipien der alten arabischen Maqam-Musik: Das Arrangement von tiefen zu höheren Tonebenen und zurück, die präzisen Ornamentierungen, die genaue Arti-kulation der arabischen Silben. Viele andere Fusionsprojekte zwischen arabischen und europäischen Musiker_innen wirken hier stärker in euro-amerikanisch geprägten Pop- und Jazz-Arrangements verhangen – sie nutzen „Orientalisches“ oft bloss als oberflächliches Ornament; dabei sind die Ornamen-tierungen und arabischen Vierteltonskalen unpräzise, Sän-ger_innen wechseln aus der Perspektive von Kenner_innen „falsch“ von einem Modus in den anderen (was selbstver-ständlich kein eindeutiges Werturteil zulässt). Bei Jubran und Hasler funktioniert die Musik anders. Angefragte Ken-ner_innen und Expert_innen arabischer Musik sagen es auf Anfrage mehr oder weniger einstimmig: Wanabni geht deut-lich vom arabischen Maqam-Prinzip aus, verfolgt dieses aber nicht bis ins letzte Detail.

Der Musikethnologe Martin Stokes bestätigt die spezifische Maqam-Skala, konstatiert dann aber, dass die Maqam-Prinzi-pien nur teilweise umgesetzt werden.20 Die ägyptische Musik-wissenschaftlerin Azza Madian schreibt: „The music/singing moves from the familiar to the unfamiliar and back.”21

Im Vergleich werden Referenzen in Wanabni und 8 Giga an-ders verarbeitet. Diese Unterschiede sollen im Arbeitsmodell „Künstlerische Verarbeitungsstrategien“ aufgezeigt werden:

Mono-Referentiell

Referenzen (z.B. Samples, Motive, rhythmische Figuren ...) werden 1zu1 kopiert. Die Kopien tauchen aber in neuen Kon-texten auf.

rich Helms (Hg.): Black Box Pop: Analysen populärer Musik. Bielefeld 2012, S. 227-256. 19 URL: http://norient.com/academic/wanabni/ (Stand: 29. Juli 2014). 20 Vgl. Martin Stokes, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter vom 7. Juli 2010. 21 Azza Madian, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter vom 29. September 2010. 62

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Multi-Referentiell (hart geschnitten)

Verschiedene Referenzen werden einander gegenübergestellt, aber nicht verändert. Die einzelnen Referenzen bleiben dabei klar erkennbar.

Inter-Referentiell (mit Übergängen)

Verschiedene Referenzen werden vermischt aber nicht verän-dert. Die einzelnen Referenzen bleiben dabei klar erkennbar.

Trans-Referentiell (Transformation)

Verschiedene Referenzen werden vermischt und dabei verän-dert. Sie bleiben aber erkennbar.

Hyper-Referentiell (losgelöst)

Verschiedene Referenzen werden vermischt und sind nicht mehr erkennbar. Die Ursprungs-Referenzen bleiben den Musi-ker_innen/Produzent_innen aber wichtig.

Super-Referentiell (losgelöst)

Verschiedene Referenzen werden vermischt und sind nicht mehr erkennbar. Die Ursprungs-Referenzen sind den Musi-ker_innen/Produzent_innen unwichtig.

Pop-Referentiell

Die beschriebenen Modi – von Mono- bis Super-Referentiell – werden vermischt.

Abb. 1: Arbeitsmodell „Künstlerische Verarbeitungsstrategien“

Jubran und Hasler agieren in diesem Raster tendenziell im trans-referentiellen Modus. Werner Hasler sucht laufend die passenden Tonlagen und Klänge zum Gesang von Kamilya Jubran. Und Kamilya Jubran weiß, dass sie einen Maqam nicht komplett ausformulieren kann, wenn Wanabni als Ganzes funktionieren soll. Raed Yassin und Paed Conca agieren in 8 Giga hingegen im inter-referentiellen Modus: Sie verwandeln die einzelnen Referenzen nicht, sondern kombinieren sie le-diglich neu. Im selben Modus agiert auch der Track Walking with my Ghost von Kadebostany.22 Kadebostany spielt eine

22 Vgl. das Videobeispiel Walking with my Ghost von Kadebostany unter URL: http://vimeo.com/39540030 (Stand: 4. März 2014).

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bekannte Saeta-Melodie des spanischen Protestsängers Joan Manuel Serrat aus dem Jahre 196923 mit Blechbläsern neu ein und setzt sie so in einen neuen musikalischen und kulturellen Kontext.

Hörbsp. 3: Walking with my Ghost von Kadebostany24

Das Problem dieses modellhaften Rasters: Je nach Ausschnitt und Wissen können die Modi mono- bis pop-referentiell in einem Stück wechseln oder anders gehört werden. Ich arbeite derzeit daran, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Modells an verschiedenen Fallbeispielen zu testen und das Modell wei-terzuentwickeln.

Welche Wichtigkeit geben die Musiker_innen den verarbeite-ten Referenzen? Werden die Referenzen offen zitiert?

Beide, Raed Yassin und Paed Conca, thematisieren in Inter-views die musikalischen Referenzen offen, die sie in ihrer Mu-sik verarbeiten – im Gegensatz etwa zu Kadebostany, die sehr ungern zu solchen Fragen Auskunft geben. Paed Conca sagt:

„Wir ziehen sehr vieles durch den Fleischwolf. Ton-spuren alter ägyptischer und japanischer Filme, Reden arabischer Diktatoren, Propaganda-Musik, Feldaufnahmen aus dem libanesischen Bürger-krieg, und vieles mehr. Neu verarbeiten wir auch Rhythmen, Sounds und Stimmen aus der arabi-schen Populärmusik. Besonders die Dabké-Hoch-zeitsmusiker in Syrien und Libanon und die Chaabi-Strassenstars in Ägypten haben es uns angetan.“25

Die lokalen Verortungen sind Praed wichtig. Sie kommen auch in den Covern, Titeln und Beschreibungen ihrer Alben und Tracks zum Vorschein.

23 Vgl. das Videobeispiel zur Saeta-Melodie von Joan Manuel Serrat unter URL: www.youtube.com/watch?v=V3iE9orPC4A (Stand: 4. März 2014). 24 URL: http://norient.com/blog/kadebostany2014/ (Stand: 29. Juli 2014). 25 Interview mit Paed Conca vom 18. Februar 2011. 64

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Abb. 2: Logo des libanesischen Labels „Annihaya“26

Das Ziel vom Plattenlabel Annihaya etwa, das von Raed Yassin und seinem Musikerfreund Sharif Sehnaoui geleitet wird, steht auf der Webseite beschrieben:

„Annihaya is a concept musical label that speciali-zes in the displacement, deconstruction and ‚recy-cling’ of popular or folkloric musical cultures. The label's mission is to work through popular forms of music whilst skewing their normative diffusion and meanings for the listener. Annihaya seeks to dis-tort boundaries of popular music, oscillating bet-ween the familiar and unfamiliar in the aim of pos-iting new ways of listening to original works and the way they impact their listeners.”27

Auf die Nachfrage, warum sich Rhythmus und Micro-Korg-Melodie im ganzen Stück nie verändern, weist Paed Conca auf die Wichtigkeit der „Allah“-Ausrufe hin und benennt dabei eine kulturelle Referenz: „Sufi Musik ohne Religion aber mit Ekstase.“28

Wie gut kennen die Musiker_innen die verarbeiteten Refe-renzen?

Für Raed Yassin ist es wichtig, dass er all die Referenzen genau kennt, die er verarbeitet – das hat er zum Beispiel in seiner Montage Civil War Tape klargemacht, in der er Musik, Propa-ganda-Reden und Krach aus dem libanesischen Bürgerkrieg

26 Quelle: URL: http://www.annihaya.com (Stand: 5. August 2014). 27 URL: www.annihaya.com/aboutus.html (Stand: 13. Februar 2014). 28 Interview mit Paed Conca vom 14. November 2013.

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verarbeitet.29. Auch in 8 Giga sind die Referenzen sehr be-wusst gewählt.

„The commercial Egyptian comedy film ‚El Lembi 8 Giga’ inspires this track. I used a very small sample from a song that the hero sings. I think the langu-age in this film is so contemporary to what is going on in popular music in Egypt right now.”30

El Lembi 8 Giga ist vom saudi-arabischen Medienmulti Rotana produziert. Die Serie handelt vom Anwalt El Lembi. Mit einer Lehrerin verheiratet gerät er wegen seiner schlechten finan-ziellen Lage immer wieder in schwierige und komische Situa-tionen. Sein Salär ist bei den rapid steigenden Preisen immer weniger wert. Produktionsästhetisch mischt die Serie teuer produzierten panarabischen Pop mit nostalgischen Rückwei-sungen an die grossen ägyptischen Orchester der 1960er Jahre – allerdings in einer sehr synthetischen Variante. Anwalt El Lembi ist eine tölpelhafte aber populäre Verliererfigur, wie sie Raed Yassin gerne aufgreift – in anderen Musikstücken, aber auch in seinen verschiedenen Kunst-Performances.

In meiner Forschung in Beirut habe ich aufgezeigt, dass sich Musiker_innen sehr kritisch gegenüber europäischen und US-amerikanischen Musiker_innen und DJ_anes äussern, die im-mer dieselben stereotypen und oberflächlichen Referenzen aus der arabischen Welt verarbeiten würden: Koran-Rezitatio-nen, Oud-Klänge oder Darabuka-Rhythmen.31 Praed verarbei-tet in 8 Giga und in anderen Tracks sehr viel verstecktere Refe-renzen, die oft nur für Insider erkennbar sind. Die Kritik der Musiker_innen in Beirut geht weiter: Die europäischen und US-amerikanischen Musiker_innen würden diese Referenzen ungenau und zu wenig kennen. – Ich möchte es hier noch ein-mal betonen: Es geht in diesen Analysen nicht darum, eine Verarbeitungsstrategie von Referenzen über eine andere zu stellen. Es geht darum, Argumentationslinien offenzulegen und schliesslich Wissen, Erfahrung und Handlungsstrategien aufzuzeigen. Paed Conca spielte die Klarinette in 8 Giga mit

29 Vgl. Burkhalter: Local Music Scenes and Globalization, S. 115-124. 30 Interview mit Raed Yassin vom 18. Mai 2011. 31 Vgl. Burkhalter: Local Music Scenes and Globalization. Sowie Burkhalter, Thomas, Kay Dickinson, Benjamin J. Harbert: The Arab Avant-Garde: Music, Politics and Modernity. Middletown 2013, S. 89-118. 66

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viel Können und Wissen. Den Einsatz des arabischen Maqsum-Rhythmus hingegen könnte man ebenso als „oberflächlich“ und „stereotyp“ bewerten – vor allem, wenn man weiss, dass viele Musiker_innen in Beirut kaum Zugang finden zu arabi-scher Musik.32 Yassin bestätigt denn auch, dass die Wahl wohl eher zufällig auf den populärsten Rhythmus der arabischen Welt gefallen ist: „It doesn't have to do anything with the rhythm, for us it is a cool beat, and for us it is about pop cul-ture.”33

Hier entsteht scheinbar eine Diskrepanz. In Interviews spricht Yassin immer wieder von der Wichtigkeit, die Referenzen des verarbeiteten Materials genau zu kennen. Den Maqsum-Rhythmus kennt er selber aber oberflächlich und wählt ihn auch zufällig aus. Solche Diskrepanzen zu finden, ist ein Ziel des 3-Perspektiven-Analyseansatzes.

Wie positionieren sich die Musiker_innen zu den Referenzen? – Symbolische Verarbeitungsstrategien

Die prägnanten, sich ständig wiederholenden Sounds aus dem Micro-Korg-Synthesizer sind in 8 Giga wohl der geeignetste Ansatzpunkt, um zu verstehen, wie sich Praed zu Referenzen musikalisch, und zum Libanon, zur Schweiz und zur Welt kultu-rell und politisch positioniert – wenn in diesem Artikel auch vornehmlich Positionierungen zum Libanon im Vordergrund stehen, so sollen doch auch Positionierungen zur Schweiz spä-ter kurz gestreift werden. Der Micro-Korg-Sound ist Ausdruck der Vorliebe des Duos für Kitsch und Trash, aber auch Aus-druck ihrer Art des Protests: Fokus auf Vergessenes und Expe-rimentelles, statt auf Kanon, Kommerz und Propaganda. Eine Inspiration für Praed bilden die arabischen Studioproduktio-nen aus den 1980er Jahren:

„Most post-1980 albums have been produced quickly and comparatively inexpensively through studio overdubbing and extensive cutting-and-pas-ting (literally so, in the era of digital audio) of for-mulaic melodies, lawazim (melodic fills), harmonic

32 Vgl. ebd. 33 Raed Yassin, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter vom 23. März 2014.

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sequences, texts, and forms, designed to burst (yitfar‘a’) predictably onto the scene, and rapidly fade. Trendy Western, Caribbean, and Latin sounds and styles […] from rock to reggae, and especially the popular music ensemble featuring guitar, bass, drums, and org […] introduced to the Arab world through the same media channels, have become increasingly prominent.”34

Sound und Spielweise des Micro-Korg sind zudem deutliche Referenzen an den „billig“ produzierten Strassenpop, der in der ganzen arabischen Welt in unterschiedlichen Stilausprä-gungen zu hören ist: Zum Beispiel an die Dabké- (und New Wave Dabké) Hochzeitsmusik in der Levante, die mit dem syrischen Sänger Omar Souleyman weltweit bekannt gewor-den ist. Souleymans Keyboarder Rizan Sa’id spielt in dieser Musik die schrillen Sounds der Mijwiz-Oboe mit dem Korg PA-800. Der Sound ist international erfolgreich: Die isländische Popsängerin Björk hat Omar Souleyman kurzerhand für Re-mixe auf ihr Album von 2011 aufgenommen.35 Der Sounds des Micro-Korgs auf 8 Giga erinnert auch an die virtuose Musik des Ägypters Islam Chipsy auf seinem Yamaha PSR OR-700-Key-board36 – oder auch an die Sounds der aufkommenden Mahr-agan (Elektro-Cha’abi) Popstars in Kairo.37 Letztere arbeiten allerdings vorwiegend mit den virtuellen Instrumenten aus dem Software-Sequenzer Fruity Loops (neu FL Studio).

Die Musik von Praed setzt zudem auf ästhetische Merkmale der Bauchtanz-Musik der 1950er und 60er Jahre. Anne Rass-mussen schreibt über diese Bauchtanz-Kultur:

„For the true connoisseurs of Arab music, those who performed and enjoyed music at community haflat, the music of the nightclub violated every

34 Frishkopf, Michael (Hg.): Music and Media in the Arab World. Cairo 2010, S. 18. 35 Vgl. Björk: Bastards. Little Indian Records 2012. 36 Vgl. Burkhalter, Thomas: The Yamaha PSR OR-700 à la Islam Chipsy. URL http://norient.com/blog/islam-chipsy/ (Stand: 18. April 2014). 37Vgl. Swedenburg, Ted: Electro Sha’abi: Autotune-Rebels in Cairo. URL http://norient.com/stories/electro-shaabi/ (Stand: 18 April 2014); Burkhalter, Thomas: Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung. Bern 2014, URL http://norient.com/stories/kairo2013/ (Stand: 18. April 2014). 68

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boundary of authenticity. The nightclub sound was a musical hybrid generated by the creative inven-tion and innovation of second-generation and post-World War immigrants who were inspired by modernization and Orientalism. Reflecting the in-fluence of American popular music and the mod-ern trends of Cairo, Egypt, musical innovators Mu-hammad al-Bakkar, Eddie ‚the sheik’ Kochak, and Freddy Elias incorporated Western instruments and modern emergent styles into their perfor-mances during which a kind of musical caricature of the Orient was created.”38

Es ist die Offensichtlichkeit und Leichtigkeit dieser künstleri-schen Karikaturen auf den Orient, die nicht nur dem Duo Praed als Steilvorlage dient. Raed Yassin sagt es auf Nachfrage so: „El Lembi to me signifies the revival of Arabic trash culture, extreme comedy, and extreme cleverness in an awesome way. This character El Lembi is the biggest comedian in the 2000s.”39

All diese Musik wurde und wird von den Eliten in der arabi-schen Welt gerne als „kulturell minderwertig“, als Abfall, ge-wertet. Und auch bei europäischen Hörern kommt der Sound nicht nur gut an: Der verstorbene BBC-Weltmusik-Pionier Charlie Gillett äusserte sich an einer Konferenz an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London (2011) kurz vor seinem Tod fast schon empört über ein Londoner Konzert von Omar Souleyman. Das sei der schlechteste Hochzeitssän-ger, den er je gesehen habe. Man kann nüchtern festhalten: Die mehrheitlich saubere und sanfte Weltmusik in den CD-Lä-den Europas wird attackiert und ersetzt durch neue, unbe-quemere Sounds.40 Weltmusik (1.0) will unversehrte musikali-sche Formen und Idiome hochleben lassen, mischt dann aber Sounds der vollständig kommerzialisierten Gegenwart mit der pseudohistorischen „Patina anderer Zeiten und Orte“, wie der

38 Rasmussen, Anne K.: An Evening in the Orient. The Middle Eastern Night-club in America. In: Asian Music 2 (1992), S. 63-88, S. 69. 39 Raed Yassin, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter vom 23. März 2014. 40 Vgl. Burkhalter, Thomas: Weltmusik 2.0: Zwischen Spass- und Protestkul-tur. URL: http://norient.com/academic/weltmusik2–0/ (Stand: 6. August 2012).

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Musikethnologe Veit Erlmann schreibt.41 Er definiert den An-satz der Weltmusik (1.0) über den Begriff „Pastiche“ und meint dabei eine spezielle Art der Parodie, bei der der polemische oder satirische Akzent völlig fehlt. Diejenigen Musiker_innen, die neu mit Exotika arbeiten, haben nun „Pastiche“ durch Pa-rodie ersetzt. Ich bezeichne sie aus einer euro-amerikanischen Perspektive als „Weltmusik-2.0-Musiker_innen“.42

Paed Conca, der Schweizer Musiker im Duo Praed, erklärt wo-rum es Raed Yassin und ihm geht:

„Praed klaut, missbraucht, verändert und stellt ganz bewusst neu zusammen. Sha’abi, Dabké und arabischen Strassenmusk dienen als Grundele-mente, mit denen wir aktuelle Kompositionen bauen.“43

Der Praed Track 8 Giga kann – je nach Perspektive – als Per-siflage, Parodie oder politische Manifestation gehört werden. Komponist Oliver Schneller hört im Kontrast der Micro-Korg-Melodie und dem arabischen Rhythmus eine Persiflage:

„Als prominentesten elektronischen Klang wählt Yassin in diesem Stück eine nicht-sinusoidale Schwingungsform dessen Oszillationsmuster dem einer ‚Sägezahnwelle‘ entspricht. Diese charakte-ristische Wellenform, die in der Natur nicht auf-tritt, und eine fast durchgängig konstante Energie in allen (gleichen und ungleichen) Obertönen auf-weist, kann für die menschliche Tonwahrnehmung als eine besonders ‚scharfe‘, ‚ätzende‘, künstliche und plastikartig-aggressive Wellenform beschrie-ben werden. Yassins mit diesem Sound produzier-tes erratisch pulsierend-instistentes Ostinato er-zeugt im Hörer eine Art Dauerstress, der möglich-erweise ohne den grundierenden Dabke-Groove nahezu unerträglich wäre. So aber zerlegt sich der unnachgiebige Strom von parallel zum Dabke-

41 Erlmann, Veit: Ideologie der Differenz: Zur Ästhetik der World Music. In: PopScriptum 3 (1995), S. 6-29. URL: http://www2.hu-ber-lin.de/fpm/popscrip/themen/pst03/pst03_erlmann.htm (Stand: 16. April 2014). 42 Burkhalter: Weltmusik 2.0. 43 Interview mit Paed Conca vom 14. November 2013. 70

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Rhythmus verlaufenden Sägezahn-Impulsen in mehrere sich wiederholende metrische Segmente, die der Wahrnehmung eine repetitive aber eben minimal kontrastierende klanglich-strukturelle Sinngebung ermöglichen. Gerade das scheint die Pointe zu sein: Dabke, mit Hochzeiten und Stras-senfesten assoziiert, wird hier von dem Sägezahn-Riff gleichsam persiflierend zugekleistert, wodurch sich der Affekt des leichten, freudigen Tanzrhyth-mus in einen manisch getriebenen Elektronika-Tanz verwandelt. Der Dabke-Loop erzeugt tatsäch-lich eine stärkere ‚Grundierung‘, und stellt als klar identifizierbares und zuweisbares Element neben den ‚Allah‘-Interjektionen der Stimme von Raed Yassin einen wie auch immer gefühlten stärkeren kommentierenden Bezug zu einer stressreichen, vielleicht gnadenlosen Wirklichkeit her, worauf es den beiden ausgesprochen politisch denkenden Musikern sicherlich auch gerade ankommt.“44

Parodie – aber auch politische Andeutungen – erkennt man besonders deutlich an den Konzerten von Praed – zum Bei-spiel, wenn Raed Yassin auf dem Synthesizer den Alleinunter-halter mimt. Paed Conca sagt es so:

„Wir spielen in unserer Musik und in unseren Per-formances mit politischen Andeutungen. Wir ma-nipulieren etwa die Klangästhetik verschiedenster libanesischer Parteien und setzen sie ironisch in neue Kontexte. Raed Yassin trägt auf der Bühne gerne die typische Spiegelbrille rechtsradikaler christlicher Parteiführer und spielt dazu auf dem Synthesizer die Musik der Schiiten und Sunniten. Grundsätzlich plädieren wir mit unserer Musik aber für eine Politik der Offenheit: Jeder und jede soll sich seine Welt so zusammenstellen dürfen, wie er oder sie es für richtig hält.“45

44 Oliver Schneller, Kommentar via Email an Thomas Burkhalter am 7. Oktober 2013. 45 Interview mit Paed Conca vom 18. Februar 2011.

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Abb. 3: Paed Conca: „Wir spielen in unserer Musik und in un-seren Performances mit politischen Andeutungen.“46

Raed Yassin sucht für seine künstlerischen Projekte gerne in den Archiven Libanons – sein besonderer Fokus gilt den „Anar-chiven“. Simon Reynolds schreibt, der „info tsunamai“47 in der digitalisierten Welt führte dazu, dass gut geordnete, ideolo-gisch gefärbte Archive zu „Anarchiven“ würden:

„The archive degenerates into the anarchive: a barely navigable disorder of data-debris and me-mory trash. For the archive to maintain any kind of integrity, it must shift and reject, consign some memories to oblivion. History must have a dustbin, or History will be a dustbin, a gigantic, sprawling garbage heap.”48

Yassin holt aus der Geschichte Libanons und der arabischen Welt diejenigen Materialien ans Tageslicht, die von den Eliten und Politikern gerne verdrängt worden sind – er valorisiert das Unbeachtete, Ausrangierte und Tabuisierte. Praed knüpft denn auch an eine längere Tradition von subkultureller Pop- und Protestmusik in der arabischen Welt an – zum Beispiel an die psychedelische Rockmusik in den 1970er Jahren.49

46 Foto: Thomas Burkhalter. 47 Reynolds, Simon: Retromania – Pop Culture’s Addiction to its own Past. London 2011, S. 125 48 Ebd., S. 151. 49 Vgl. Burkhalter: Local Music Scenes and Globalization, S. 165-167. 72

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Die einzelnen musikalischen Referenzen spielen Praed ohne Ironie – wie die Analyse der künstlerischen Verarbeitungsstra-tegien gezeigt hat. Der überraschende Mix der Referenzen macht 8 Giga aber zu einem kulturellen und politischen Statement – und das durchaus auch bezogen auf die Schweiz. Hier spielten Popmusik, Frei Improvisierte Musik und auch Zeitgenössische Musik lange in getrennten Szenen und Räu-men – und sie tun das grösstenteils bis heute. Die Szene der Frei Improvisierten Musik nahm sich denn auch kaum den Ma-terialien der Popkultur an. Genau das ist im Projekt Praed an-ders – und für Paed Conca eine Befreiung. Er erzählt, warum er heute in Beirut lebt: Erstens sind ihm die Schweiz und der Schweizer Markt zu klein, zweitens gefällt ihm das transdiszip-linärere Arbeiten in den Szenen der Musiker_innen und Künstler_innen im Libanon:

„Die Schweiz ist zu klein, wenn du von der frei im-provisierten oder experimentellen Musik leben willst. Ich will mich aber auch nicht auf die Schweiz eingrenzen, weil ich neugierig bin. In Beirut arbei-tet die Musikszene viel stärker mit anderen Kunst-sparten zusammen: mit Schauspielern, Künstlern, Graphikern. Ich finde das extrem bereichernd. Seit fünf Jahren bilde ich mit Raed Yassin ein Duo: Mir gefallen seine Experimente mit der lokalen Popu-lärkultur. Einen solch unverkrampften Umgang mit der Popkultur findest du bei europäischen Musi-kern und Hörern von experimenteller Musik noch immer selten.“50

Paed Conca ist ein politisch aktiver Mensch. Er lebte viele Jahre in der bekannten linksautonomen Reitschule in Bern und beteiligte sich an zahlreichen politischen Aktionen. Als Künst-ler positioniert er sich immer auch politisch.

„Europa mit seiner Abschottung und Paranoia vor allem und jedem macht mir Angst. Ich bin ein sehr politisch denkender Mensch. Ich will mich positio-nieren, mal direkt, mal indirekt. In meinem Musik-Film-Mal-Projekt Porta Chiusa habe ich mich letz-tes Jahr kritisch mit der schweizerischen Auslän-

50 Ebd.

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derpolitik auseinandersetzt. Jeder Mensch sollte dahin reisen können, wo er hin will. Raed Yassin hat einen libanesischen Pass. Als Künstler kann er so eigentlich nicht leben. Und ich schreibe ständig Einladungen und Visum-Anträge für ihn, damit sich unser Duo Praed treffen und Konzerte geben kann. In der Musik von Praed klingt das irgendwie auch mit: Aber verspielt, versteckt, und voller Spiel-freude.“51

Abb. 4: Raed Yassin zeigt den Hörer_innen aus Europa ein an-deres, nicht-klischiertes Bild von der arabischen Welt

Positionierungen und Perspektiven

Über das Verarbeiten von Referenzen können sich Musi-ker_innen in der Welt positionieren. Das wird am Beispiel von Praed deutlich. Durch die musikalische Auswahl positioniert sich Raed Yassin auf verschiedenen Ebenen: Er kritisiert mit der Wahl seiner Referenzen den kultiviert klingenden kultu-rellen Kanon im Libanon; er zeigt gegenüber Hörer_innen in Europa ein anderes, nicht-klischiertes Bild von der arabischen Welt; er verortet sich in einer aufstrebenden internationalen Szene für experimentelle Musik, die nicht mehr bloss Materia-lien der Hochkultur verarbeitet, sondern Materialien der me-diatisierten Alltagskultur; er bricht im Libanon ein Tabu, indem

51 Ebd. 74

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Orte und Zeiten im Remix

er Medienfiles aus dem Bürgerkrieg verarbeitet. Diese Positio-nierungen können immer aus verschiedenen Perspektiven ge-lesen werden.

Raed Yassin betont im Gespräch, dass er letztlich für verschie-dene Publika arbeitet: Die Anleihen der psychedelischen Rockmusik aus den 1970er Jahren und der Bauchtanz-Musik aus den 1960er Jahren macht seine Musik für Hörer_innen in Europa und den USA attraktiv. Der Ansatz populäre Medien-sounds mit experimentellen Techniken zu verarbeiten, findet in den transnationalen Nischenszenen der experimentellen Musik Anklang. Für Hörer_innen in der arabischen Welt wirkt seine Musik hingegen auf anderen Ebenen: Sie kritisiert den kulturellen Kanon und die zunehmende Kommerzialisierung in der arabischen Welt. Und sie weckt bei Libanes_innen beides: Nostalgie und Trauma.

„There are two main levels in my work: My work functions different where people understand the language and the music. Here I use nostalgia as a key to get into their feelings. In the West, this key doesn’t work, because people have no relationship with my culture. So, in order to reach their emo-tions and manipulate them I use exoticism – not in a cheesy way, put in a way that triggers questions of why I manipulate music in this way.”52

Besonders erfolgreich sind Praed in Japan. Hier tourt das Duo regelmässig und trifft mit ihrem Mix aus Pop und Experiment auf offene Türen. Vielleicht hängt diese Akzeptanz mit der Pop- und Rockmusik-Geschichte in Japan zusammen – was zu erforschen wäre. In Japan mischen experimentelle Rockbands wie The Bordeoms, Acid Mothers Temple oder Shibuya-key-Bands wie Kahimi Karie, Cornelius, Fantastic Plastic Machine und viele andere seit Jahren populäre und unpopuläre Musik aus der ganzen Welt spielerisch zusammen. Besonders die Shibuya-key-Bands in den 1990er Jahren kreierten mit ihrer Musik ein „portrait of themselves as exquisitely discerning consumers.”53 Praed tun ähnliches, allerdings mit Fokus auf Anarchive, statt auf Konsum und Mainstream. Sie halten der

52 Interview mit Raed Yassin vom 18. Mai 2011. 53 Reynolds: Retromania, S. 166.

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Thomas Burkhalter

libanesischen Gesellschaft mit ihren populären und unpopulä-ren Sounds und Mediengeräuschen kritisch, spielerisch und ironisch einen Spiegel vor.

Ausblick

Zurück zur Forschung Globale Nischen. Die Forschung soll Mo-tivationen und Visionen von Musiker_innen und Hörer_innen aufzeigen. Sie weist auf die verschiedenen Positionierungen zu einer Idee, einem Stil, einem Ort oder gar der Welt hin. Diese Diskussionen um die Verarbeitung von Referenzen sind dabei bloss ein Teilbereich. Die Grundfragen lauten:

- Wie genau wird Musik in einer zunehmend digitalisier-ten und globalisierten Welt produziert und vertrieben?

- Welche musikalischen und nicht-musikalischen Wir-kungsfelder prägen die musikalische Produktion mit? Ist es der transnationale Zeitgeist im spezifischen musi-kalischen Genre oder der Ideenaustausch in der lokalen Szene? Oder sind es die finanziellen, politischen, kultu-rellen oder technologischen Rahmenbedingungen im Heimat- oder Migrationsland?

- Welche Handlungsoptionen nutzen und kreieren die Musiker_innen aus diesen Wirkungsfeldern? Und wie werden diese Wechselwirkungen in ihren musikali-schen Produkten manifest?

Das Hauptziel ist eine mehr-perspektivische Ethnographie, die der Komplexität der Handlungen von Musiker_innen gerecht werden kann. Es braucht diesen abstrakten, jedoch flexiblen theoretischen und methodischen Rahmen, um musikalische Praxis im Sinne von Clifford Geertz dicht zu beschreiben.54 Das Projekt geht damit auf eine Forderung von Popmusikforscherin Susanne Binas-Preisendörfer ein. Sie argumentiert: „A scien-tific exploration of the musical phenomena in a modern global-ized and mediated world demands both reflexive theoretical concepts as well as very specific, small-scale studies”55. Zudem

54 Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deuten-den Theorie der Kultur. In: Clifford Geertz (Hg.): Dichte Beschreibung. Bei-träge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1987, S. 7-43. 55 Binas-Preisendörfer: Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 103. 76

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Orte und Zeiten im Remix

will das Projekt einen Vorschlag des Musikethnologin Veit Erl-mann umsetzen: Er analysiert die Art und Weise, wie kultu-relle, soziale oder politische Kontexte in Musik eingeschrieben werden.56

56 Vgl. Erlmann: Ideologie der Differenz, S. 10.

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„NATIONALHEILIGTHUM SOLL DIE TONKUNST UN-TER UNS WERDEN.“

Hans Georg Nägelis Sicht auf die Schweiz in seinen musikalischen Schriften1

Miriam Roner

Hans Georg Nägeli hat das schweizerische Musikleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Verleger, Pädagoge, Komponist, Publizist und als Mitglied diverser Musikgesell-schaften auf vielfältige Weise geprägt. Zahlreiche Unterneh-mungen sind nicht nur in der Schweiz, sondern weit über die Landesgrenzen hinaus zur Kenntnis genommen worden. Den-noch blieb die Schweiz für Nägeli zeitlebens jener Standort, von dem aus er im Kulturbetrieb agierte und eine breite Wirk-samkeit im öffentlichen Leben entfalten konnte.

Eine Reihe von Nägelis Texten, insbesondere solche, die in Zusammenhang mit seinen pädagogischen Tätigkeiten und seinem Engagement in Musikvereinen entstanden sind, ent-halten Reflexionen über die Schweiz als jenen konkreten ge-sellschaftlichen Ort, in den Nägeli, auf Kunst- und Menschen-bildung zielend, eingreift. Sie bilden die Materialbasis für eine Erörterung, die der Frage nachgeht, was Nägeli einerseits an den Schweizer Verhältnissen für charakteristisch und bedeut-sam erachtet und andererseits mit seinen musikalischen und pädagogischen Konzepten in Verbindung bringt. Es geht also um den Zusammenhang zwischen Nägelis Schweizbild und der Struktur seiner Theorie. In den Fokus rücken dabei zentrale Begriffe („Volk“, „Nation“, „Vaterland“) oder Begriffspaare („Natur und Kultur“, „Industrie und Kunst“, „Individuelles und Allgemeines“), deren Bedeutung und Stellenwert in Nägelis Denken es näher zu definieren gilt.2

1 Für vielfältige Anregungen bei der Ausarbeitung des Textes sei Prof. Dr. Thomas Kabisch sehr herzlich gedankt. 2 Eine breite Kontextualisierung dieser Begriffe, also die Erörterung ihrer funktionalen Einbettung in geistesgeschichtliche, politische oder ökonomische Diskurse des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, muss einer umfassenderen Studie vorbehalten bleiben.

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Miriam Roner

Vaterlands-Definitionen

Was Nägeli meint, wenn er von „der Schweiz“ und von „Schweizerischem“ spricht, und in welcher Relation Begriffe wie „Nation“, „Vaterland“ und „Volk“ dazu stehen, bedarf der Klärung.

Spricht Nägeli von „unserer Nation“ oder auch von der „deut-schen“ Nation, versteht er darunter eine durch Sprache und Poesie verbundene Gemeinschaft im Sinne Johann Gottfried Herders. Die Schweiz ist für Nägeli Teil des deutschsprachigen Raums. Französische, italienische und rätoromanische Landes-teile jener 24 souveränen Kantone und Halbkantone, die ab 1815 über einen gemeinsamen Bundesvertrag verfügten, blei-ben von seinem Nationsbegriff damit allerdings ausgeschlos-sen. Dass Nägeli „Nation“ kaum als politischen, sondern viel-mehr als kulturellen Begriff verwendet, belegt der häufige Ge-brauch in Bildungsdebatten. Dort wird „national“ auch durch den Gegenbegriff „classisch“ näher bestimmt.3 Der Nationalbildung in deutscher Muttersprache setzt Nägeli die klassisch-humanistische Bildung, das Studium griechischer und römischer Kultur, entgegen. Daneben finden sich Begriffs-paare, in denen das Nationale für das Übergeordnete, die jeweils größere Einheit steht („provinzial und national“4 oder „individuell und nationell“5).

Der Begriff „Vaterland“ erfährt bei Nägeli verschiedene, nicht nur in ihrem Umfang schwankende, sondern zum Teil auch sich ausschliessende Definitionen. Von der Schweiz, dem Va-terland, ist an verschiedenen Stellen die Rede. Was aber heisst das vor Gründung des Bundesstaates? Nägeli kennt ein „enge-res“ und ein „weiteres“ Vaterland.6 Mit engerem Vaterland ist nur der Kanton Zürich gemeint. 1832 erwähnt Nägeli erstmals die „französische Schweiz“, die – sofern Schweiz und Vaterland gleichgesetzt werden – dem „weitern“ Vaterland zu subsumie-

3 Nägeli, Hans Georg: Umriss der Erziehungsaufgabe für das gesammte Volksschul-, Indüstrie-Schul- und Gymnasial-Wesen. Zürich 1832, S. 9, 23. 4 Nägeli, Hans Georg: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröfnung ihrer Sitzung in Schafhausen den 21. August 1811. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 13 (1811), Sp. 663. 5 Nägeli, Hans Georg: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung zu Zürich, den 19ten August 1812. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 14 (1812), Sp. 711. 6 Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 111, 124. 80

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„Nationalheiligthum soll die Tonkunst unter uns werden.“

ren ist.7 Ob sich Nägeli damit bewusst vom „gesamte[n] deut-sche[n] Vaterland“8 distanziert, von dem in seinen früher datierten Texten die Rede ist, bleibt zu bezweifeln. Denn auch in den 1830er Jahren spricht Nägeli noch von einem „Volk deutscher Zunge“ und präzisiert, wer darunter zu verstehen sei: „also mit den Deutschen wir Schweizer.“9 Im Sinne Her-ders ist hier tatsächlich „Volk“ mit „Nation“ gleichgesetzt. Es finden sich in Nägelis Schriften aber durchaus auch Textstellen, in denen die Schweizer als eigenständiges „Volk“ definiert werden, ohne dass sich näher klären liesse, ob Nägeli die ver-schiedenen Sprachgruppen dabei mit einschliesst oder nicht. Der Versuch, Nägelis Volksbegriff auf die Bevölkerung eines bestimmten Landes zu beziehen, muss scheitern. Denn Nägeli benutzt den Begriff „Volk“ nicht als Terminus der Abgrenzung, sondern der Integration, geradezu als ein Synonym für die Ka-tegorie des „Allgemeinen“. Nägelis Vision, in naher Zukunft in ein „Zeitalter der Musik“ einzutreten, ist erreicht, „wo die hö-here Kunst zum Gemeingut des Volkes, der Nation, ja der gan-zen europäischen Zeitgenossenschaft geworden, wo die Menschheit selbst in das Element der Musik aufgenommen wird.“10

Die Schweiz – nach allen geschilderten Widersprüchlichkeiten lässt sich zumindest mit Sicherheit sagen, dass von der Deutschschweiz die Rede ist – gerät dann in den Blick, wenn Nägeli jene Mechanismen reflektiert, durch die sich die Ver-wirklichung seines Kunst- und Menschheitsideals vollzieht. Einerseits will er höchste Kunst befördern, andererseits dieser Kunst zu einer breitest möglichen Wirkung verhelfen. In den folgenden Ausführungen soll die These geprüft werden, in-wieweit Nägeli gerade in der Schweiz auf Voraussetzungen stösst, die ihn zur theoretischen Präzisierung und zur Verwirk-

7 Ebd., S. 124. 8 Nägeli, Hans Georg: Musik-Anzeige. In: Morgenblatt für gebildete Stände 8 (1814), Intelligenzblatt 9, S. 36. 9 Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 23. 10 Nägeli, Hans Georg: Die Pestalozzische Gesangbildungslehre nach Pfeiffers Erfindung kunstwissenschaftlich dargestellt im Namen Pestalozzis, Pfeiffers und ihrer Freunde von Hans Georg Nägeli. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 11 (1809), Sp. 833.

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Miriam Roner

lichung seiner vom aufklärerischen Optimismus des 18. Jahr-hunderts geprägten Ideale anspornen.

Dies soll in drei Teilabschnitten geschehen, die jeweils ver-schiedene Aspekte in den Blick rücken:

Im ersten Abschnitt wird versucht zu zeigen, dass die Ent-wicklung von Kunst und Kultur in Nägelis Verständnis ihren Rückhalt in der Natur findet, bzw. in dem spezifischen Verhält-nis, in dem Natur und Kultur in der Schweiz zueinander stehen.

Im zweiten Abschnitt sollen jene spezifisch schweizerischen Faktoren benannt werden, die es Nägeli möglich machen, in der aufkommenden Industriearbeit einen Weg zur Kunstbil-dung und allgemeinen Menschenbildung zu erkennen.

Der dritte Abschnitt widmet sich Nägelis Darstellung der ge-sellschaftlichen Verhältnisse, wie er sie in der schweizerischen Kleinstadt beobachtet. Ausgehend davon erfolgt eine kritische Beleuchtung von Nägelis Versuchen, seine Konzepte einer ide-alen Gesellschaft und einer idealen Musikkultur – die sich wechselseitig bedingen – in Einklang zu bringen.

Naturnahe Kultur

Nägeli hat seine Anreden an die Schweizerische Musikgesell-schaft11 immer wieder zum Anlass genommen, die besonderen schweizerischen Verhältnisse, in denen gewirkt werden sollte, zur Sprache zu bringen. In seiner Rede in Schaffhausen 1811 benennt Nägeli Aspekte, die einem Künstler, der sich zu einer Niederlassung in der Schweiz bewegen lässt, seiner Meinung nach zugute kommen:

„Wohl uns, wenn wir es dazu bringen können, dass etwa einmal ein Grosser im Reiche der Kunst, des Geräusches der vornehmen Welt überdrüssig, erst durch die Schönheiten des Landes angelockt, dann durch die Sitten und die Kunstliebe der Bewohner gefesselt, sich bey uns niederlässt, um sein Otium

11 Die Vereinigung wird 1808 gegründet. Nägeli tritt ihr ein Jahr später bei und wird zwischen 1811 und 1823 insgesamt fünf Mal zum Präsidenten gewählt. Das erklärte Ziel der Schweizerischen Musikgesellschaft ist – mit Nägelis Worten – „vaterländisches Talent zu wecken und zu heben“, aber auch Musik (und zwar mit Kunstanspruch!) nach besten Kräften im Volk zu verbreiten. 82

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„Nationalheiligthum soll die Tonkunst unter uns werden.“

honeste zu geniessen [...]. Den wollen wir auf den Händen tragen, wollen ihm alles, was in der civilisirten Welt den Künstler hemmen und drücken kann [...] wegräumen, damit ihm so im Schoosse der hehren Natur, und unter dem Schatten eines fast arkadischen Lebens, wo möglich, noch eine Quelle künstlerischer Verjüngung fliesse.“12

In dieser Passage entwirft Nägeli ein Bild der Schweiz als einen Ort unberührter Natur – fernab der Zivilisation, die hier als Gegenbegriff zur Natur auf den Plan tritt. Einen Ort, an den man sich flüchtet, um Erholung zu suchen, im Glücksfall künstlerische Inspiration zu finden. Es wäre zu erwarten, dass es sich bei den Bewohnern dieses Landes um Naturmenschen im Rousseauschen Sinne handelt. Tatsächlich schweigt Nägeli über konkrete kulturelle Aktivitäten der Schweizer. Dass sie sich aber offenbar durch „Sitten“ und „Kunstliebe“ auszeich-nen, verweist indirekt doch auf zivilisatorische Verhältnisse, deren Nähe oder Distanz zur Natur einer noch näheren Be-stimmung bedürfen:

„[…] lassen Sie uns nicht verkennen, dass die Hand der Vorsehung uns geringeres Gut vorenthielt, um uns mit höherem zu beglücken – nicht übersehen, dass wir weit minder durch natürliche Fruchtbar-keit des Bodens, als durch eine über alles herrliche Aussenseite der Natur begünstiget sind, die uns unaufhörlich prediget, dass wir uns nach geistigen Gütern hindurchringen sollen, stets eingedenk und stets nachfolgend dem Beyspiel unserer Väter, die dicht neben die erhabensten Naturgegenstände die Anmuth der Cultur hingepflanzt haben, wodurch erst unsere Schweiz zum besuchtesten Schauplatz so unzähliger, gross- und gutgesinnter Natur- und Culturfreunde aus allen Ländern Euro-pas erhoben ward.“13

12 Nägeli: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröfnung ihrer Sitzung in Schafhausen, Sp. 690. 13 Nägeli, Hans Georg: Anrede an die Versammlung des musik. Vereins der Schweiz, gehalten zu Freyburg, d. 7ten August dieses Jahres. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 18 (1816), Sp. 685.

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Hier ist die Schweiz nicht ein Arkadien fernab der zivilisierten Welt, sondern gleichermassen ein Ort der Natur und der Kul-tur.14 Nägeli beschreibt ein Verhältnis von Natur und Kultur, das nicht von sich ausschliessenden Gegensätzen geprägt ist. Vielmehr zeichnet es sich dadurch aus, dass die Natur Kultur begünstigt, ja sogar zu geistigen Tätigkeiten anspornt. Diesen Gedanken impliziert – bei genauerer Betrachtung – auch die erstgenannte Textpassage. Auch dort ist dem Künstler, der in der Schweiz Zuflucht sucht, die Natur „Quelle künstlerischer Verjüngung“, auch dort führt der Weg zur Kultur, zur schöpfe-rischen Tätigkeit des Menschen, über die Natur.

In Nägelis gesamtem Kunst- und Bildungsprogramm ist dieser Gedanke zentral. Kultur ist für Nägeli kein Widerpart zur Na-tur, sondern entsteht aus ihr heraus. Es ist die Kunstbildung – und damit meint Nägeli insbesondere die musikalische Bildung – die es auf ihrem Gipfel vermag, Natur- und Kunstleben zu-sammenzuschmelzen. Dieses Programm schliesst verschiedene – scheinbar divergierende – Aspekte mit ein. Zum einen betont Nägeli, die Kultur müsse der Natur „dienstbar“ gemacht wer-den, zur Natur zurückgeführt werden, Kultur müsse „naturge-mäß“ sein.15 Zum anderen erklärt Nägeli das Beherrschen der äusseren Natur zur Aufgabe des menschlichen Geistes. Kultur scheint der Natur also keineswegs untergeordnet zu sein.16

An Nägelis musikpädagogischem Grossprojekt, der Gesangbil-dungslehre nach pestalozzischen Grundsätzen, kann man stu-dieren, was es heisst, die Kultur der Natur „dienstbar“ zu ma-chen. Menschenbildung ist, bei Nägeli und Pestalozzi überein-stimmend, nichts anderes als die Verwirklichung der Natur des Menschen – zunächst durch die Übung und Entwicklung seiner

14 Das Paradigma für die Nähe von Natur und Kultur ist die schweizerische Kleinstadt: „Sie schliesst sich nicht so durch Ringmauern, Wälle, Brücken von der Natur ab, wie die grosse. Ihre Umgebungen gehören auch zu ihr; sie ist darein wie verwachsen.“ (Nägeli, Hans Georg: Anrede an die Schweizerische Musikgesellschaft, bey Eröffnung ihrer Sitzungen in Basel, den 14ten Brachmonat 1820. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 22 (1820), Sp. 774.) 15 Vgl. Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 16f., 70 und Nägeli: Anrede an die Schweizerische Musikgesellschaft, bey Eröffnung ihrer Sitzungen in Basel, Sp. 776. 16 Vgl. Nägeli: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung zu Zürich, Sp. 717 f. 84

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„Nationalheiligthum soll die Tonkunst unter uns werden.“

Grundvermögen (Gefühl, Anschauung, Geist). Hier wird der Mensch als Individuum gebildet. In einem zweiten Schritt zielt die Bildung auf den Menschen als Teil einer Gesellschaft: Die genannten Grundvermögen, denen der Gehör- und Gesichts-sinn, sowie das Sprachvermögen beigeordnet werden, befähi-gen zur Wahrnehmung und Verständigung. Sie erlauben es dem Menschen, mit Menschen in Verbindung zu treten. Ent-scheidend ist in beiden Fällen die Funktion der Musik als Mittel zum Zweck.

Doch das ist nur eine Seite der Medaille. „Kunst soll den Zög-lingen zur Natur werden“17. Der Mensch schafft sich also in Form der Kultur eine zweite Natur. Die bewunderungswürdige Kunstkraft des Menschen, von der Nägeli spricht, ist jene Kraft, die eine solche zweite Natur hervorzubringen vermag. Nägelis Rede vom „Triumph des Geistes über die Naturgesetze“18 be-deutet nicht, dass sich der Mensch die Natur unterwirft, um sie zu beherrschen. Es heisst vielmehr, dass er als Teil der Schöpfung dort, wo er selbst schöpferisch wird, sich über sie erhebt, sich mittels Musik etwas schafft, das eben nicht mehr Natur im ursprünglichen Sinne, sondern „zweite“ Natur ist. Kunst im Allgemeinen, Musik im Besonderen ist für Nägeli zum einen also Mittel, weil sie dem Menschen seine Natur verwirk-lichen hilft: als Individuum mit spezifischen organischen Anla-gen und als gesellschaftliches Wesen. Aber sie ist ihm auch Zweck, weil es die höchste Bestimmung des Menschen ist, schöpferisch zu sein, vermöge der Kraft seines Geistes, Kunst und Kultur hervorzubringen, sich eine zweite Natur zu schaf-fen.

Industriebildung als Menschenbildung

Dem Bild der Schweizer als Hirtenvolk, wie es seit Ende des 18. Jahrhunderts an Popularität gewann, steht Nägeli fern. Viel-mehr charakterisiert er die Schweizer als „Industrie- und Han-delsvolk.“19 Nicht primär die Arbeit des Bauern, sondern die Arbeit des Industrie-Arbeiters, insbesondere des Webers, ist „ein ganz eigener und weit verbreiteter Segen der C i v i l i s a -

17 Nägeli: Die Pestalozzische Gesangbildungslehre, Sp. 838. 18 Ebd., Sp. 827, Fussnote. 19 Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 62.

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t i o n u n d d e r C u l t u r z u g l e i c h .“20 Vergegenwärtigt man sich das Elend der Textilarbeiter im 19. Jahrhundert, irri-tiert das Beschönigende an Nägelis Formulierung. Es trafen in der Schweiz jedoch verschiedene Bedingungen zusammen, die Nägelis Position partiell nachvollziehbar machen: 1. In der Textilindustrie entstanden Arbeitsplätze die – wenngleich noch schlechter bezahlt als in England oder Frankreich – zahlreiche Menschen vor dem Schicksal der Auswanderung bewahrten, zu dem sie der Hunger zwang, weil die Landwirtschaft nur etwa 50 % der Bevölkerung ernähren konnte.21 2. Webereien waren – anders als Spinnereien – bis 1830 noch kaum mecha-nisiert. Wie François Bergier in seiner Wirtschaftsgeschichte der Schweiz22 erläutert, war dieser Industriezweig dadurch nicht nur auf viele, sondern vor allem auf qualifizierte Arbeiter angewiesen. Zum einen, weil es komplizierte Handarbeiten zu verrichten galt (die zu einem Grossteil noch nicht in der Fabrik, sondern zu Hause getätigt wurden), zum anderen, weil in der Schweiz, wo Rohstoffe teuer waren, der Mehrwert der Ware durch ihre Qualität garantiert wurde; mit anderen Worten: durch die Leistungen qualifizierter Arbeitskräfte. Die Industrie legte auf ausgebildete Arbeiter wert und förderte ihre Weiter-bildung. Auf dieses Bildungspotential, die Möglichkeiten handwerklicher Qualifikation im industriellen Kontext, scheint Nägeli abzuzielen, wenn er schreibt:

„Vergleicht man diese Handweberey mit der Handarbeit, mit jeder Art von Handarbeit des B a u e r s , so ergiebt sich folgender in Bildungshin-sicht höchst bedeutender Unterschied. Der Bauer ist nicht genöthigt, genau, so genau als möglich, zu handthieren. Ob er mit Beil, Karst, Sense, Sichel, Flegel so oder anders, mehr links oder mehr rechts, weiter ausreichend oder in engerm Raum, haue oder schlage, es gilt für das Geschäft gleichviel; er

20 Ebd., S. 54. Inwieweit diese Überzeugung Nägelis mit Ansichten Pestalozzis übereinstimmt, wäre zu prüfen. Die Nähe ist jedoch unverkennbar. Vgl. Pestalozzi, Johann Heinrich: Über Volksbildung und Industrie. Zweck und Plan einer Armenerziehungsanstalt (1806). Heidelberg 1964. 21 Vgl. Andrey, Georges: Auf der Suche nach einem neuen Staat (1798-1848). In: Geschichte der Schweiz und der Schweizer. Basel 20064. 22 Vgl. Bergier, Jean François: Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zürich 19902, S. 202-227. 86

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braucht nicht einmal genau zuzusehen. Ganz an-ders der Weber (und fast jeder andere Indüstrie-Arbeiter). Dieser muß, um ein rechter und guter Arbeiter zu seyn, sich durchgehends der höchsten Genauigkeit befleißen; die Hand muß den Stoff fein betasten, den Werkzeug an bestimmter Stelle an-fassen, das Auge muß die Hand s c h a r f b e w a -c h e n , und auch hier muß, eben so wohl als in der höhern mechanischen Kunstarbeit, der Geist durch das Auge die Hand leiten.“23

An der industriellen Arbeit schätzt Nägeli, dass der menschli-che Geist mehrfach belebt und wachgehalten wird: durch die erforderte Genauigkeit, aber auch durch die Geschwindigkeit der Ausführung und die mathematischen oder kombinatori-schen Aufgaben, die der Weber zu lösen hat.24

Die Ausbildung von Industriearbeitern ist, auf diese Weise be-trachtet, gewissermassen eine spezialisierte Form der Men-schenbildung. Der Mensch gelangt durch sinnliche Betätigung zur Ausprägung seiner geistigen Potentiale. Die Wege zu die-sem Ziel sind vielfältig, die Analogien zwischen den unter-schiedlichen Bildungsmitteln jedoch frappant. Die Argumente, mit denen Nägeli die Wirkung der Instrumentalmusik auf den menschlichen Geist begründet, sind denen, auf die er seine Wertschätzung der Industriebildung stützt, auffällig verwandt: Erstens wird Geistigkeit in der Instrumentalmusik gewährleis-tet durch eine starke Ausprägung der rhythmischen Momente einer Komposition (die auf einfachen Zahlenverhältnissen be-ruhen). Zweitens bedeutet ein geschwindes Tempo Entmateri-alisierung, Vergeistigung des materialen Klangs. Und nicht zu-

23 Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 54. 24 „Geordnet ist Alles, was er thut, und das Erzeugniß und Ergebniß seines also geordneten Thuns erscheint ihm immer als ein m a t h e m a t i s c h e s . Schon das einfachste Gewebe muß ein e g a l e s sein, was es nur wird durch wohl abgemessene Handbewegungen und Schläge. Bey künstlichern Geweben finden vielerley Handgriffe (durch den abwechselnden Gebrauch verschiedener Weberschifflein) und allerley Zusammenordnung von Faden und Fadenreihen (oft von vielerley Farben) Statt. So sind die Combinations-Aufgaben nicht gering; die erforderliche Genauigkeit muß mit mehr Anstrengung erzielt werden, und der Geist muß nicht bloß bewachen, sondern b e r e c h n e n . “ (Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 55.)

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letzt wird die Vorrangstellung der Klaviermusik vor anderen Gattungen, wie Nägeli sie vertritt, unter anderem damit be-gründet, dass sich die vervielfachte Bewegung der Hand posi-tiv auf die Schöpferkraft des am Klavier komponierenden Künstlers auswirke.

Die Bedeutsamkeit, die Industrie und Handwerk in Nägelis Schriften zukommt, hat noch einen weiteren Aspekt: Es ist für Nägeli „das Gesetz aller Gesetze“, dass „Menschenhand nichts formen [kann], ohne dass etwas von Geist in das Geformte übergehe.“25 Der Unterschied zwischen einem menschlichen Schöpfungsakt zu sinnlichen oder praktischen Zwecken und schöpferischer Tätigkeit zu geistigen Zwecken ist also nur ein gradueller. Der Mechaniker ist, ebenso wie der Künstler, Herr der Natur im oben genannten Sinne.26 Wie die menschliche Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen führt, so sieht Nä-geli auch die ästhetische Kunst durch Produkte der mechani-schen bedingt: Die Entwicklung neuer Musikinstrumente bei-spielsweise hat die Möglichkeiten musikalischen Ausdrucks enorm erweitert. Selbst der Siegeszug der polyphonen Musik ist – wie Nägeli ausführt – mit dem „Kunst-Mechanismus der T a s t e n “27 aufs Engste verknüpft. Kompositorisch hätte man die Harmonie erst durch das Vorhandensein von Tastenin-strumenten im wahrsten Sinne des Wortes in den Griff be-kommen, indem nun „jeder Finger de[n] Erfinder, wenigstens de[n] mechanische[n] Miterfinder von tausenderley Tonstü-cken abgab.“28

Eine Gesellschaft aus Individuen: Die schweizerische Klein-stadt

„Alles, was wir hier thun, haben wir vor dem Volk, mit dem Volk, für das Volk zu thun“29, schreibt Nägeli über sein musikalisches Bildungsprogramm. Was der Volksbegriff in Nägelis Begriffssystem leisten soll, wird deutlich, wenn man

25 Nägeli: Anrede an die Versammlung des musik. Vereins der Schweiz, gehalten zu Freyburg, Sp. 681. 26 Vgl. Nägeli: Umriss der Erziehungsaufgabe, S. 53. 27 Nägeli: Anrede an die Versammlung des musik. Vereins der Schweiz, gehalten zu Freyburg, Sp. 680. 28 Ebd. 29 Nägeli: Die Pestalozzische Gesangbildungslehre, Sp. 769. 88

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darauf achtet, wogegen er ihn abgrenzt: anonyme Men-schenmassen, „Menschenhaufen“30, wie Nägeli sagt. In einer grossen Stadt ist man der Erfahrung ausgesetzt, dass man ein-ander „bloss als Leute“ wahrnimmt, kaum „fasst Einer den Andern als Person in’s Auge“.31 Anders verhält es sich „in der kleinen Stadt eines kleinen Freistaates“.32

„Ja das ist eben das Schöne, das wahrhaft Mensch-liche, dass die Bewohner einer kleinen Stadt alle einander kennen, anerkennen, ja wirklich auch be-urtheilen; dass sie einander gegenseitig ihre Per-sönlichkeit, Wichtigkeit, Unentbehrlichkeit zuge-stehen; dass sie sich oft und leicht zu allerley Zwe-cken des Bedürfnisses und Genusses suchen und finden, und oft und immer wiederfinden und ge-sellig bewähren. So keimt und sprosst, so grünt und blüht im Mittelpunkt der Stadt selbst der Baum der Humanität.“33

Ausgangspunkt für diese Reflexionen Nägelis ist ein Artikel in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung, der einen Widerspruch im Schweizer Kulturleben beschreibt: Der Rezen-sent beobachtet, dass die „Hauptstadt der Schweiz“34, Bern, musikalisch weniger kultiviert sei als die kleinen Schweizer-städte Lenzburg und Olten.35 Nägelis Versuch, diesen Wider-spruch zu erklären, basiert auf der These, dass gerade im kleinstädtischen Milieu, wie es für die Schweiz so typisch ist, die musikalische Kultur florieren müsse, und sich die berni-schen Verhältnisse nur durch die „falsche Nachahmungssucht der Grossstädterei“36 erklären liessen.

30 Nägeli: Anrede an die Schweizerische Musikgesellschaft, bey Eröffnung ihrer Sitzungen in Basel, Sp. 772. 31 Ebd. 32 Ebd., Sp. 773. 33 Ebd. 34 Ungenannt: Bern. Im December 1819. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 22 (1820), Sp. 83. 35 Michael Traugott Pfeiffer, mit dem Hans Georg Nägeli die Gesangbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen konzipierte und das Allgemeine Gesellschaftsliederbuch herausgab, gründete 1805 in Lenzburg eine Singgesellschaft und ein Schulinternat. In Olten leitete der ebenfalls mit Hans Georg Nägeli befreundete Ulrich Munzinger ab 1812 eine eigene Gesangsschule und beförderte den Männerchor- und Volkgesang. 36 Nägeli: Anrede an die Schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung

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Miriam Roner

Worin besteht nun aber der Zusammenhang zwischen klein-städtischen Verhältnissen und einer blühenden Musikkultur? Eine humane Gesellschaft, wie Nägeli sie in der Kleinstadt verwirklicht glaubt, basiert jeweils auf der Anerkennung des einzelnen Individuums und seiner Persönlichkeit. Die Allge-meinheit, die Gesellschaft, oder auch „das Volk“ steht hier nicht in Gegensatz zum Individuum, sondern setzt seine In-tegration voraus.

Wie bereits angeklungen, ist Musik für Nägeli jenes Bildungs-mittel, das wie kein zweites dem Menschen zu seiner Vervoll-kommnung verhilft – der individuellen ebenso wie der gesell-schaftlichen. Damit dieses Ziel erreicht werde, setzt Nägeli voraus, „dasjenige, was die Kunst öffentlich leistet“ müsse „entweder Symbol oder Ausdruck, Vorbild oder Abbild des öffentlichen Lebens selbst seyn.“37 Wie nun das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem in der Kunst – als Abbild einer idealen oder als Vorbild einer realen Gesellschaft – verwirk-licht werden kann, ist eine Fragestellung, für die Nägeli immer wieder nach neuen Lösungen sucht, die untereinander nur teilweise oder gar nicht zur Deckung gebracht werden können: In der Gesangbildungslehre steht die Unterweisung in den Elementen der reinen Musik (Rhythmik – Melodik – Dynamik) als „gymnastische“ Bildung des Individuums dem Chorgesang als „humanistischer“ Bildung des Menschen als Gesellschafts-wesen gegenüber.38 Verbunden mit Ideen zur Organisation des schweizerischen Musiklebens konstruiert Nägeli einen Gegensatz zwischen Instrumentalmusik, die als Produkt höchster menschlicher Erfindungskraft die geistige Pefektibilität des Individuums bezeugt, und Vokalmusik, deren Qualität darin besteht, in die Breite zu wirken und damit „der Tugend gesellschaftlicher Veredlung“ Ausdruck zu verleihen.39 In seinen Vorlesungen wiederum versucht Nägeli die Spannungen zwischen Individualisierungs- und Verallgemeinerungstendenzen der Kunst, zwischen dem

ihrer Sitzung in Basel, Sp. 774. 37 Nägeli: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung zu Zürich, Sp. 711. 38 Nägeli, Hans Georg, Michael Traugott Pfeiffer: Gesangbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen. Erste Hauptabtheilung der vollständigen und ausführlichen Gesangschule. Zürich 1810. 39 Nägeli: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung zu Zürich, Sp. 732. 90

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„Nationalheiligthum soll die Tonkunst unter uns werden.“

Streben nach Vergeistigung und jenem nach Popularisierung, im Bereich der Instrumentalmusik auf historische Stationen der Musikgeschichte zu projizieren oder in unterschiedlichen musikalischen Gattungen zu verankern.40 Letzteres Konzept erprobt er praktisch in der Vokalmusik: Als Komponist und Pädagoge entwickelt und pflegt Nägeli mit dem Rundgesang ein Genre, das sich durch den Wechsel von Solo- und Chorpartien auszeichnet und durch die damit installierte Wechselwirkung von individuellen und allgemeinen Momenten von Nägeli als Paradigma für ideale gesellschaftli-che Verhältnisse angesehen wird.41

Die Fülle divergierender Lösungsversuche, die Nägeli zur Be-stimmung des Verhältnisses von Individuellem und Allgemei-nem erprobt, zeugen von einem Problem, das sich nicht so leicht beheben lässt: Nägeli träumt von einer Kunst, die das ganze Volk erreicht und zugleich Ausdruck höchster individu-eller Schöpferkraft ist. In den Blick geraten dabei sowohl die Produkte der Kunst als auch die Strukturen der Gesellschaft. An beiden muss, zur Verwirklichung einer Synthese von Popu-lärem und Idealem, gearbeitet werden. Gerade die Diskrepanz zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand verstrickt Nägeli dabei jedoch mehrfach in Widersprüche. Seine Beschreibungen der schweizerischen Kleinstadt als Paradigma einer Gesellschaft, in der sich sein Kunst-Ideal realisieren lässt, ist ein ideologischer Entwurf, der eine Verzerrung der realen gesellschaftlichen Zustände wenigstens partiell in Kauf nimmt: so, wenn Nägeli über jene Aspekte der fortschreitenden Industrialisierung schweigt, die zur Verelendung breiter Volksschichten beitra-gen und nicht die Bildung des Individuums, sondern entfrem-dete Arbeit befördern. Hier wird die Realität zugunsten von Nägelis Modell beschönigt und zurechtgerückt. Auf der ande-ren Seite bricht Nägeli mit seinem demokratischen Gesell-schaftsmodell dort, wo ihn bei der Organisation seines „Kunst-staates“ die realen Zustände einholen:

„Um einen Kunststaat zu organisiren, müssen wir […] einen Adel und ein Volk haben, einen Adel, als

40 Vgl. Nägeli, Hans Georg: Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten. Stuttgart und Tübingen 1826. 41 Vgl. Nägeli, Hans Georg: Gesangbildungswesen in der Schweiz. In: Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung 36 (1834), Sp. 757.

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Miriam Roner

Blüthe der individuellen, ein Volk, als Grundlage der nationellen Bildung. Der Adel muss sich immer höher heben, das Volk seine Gesammtkraft immer mächtiger geltend machen.“42

Auch wenn Nägeli beteuert, hier nicht politisch zu sprechen, lassen seine Vorstellungen, wie das schweizerische Konzert-wesen zu strukturieren wäre, damit verschiedene Zuhörer-kreise gleichermassen erreicht würden, keinen Zweifel offen, dass die gesellschaftliche Realität mindestens von zwei ge-trennten Schichten geprägt ist: den Gebildeten und dem zu bildenden Volk.

*

Auf Grundlage des bisher Skizzierten lässt sich – wie ich glaube – an der These festhalten, dass Nägelis Denken ein spezifisches Profil gewinnt unter den besonderen Bedingungen 1. der ge-sellschaftlichen Verhältnisse in den Schweizer Kleinstädten, 2. der handwerklich geprägten Industriearbeit und 3. der natur-nahen Kultur, die Nägeli in der Schweiz verkörpert sieht. Zu-nächst gewissermassen zufällige äussere Gegebenheiten er-weisen sich bei näherem Hinsehen als Momente, von denen Nägelis Theorie ebenso wie seine praktischen Projekte we-sentlich geprägt sind.

42 Nägeli: Anrede an die schweizerische Musikgesellschaft bey Eröffnung ihrer Sitzung zu Zürich, Sp. 711. 92

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DIE SAMMLUNG FRITZ DÜR

Erste Einblicke in das Forschungskorpus des Projekts Broadcasting Swissness und die Frage, ob man „Swissness“ musikalisch darstellen kann

Thomas Järmann

In der Musikforschung wurde die Frage, ob man National- oder Heimatgefühle klanglich darstellen kann in mehreren Wellen diskutiert, besonders aber in der Zeit um die Gründung der Nationalstaaten, insbesondere der osteuropäischen, Mitte des 19. Jahrhunderts.1 Dass dies für die Schweiz gerade in der Phase der Unsicherheit um die Zeit des Zweiten Weltkriegs der Fall ist, verwundert in dem Sinne nicht, als die Gefühlslage durch die kriegerische Bedrohung und die Isolation ganz ähn-lich ungewiss scheint, wie bei den sich entwickelnden Staaten im 19. Jahrhundert, die sich eine eigene Identität aufzubauen versuchten. Als Musikwissenschaftler möchte ich mich unter anderem der Frage widmen, ob es möglich ist, durch musikali-sche Elemente „Swissness“ in einem Musikstück zu erzeugen, ob es Zutaten gibt, die uns dazu verleiten ein Musikstück als „schweizerisch“ zu hören? Als Quelle/Forschungskorpus dient mir dabei die von Fritz Dür zusammengetragene Tonband-Sammlung.

Zwei Punkte müssen im Vorfeld jedoch geklärt werden: Ein kurzes Portrait über Fritz Dür soll uns seine Person näherbrin-gen und damit den biografischen Rahmen schaffen, in wel-chem die Musiksammlung, die Hauptforschungsgegenstand des Projektes Broadcasting Swissness2 ist, entstand, anderer-seits versuche ich den Begriff „Swissness“ selbst zu umreissen, da dieser als gefühlsbeladener und ideologischer3 Background für den Aufbau der Sammlung von Bedeutung war.

1 Vgl. exemplarisch: Föllmi, Beat A. u. a. (Hg.): Music and the Construction of National Identities in the 19th Century. Baden-Baden 2010. 2 Vgl. URL: www.broadcasting-swissness.ch (Stand: 4. März 2014). 3 Im positiven, wertneutralen Sinne.

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Thomas Järmann

Fritz Dür – Der Begründer der Sammlung

Die folgenden Angaben zu Fritz Dürs Leben verdanken wir zum grössten Teil seiner Tochter, Christine Berner-Dür, die uns in einem Interview zu ihrem Vater Auskunft gab und Christian Strickler, Dürs Nachfolger als Leiter der Sonothek beim Sender Schweizer Radio International (vormals Kurzwellendienst) – dem Sender, der den Aufbau einer „schweizerischen Musik-sammlung“ (der Sammlung Dür) zwischen 1957 und 1967 in Auftrag gab.

Abb. 1: Fritz Dür mit seiner Tochter4

Fritz Dür wurde am 4. Februar 1920 als zweiter Sohn in die Familie Ernst und Johanna Dür-Bucher geboren. Ende der 30er Jahre machte er die Matura und begann an der Universität Basel Musikwissenschaft zu studieren. Auf Grund des Zweiten Weltkrieges musste er das Studium jedoch unterbrechen, da er zum Militärdienst eingezogen wurde. Nach dem Krieg brach Dür das Studium ab und begann eine Tonmeister-Lehre. 1954 wurde ihm eine Stelle im Radiostudio Bern, beim Kurzwellen-dienst, angeboten. Er war danach redaktionell für die wö-chentlichen Religionssendungen zuständig, zu den im Rahmen von Diskussionsrunden religiöse Vertreter unterschiedlicher Konfessionen und Religionen eingeladen wurden. Dür wird als konsequente und gründliche Persönlichkeit beschrieben, was bei seiner archivischen Tätigkeit, beim Aufbau der Musik-

4 Quelle: Foto im Besitz von Christine Berner-Dür. 94

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Die Sammlung Fritz Dür

sammlung für die Sonothek, von grossem Nutzen war. 1985, nach dreissig Jahren bei Schweizer Radio International, ging Fritz Dür in Rente. Er verstarb am 7. Januar 1990 nach kurzer, intensiver Krankheit in Bern.

Abb. 2: Tonband aus der Sammlung Dür5

Die erwähnte Sammlung mit knapp 7600 Tondokumenten be-inhaltet im Grundsatz Volks- und Unterhaltungsmusik, aber man findet darin auch Musik anderer Stilrichtungen vom ein-stimmigen Naturjodel, über folkloristische Tanzmusik in ver-schiedensten Formationen bis zu Schlager, aber auch einige Kompositionen aus dem Bereich der E-Musik. Heute liegen die Tonbänder in der Nationalbibliothek in Bern.6 Die Metadaten zur Sammlung sind für das Forschungsprojekt in einer Daten-bank verfügbar.

5 Quelle: Foto Rudolf Müller. 6 Eine Auswahl von etwa 800 Tonbändern wird für das Forschungsprojekt digitalisiert. Somit bleiben diese Dokumente im Fall einer endgültigen Vernichtung der Tonbänder erhalten.

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Thomas Järmann

Abb. 3: Ausschnitt aus der Datenbank zur Sammlung Dür

Darin sind neben „Stücktitel“, „Autoren“, „Komponisten“ und/oder „Texter“ auch die „Interpreten“ der Aufnahme do-kumentiert. Dazu gibt es Spalten zur Ausführung, zur Gattung und zum Aufnahmejahr, welches eigentlich das Kopierjahr darstellt, denn bei fast allen Tonbändern handelt es sich um Kopien von Stücken aus den verschiedenen Studios der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft (z.B. in Basel, Bern oder Zürich). Als erstes dokumentarisches Ergebnis der For-schungsarbeit wurde die Datenbank mit den Originalar-chivnummern ergänzt. Daraus ist ersichtlich, aus welchem Studio die Originalaufnahme, von der die Kopie angefertigt wurde, stammt. Diese Angaben sind Voraussetzung für wei-tere Analysen, denn an Hand der Originalarchivnummern kann in den jeweiligen Studios nach Unterlagen zu den einzelnen Tonträgern und Aufnahmen gesucht werden, die dann als Quellen für die weitere Forschung genutzt werden können.

Dieser Prolog mit Angaben zu Fritz Dür und einem kurzen Ein-blick in das Forschungskorpus sollten zum Verständnis für die Geschichte der Sammlung beitragen. Damit möchte ich nun überleiten zur Ausgangsfrage, ob man „Swissness“ klanglich abbilden kann. Dazu soll zunächst geklärt werden, was mit dem Scheinanglizismus „Swissness“ eigentlich gemeint ist.

Auf welchem Verständnis von „Swissness“ basiert die Sammlung Dür?

Beim Terminus „Swissness“ handelt es sich um eine moderne und populäre Wortschöpfung, deshalb bietet sich auch eine erste und rasche Annäherung an den Begriff über Wikipedia

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Die Sammlung Fritz Dür

an. In dieser Online-Enzyklopädie findet man folgende Be-schreibung:

„Die positiv konnotierten Attribute Fairness, Präzi-sion, Zuverlässigkeit, politische Stabilität, Natür-lichkeit, Multikulturalität, Genauigkeit und Sauber-keit sollen in einem Begriff zusammengefasst und als typisch schweizerisch insbesondere auch im Ausland vermarktet werden.“7

Der Begriff erlebte in den 1990er Jahren während des „Ethno-Booms“, gemeint ist eine „ästhetisierende Nationalexotik“8, einen Aufschwung, als die Schweiz in diverse politische Ver-flechtungen mit der Europäischen Union verwickelt war.9 Mit „Swissness“ sollte an das durch die Globalisierung scheinbar angeschlagene Selbstvertrauen der Schweizer_innen appelliert werden und so wurde der Begriff nicht nur in der Wirtschaft, wie etwa für den Tourismus, verwendet, sondern geriet auch zur Devise in gesellschaftlichen Fragen und zum politischen Schlagwort.10 „Swissness“ steht in einer Tradition älterer Kon-zepte und Begriffe: „Schweiztum“ insbesondere ist ein janus-köpfiger Begriff, der sich diachron zum einen nach hinten, das heisst durch Rückbesinnung auf angestammte Werte besinnt, zum andern durch Innovation nach vorne.11 Auf der Homepage des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum findet sich sogar eine eigene Rubrik mit dem Titel „Swissness“, unter welcher der Verlauf zur Gesetzgebung zum Schutz der Marke „Schweiz“ nachgelesen werden kann.12 Diese Gesetzgebung sollte die Grundlage dafür schaffen, dass der Mehrwert „Schweiz“, den Produkte und Dienstleistungen

7 URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Swissness (Stand: 17. September 2013). 8 Gyr, Ueli: Marke und Medium. Das ‚neue’ Schweizerkreuz im Trend. In: Michael Simon u.a. (Hg.): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. Münster 2009, S. 431-437, hier S. 435. 9 Vgl. die Aufgleisung bilateraler Verträge mit der Europäischen Union nach dem gescheiterten EWR-Beitritt der Schweiz im Jahr 1992. 10 Die Literatur zum Mythos „Schweiz“ ist vielfältig. Ich nenne zwei Vertreter: Barkhoff, Jürgen u. a. (Hg.): Die Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin 2010; Im Hof, Ulrich: Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte 1291-1991. Zürich 1991. 11 Vgl. dazu Gyr: Marke und Medium. Der Autor liefert erstens einen Definitionsveruch des Begriffes „Swissness“, und führt zweitens am Beispiel des Mediums Schweizerkreuz aus, wie diese transportiert wird. 12 Vgl. URL: www.ige.ch/index.php?id=320 (Stand: 17. September 2013).

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durch das Label „Swissness“ erhalten, langfristig und nachhaltig gesichert ist. Auch hier werden unter dem Begriff die positiv konnotierten Eigenschaften und Werte verstanden, die zu diesem Mehrwert beitragen sollen. Zu sehen ist dies an allerlei als typisch schweizerisch konnotierten Produkten, die von Emblemen wie dem Schweizerkreuz geziert werden.13

Für Fritz Dür und die Radiomacher des Schweizer Radio Inter-national (SRI) in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhun-derts existierte der Terminus „Swissness“ als solcher noch nicht. Ihr Denken und Handeln beim Gestalten der Radiosen-dungen war jedoch geprägt vom kulturpolitischen Schlagwort „Geistige Landesverteidigung“.14 Als Geburtsstunde des SRI, damals noch unter dem Namen Kurzwellendienst (KWD), darf der 1. August 1935 angesehen werden, als die erste Gemein-schaftssendung der drei Landessender über den Völkerbund-sender Prangins bei Genf nach Übersee gesendet wurde. Schnell wurde seine Bedeutung als Informationsinstrument im Angesicht der aufkommenden politischen Veränderungen und (Be)Drohungen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg für die im Ausland lebenden Schweizer_innen erkannt. So beschrieb der damalige Generaldirektor der SRG Alfred W. Glogg Bundesrat Philipp Etter in einem Brief vom 25. Februar 1937 die Funktion des Senders als Möglichkeit zur „Kulturpropaganda unter den Auslandschweizern“.15 Im Dezember 1938 verabschiedete der Bundesrat dann eine Kulturbotschaft, die ganz im Sinne der Geistigen Landesverteidigung verfasst war und prägend für die Grundhaltung des Senders bis weit in die 60er Jahre wurde. Bezüglich der Aufgabe, die eine Radiosendung zu erfüllen hätte, heisst es darin:

„[Die Aufgabe] besteht darin, in unserem eigenen Volke die geistigen Grundlagen der Schweizeri-schen Eidgenossenschaft, die geistige Eigenart un-seres Landes und unseres Staates neu ins Bewusst-sein zu rufen, den Glauben an die erhaltende und schöpferische Kraft unseres schweizerischen Geis-

13 Vgl. dazu Gyr: Marke und Medium. 14 Art.: Geistige Landesverteidigung. In: Historisches Lexikon der Schweiz. URL: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17426.php. (Stand: 6. Februar 2014). 15 Brief von Alfred W. Glogg an Bundesrat Philipp Etter vom 25. Februar 1937. Zentralarchiv der SRG, Bern. Akte: A000-001.1 98

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Die Sammlung Fritz Dür

tes zu festigen und neu zu entflammen und dadurch die geistige Widerstandskraft unseres Vol-kes zu stählen.“16

Es scheint so, dass dieses Gedankengut auch in der Entste-hungszeit der Tonband-Sammlung (1957-1967) immer noch wirkmächtig war und somit auch das Zusammentragen der Musikstücke von Fritz Dür geprägt hat.17 Betreffend der Gestaltung der Sendungen, insbesondere der Betonung des Schweizerischen als Erkennungsmerkmal für den Sender, fin-den sich im Jahresbericht der SRG von 1957 deutliche Aussa-gen:

„Nach einem kleinen musikalischen Auftakt mit ty-pisch Schweizer Volksmusik, die dem Hörer auch das Auffinden des Senders erleichtert, folgen 15-20 Minuten Nachrichten und Kurzkommentare [...]. Hierauf wird ein musikalisches Intervall von 10-20 Minuten eingeschaltet, das meistens wiederum aus der im Ausland überaus beliebten Volksmusik oder aus Unterhaltungsmusik (Cedric Dumont, Louis Rey usw.) besteht. Dann folgen kurze aktu-elle Streiflichter [...] oder die meist als Halbjahres-zyklus gesendeten Dokumentarprogramme über Leben, Arbeit und Gestalt der Schweiz. Daran schliessen sich dann die Schweizer Heimatabende, das wöchentliche Wunschkonzert, der Hörerbrief-kasten, eine Quizsendung oder Ausschnitte aus dem Musikleben und dem musikalischen Schaffen unseres Landes an.“18

Auch wenn die Radioschaffenden dieser Zeit den Terminus „Swissness“ noch nicht kannten, so hatten sie doch eine be-

16 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der Schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung vom 9. Dezember 1938, S. 13+14. URL: www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc.do?id=10033812. (Stand: 17. September 2013). 17 „Die Schweiz hat aber auch als neutrales, demokratisches und christliches Land eine Mission in dieser Welt zu erfüllen: diejenige des guten Samariters, des Mitarbeiters an der Errichtung einer wahren, universellen Brüderlichkeit.” Aus einem Entwurf zur Geschichte des KWD vom 17. Januar 1957, S. 4. Zentralarchiv der SRG, Bern. Akte: A000-003.2. 18 Jahrbuch der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft, Bern 1957, S. 45. Zentralarchiv der SRG, Bern.

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stimmte Vorstellung vom „Schweizerischen“, das sie in ihren Sendungen zu vermitteln versuchten.

„Swissness“ in der Sammlung Dür

Antwort auf die Fragen, ob sich nun „Schweiztum“ in der Sammlung Dür finden und ob sich „Swissness“ auch musika-lisch darstellen lässt, soll uns ein Blick in die Sammlung von Fritz Dür bringen.

Der Begriff „Swiss“ selbst kommt in acht Werktiteln vor. Klingt aber ein Stück schweizerisch, wenn es der Titel evoziert? – Auch nach anderen typischen Schweizer Begriffen lässt sich suchen. Top-Begriffe sind „Schweiz“ oder „Schwyyz“, die 112 Mal vorkommen. Weitere Spitzenreiter in verschiedenen For-men und Deklinationen sind „Heimat“, „Alp“ oder „Senn“; aber auch Begriffe wie „Enzian“, „Helvetia“, „Jassen“ oder „Wilhelm Tell“ sind vertreten. Nach geografischen Begriffen lässt sich ebenso suchen. Spitzenreiter bei den Kantonen ist das Tessin mit 48 Zählern. Bei den Ortschaften, von A wie Adelboden bis Z wie Zuoz, ist die Stadt Chur meistgenannt. Es gibt auch viele Musikstücke mit Flurnamen im Titel wie bei-spielsweise: Uf der Hasematt oder Höchegg-Jodel. Ferner sind auch andere geografische Begriffe, wie Berge und Täler, in den Titeln zu finden. Meistgenannt bei den Gebirgen ist die Königin der Berge, die Rigi; bei den Gewässern ist es der Rhein. Noch führen uns diese Erkenntnisse nicht zur Antwort, was denn nun musikalische „Swissness“ ist. Vielleicht liegt sie ganz ein-fach und technisch in der Musik selber. Womit wir bei der Frage wären, ob es denn musikalische Elemente gibt, die ty-pisch schweizerisch sind. Ein Musikstück aus der Sammlung soll uns bei der Beantwortung dieser Frage behilflich sein. Ausgewählt habe ich das Stück Swiss Boy von Cedric Dumont.19

Hört man in dem Stück „Swissness“, weil es der Titel so vor-gibt? Lässt ein Schweizer Begriff im Titel das Stück bereits schweizerisch klingen? Klar ist, dass ein Titel alleine noch kein

19 Im Referat erklang an dieser Stelle als Tonbeispiel: Swiss Boy von Cedric Dumont. Es ist unter anderem zu finden auf: Les Grandes Etoiles Du Divertissement: Musique Légère, Récréative & Pittoresque. Marianne Melodie, Nr. B0072A4EWG (CD 2012) oder auch auf iTunes. 100

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Die Sammlung Fritz Dür

Musikstück zu einem schweizerischen Musikstück macht. Es muss also noch weitere Charakteristika geben. An dieser Stelle bietet sich ein musikhistorischer Vergleich an. Michael Be-ckerman widmete sich in seinem Aufsatz In search of Czech-ness einer ganz ähnlichen Frage wie wir auf unserer Suche nach dem „Schweizerischen“. Auf den Spuren der tschechi-schen Nationalkomponisten Bedřich Smetana, Antonín Dvořák und Leoš Janáček ging er der Frage nach: „In what does this ‚Czech‘ element consist?“ Er stellte dann eine Liste von Merk-malen auf, die angeblich als typisch tschechisch betrachtet werden können:20

1. Akzent auf dem ersten Schlag (abgeleitet von der Erstsilbenbetonung der tschechischen Sprache)

2. Synkopierte Rhythmen (übernommen von charakteristischen Tänzen)

3. Lyrische Passagen, meist im Trio eines tänzerischen Scherzos

4. Harmonische Bewegungen innerhalb der Medianttonarten

5. Zweistimmige Stimmführung in Terz- oder Sextparalle-len

6. Schwanken zwischen parallelen Dur- und Molltonarten

7. Verwendung von Modi mit tiefer Septime und erhöhter Quarte

8. Vermeidung von Kontrapunkt

9. Verwendung von melodischen Zellen, die eine Quinte höher wiederholt werden

Sicherlich liesse sich für die schweizerische Musik eine ähnli-che Liste aufstellen, die Elemente wie auf dem Dreiklang be-ruhende Melodiebildung oder Verwendung von Alphorn-Moti-ven und typische Instrumente, beinhalten würde. Man muss aber, wie dies auch Beckerman für „Czechness“ tut, zum Schluss kommen, dass es nicht einzelne musikalische Elemente sein können, die „Swissness“ manifestieren.

20 Vgl. Beckerman, Michael: In search of Czechness. In: 19th-Century Music 10/1 (1986), S. 61-73, hier S. 64.

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„These devices can be found in Czech music in abundance; yet they are also found elsewhere. [...] There is in fact no single musical detail that can be shown to occur in Czech music and nowhere else.“21

Ein weiteres Element, nach dem wir fragen können, wäre die musikalische Gattung. Volksmusik und folkloristische Musik in der Sammlung von Dür besteht zu einem grossen Teil aus Tanzmusik (Märsche, Ländler, Walzer, Schottische, Polkas etc.).22 Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fusse, wenn man musikhistorisch nachverfolgt, woher diese Gattungen kom-men. Der Ländler im Dreiviertel-Takt23 ist ein Volkstanz in mittelschneller Bewegung und von heiterem Charakter. Er hat seinen Ursprung in Süddeutschland und Österreich, einige Wurzeln gehen sogar bis nach Slowenien. Der Walzer ist um 1770 im österreichisch-süddeutschen Raum aus dem Ländler entstanden. Beim Schottisch handelt es sich um einen Tanz, der, wie es der Name verrät, aus Schottland stammt, wenn-gleich die schweizerische Variante des Schottisch einen Polka-Rhythmus aufweist. In der Kunstmusik war der Schottisch zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Eccossaise“ bekannt. Die Polka ist ein beschwingter Rundtanz und stammt aus Böhmen. Wir sehen, dass die Ursprünge der in der Schweizer Volksmusik so beliebten Tänze über halb Eu-ropa verteilt sind. Daraus „Swissness“ abzuleiten fällt mehr als schwer. Wir stellen auch fest, dass „Swissness“ mehr ist, als die Summe von technischen Einzelheiten. Eine Theorie von Schweizer Musik aufzustellen, die nur auf musikalischen Ele-menten allein beruht, bewegt sich im Bereich von Spekulatio-nen, stösst schnell an Grenzen und führt schlussendlich zu In-kohärenz. Ähnliche Überlegungen machte auch Dieter Ringli in seiner Auseinandersetzung mit Schweizer Volksmusik.24 Er

21 Ebd. 22 Die Geschichte der verschiedenen Tänze ist u. a. nachzulesen bei: Schneider, Otto: Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett, Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mainz 1985. 23 Gemeint ist hier der Ländler als spezifischer Tanz und nicht als Bedeutung für die instrumentale Volksmusik im Allgemeinen wie sie im schweizerischen Sprachgebrauch häufig verwendet wird. 24 Vgl. Ringli, Dieter: Schweizer Volksmusik. Von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart. Altdorf 2006. S. 11-44. 102

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Die Sammlung Fritz Dür

führte verschiedene historische Ansätze aus, nach denen im-mer wieder postuliert wurde, dass es musikalisch-strukturelle Bezüge sein sollten (Melodik, Rhythmik und Harmonik), die Musik zu Schweizer Volksmusik werden lassen. Aber auch Ringli kommt zusammenfassend zum Schluss:

„Schweizer Volksmusik ist das, was als schweize-risch empfunden wird. Sie ist vielmehr eine kollek-tive Vorstellung als eine nach Zahlen und Fakten belegbare Gattung.“25

Der Kunsthistoriker Ernst Hans Gombrich beschreibt in seinem Buch Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Dar-stellung einen Protagonisten, der sich vor einem Kunstwerk vor- und zurückbewegt und vergeblich versucht den Punkt zu finden, von dem aus es ihm gelingt, die komplizierten Details der Pinselstriche und das Gemälde als Gesamtes zu erfassen.26 Den Punkt, von wo er das Ganze und die Summe seiner Teile gleichzeitig wahrnehmen kann. So verhält es sich auch mit der Musik. Die Einzelteile an und für sich sind zu wenig spezifisch. Wenn man jedoch gewisse Elemente zusammenfügt, ist es gut möglich bei den Zuhörer_innen den gewünschten Effekt zu erzielen.

Fazit

Die Ausgangsfrage war, ob man „Swissness“ klanglich darstel-len könne. Nach den vorgetragenen Überlegungen halte ich es ähnlich wie Christian Seiler, der in seinem Buch Verkaufte Volksmusik schreibt:

„Es gibt keine Schweizer Volksmusik. [...] So origi-nell die Appenzeller ‚Streichmusik Edelweiss‘ zur Polka aufspielt, so lüpfig das Schwyzerörgeli von Rees Gwerder den Schottisch intoniert, so senti-mental das Alphorn von den Höhen tutet: Nichts ist original. Nichts besteht ausschliesslich aus schwei-zerischen Rohmaterialien.“27

25 Ebd., S. 16. 26 Vgl. Gombrich, Ernst Hans: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Berlin 2004, S. 5. 27 Seiler, Christian: Verkaufte Volksmusik. Die heikle Gratwanderung der Schweizer Folklore. Zürich 1994, S. 111.

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Wir haben gesehen, dass es musikalische Elemente geben kann, die in ihrer Summe „schweizerisch“ klingen mögen, dass der Titel von Musikstücken die Hörer_innen dazu verleiten kann Musik mit einer Schweizer Brille, oder passender mit ei-nem Schweizer Hörgerät, zu hören und so die Musik mit ihrer Vorstellung von Schweiz zu assoziieren. Genau unter diesem Aspekt muss die Sammlung von Fritz Dür für den Kurzwellen-dienst betrachtet und gehört werden. Es ging dem Sender da-rum, mit der Musik beim Publikum, gerade bei den Ausland-schweizer_innen, eine Hörerwartung zu erfüllen. Die Macher des Kurzwellensenders versuchten ihrem Publikum mehr oder weniger bewusst eine ideale Schweiz zu vermitteln. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die verschiedenen Nationen in ihren Grundfesten erschüttert waren, waren heimatverbun-dene Medienprodukte sehr willkommen. Exemplarisch nen-nenswert und im gleichen Kontext zu sehen sind hier die Franz Schnyder-Filme Ueli der Knecht und Ueli der Pächter aus den Jahren 1954 und 1955. Unter dem Schlagwort der „Geistigen Landesverteidigung“, die sich erst gegen den Nationalsozialis-mus richtete und während des Kalten Krieges gegen den Kommunismus, war es das Ziel dieser politisch-kulturellen Be-wegung, die als schweizerisch wahrgenommenen Werte und Bräuche zu stärken, um damit totalitäre Ideologien abzuweh-ren. Der Historiker Werner Möckli beschrieb dies für die Zeit nach dem Krieg folgendermassen:

„Betonung der föderalistischen Mannigfaltigkeit, Belebung der Volksbräuche, Pflege der Mundart, eine gewisse Bodenromantik – diese Elemente bil-den [...] den Kern des schweizerischen Selbstbe-wusstseins, und man kann das in der Tat mit dem Begriff ‚Heimatschutz‘ zusammenfassen.“28

Das Bild der Schweiz, das in der Sammlung Dür vermittelt wird, ist ebenfalls ein Bild der Konservation, des Schutzes und des Beschützens. Dem Sender ging es darum, ein Idealbild der Schweiz zu vermitteln, das geprägt war von den Strömungen

28 Zitiert nach: Schöb, Gabriela: S mues scho e biz mee dehinder sii! Schweizer Schlager und ‚Geistige Landesverteidigung’. Zusammenhänge zwischen Musik und einer Mentalität gewordenen Ideologie. In: Anselm Gerhard, Annette Landau (Hg.): Schweizer Töne. Die Schweiz im Spiegel der Musik. Zürich 2000, S. 197-220, hier S. 199. 104

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Die Sammlung Fritz Dür

der Zeit. Die „Swissness“, welche für die Schweizer_innen im Ausland konstruiert wurde, war ein Erinnerungsbild, bei dem idealisierte Grundwerte hochgehalten wurden. Die Radioma-cher versuchten bei der auslandschweizerischen Hörerschaft, die ihre Heimat noch selbst erlebt hatten, über das Akustische ein Andenken an eine idealisierte und klischierte Schweiz zu erhalten. Dies formulierte am 18. März 1948 auch ein unbe-kannter Autor in einem Entwurf für einen Artikel für die Zeit-schrift ECHO:

„Eine doppelte Aufgabe wurde dem Schweizeri-schen Kurzwellensender gestellt: Euch soll er die Heimat näherbringen. Der Welt soll er Kunde ge-ben vom Schaffen der Schweizerkultur, der Schweizerwirtschaft, der Schweizerpolitik. Er soll für die Ideale werben der Völkerfreiheit, der Ach-tung vor der Persönlichkeit, der freiwilligen Zu-sammenarbeit als Ausfluss dieses Respekts, denen unser Land seine glückliche Stellung verdankt.“29

Des Weiteren versuchten die Radiomacher bei den Nachgebo-renen von Auslandschweizer_innen eine klangliche Stereoty-pen-Schablone herzustellen, um die Verbindung zum Her-kunftsland aufrechtzuerhalten.30 Damals, wie auch heute, han-delte es sich um ein gedankliches Konstrukt. „Swissness“ ma-nifestiert sich als wirkmächtiger nationaler Mythos.

Die ersten Einblicke in das Forschungskorpus, die ersten archi-valischen Ergebnisse der Forschungsgruppe Broadcasting Swissness31 lassen sich dahingehend deuten, dass es wohl nur wenige direkte Vorgaben gab, nach denen sich Fritz Dür zu richten hatte. Vielmehr erstellte er seine Sammlung aufgrund eines im Sender übereinstimmend wirkenden Hintergrunds, der dem oben beschriebenen Schweiz-Bild entsprach. Ähnlich

29 Aus einem Entwurf für einen Artikel für die Zeitschrift Echo, S. 1. Zentralarchiv der SRG, Bern. Akte: A231.4-001. 30 „Wir haben ferner dafür Sorge zu tragen, dass die nächste Generation unserer Auslandschweizer nicht unter fremden Fahnen kämpfen muss, also Ausländer wird. Schweizerisches Ideengut ist deshalb der Auslandschweizerjugend viel mehr als bis anhin zu vermitteln.” Aus den Vorbemerkungen zur Sitzung des ZV der SRG am 7. April zum Traktandum „Geistige Landesverteidigung“ vom 4. April 1938, S. 15. Zentralarchiv der SRG, Bern. Akte: A51-02-002. 31 Forschungsstand vom September 2013.

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Thomas Järmann

lautende Aussagen in den Abschnitten zum Kurzwellendienst in den Jahresberichten der SRG aus unterschiedlichen Jahren lassen diesen Schluss zu. Hier eine Auswahl:

„Diese Aufgabe löst er [der Kurzwellendienst] im Rahmen wöchentlich je einer Sendung pro Erdteil, die bewusst das gemütvolle, volkstümliche Ele-ment pflegt, also Volksmusik bringt, Hei-matabende, Chroniken über das grosse und kleine Geschehen zu Hause in den drei Landessprachen, gesprochene Korrespondenz usw.“32

„Die musikalischen Sendungen des Kurzwellen-dienstes setzen sich fast ausschliesslich für das schweizerische Musikschaffen ein. [...] Jeder Diens-tag bringt Werke erster Schweizerkomponisten zu Gehör, jeder Sonntag und Donnerstag ausgewählte Konzerte schweizerischer Solisten, Orchester und Chöre, von schweizerischen Dirigenten geführt. [...] Auch die Volksmusik spielt selbstverständlich in unseren Programmen eine wichtige Rolle. Auslän-der und Auslandschweizer hören davon nie ge-nug.“33

Wir sehen also, dass die (Volks)Musik sowohl von Seite des Radiosenders, als auch von Seiten der Hörerschaft mit „Swiss-ness“ beladen wurde. Wenn sich auch keine musikalischen Elemente beschreiben lassen, die explizit schweizerisch sind, so lassen sich auf der impliziten (Be)Deutungsebene der Musik anscheinend doch Emotionen einschreiben, die als ebensolche gehört und empfunden werden.

Das abschliessende Wort soll Joël Curchod gehören. Er war in den Jahren von 1965 bis 1987 Direktor des Kurzwellendiens-tes. Er notierte für den Beitrag zum Jahrbuch der SRG für das Jahr 1965/66 betreffend der eingeschriebenen Heimatgefühle, der implizierten Vorstellungen eines Mythos „Schweiz“, eines mitverstandenen Konzepts von Nation, den überlieferten folkloristisch-malerischen Klischees oder eben dem vermittel-ten Image von „Swissness“ dies:

32 Jahresbericht der SRG von 1939/40. Zentralarchiv der SRG, Bern, S. 11. 33 Jahresbericht der SRG von 1949. Zentralarchiv der SRG, Bern, S. 2. 106

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Die Sammlung Fritz Dür

„Würde der Kurzwellendienst dieses ‚Image‘ ein-fach ignorieren, so kämen wohl gleich aus allen Teilen der Welt enttäuschte und entrüstete Reak-tionen. Das wäre auch ganz natürlich, denn das überlieferte, folkloristisch-malerische Bild der Schweiz entspricht genau den Vorstellungen, die sich unzählige Ausländer von unserem Lande ma-chen. In gewissem Sinne besteht also in diesem Be-reich völlige Uebereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage. [...] So ist uns denn unser Weg vor-gezeichnet das Wertvolle in diesem Erbe aufzuspü-ren und tagtäglich, mit dem völkerverbindenden Mittel der Radiowellen, das ‚Image‘ eines Landes zu projizieren, das sich zwar seines Erbes bewusst ist, das aber in der Gegenwart lebt und in die Zu-kunft – die eigene und die der ganzen Menschheit – blickt.“34

34 Entwurf des Beitrag zum SRG-Jahrbuch 1965/66 von Joël Curchod, S. 2. Zentralarchiv der SRG, Bern. Akte: A231.3-025.

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MUNDART-ROCK

Zeitgemässe „Swissness“?

Dieter Ringli

Die Rock- und Popmusik gehört seit einem halben Jahrhundert zum Alltag und hat sich zunehmend durchsetzen können. Ur-sprünglich eine Nische jugendlicher Subkultur hat sich diese Form von Musik inzwischen als Mainstream etabliert. Kaum ein repräsentativer Anlass geht ohne sie über die Bühne; man denke da beispielsweise an die Eröffnungszeremonien von Weltmeisterschaften oder Olympiaden, die durchgehend von Popmusik begleitet sind. Auch im Musizieren von Laien nimmt die Popmusik inzwischen eine zentrale Stellung ein. Sie gehört heute für die meisten Leute zu den unabdingbaren Bestand-teilen des Alltags, da sie dank mp3-Playern allgegenwärtig ist. Mit dem Mundart-Rock und -Pop hat sich in dieser Sparte auch eine Gattung herausgebildet, die spezifisch schweizerisch ist. Trotzdem wird diese kaum je erwähnt, wenn von musikali-scher „Swissness“ die Rede ist. Da gelten noch immer Alphorn, Jodel und Ländlermusik als die typischen Repräsentationsfor-men der Schweiz.1 In ihrer Selbstdarstellung greift die Schweiz meist darauf zurück und nicht auf Mundart-Pop. Dies ist inso-fern erstaunlich, da inzwischen mehrere Generationen mit dem Mundart-Pop weit vertrauter sind, als mit Jodel, Alphorn oder Ländlermusik. Insbesondere in den städtischen Gebieten, in denen heute die grosse Mehrheit der Bevölkerung lebt, ist die Volksmusiktradition weitgehend verschwunden, auch wenn in den letzten 10 bis 15 Jahren eine gewisse Renaissance zu verfolgen war.2

Dieser Umstand der Betonung der volksmusikalischen Traditio-nen bei der Repräsentation der Schweiz ist aber nicht ein blos-ser konservativer Reflex, sondern hat verschiedene Gründe oder anders ausgedrückt: Das Verhältnis des Mundart-Pop zur

1 Vgl. den Beitrag von Karoline Oehme-Jüngling in diesem Band; Ringli, Dieter: Jodelgesang: Wenn die Tradition zum Trend wird. In: Christoph Merki (Hg.): Musikszene Schweiz: Begegnungen mit Menschen und Orten. Zürich 2009; Ders.: Schweizer Volksmusik: von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart. Altdorf 2006. 2 Vgl. Karoline Oehme-Jüngling: Volksmusik in der Schweiz. Kulturelle Praxis und Gesellschaftlicher Diskurs. Basel 2015 (im Erscheinen).

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Dieter Ringli

Schweiz als kulturelle Entität ist ein komplexes. Um dieses komplexe Verhältnis etwa aufzuschlüsseln, muss man zurück-gehen in die Anfänge des Mundart-Rock in den 1970er Jahren.

Der erste Grosserfolg des Mundart-Rock war 1976 der Song Kiosk der Berner Gruppe Rumpelstilz mit Polo Hofer am Ge-sang. Die Single stieg im Oktober ‘76 auf Platz 12 in die Hitpa-rade ein, stieg dann auf bis Platz 2, wo sie vier Wochen ver-blieb.3 Ricky King und Boney M verhinderten den Vorstoss an die Spitze. Insgesamt verblieb Kiosk aber immerhin 14 Wochen in der Hitparade, was eine beachtliche Dauer ist, umfasste doch die Single Hitparade damals nur gerade 15 Plätze.

Das Lied Kiosk ist in verschiedener Hinsicht ein sehr typisches Beispiel für den Mundart-Rock der Schweiz. Erstens kam die Band aus Bern und der Song war demzufolge in Berndeutsch gesungen. Was das Italienisch für die klassische Musik ist, ist der Berner Dialekt für den Mundart-Rock. Bis weit in die 1990er Jahre blieb Bern das Zentrum des Mundart-Rock und man war überzeugt, dass der Berner Dialekt am besten geeig-net sei, um zu singen. Das hängt wahrscheinlich mit Mani Mat-ter zusammen, dem Übervater der Schweizer Liedermacher. Mundart-Rock war also lange Zeit Berner Rock.

Aber auch in einer anderen Hinsicht ist Kiosk typisch für den Schweizer Mundart-Rock. Der Song ist im Grunde keine Eigen-komposition, sondern eine Neutextierung eines amerikani-schen Songs. Er beruht mit wenigen Änderungen offensichtlich auf dem Song Dixie Chicken der amerikanischen Gruppe Little Feat von 1973.

Es geht hier aber nicht darum, Rumpelstilz vorzuwerfen, dass sie den Song Kiosk bei Little Feat abgekupfert hätten, wichtig ist vielmehr, dass sich der Mundart-Rock musikalisch primär international orientierte und positionierte. Musikalisch wollte man gar nicht schweizerisch klingen, im Gegenteil: Man ver-suchte nahtlos anzuknüpfen an die Tradition der anglo-ameri-kanischen Rock- und Popmusik, was damals allerdings rein qualitativ noch nicht ganz gelang. Dass man dabei sprachlich auf die eigene Mundart zurückgriff, war nicht nur eine Frage der lokalen Identität, sondern lag auch in den mangelnden

3 URL: www.hitparade.ch/search.asp?search=Kiosk&cat=s (1. September 2013). 110

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Mundart-Rock: Zeitgemässe „Swissness“?

Englischkenntnissen begründet. In den frühen 70ern sprachen die meisten jungen Schweizer kaum Englisch. Folglich mussten diejenigen, die auf Englisch sangen, ihre Texte mühsam mit dem Wörterbuch zusammenklauben. Berner Mundart-Rock war musikalisch also amerikanischer Südstaaten-Rock und stellte auch nicht den Anspruch, etwas anderes zu sein. Man war zufrieden, wenn man die Vorbilder einigermassen stilecht kopieren konnte.

Rumpelstilz waren immerhin eine der wenigen Gruppen, die versuchten, wenigstens ab und zu ein paar musikalische Ele-mente aus der Schweiz in ihre Musik zu integrieren. So hören wir auf Kiosk eine Handorgel, allerdings keine spezifisch schweizerische, sie könnte ebenso gut eine Reminiszenz an den Zydeco sein, die Tanzmusik aus Louisiana, die Little Feat stark beeinflusst hatte. Rumpelstilz vertonten aber 1977 als Single-B-Seite das Volkslied Stets in Truure, das in der wohl bis heute wichtigsten Sammlung von Schweizer Volksliedern, dem Röseligarte von Otto von Greyerz4 vorkommt.

Das Stück war damals zwar kein Hit, gehört aber heute zu den meistgespielten Mundart-Rock-Songs aus der damaligen Zeit, während die A-Seite der Single – Nadisnah – längst in Verges-senheit geraten ist. Allerdings ist auch Rumpelstilz’ Versuch, Volkslieder einzubeziehen, nicht unbedingt ein Zeichen der Auseinandersetzung mit Schweizer Identität, sondern kann genau so gut als Weiterführung der angloamerikanischen Tra-dition angesehen werden, wo Volkslieder wie Tom Dooley5 oder The House of the Rising Sun6 zu Pop-Hits geworden sind.

In Zürich entstand kurz darauf eine andere Art von Mundart-Rock, die national weit weniger wahrgenommen wurde: Der Mundart-Punk. Auch diese Musik orientierte sich am Ausland an London und an New York. Der Klassiker des Zürcher Mund-art Punks Züri brännt7 der Gruppe TNT, der den Slogan der Jugendunruhen von 1980 vorweg nahm, stammt von Paul Weixler, der sagt, er hätte damals einfach versucht, London’s

4 Greyerz, Otto von: Im Röseligarte. Schweizerische Volkslieder. 6 Bände, Bern 1908-25, (Reprint: Bern 1976 und 2008); vgl. den Beitrag von Karoline Oehme-Jüngling im Band. 5 The Kingston Trio (USA), 1958. 6 The Animals (GB), 1964. 7 TNT: Züri brännt, 1979.

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burning von der Band The Clash auf Zürichdeutsch zu übertra-gen und da er kaum Englisch verstanden habe, sei er eben ge-zwungen gewesen, einen eigenen Text zu verfassen. Der Song hatte in der Folge eine prägende Bedeutung für die damalige Jugend. Punk war die Musik der sogenannten „Bewegig“ der Zürcher Jugendunruhen der frühen 80er Jahre.

Man wollte eine eigene Musik machen, die Ausdruck der eige-nen Lebensumstände war und das abbildete, was im Alltag geschah und da war Punkmusik nach englischem Vorbild ver-knüpft mit Mundarttexten eben naheliegend. Mit dem Ende der „Bewegig“ 1983 verschwand der Mundart-Punk dann aber eben so schnell, wie er aufgekommen war.

In Bern aber entwickelte sich die Mundart-Rock-Szene weiter. Die Bands der zweiten Generation wie Züri West und Patent Ochsner lösten sich zwar vom Südstaaten-Rock, sahen sich aber ebenso in einer internationalen Pop- und Rockszene ver-haftet und hatten musikalisch kaum Bezüge zur Schweiz. Textlich jedoch stand der Schweizer Alltag im Zentrum. Mit Liedern wie Flachgleit und Hansdampf lieferte Züri West den Soundtrack zu den Jugendunruhen rund um das Zaffaraya-Areal und den kulturpolitischen Kampf für das Kulturzentrum Reithalle in Bern in der zweiten Hälfte der 80er Jahre.

Im Gegensatz zu den Zürcher Punk Bands wurden Züri West aber bald schon in der ganzen Deutschschweiz wahrgenom-men, weil sie musikalisch durchaus auch international mithal-ten konnten und eine eigene Form von alternativer Rockmusik spielten, die nicht bloss eine defizitäre Kopie der internatio-nalen Vorbilder war. Ihre Musik konnte bestehen gegen die internationale Konkurrenz. Ihre Texte hingegen bezogen und beziehen sich noch immer auf den Berner Alltag. Darin liegt wohl ihr Erfolg begründet.

Bei Patent Ochsner, der nach Züri West zweit-erfolgreichsten Mundart-Rock-Band ist dieser Zwiespalt zwischen internatio-naler Ausrichtung und lokaler Verbundenheit sogar Programm. Einer ihrer ersten Hits handelte vom Berner Lokalflughafen Belpmoos und der Sehnsucht, in die grosse weite Welt hinaus-zugehen.8 Damit fingen sie den Zeitgeist der frühen 1990er Jahre mit dem Wunsch des Entfliehens aus der Enge der

8 Patent Ochsner: Bälpmoos, 1991. 112

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Mundart-Rock: Zeitgemässe „Swissness“?

Schweiz hervorragend ein und stiessen entsprechend auf grosse Resonanz. Musikalisch allerdings ist auch da – ebenfalls dem damaligen Zeitgeist entsprechen – kaum spezifisch Schweizerisches zu hören.

Abb. 1: Patent Ochsner: Promo-Foto (2012)9

Daran hat sich seither wenig geändert: Mundart-Rock greift zwar Themen aus der Schweiz auf, bleibt musikalisch aber in einem internationalen Kontext. Das zeigt auch das Beispiel von Phenomden, dem Zürcher Mundart-Reggae-Sänger. Er stellt seine Lobeshymne über Jamaika10 dem kalten Zürcher Alltag entgegen und versucht so, etwas Wärme und Fröhlichkeit zu importieren. Phenomdens Musik ist auch nach jamaikanischen Standards durchaus zeitgemäss und qualitativ hochstehend, zwar nach europäischen Geschmacksvorstellungen mit gemäs-sigten Bässen und Höhen abgemischt, aber das tun die Jamai-kaner für ihre internationalen Produktionen auch.

Mundart-Rock kann also seit 20 Jahren qualitativ durchaus mithalten mit der internationalen Rock- und Popmusik und er ist immer wieder auch gesellschaftlich und politisch wirksam, wie wir am Beispiel von TNT und Züri West gesehen haben. Mundart-Rock leistet somit einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer, nicht nur in seiner politischen Wirksamkeit, sondern auch als ver-bindendes Element einer schweizerischen Kultur, mit der sich

9 Quelle: Pressefoto. 10 Phenomden: Eiland, 2011.

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zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer weit stärker identifi-zieren, als mit Schweizer Volksmusik.

Für die hier lebenden jungen Ausländerinnen und Ausländer ist gerade der Mundart Hip Hop ein wichtiger Faktor der In-tegration. Der Türkisch-Berner Müslüm, der bei der Abstim-mung um die Reitschule 201011 sehr aktiv engagiert war, stand mit seinem Album 2012 auf Platz 3 der Charts und hat 2013 den Integrationspreis der Stadt Bern erhalten. Baba Uslender – der eigentlich Granit Dervishaj heisst und ein in Luzern aufge-wachsener Secondo mit kosovarischen Eltern ist – war das erste Schweizer Youtube-Phänomen. Sein Clip Baustellsong wurde 2012 über 500.000 Mal angeklickt, die folgende CD stieg in die Hitparade auf und Baba Uslender ist heute als Mo-derator beim angesagten Jugend-Fernsehsender Joiz tätig. Der selbstironische Zugang zum Thema Ausländer kommt offenbar nicht nur bei der ausländischen Jugend, sondern auch bei Schweizerinnen und Schweizern an.

Abb. 2: Baba Uslender: Promo-Foto zum Baustellsong (2012)12

11 2010 wurde in Bern über die SVP-Volksinitiative Schliessung und Verkauf der Reitschule abgestimmt. Die Initiative wurde abgelehnt, das umstrittene Kulturzentrum Reitschule bleibt im Besitz der Stadt Bern und wird weitergeführt. 12 Quelle: Pressefoto. 114

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Mundart-Rock: Zeitgemässe „Swissness“?

Mundart-Rock ist also durchaus ein klingendes Abbild der ge-genwärtigen Schweiz. Für die Identitätsbildung der Generatio-nen unter 60 ist er sogar weit prägender als die Volksmusik. Seit die Mundart in den 1990er Jahren im Pop-Bereich zur Selbstverständlichkeit geworden ist, spielt dieses Genre eine bedeutende Rolle im Alltag. Dieser Aufstieg der Mundart – von einer oft belächelten Abwechslung hin zur selbstverständli-chen Pop-Gesangs-Sprache – hat sicher verschiedene Gründe: Einerseits hat die Mundart generell zugenommen in den letz-ten zwanzig Jahren, beispielsweise am Fernsehen, wo Inter-views auch in Nachrichtensendungen in Mundart geführt wer-den. Andererseits ist die Schweizer Popmusik qualitativ enorm viel besser geworden in dieser Zeit. War das Kennzeichen „schweizerisch“ früher ein negatives, weil Synonym für spiel- und produktionstechnische Defizite, so gilt das für Schweizer Produktionen seit den 90er Jahren nicht mehr. Sie stehen auf Augenhöhe mit der internationalen Popmusik. Zudem haben Texte mit dem aufkommenden Hip Hop generell wieder an Bedeutung gewonnen, was der Mundart als Sprache sicher auch zuträglich war. Mundart-Rock ist heute darum ein selbst-verständlicher Teil des Schweizer Alltags geworden. Das Musi-cal „Ewigi Liäbi“, das aus einer Sammlung von Mundart-Hits der letzten dreissig Jahre zusammengestellt wurde, war die erfolgreichste Musicalproduktion aller Zeiten in der Schweiz. Von 2007 bis 2012 wurde das Stück in Zürich und Bern fast 1.000 Mal aufgeführt.13 Das Lied selber – ursprünglich von der Schwyzer Mundart-Rock-Band Mash im Jahr 2000 herausge-bracht und 2006 mit einer Interpretation des Jodlerklubs Wie-senberg an die Spitze der Hitparade vorgestossen – gehört gegenwärtig wohl zu den meistgespielten und -gesungenen an Schweizer Hochzeiten. Mundart-Rock ist heute ein fester Be-standteil des Schweizer Alltags geworden, der das Selbstver-ständnis der Schweizerinnen und Schweizer wesentlich prägt.

Trotzdem wird Mundart-Rock aber kaum je als spezifisch schweizerisch wahrgenommen. Um das zu verstehen, ist es von Bedeutung, zwischen Innen- und Aussensicht auf die Schweiz zu unterscheiden. Aus der Innensicht oder ethnolo-gisch gesprochen aus der emischen Perspektive ist der Mund-art-Rock ein wichtiger Bestandteil des heutigen Schweizer

13 URL: http://ewigiliaebi.ch (Stand: 27. Mai 2014).

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Dieter Ringli

Selbstverständnisses und auch eine wichtige Zeitgeist- und Zeitthemen-Dokumentation. In der Identitätskonstruktion zahlreicher Schweizerinnen und Schweizer ist er zu einem we-sentlichen Bestandteil geworden.

Aus der Aussensicht hingegen ist das Phänomen weniger inte-ressant, weil das spezifisch Schweizerische daran einzig die von aussen nicht zugängliche Sprache und die inhaltliche Ver-knüpfung mit Themen des Alltags sind, die für Aussenstehende auch nur bedingt von Interesse sind. Zudem kennt man auch im Ausland entsprechende eigene Phänomene. Auch in Frank-reich oder Deutschland gibt es einheimische Rock- und Pop-musik, die sich in lokaler Sprache mit aktuellen Themen aus-einandersetzt. Und da ist der Schweizer Mundart-Rock eben bloss eine Variante dessen, was man selber auch kennt. Für die touristische Vermarktung spielt darum der Mundart-Rock keine Rolle. Die vielfältige Mundart-Rock Szene lässt sich schwer einbinden in ein Marketing-Konzept, das die natur-schöne Bergwelt Städten mit internationalem Flair entgegen-stellt. Auch in der offiziellen Repräsentation der Schweiz gegen aussen spielt diese Art von Musik kaum eine Rolle. Kaum je treten Mundart-Rock-Bands in Schweizer Botschaften oder an offiziellen Anlässen auf. Man greift dort entweder auf die noch immer als künstlerisch wertvoller geltenden Genres Klassik und Jazz zurück, oder dann auf die sogenannte authentische Volksmusik vorzugsweise mit Alphorn, das international als Symbol des Berglands Schweiz gilt.

Damit Mundart-Rock auch von aussen interessant – und damit für die Repräsentation gegen aussen verwendbar – wäre, bräuchte er einen Bezug zur traditionellen Schweizer Musik, denn damit würde er sich unterscheiden von allen anderen lokalen Rock- und Popvarianten. Das ist aber bis heute nicht geschehen. Zwar taucht da und dort mal ein Akkordeon auf oder es wird ein Hackbrett verwendet, – so zum Beispiel auf der CD 0816 des Zürcher Rappers Bligg von 2008, der mit 140.000 verkauften Alben in die Hitparade stürmte14 – aber eine wirkliche musikalische Auseinandersetzung hat bis heute kaum stattgefunden.

14 URL: http://de.wikipedia.org/wiki/0816 (Stand: 27. Mai 2014). 116

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Mundart-Rock: Zeitgemässe „Swissness“?

Solange aber der Mundart-Rock musikalisch keinen Bezug zur Schweiz schafft, bleibt er fürs Ausland und auch für den Tou-rismus von geringem Interesse und wird nicht als klingendes Abbild einer gegenwärtigen Schweiz wahrgenommen, nicht nur von aussen, sondern auch in der Schweiz selber.

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„UF BRUTSCHAU ID FELSENEGG AUF GRIECHEN-LANDS OLYMP“

Einblicke in die Mediennutzung von Schwei-zer_innen im Ausland am Beispiel der Rezeption von Swiss Radio International

Fanny Gutsche

„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“ – Wie gelangt ein bekanntes Schweizer Volkslied auf den höchsten Berg Griechenlands? Das Zitat im Titel dieses Aufsatzes stammt aus einem Schriftwechsel, den ich im Frühjahr 2013 mit einem ehemaligen Hörer von Swiss Radio International (SRI) per Email führte. Er berichtete, dass er als Schüler in den Ferien im Jahre 1968 über ein mitgebrachtes Radiogerät den Schweizer Sender in Griechenland empfing und dabei jenes bekannte Schweizer Volkslied hörte. Im Zitat klingt eine Gleichzeitigkeit von Vertrautem und Exotik, von Eigenem und Fremden an. Das Eigene wird dabei durch etwas Klangliches repräsentiert, das über das Medium Radio in eine fremde räumliche Umgebung transportiert wird. Dadurch wird Heimat mobil: Mit Swiss Radio International konnten sich die Radiohö-rer_innen ab den ersten Sendungen des damaligen Schweizer Kurzwellendienstes in den 1930er Jahren bis zur Überführung des Senders in die Website swissinfo.ch im Jahre 2004 welt-weit „die Schweiz“ ins Wohnzimmer holen. Der Sender er-freute sich grosser Beliebtheit, was die Ergebnisse zahlreicher internationaler Hörer-Umfragen und vor allem die umfangrei-che Hörerpost an den Sender zeigen. Da viele Schweizer_innen im Ausland – Auswanderer_innen aber auch Tourist_innen – SRI hörten, wurde Swiss Radio International oft als „Heimweh-Sender“ bezeichnet. Und tatsächlich war es einer der beiden Hauptaufträge von SRI, die Bindungen der Auslandschwei-zer_innen an das Heimatland zu stärken.

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Fanny Gutsche

In diesem Text möchte ich einen Einblick in die Wahrneh-mungsmodi von Swiss Radio International geben. Ich möchte anhand von drei Beispielen aus dem auslandsschweizerischen Rezeptionskontext von SRI im 20. Jahrhundert die Beziehun-gen von Schweizer_innen im Ausland zur Schweiz untersu-chen. Es geht darum, zu hinterfragen, wie in der Interaktion zwischen Sender und Empfänger eine (klangliche) Vorstellung der Schweiz beziehungsweise von dem, was von den Ak-teur_innen als „typisch schweizerisch“ angesehen wird, aus-gehandelt wurde. Welche Formen der Beziehung zur Schweiz wurden über den Umgang mit dem Radioprogramm ausge-drückt?

Darüber hinaus lässt sich anhand der Geschichte von Swiss Radio International auch das Wechselspiel zwischen den Be-strebungen der Auslandschweizer_innen in Bezug auf die Pfle-ge der Beziehungen zu ihrem Ursprungsland auf der einen Seite und der schweizerischen staatlichen Emigrationspolitik mit Hilfe von Medien auf der anderen Seite veranschaulichen und kulturwissenschaftlich untersuchen. Auch dieser Aspekt soll im Folgenden berücksichtigt werden.

Die „Fünfte Schweiz“ – Auslandschweizer_innen als Thema in den Sozialwissenschaften

Die sogenannte „Fünfte Schweiz“ bezeichnet umgangssprach-lich die Gesamtheit der Schweizer_innen im Ausland. Der Be-griff nimmt Bezug auf die vier sprachregionalen Gemeinden der Schweiz (deutschsprachige, französischsprachige, italie-nischsprachige und romanischsprachige Schweiz). Während heute rund 10% oder 700.000 der Schweizer_innen im Ausland leben, gibt es aus der Zeit bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts nur wenige zuverlässige Zahlen.1 2012 veranstaltete die Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialge-schichte (SGWSG) eine Tagung zum Thema Die Schweiz an-derswo. AuslandschweizerInnen – SchweizerInnen im Ausland, die in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) und dem Projekt Diplomatische Doku-

1 Vgl. swissinfo: Schweizer Geschichte – auch anderswo entstanden. URL: www.swissinfo.ch/ger/Politik/Schweizer_Geschichte_auch_anderswo_entstanden.html?cid=33298178 (Stand: 28. Januar 2014). 120

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„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“

mente der Schweiz (DDS) in Bern stattfand. Der Historiker Paul-André Rosental (Paris) plädierte dort für eine Fokussie-rung auf den Aspekt der Emigration, das heisst auf die Per-spektive des Heimatlandes mit dessen sozioökonomischen Kontexten der Auswanderung. Dies ermögliche es, die Aus-wanderungspolitik eines Staates als Steuerungsinstrument der Bevölkerungspolitik mit bestimmten Intentionen zu begreifen und vor diesem Hintergrund gewisse Schutz- und Bindungs-massnahmen eines Staates für seine ausgewanderten Bür-ger_innen zu identifizieren.2 Es ist erwiesen, dass der Schwei-zer Bund und teils auch die Kantone seit den frühen Emigra-tionsphasen im 18. Jahrhundert eine aktive Rolle bei der Orga-nisation und Unterstützung der Auswanderer_innen und Aus-wanderungswilligen gespielt haben.3

Die Schweizer_innen im Ausland waren aber auch untereinan-der gut vernetzt und standen oft in Kontakt mit der Schweiz, unter anderem vermittelt durch die bis heute bestehende Auslandschweizer-Organisation ASO, die 1916 durch konserva-tive Expats gegründet wurde.4 Es gibt einige Studien auf dem Gebiet der Schweizer Auswanderungsgeschichte, die sich mit der Frage nach der Interaktion der Auswanderer_innen mit Ihrem Ursprungsland, der Schweiz, beschäftigen.5 Eine der wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Feld, ist eine Studie von Kurt Lüscher aus dem Jahr 1961, die sich mit den Bezie-hungen von jungen Auslandschweizer_innen zur Schweiz und zu ihrem Residenzland beschäftigt.6 Lüscher befragte eine Gruppe von Auslandschweizer_innen im Alter zwischen 14 und 23 Jahren7 mit dem Ziel, ihr Wissen über die Schweiz sowie

2 Vgl. Keller, Eva, Franziska Ruchti: Die Schweiz anderswo. Auslandschwei-zerInnen – SchweizerInnen im Ausland (Tagungsbericht). URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4374 (Stand: 3. Februar 2014). 3 Schönenberger, Silvia, Denise Efionayi-Mäder: Die Fünfte Schweiz – Auswanderung und Auslandschweizergemeinschaft. Neuchâtel 2010 (Swiss Forum für Migration und Population-Studien, Band 56). S. 8. 4 Vgl. swissinfo: Schweizer Geschichte. 5 Vgl. Keller, Ruchti: Die Schweiz anderswo. 6 Vgl. Lüscher, Kurt: Junge Auslandschweizer zwischen Ursprungs- und Wohnland. Eine empirisch-soziologische Untersuchung über die Beziehungen einer Gruppe junger Auslandschweizer zur Schweiz und zum Wohnland. Bern 1961 (Berner Beiträge zur Soziologie, Band 6). 7 Die untersuchten Auslandschweizer wohnten, in der Reihenfolge der Menge an Befragten, in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, der

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Fanny Gutsche

ihre Beziehungen und Einstellungen zur Schweiz zu untersu-chen. Er stellte fest,

„dass alle Befragten eine weitgehend homogene Vorstellung von der Schweiz besitzen. Sie baut sich in den Assoziationen auf den Begriffen Landschaft und Heimat, Harmonie und Frieden auf. […] Unter Heimat wird dabei […] so etwas wie eine letzte Zu-fluchtsstätte verstanden. Nicht der Ort, an dem man eigentlich leben möchte, dazu scheint das Le-ben dort viel zu einfach, zu arm an Spannungen, aber es ist da, wo man – in Notzeiten etwa – letzte Unterkunft findet.“8

Lüscher erklärt sich diese Einstellung zur Schweiz mit der aus-geprägten Diskrepanz zwischen der Situation im Wohn- und im Ursprungsland.

„Was man in der (wohnländischen) Heimat haben möchte, findet man – in der Distanz vergoldet – in der Schweiz. Ein solches Wunschdenken mag An-sporn zur Pflege einiger Beziehungen zur Schweiz bieten (nicht unbedingt vieler, denn dadurch könnte das Idealbild zerstört werden).“9

Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang das Medium Radio, genauer gesagt der Schweizer Kurzwellendienst als Aus-landsradiosender der Schweiz, für die Beziehungen zwischen den Auslandschweizer_innen und der Schweiz?

Die Gründung des Schweizer Kurzwellendienstes im Kontext der Geistigen Landesverteidigung

Die Gründung von SRI, damals noch unter dem Namen Schweizer Kurzwellendienst, geht auf eine Initiative des Bun-desrates zurück. In einer Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung aus dem Jahre 1938 heisst es:

DDR, Italien, Polen, Belgien, den Niederlanden, Österreich, Ägypten und Madagaskar. 8 Lüscher: Junge Auslandschweizer, S. 108. 9 Ebd. 122

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„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“

„Auch auf dem Gebiete der Kurzwellensendungen nach Übersee hat der Schweizerische Rundspruch bereits wertvolle Vorarbeit geleistet. Er erkannte schon vor Jahren die dringende Notwendigkeit, mittelst Kurzwellen die kontinentale Isolierung der Schweiz zu durchbrechen und das geistige Band mit den Schweizern in andern Erdteilen enger zu knüpfen. Schon 1935 wurden monatliche Ver-suchsendungen nach Nord- und Südamerika auf-genommen. 1936 wurden sie zu wöchentlichen Sendungen ausgebaut, und seit Januar 1938 wer-den sie durch monatliche Versuchsendungen auch nach Afrika, Australien und Asien ergänzt. […] Die Programme dieser Sendungen sind inhaltlich auf die Wünsche der Überseeschweizer abgestimmt. Die Wortsendungen bedienen sich der drei grossen Landessprachen. Regelmässig schildern in jeder Sprache kurze Chroniken die Ereignisse in der Hei-mat seit der letzten Sendung. Ebenso wird regel-mässig über künstlerische, wirtschaftliche und sportliche Begebenheiten berichtet. – Eine der wichtigsten Aufgaben jedes Kurzwellendienstes ist die Pflege der sich daraus ergebenden Korrespon-denz. Briefe, die Probleme von allgemeiner Bedeu-tung aufwerfen, werden jeweilen auch mündlich am Emissionsschluss kurz behandelt, was zur En-gerknüpfung der Bande mit der fünften Schweiz ganz besonders beizutragen scheint.“10

Die Botschaft des Bundesrates muss vor dem Hintergrund der politisch-kulturellen Bewegung der „Geistigen Landesverteidi-gung“ betrachtet werden, die von den 1930er bis in die 1960er Jahre um die Stärkung von bestimmten als schweizerisch de-klarierten Werten bemüht war und die Abwehr der faschisti-schen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalita-rismen zum Ziel hatte, auch in nichtmilitärischen Bereichen wie Wirtschaft und Kultur. Ab 1933 riefen Parlamentarier, In-tellektuelle und Medienschaffende zur Stärkung der kulturel-

10 Schweizerischer Bundesrat: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung. Bern 1938, S. 32.

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len Grundwerte der Schweiz auf, was über den Weg eines Schulterschlusses aller Parteien und die Überwindung der Klassengegensätze geschehen sollte. In der oben zitierten bundesrätlichen Botschaft vom 9. Dezember 1938 erhielt die Geistige Landesverteidigung aus der Feder von Bundesrat Phi-lipp Etter eine offizielle Formulierung der Grundwerte der Schweiz, die unter anderem die Zugehörigkeit zu drei europäi-schen Sprachräumen, die kulturelle Vielfalt, den bündneri-schen Charakter der Demokratie und die Achtung der Würde und Freiheit des Menschen umfasste. Die Verteidigung dieser geistigen Werte wurde nicht primär als Aufgabe des Staates sondern des Bürgers angesehen.11

Abb. 1: Der Kontakt mit Hörern aus aller Welt war rege, wie ein Blick in das Archiv von swissinfo.ch beweist. Das Foto wurde von Augusto Gähwiler (Lezama, Argentinien) einge-sandt. Schriftlicher Vermerk auf der Rückseite des Bildes: „Un-sere Schweizerkühe, Jan. 1933”12

11 Vgl. Jorio, Marco: Geistige Landesverteidigung. In: Historisches Lexikon der Schweiz. URL: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17426.php (Stand: 29. Januar 2014). 12 swissinfo.ch: Grüsse in die Heimat. URL: www.swissinfo.ch/ger/Specials/Gruesse_in_die_Heimat.html?cid=9099898 (Stand: 27. Januar 2014). 124

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„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“

Die Beziehung zwischen Schweizer_innen im Ausland und der Schweiz über das Medium Radio – Drei historische Beispiele

Radionutzung bei Auslandschweizern in Australien

Die Grundideen der Geistigen Landesverteidigung waren langlebig und sind selbst in einer Sendung von Swiss Radio International aus dem Jahr 1972 mit dem Titel „Von Ferne sei herzlich gegrüsset“ noch zu hören.13 Sie wurde am Silvester-abend ausgestrahlt und ist ein etwa 50-minütiger Zusammen-schnitt von Neujahrsgrüssen von Auslandschweizer_innen auf der ganzen Welt an ihre Heimat.14

Unter anderem kam in der Sendung der Kurzwellenhörer Tony Erb aus Melbourne zu Wort und berichtete über Australien und die dortige Schweizer Kolonie. Er erzählt, dass er elf Jahre zuvor von Basel nach Australien gekommen und damit einer von 10.000 Schweizer_innen sei, die auf dem Kontinent leb-ten. Es sei, so Erb in der Sendung „eine alt bekannte Tatsache, dass die Schweizer im Ausland schweizerischer werden als in der Heimat.“15 Stolz erzählt er, dass es in jeder australischen Hauptstadt einen Schweizerclub gäbe, „wo sich die Schweizer zwanglos treffen können, sei es zum Jassen oder um in der Muttersprache zu plaudern.“16 In Melbourne gebe es ausser-dem den Fussballclub Helvetik und eine Volkstanzgruppe. Erb berichtet weiter, dass er seit nunmehr fünf Jahren Präsident des Jodelclubs Edelweiss sei, der im März 1973 sein 20-jähri-ges Jubiläum feiern wird. Weiterhin gebe es noch den Jo-delclub Matterhorn in Melbourne und einen weiteren in Syd-ney, sowie einen Schwingclub. Jedes Jahr fände ein Schwing- und Älplerfest statt, mit Schwingen, Alphornblasen, Jodeln,

13 Vgl. „Von Ferne sei herzlich gegrüsset“, Radiosendung von Swiss Radio International vom 31. Dezember 1972. Radiobestand Swissinfo. Informationen sowie einen Link zum Anhören der Sendung an einem der öffentlichen Hörplätze findet man online auf der MEMOBASE+ (ein Dienst von Memoriav – dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz) unter URL: www.memobase.ch/#document/Swissinfo-SRI_MG_DEU_048_Track01 (Stand: 27. Januar 2014). Eine Liste der Hörplätze steht ebenfalls unter dem genannten Link zur Verfügung. 14 Diese und viele weitere Sendungen von Schweizer Radio International kann man heute ebenfalls an einer der öffentlichen Hörplätze der MEMOBASE+ (URL: www.memobase.ch, Stand: 11. Oktober 2014) anhören. 15 „Von Ferne sei herzlich […]“, 31. Dezember 1972. 16 Ebd.

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Fahnenschwingen und Steinstossen. „Sie sehen also“, verkün-det Erb „dass auch hier, etwa 30.000 km von der Heimat ent-fernt, der Schweizer, wenn er möchte, die heimatlichen Sitten und Gebräuche nacherleben kann.“17 Anschliessend kündigt er eine kurze Kostprobe des Jodelklubs Edelweiss in Melbourne an, die sogleich erklingt. Es handelt sich um ein typisches, tra-ditionell dargebotenes Jodellied für mehrstimmigen Männer-chor, bestehend aus einem auf Schweizerdeutsch gesungenem Liedtext auf den ein gejodelter Refrain folgt.

Die „Schweizer Kolonien“ ausserhalb Europas wurden zwi-schen dem 18. und dem 20. Jahrhundert gegründet, als be-sonders viele Schweizer_innen aus wirtschaftlichen Gründen nach Nord- und Südamerika oder nach Australien auswander-ten. Die australische Historikerin Bettina Boss fand im Rahmen ihrer Studie zur Geschichte der Auslandschweizer Community im australischen Bundesstaat New South Wales heraus, dass diese eine ähnliche Bildsprache wie patriotische Vereinigungen im Herkunftsland hätten, was sich zum Beispiel in der Grün-dung zahlreicher Folkloregruppen, der Pflege von schweizeri-schen Bräuchen und dem Gebrauch des Schweizerdeutschen wiederspiegelt. Die Anzahl an Vereinen und deren Untergrup-pen mit speziellen Interessen sei gross und reflektiere, „the legendary parochialism or ‚Kantönligeist‘ […] of the Swiss“18, so Boss, die selbst Nachfahrin von Schweizer Auswanderern und Präsidentin der Swiss Historical Society in Sydney ist.

1975 startete die Australische Regierung ein Pilotprojekt, das es erstmals erlaubte, öffentliche Rundfunkprogramme in an-deren Sprachen als Englisch zu senden, hauptsächlich um die unterschiedlichen „Migrant Communities“ zu erreichen und unter anderem über Neuerungen im Gesundheitssystem zu informieren. Sofort schaffte es die Schweizer Gemeinde, ein eigenes Programm zu erstellen und regelmässig zu senden.19

17 Ebd. 18 Boss, Bettina: The Swiss in New South Wales. A History. Sydney 2012, S. 100. 19 Anfangs unterschied die australische Regierung nicht zwischen politischen Grenzen innerhalb von Sprachräumen und erlaubte es nicht, eigenständige Programme auf Schweizerdeutsch oder im österreichischen Dialekt zu senden. Durch die guten Beziehungen zwischen den einzelnen deutschsprachigen Migrant Communities in Australien, die im Dachverband „Die Brücke“ organisiert waren, einigte man sich jedoch intern und teilte die für deutsche Programme vorgesehene Sendezeit untereinander auf. 126

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Die Sendungen, die unter dem Titel Echo Helvetia liefen, wur-den anfänglich hauptsächlich aus Berichten aus Schweizer Zei-tungen (die per Schiff nach Australien kamen und meist meh-rere Wochen alt waren) und Schallplatten aus der Schweiz zusammengestellt. Bald unterstütze Swiss Radio International aus Bern die Redakteure und versorgte sie mit Tonaufnahmen, die in den Sendungen verwendet werden konnten. Im Special Broadcasting Service (SBS), Australiens multilingualer Radioor-ganisation für Einwander_innen und deren Nachfahr_innen, wurde die letzte Sendung von Echo Helvetia im Februar 2012 gesendet.20

Die „Stimme der Schweiz“ im Spiegel der Schweizer Presse

Am 1. August 1969, dem Schweizer Nationalfeiertag, erschien in der Thurgauer Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Die Stimme der Schweiz hat zu wenig Klang“, in dem es um die grossen Aufgaben des Kurzwellendienstes bei gleichzeitiger Knappheit der finanziellen Mittel ging:

„Kürzlich ist in diesem Blatt von den Erfahrungen berichtet worden, die der Präsident der Auslands-schweizer-Kommission [...], der Westschweizer Louis Guisan [...] auf seiner mehrmonatigen Be-suchsreise zu den Südamerika-Schweizern gemacht hat. Eine der wichtigsten Erkenntnisse [...] war der Wunsch nach besserer Information. Ein Punkt [...] war die Unzulänglichkeit der Radioverbindungen, die nach Guisans Worten nicht nur aus technischen Gründen nicht überall ‚ankommen‘.“21

Im Folgenden werden unter der Zwischenüberschrift „Bindun-gen von rührend ‚familiärem‘ Charakter“22 einige „Erfahrungen aus dem weltweiten Hörerkreis“23 der Sendungen des Kurzwellendienstes zitiert, die – entgegen der Aussage Guisans – zustimmenden Charakter haben.

Analog verhandelten die französischsprachigen Schweizer mit den Machern des französischen Programms und einigten sich ebenfalls auf eigene Sendezeiten. 20 Vgl. Boss: The Swiss in New South Wales, S. 65f. 21 Fisch, Arnold: Die Stimme der Schweiz hat zu wenig Klang. Thurgauer Zeitung, 1. August 1969. 22 Ebd. 23 Ebd.

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„Manche Briefe haben geradezu familiären Charak-ter und tun dar, dass viele Auslandschweizer sich an die Leute im Studio auch mit ihren persönlichen Sorgen so offen wenden, als wenn es alte Be-kannte wären […]. Es mögen hier einige wenige Aeußerungen für Tausende gleichartiger als spre-chende Beispiele stehen: ‚Ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie mir das Programmheft und die Antennen-Bauanleitung zukommen lassen könn-ten, da ich auch zu jenen gehöre, die fast jede Nacht mit ungebrochenem Willen und Optimismus am Suchknopf drehen, in der Hoffnung, endlich einmal vertraute Musik oder Sprache zu erwi-schen.‘

‚Es ist hier, abgesehen von der Arbeit, schaurig langweilig. Das Dorf Puerto Cabezas besteht aus 50 Holzhäusern an der karibischen Küste, am Rande des Dschungels und des Moors. Ohne die schwei-zerische Kurzwelle wäre es hier überhaupt nicht zum Aushalten.‘

Es sind das zwei Notrufe, die wohl deutlicher als lange Abhandlungen dartun, was der Kontakt mit der Heimat diesen Menschen bedeutet. [...] Es kommen dieser Forderung die verbreiteten folklo-ristischen Vorstellungen immer wieder in die Quere, die bei Auslandschweizern und ausländi-schen Hörern in gleicher Weise verbreitet sind. [...] Das Folkloristische muss deshalb seinen Platz im Programm behalten; aber es darf nur ein Teilbild bleiben.

Der Kurzwellendienst ist sich dieser Verantwortung beim Aufbau seines Programms bewusst, das, wie das Echo dartut, etwa zu neun Zehnteln von Aus-ländern mitgehört wird.“24

In der Tat wird in vielen Hörerbriefen jener Zeit an den KWD deutlich, dass Schweizer Volksmusik – nicht nur beim Schwei-zer Publikum – überaus beliebt war und auch vehement ein-gefordert wurde. Diese Musik und der Einsatz des Schweizer-

24 Ebd. 128

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„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“

deutschen wurden von vielen Hörer_innen als „typisch schweizerisch“ empfunden und auch als positives Alleinstel-lungsmerkmal des KWD gegenüber anderen internationalen Sendern angesehen.

SRI hören unterwegs – Erinnerungen eines ehemaligen Ferien-Hörers

Bei einem jugendlichen Hörer schien das Programm von SRI ebenfalls sehr gut angekommen zu sein. So gut, dass er den Sender sogar in den Ferien hörte. Der im Titel dieses Aufsatzes zitierte ehemaligen SRI-Hörer aus Andermatt/Uri, der heute im Kanton St. Gallen lebt, erinnert sich daran, Schweizer Radio International zu Hause und auch auf Auslandsreisen durch Südeuropa und Nordafrika gehört zu haben. Danach gefragt, in welchem Zeitraum er SRI gehört habe und welche Erinnerun-gen er daran knüpfe, schreibt er:

„Von 1960 (Schüler) bis zum (bitteren) Ende von SRI. Es war ein Stück ‚Heimat‘ in der ‚Fremde/Ferne‘, die ‚vertraute Stimme‘ von zu Hause. […] Telefonrundspruch: Einzige Möglichkeit (um 1969 bis 1975) in Alpentälern ein etwas brei-teres Musikspektrum zu hören bei ungestörtem Empfang.“25

Auf die Frage, ob er sich an das Musikprogramm des Senders erinnern könne und ob ihm bestimmte Stücke, Genres oder Interpreten im Gedächtnis geblieben seien, antwortet er:

„Oft Volksmusik und vor allem auch das legendäre Erkennungszeichen/Pausenzeichen ‚Luegit vo Bärg und Tal‘ ab einer Musikdose. Geblieben ist mir das Volksmusikstück ‚Uf Brutschau id Felsenegg‘, das ich auf Griechenland's Olymp hören konnte, auch zum Staunen anderer Schweizer, die auch gerade oben waren (ca. 1968).“26

Bei diesem Hörer handelt es sich zwar nicht um einen Aus-landschweizer im eigentlichen Sinne, aber immerhin doch um einen Schweizer, der sich zeitweise im Ausland aufhielt und

25 Email-Interview mit Peter Geiser (Name von der Verfasserin geändert) vom 5. März 2013. 26 Ebd.

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dort auch SRI gehört hat. In seinen Erinnerungen fällt ein ge-wisser Stolz darüber auf, die anderen auf dem Olymp anwe-senden Schweizer mit seinem Gerät beeindruckt zu haben. Mehr als der Wunsch nach vertrauten Klängen in der exoti-schen Urlaubsumgebung ist es womöglich die Faszination, die die Kurzwellentechnologie in den 1960er Jahren auf einen technisch interessierten Teenager ausübte, die ihn dazu be-wegte, das Radio mit auf einen griechischen Berg zu nehmen. Hier klingt die soziale Komponente des Kommunikationspro-zesses Radio an, der nicht nur das einschliesst, was im Kopf des Hörenden passiert und sondern ebenso das soziale Ge-schehen vor dem Lautsprecher. Tatsächlich spiegelt sich auch in Hörerbriefen und Empfangsberichten wider, dass während des Kalten Krieges auffallend viele Jugendliche zu den SRI-Hö-rer_innen zählten. „Wellenjagen“ war ein verbreitetes Hobby, das ein Interesse an Technik mit der Neugier auf die grosse weite Welt verband.

Abb. 2: „So entsteht eine Sendung …“. In den mehrsprachig erschienen Programmheften von SRI war der Hörer auch visu-ell präsent27

27 Kurzwellenprogramme für Europa und Afrika, 2 (1970). Archiv der Generaldirektion der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft Bern, A33-005. 130

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„Uf Brutschau id Felsenegg auf Griechenlands Olymp“

Fazit: „Die Schweiz“ im Klang – Hören ist Teilnehmen

Das Medium Radio steht für die Erfindung von Tonaufnahme und Tonübertragung, und hat sowohl die Medienlandschaften als auch die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts tief geprägt. Der Akt des Hörens muss als eine der zentralen Techniken, den akustisch medialen Räumen Sinn zu verleihen, angesehen werden.28 Versteht man Hören als Rezeption und damit allge-mein als Aufnahme einer Botschaft in Kommunikationsprozes-sen, stellt sich die Frage, wie sich dieser Kommunikationspro-zess bei Schweizer Radio International gestaltet. Die oben ge-nannten Beispiele legen den Gebrauch eines „aktiven“ Hörver-ständnisses nahe. Bereits 1977, und damit in der Blütezeit von SRI, machte der Hörforscher und Klangökologe R. Murray Schafer den Hörer selbst für die kognitive und ästhetische Sinnstiftung über das Gehörte verantwortlich: „Wahrnehmen ist Teilnehmen“29 lautete seine Schlussfolgerung. Davon inspi-riert wurde in den Kultur- und Medienwissenschaften die Vor-stellung einer aus der frontalen Wahrnehmungserfahrung kommenden Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Sender und Empfänger aufgehoben, um einem partizipativen Rezipienten-verständnis Platz zu machen. (Radio)Hören geschieht also nicht passiv und voraussetzungslos, sondern ist eine kulturelle Praxis, die gelernt und angeeignet wird und durch das jewei-lige Umfeld, die Erfahrungen, den Geschmack des/der hören-den Akteur_in beeinflusst wird. Man könnte folgende verein-fachte Gleichung aufstellen:

Hören = Deuten = Handeln

Hören ist nicht nur physische Sinneswahrnehmung, sondern eine Kulturtechnik, die erlernt wird und sich verändern kann, je nach Kontext und materiellen Bedingungen. Hören ist ein öffentlicher Akt. Hören ist ein zentraler Bestandteil moderner, privater wie öffentlicher Kommunikation und reicht damit auch in die Sphäre der Politik hinein, wie die britische Radio-forscherin Kate Lacey beschreibt. Ihre Ausgangsbeobachtung

28 Vgl. Lacey, Kate: Listening Publics. The Politics and Experience of Listening in the Media Age. Cambridge 2013, S. 20. 29 Breitsameter, Sabine: Hörgestalt und Denkfigur – Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers Die Ordnung der Klänge. In: R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Über-setzt und neu herausgegeben von Sabine Breitsameter, Mainz 2010, S. 16.

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ist, dass das Hören in einer Kultur, die vom Spektakel und von den Politiken des Sprechens und der Stimme fasziniert ist, all-gemein übersehen und unterschätzt wird.30 Doch es lohne sich, so Lacey, auf die „[…] qualities, practices, experiences and interpretations of listening as a communicative activity in the public sphere”31 zu schauen.

Anhand der überlieferten Beispiele aus dem Rezeptionskon-text von Swiss Radio International kann man diesen Praxen, Erfahrungen und Interpretationen der hörenden Akteur_innen nachspüren. Dabei werden bestimmte vorherrschende Sicht-weisen auf Auslandschweizer_innen und deren Art der Hei-matverbundenheit bestätigt, etwa der Hang zu Folklorismus, die Verklärung der Schweiz als Sehnsuchtsort und die Be-obachtung der Nationalisierung von Schweizer_innen im Aus-land und deren Rückbesinnung auf imaginierte „Schweizer Werte“. Dies reicht bis hin zu an neokolonialostische Denkwei-sen erinnernde Stereotypisierungen der Schweiz als Hort der Zivilisation, der Kultur und der Moderne, die zum Beispiel dem südamerikanischen „Dschungel“ gegenübergestellt werden, wie es in den Hörerbriefzitaten im Artikel der Thurgauer Zei-tung deutlich wird. Beim Lesen dieses Berichts fällt ausserdem auf, welche grosse Rolle hier nationale Klassifizierungen des „Schweizerischen“ spielen: Die Rede ist von einem „West-schweizer“ und von den „Südamerikaschweizern“. Weiterhin geht es mehrfach um die „Auslandschweizer“, die in einem imaginären Land mit dem Namen „Fünfte Schweiz“ leben. Be-merkenswert auch, dass der Verfasser des Artikels rund 90 Prozent der Hörerschaft von SRI, nämlich alle Nicht-Schwei-zer_innen, als „Mithörer“ bezeichnet und sie somit von den „Hörern“, also den Schweizer_innen, abgrenzt.

Soweit die gemeinhin bekannten Ansichten über Schwei-zer_innen im Ausland und deren Bezug zur Schweiz. Doch es wird auch deutlich welche zentrale Rolle die Netzwerke und Beziehungen der Schweizer_innen im Ausland untereinander spielten. Sei es bei der Organisation eines eigenen Radiopro-gramms der Auslandschweizer Community in Australien und deren lebendige Vereinstätigkeit, beim gemeinsamen Radio-hören der Schweizer Tourist_innen auf dem griechischen

30 Vgl. Lacey: Listening Publics. 31 Ebd., S. 5. 132

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Olymp, oder beim Verfassen eines Leserbriefs an den Sender aus der Heimat. Immer steht der Wunsch nach Verbindung, nach Zusammenschluss, nach Überbrückung von Distanz als zentrales Bedürfnis der Radiohör_innen im Zentrum. Das Me-dium Radio und besonders die Kurzwellentechnik, die durch die Übertragung von akustischen Signalen ein weltweites Netz spannt, ist dafür Sinnbild. Die Beschäftigung mit der Schweiz wird zum Thema, wenn Schweizer_innen im Ausland sind. Das Radio war dabei ein Medium, das diesen Auseinanderset-zungsprozess begleitete und gewisse Ausdrucksmöglichkeiten bot.

Nationale Images und Gefühle werden dabei über Klang trans-portiert und erzeugt. Dies geschieht als prozesshaftes Wech-selspiel zwischen Staat, Medien und Hörer_innen. Das Verhaf-ten einzelner Akteur_innen an traditionellen, folkloristischen Schweizbildern und deren Ko-Konstruktion durch Medien und politische Institutionen und Akteur_innen kann dabei festge-stellt werden.

SRI war als Institution mit dem Auftrag der Bindung der Schweizer_innen im Ausland an das Heimatland über das Ra-dio auch ein Instrument der Schweizer Aussenkulturpolitik im 20. Jahrhundert, durch den ein neuer Kommunikationsraum für Auslandschweizer_innen entstand. Das Radio war während des Kalten Krieges das grosse Massenmedium. Es sorgte nicht nur für Information und Unterhaltung sondern diente auch als Vehikel zur symbolischen Überbrückung von räumlichen Dis-tanzen (Bsp.: Schweizer Tourist_innen im Ausland), als Me-dium für Emotionen („Heimweh-Sender“) und als Hobby für technisch Interessierte („Wellenjäger“). Radiohören ist somit ein Deutungs- und Sinngebungsprozess, der von bestimmten vorhandenen Denkmustern geprägt wird und wiederum die Denkmuster und Verhaltensweisen der Hörer_innen beein-flusst, wie etwa deren Vorstellungen von „Nation“, vom „Eige-nen“ und „Fremden“. In den Interaktionen zwischen „Sender“ und „Empfänger“ bei SRI zeigt sich, dass der Sender einerseits eine Plattform für die verschiedenen Interessen und Bedürf-nisse der Hörer_innen bietet und gleichzeitig eine Projektions-fläche für deren Imaginationen „der Schweiz“ ist. „Die Schweiz“ wird also im Medium Radio erst klanglich erzeugt und die Hörer_innen wirken an dieser Konstruktion mit. Wei-

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terhin zeigt sich, welche Elemente des Programms als „schwei-zerisch“ interpretiert werden: Der Heimat-Bezug etwa der Auslandschweizer_innen wird immer wieder neu hergestellt, dabei entstehen eigene Schweiz-Konstrukte, die sich zum Teil in traditionell-romantisierenden Klangvorstellungen äussern (Schweizer Volksmusik, Schweizerdeutsch). Schlussfolgernd liegt die Vermutung nahe, dass in den oben untersuchten Bei-spielen der Rezeption von SRI durch Auslandschweizer_innen nationale Stereotype eher verfestigt als hinterfragt oder auf-gebrochen wurden. Es bedarf jedoch weiterer Forschungen zur Rezeption von SRI, um eventuelle andere Aspekte aufzude-cken.

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ZUR KONSTRUKTION DES „SCHWEIZER KLANGS“

Kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven. Ein Resümee

Konrad J. Kuhn

Als wie vielversprechend aber auch als wie herausfordernd sich die Beschäftigung mit der akustischen Dimension „der Schweiz“ erweist, zeigt sich in den Beiträgen des vorliegenden Bandes. Ein Überblick offenbart nämlich zahlreiche innovative Fragen, methodische Problemlagen und pionierhafte Resul-tate, die sich interdisziplinär im kulturwissenschaftlichen Feld zwischen Kulturanthropologie, Musikwissenschaft und Ge-schichte verorten. In einer Rückschau und im Dialog mit den Einzelbeiträgen präsentieren sich die nachfolgenden, in vier Bereichen gebündelten Forschungsperspektiven für zukünftige Forschungen zur akustischen Dimension „der Schweiz“. Diese Perspektiven sprechen zum einen Grundlegendes an, weisen damit aber auf fruchtbare weiterführende Fragen hin:

Alle Beiträge in diesem Band gehen erstens von der gemein-samen Prämisse aus, dass ein „Schweizer“ Klang, dass also das spezifisch „Schweizerische“ an Musik beispielsweise, primär eine kulturelle Behauptung ist. Eine Behauptung, die im Rah-men eines Konstruktionsprozesses etabliert, stabilisiert und diffundiert werden muss. Es ist also erst die Deutung und Wahrnehmung, die einen Klang oder eine Musik überhaupt „schweizerisch“ machen. Ein „Schweizer“ Klang ist neben allen physikalischen Hörvorgängen damit vor allem ein kulturelles Argument, an dem verschiedene Medien, Techniken, Ak-teur_innen und Bezugssysteme beteiligt sind. Wie stark diese wiederum historischem Wandel unterworfen sind, ist am evi-dentesten bei den technischen Mitteln und Medien spürbar, gilt aber selbstredend auch für die unterschiedlichsten Ak-teur_innen dieser „Herstellung“ (teilweise im Wortsinn) und für deren vielfältigen Bezugsysteme. So ist in kommenden For-schungen auch die nur vermeintlich einfache Frage nach den Akteur_innen und den Rezipient_innen von „Schweizer Klän-gen“ zu vertiefen. Dabei sollte beispielsweise danach gefragt werden, mit welchen Interessen sich hier wer einbringt in diese Konstruktion des „Schweizer Klangs“. In den vorliegen-

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Konrad J. Kuhn

den Arbeiten werden touristische (so kurz in Dieter Ringlis Beitrag), vor allem aber politische Akteure (so in Thomas Jär-manns und Fanny Gutsches Beiträgen) sicht- und fassbar, die bei den Rezipienten verschiedenartige „Hörerwartungen“ herstellen, bedienen und formen. Konstatieren lässt sich eine Öffnung des ehemals bildungsbürgerlichen Kreises, der als Deutungsinstanz anderen Akteur_innen Platz macht. Darunter Einzelakteur_innen, aber auch mit in vielerlei Hinsicht erhebli-cher Macht ausgestattete Institutionen, beispielsweise das Schweizer Radio oder der Eidgenössische Jodlerverband. Wie voraussetzungsreich gerade bezüglich Akteur_innen die Ana-lyse von aktuellen transnationalen Musikproduktionen ist, darauf weist uns Thomas Burkhalter in seinem Beitrag hin, indem er zeigt, wie hier ein Dialog zwischen musikalischen und nichtmusikalischen Feldern stattfindet.

Eng mit diesen Fragen verbunden ist zweitens die Thematik der Konjunkturen des „Schweizerischen“ in der Musik. In ver-schiedenen Beiträgen finden sich Hinweise darauf, dass gesell-schaftliche und politische Krisenmomente – oder genauer: als Krisen wahrgenommene Momente – ein erhöhtes Bedürfnis nach stabilisierenden Identitäten schufen und dass in diesen Momenten entsprechend auch die akustische Repräsentation „der Schweiz“ verstärkt verhandelt wurde. Karoline Oehme-Jüngling geht in ihrem Beitrag von einer gegenwärtigen Kon-junktur des Interesses am kulturellen „Eigenen“ aus, das sich vor dem Hintergrund hochwirksamer Stereotypisierungspro-zesse abspielt. Davon ausgehend und zugleich zurückschauend gelangen jene gesellschaftlichen Konjunkturen wie die Natio-nalstaatenbildung in den historischen Blick, welche die junge Nation „Schweiz“ erst mittels aufwändiger Konstruktionspro-zesse sinnlich erfahr-, erleb- und hörbar machten. So sind es auch historische Phasen wie die Jahrhundertwende mit der beschleunigten Modernisierung, die Epoche der „Geistigen Landesverteidigung“ in einer überdeutlichen Bedrohungslage, die innenpolitisch verunsichernde Situation des Kalten Krieges oder dann die 1990er-Jahre als Phase der weltpolitischen Um-brüche und der Herausforderungen der Globalisierung, die zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem „Schweizer Klang“ zu führen scheinen. Scheinen darum, weil in allen Beiträgen auch stets sehr viel Kontingenz sichtbar wird. Es wären also eher

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Zur Konstruktion des „Schweizer Klangs“

Aufmerksamkeitskonjunkturen, während die kreativen Prakti-ken davon weitgehend unbeeindruckt perpetuiert werden. Nichtsdestotrotz werden hier eigentliche Fokussierungen auf das „Eigene“ im Rahmen der Nation „Schweiz“ sichtbar, die in einem weiter zu befragenden Zusammenhang stehen mit dem Umstand eines „transnationalen Pluralismus“, der in allen historischen Phasen vorhanden war und gerade angesichts der prinzipiellen Fluidität und Ubiquität von Klängen und Akustik eine orts- und gruppengebundene Zuordnung im Rahmen na-tionaler Stereotypen nicht zwingend macht. Umso wirkungs-mächtiger scheint dieser dauernde Konstruktionsprozess in der Vergangenheit am Werk gewesen zu sein. Er ist es aber auch bei der gegenwärtigen postmodernen Verhandlung von hybriden Identitätsangeboten, die Karoline Oehme-Jüngling als (Mit)Grund für das gegenwärtig zu beobachtende Interesse von – auch akustischer – „Swissness“ ausmacht.

Ein dritter Bereich, der Klärung bedarf, ist die Frage nach dem Verhältnis des Klangs zu anderen Medien und nach dem Stel-lenwert der Akustik zu davon verschiedenen Formaten. Gibt es zwischen Text, Bild und Ton eine Hierarchie? Erreicht der Klang andere Ebenen, die von textbasierten oder visuellen Formaten nicht angesprochen werden? Dies berührt auch methodische und epistemologische Fragen – etwa wenn im Beitrag von Pat-ricia Jäggi Klänge mit Bildern in Bezug gesetzt werden – die es weiterzudenken lohnt. Wie zentral die Verfügbarkeit verschie-dener Techniken der Klangproduktion, aber auch der Speiche-rung von akustischen Signalen, analytisch verbunden werden muss mit der Wahrnehmung und der Verbreitung des Klangs, ist in den Beiträgen angelegt, bedarf aber der weiteren Klä-rung. Dies umso mehr, als gegenwärtig Forschende auch von der Verfügbarkeit verschiedener Medienformate als Quellen ganz direkt abhängen. So müssen teilweise akustische Klänge über schriftliche Quellen rekonstruiert oder die Nutzungsmodi von Musik erst über Sendeprotokolle oder Korrespondenzen greifbar gemacht werden. Aber auch der umgekehrte Weg ist präsent und nicht ohne Tücken, wenn – wie im vorliegenden Buch – aus akustischen Quellen und aus Bildmaterial wieder Texte entstehen.

Viertens scheint es ertragreich zu sein, die verschiedenen Pra-xen des Umgangs mit Klang und Ton genauer zu befragen. So

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Konrad J. Kuhn

begegnen wir verschiedenen Sammlungspraktiken – bei-spielsweise den Stücken aus der Sammlung Dür –, verglei-chenden In-Bezug-Setzungen, oder aber den von Thomas Burkhalter thematisierten neuen Sampling-Strategien. Dass auch Praktiken des Sammelns produktive Praktiken sind, daran erinnert Patricia Jäggi mit dem Breitenphänomen der „Tonjä-ger“, die im wahrsten Wortsinn produktiv werden und Klänge sammeln. Es zeigt sich aber auch in den Tonträgern, die im Nachgang zur Expo 64 als Medien akustischer Erinnerung her-gestellt und – darüber wissen wir noch viel zu wenig – offen-bar auch genutzt wurden. Diese vielfältigen Praktiken des Um-gangs mit Klängen sind ein Bereich, der in einer kulturanthro-pologischen Perspektive besonders interessiert, kommen hier doch – profan formuliert – die Menschen ins Spiel. Hören ist so immer eine soziale und kulturelle Praxis, in der komplexe Sinn-gebungsprozesse ablaufen, was idealtypisch sichtbar wird in der von Fanny Gutsche untersuchten Hörerkorrespondenz des Schweizer Radios International. Das bei diesen variablen Hör-praktiken abgerufene Referenzsystem „Swissness“ verdient ebenfalls weitere Aufmerksamkeit; dass ein solches offenbar existiert, kann Thomas Järmann gleichsam im Umkehrschluss zeigen, indem er die Sammlung Dür als jene materialisierten Hörerwartungen auffasst, die im Beitrag von Fanny Gutsche als von komplexen Aushandlungsprozessen durchzogen verstan-den werden. Wie aber setzt sich dieses System zusammen? Es sind weder allein die Begrifflichkeiten im Titel der Musikstü-cke, noch musikanalytische Bausteine der Lieder, aber auch nicht spezifische Musikgattungen, die „schweizerisch“ sind, sondern vielmehr eine von vielen geteilte Imagination. Dass dabei auch Emotionen, beispielsweise ein „Heimatgefühl“, hergestellt und stabilisiert werden, stellt uns nicht nur vor me-thodische Herausforderungen, diese kulturwissenschaftlich zu bearbeiten, sondern verweist auch auf die generelle Mehrdi-mensionalität von Klängen. Wer bestimmt über die Bestand-teile dieses Referenzsystems? Und in welchen Verhältnissen stehen diese Inhalte zu den Erwartungen und damit zu den Deutungsproduktionen der Hörerinnen und Hörer? Offenbar bestehen zudem zu verschiedenen Zeiten differente Referenz-systeme, die beispielsweise regionale aber auch transnationale Codes integrieren, mischen und verbinden. Als wie komplex sich diese Fragen erweisen können, zeigt der Beitrag von Die- 138

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Zur Konstruktion des „Schweizer Klangs“

ter Ringli zum Mundart-Rock als einem Genre, das zwischen lokaler Verwurzelung und internationaler Ausrichtung in ei-nem ambivalenten Verhältnis zur „Schweiz“ steht: Hier wirkt „Schweizer Musik“ zwar gegen innen identitätsbildend, wird von einer Aussensicht aber kaum so wahrgenommen – und damit auch gerade darum nicht zur „Aussendarstellung“ ver-wendet, weil hier die „traditionellen Bezüge“ hörbar sein müssten, also offenbar zwingende Elemente des „Schweizeri-schen“ (was immer das dann auch sei) gleichsam fehlen. Histo-risch spielte dabei für das „typisch Schweizerische“ die Katego-rie der „Natürlichkeit“ eine zentrale Rolle, wie dies Karoline Oehme-Jüngling an den Beispielen des Naturjodels, des Kuhreihens, aber vor allem an der „erfundenen Tradition“ des Alphorns zeigen kann. Wie diese alte Abgrenzung zwischen „künstlich“ und „natürlich“ stets aufs Neue ausgehandelt wer-den muss, ihre Bedeutung dabei aber auch ändert, verdient weitere Aufmerksamkeit. Deutlich wird bei einem genauen Hinschauen dann beispielswiese, dass dieses Verhältnis nicht als simpler Gegensatz beschrieben werden muss, was uns Miriam Roner an den Texten des Musik-Multiplikators Hans Georg Nägeli in Erinnerung ruft. Musik wird in einer solchen Sicht vielmehr zu einem pädagogischen Projekt aufgeladen, mit dem ideale Gesellschaftsmodelle für die zukünftige Schweiz verhandelt werden. Mit diesen changierenden Positi-onierungen korreliert auch das Wechselspiel zwischen Klang und „Umgebung“, die einerseits eine naturhafte meinen kann – wie beispielsweise die Alpen – aber eben auch politische oder gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Klänge mit Be-deutung aufgeladen, verhandelt und verbreitet werden. Die Frage nach der Funktionsweise dieser wechselseitigen Her-stellung von „Schweizer“ Klang fordert ein hohes Mass an me-thodologischer Reflexion, verdient dabei aber weitere pionier-hafte kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit.

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KURZBIOGRAFIEN DER AUTOR_INNEN

Thomas Burkhalter

geboren 1973, Dr. phil., lebt in Bern. Er promovierte 2009 am Institut für Sozialanthropologie an der Universität Bern und am Musikwissenschaftlichen Institut der Carl von Ossietzky Uni-versität in Oldenburg. Titel der Dissertation: Challenging the Concept of Cultural Difference – „locality” and „place” in the Music of Contemporary Beirut. Thomas Burkhalter ist Gründer und Leiter des Netzwerkes Norient.com (Network for Local and Global Sounds and Media Culture). Er arbeitet derzeit am Pro-jekt Communicating Music Research am Seminar für Kulturwis-senschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel, finanziert durch SNF-AGORA.

Fanny Gutsche

geboren 1985, M.A., wohnt in Basel. Sie studierte Empirische Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft und Skandinavistik in Tübingen und Stockholm. Titel der Magisterarbeit (2012): Briefe als Medien sozialer Kommunikation im Krieg. Eine histo-risch-ethnografische Studie zu Feldpostbriefen von Trossinger Soldaten an den Industriellen Will Hohner während des Ersten Weltkriegs. Sie ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäi-sche Ethnologie der Universität Basel und forscht im SNF-Sinergia-Projekt Broadcasting Swissness – Musical practices, institutional contexts, and the reception of traditional popular music: the acoustic construction of Swissness on the radio. Sie verfasst ihre Dissertation zur transnationalen Rezeption von Swiss Radio International.

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Patricia Jäggi

geboren 1980, Master of Arts, lebt in Zürich und Davos. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte im Bachelor an der Universität Bern sowie Kulturanalyse und Komparatistik im Master an der Universität Zürich. Titel der Masterarbeit: „...aber jetzt zögere ich ununterbrochen...“ – Maurice Blan-chots poetologisches Zaudern in der Erzählung „Celui qui ne m’accompagnait pas“. Derzeit ist sie Wissenschaftliche Mitar-beiterin an der Hochschule Luzern und Doktorandin an der Universität Basel im Forschungsprojekt Broadcasting Swiss-ness. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit der Gestaltung von Radioprogrammen zur transnationalen Vermittlung von Schweizer Kultur auseinander. Ihre Forschungsinteressen lie-gen im Bereich Klangforschung, Ästhetiken des Alltags und Kulturtheorien.

Thomas Järmann

geboren 1973, Master of Arts, lebt in Frauenfeld. Er studierte Musikwissenschaft, Populäre Kulturen und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Titel der Master-Arbeit (2012): Bedřich Smetanas Aneignung der Gattung „Sinfonische Dichtung“: Die Bedeutung der drei ersten Sinfonischen Dichtungen für die kompositorische Entwicklung Bedřich Smetanas. Derzeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Projekt Broadcasting Swissness am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich so-wie Lehrer.

Konrad J. Kuhn

geboren 1978, Dr. phil., lebt in Zürich. Er studierte Geschichte, Volkskunde und Schweizergeschichte an der Universität Zü-rich. Lizentiat 2005 mit der Arbeit Fairer Handel und Kalter Krieg: Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der Schweiz 1973-1990 (erschienen in der Edition Soziothek, Bern 2005). Promotion 2010 mit einer politischen Kulturgeschichte mit dem Titel Entwicklungspolitische Solidari-tät. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik 1975-1992 (erschienen im Chronos-Verlag, Zürich

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Kurzbiografien der Autor_innen

2011). Konrad J. Kuhn ist Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und führt derzeit ein Habilitationsprojekt zur Wissensgeschichte der Disziplin „Volkskunde“ durch. For-schungsschwerpunkte u. a. zu Brauch- und Ritualforschung, zur Geschichts- und Erinnerungskultur und zur Geschichte der Entwicklungspolitik.

Karoline Oehme-Jüngling

geboren 1981, Dr. des., lebt in Basel. Sie studierte Ethnomusi-kologie, Musikpädagogik und Evangelische Theologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. 2006 schloss sie das Stu-dium mit einer Magisterarbeit zum Vogtländischen Musikin-strumentenbau ab. Die Promotion erfolgte 2013, Titel der Dis-sertation: Volksmusik in der Schweiz. Kulturelle Praxis und ge-sellschaftlicher Diskurs. Sie arbeitet derzeit als Wissenschaftli-che Mitarbeiterin und PostDoc im SNF-Projekt Broadcasting Swissness am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel sowie als Leiterin des Schwei-zerischen Volksliedarchivs.

Dieter Ringli

geboren 1968, Dr. phil., lebt in Seegräben. Er studierte Musi-kethnologie und Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Titel der Lizentiatsarbeit (1996): Musikalische Analyse der Rockmusik. Er promovierte 2003 an der Universität Zürich mit einer Dissertation zur Schweizer Volksmusik im Zeitalter der technischen Reproduktion. Aktuell ist er Forschungsdozent an der Hochschule Luzern Musik und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.

Miriam Roner

geboren 1986 in Bozen, M.A., lebt in Bern. Sie absolvierte pädagogische und künstlerische Diplomstudien mit Hauptfach Akkordeon an den Musikhochschulen Trossingen und München sowie ein Studium der Musikwissenschaft an der Musikhochschule Trossingen. Titel der Master-Arbeit (2012):

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Konzertberichte von Carl Dahlhaus: Perspektiven auf das musikalische Kunstwerk als gesellschaftliche Institution. Seit 2013 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Bern im Rahmen des SNF-Projekts Klingendes Selbstbild und „Schweizer Töne“. Musik als Mittel schweizerischer Identitätsstiftung im 19. Jahrhundert. In Vorbereitung ist eine Dissertation über Hans Georg Nägelis Theorie der Musik als absoluter Kunst und gesellschaftlicher Praxis.

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