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„ES IST GENUG“ Versuch über einen Bachchoral (BWV 60,5) HEINRICH POOS Dem Andenken meiner Mutter Einleitung Das musikalische Kunstwerk ist eine Kommunikationsform, die Ideologien mittels Ikonographien auszudrücken vermag. Vornehmlich die Vokalmusik bietet im Zusammenhang von Sprache und Ton die Möglichkeit, aussagekräf- tige und nicht nur tautologische „Bildprogramme“ zu entwickeln. Die Tonsprache der chorischen Vokalmusik muß nicht a priori monolo- gisch verstanden werden, sie ist nicht nur auf Deklamation, nicht nur auf blo- ße Illustration eines Textes aus. Im Prisma des mehrstimmigen Satzes im all- gemeinen wie auch im speziellen Fall des hier untersuchten Chorliedes kann die simultane Vielfalt des Wortsinnes, wie durch ein Spektrum entfaltet, so- wohl im gattungsspezifischen Ausdrucksträger selbst, der Choralzeile, als auch in deren mehrgliedriger Disposition verdichtet erscheinen. Obwohl der Choralsatz schon durch die Vervielfachung der notierten Stimme bei chori- scher Ausführung dazu geeignet ist, den individuellen Ausdruck von Rezitativ und Arie in einem allgemeinen zur Aufhebung zu bringen, wird man seinem Kunstanspruch nicht gerecht, wenn man ihn als bloße Repräsentation im Sin- ne einer kirchlichen Propagandakunst verstehen will. 1. Es erscheint heute kaum zweifelhaft, daß eine Vielzahl von Choralsätzen Johann Sebastian Bachs den rezeptionsgeschichtlichen Höhepunkt des soge- nannten Kantionalsatzes dokumentiert. Die Gattungsgeschichte, die ein Au- ßenseiter, der Theologe Lukas Osiander, 1586 mit dem Paukenschlag eines verblüffenden manieristischen Experiments eröffnete – eine bereits fixierte Oberstimme wurde mit grundständigen Dreiklängen im contrapunctus simplex

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Heinrich Poos

„ES IST GENUG“

Versuch über einen Bachchoral (BWV 60,5)

HEINRICH POOS

Dem Andenken meiner Mutter

Einleitung

Das musikalische Kunstwerk ist eine Kommunikationsform, die Ideologienmittels Ikonographien auszudrücken vermag. Vornehmlich die Vokalmusikbietet im Zusammenhang von Sprache und Ton die Möglichkeit, aussagekräf-tige und nicht nur tautologische „Bildprogramme“ zu entwickeln.

Die Tonsprache der chorischen Vokalmusik muß nicht a priori monolo-gisch verstanden werden, sie ist nicht nur auf Deklamation, nicht nur auf blo-ße Illustration eines Textes aus. Im Prisma des mehrstimmigen Satzes im all-gemeinen wie auch im speziellen Fall des hier untersuchten Chorliedes kanndie simultane Vielfalt des Wortsinnes, wie durch ein Spektrum entfaltet, so-wohl im gattungsspezifischen Ausdrucksträger selbst, der Choralzeile, alsauch in deren mehrgliedriger Disposition verdichtet erscheinen. Obwohl derChoralsatz schon durch die Vervielfachung der notierten Stimme bei chori-scher Ausführung dazu geeignet ist, den individuellen Ausdruck von Rezitativund Arie in einem allgemeinen zur Aufhebung zu bringen, wird man seinemKunstanspruch nicht gerecht, wenn man ihn als bloße Repräsentation im Sin-ne einer kirchlichen Propagandakunst verstehen will.

1. Es erscheint heute kaum zweifelhaft, daß eine Vielzahl von ChoralsätzenJohann Sebastian Bachs den rezeptionsgeschichtlichen Höhepunkt des soge-nannten Kantionalsatzes dokumentiert. Die Gattungsgeschichte, die ein Au-ßenseiter, der Theologe Lukas Osiander, 1586 mit dem Paukenschlag einesverblüffenden manieristischen Experiments eröffnete – eine bereits fixierteOberstimme wurde mit grundständigen Dreiklängen im contrapunctus simplex

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„Es ist genug“

durchgeführt –, demonstriert die Defizite einer Ausdrucksform, die durch ihrekonditionelle Fixiertheit dem konzeptionellen Gedanken wenig Spielraum bot.Erst dadurch, daß Bach, indem er möglicherweise in Text, Melodie und Satz-typus des „Chorals“ ein kompositorisches Paradigma des christlichen Stilide-als1 erkannte und diesen Satztypus in die Kirchenkantate und in das Oratori-um übernahm, entstand dessen gattungsgeschichtlich „klassische“ Ausbildung,deren kunstgeschichtliches Wesen im Hauptteil des folgenden an einem Bei-spiel vorgestellt werden soll2.

2. Zweifellos verdankte sich manche Faszination, die von einem histori-schen Kunstwerk ausging, dem Mißverständnis, dem flüchtigen, bloß an derOberfläche haftenden Blick. Im Unterschied zur Ethnologie hat es die histori-sche Musikwissenschaft jedoch nicht mit Idolen und Ritualen zu tun, sondernmit der Wahrheit und Nützlichkeit ikonografischer Erklärungsmuster. Magsein, daß die meisten Kunstwerke mit nur fünfprozentiger Leistungsfähigkeitfunktionieren, jedoch kann dies nicht für die Kunstwissenschaft bedeuten, daßauch nur über diese fünf Prozent zu reden möglich wäre. Weder die Frage, obder Komponist es denn so gemeint habe, noch die andere, gleichermaßen un-ausrottbare, ob es der unvorbereitete Hörer denn auch so verstehen könne,kann anders nicht als auf dem Wege der bloßen Mutmaßung beantwortet wer-den und ist somit für die hermeneutische Erschließung historischer Texte ohneBelang.

Ein Vorurteil, eine ideologieverdächtige Legende, die der zweite Bachsohnmit der Ausgabe der Choräle des Vaters in die Welt setzte, scheint immer nochdie Hauptursache dafür, daß eine nun schon über 200jährige Interpretationsge-schichte3, die an den „Bachchoral“ anknüpfte, diesen nicht mit einem Sinn an-reicherte, an dem ein nicht von Einzelaspekten abgelenkter erneuter Lesever-such zunächst sich zu orientieren hätte4. Die Birnstiel-Ausgabe von 1765 un-

1 Vergleiche hierzu E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländi-schen Literatur, Bern und München 61977, vor allem S. 146 ff. „Das Verborgene undDunkle der Heiligen Schrift ist nicht in einem ‚hohen Stil‘ verfaßt, sondern in einfachenWorten, so daß ein jeder quasi gradatim vom Einfachsten zum Göttlichsten und Erhabenenaufsteigen kann [...]“ (S. 149).

2 Der Verfasser verweist hier auf eine in Arbeit befindliche Monografie über den Bach-schen Choralsatz als musikalisches Kunstwerk, in der in größerer Ausführlichkeit ein rei-cheres Material ausgebreitet wird.

3 Ihren Anfang dokumentieren einige Choralzitate in J. Ph. Kirnbergers Die Kunst desreinen Satzes in der Musik, Berlin 1776–79, Erste Abtheilung, S. 921, Zweyter Theil,S. 63 f.

4 Studien zu Teilaspekten des Chorals legten vor: W. Heimann, Der Generalbaß-Satzund seine Rolle in Bachs Choral-Satz, München 1973 (= Freiburger Schriften zur Musik-

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terschlug bekanntlich die mit dem Choralsatz vertonten Texte und engte damitschlagartig die Perspektive ein, aus der heraus der Bachsche Satz als Kunst-werk begriffen werden konnte. Zum „Meisterstück“ degradiert, degenerierteer einerseits zu Kunstgewerbe, andererseits zum „Exemplum“ einer Unterwei-sung in der „Setzkunst“5. Die folgende Interpretation kann als ein Versuchverstanden werden, die unter der Übertünchung des Sohnes vermutete ur-sprüngliche Gestalt des Bachschen Choralsatzes mit restaurierender Umsichtzum Vorschein zu bringen.

Nicht die Aufzeichnung der Bachschen Texte ist korrupt, ihr Verstehen istverkümmert. Nicht die Töne bedürfen einer philologischen Restaurierung,vielmehr die Gedanken, die sie zur Ordnung riefen. Diese, als einige wenigeaber grundlegende frömmigkeitsgeschichtliche Konstanten (die auch die Irri-tationen und Neuorientierungen der Theologie überdauerten), waren schon mitBeginn des 18. Jahrhunderts einem großen Publikum gleichgültig geworden.Den Hörern und Lesern war das kräftige Licht erloschen, das durch den Phä-nomensinn des Tonsatzes hindurch dessen Bedeutungssinn zu erhellen ver-mochte. Kaum daß die Rezeptionsgeschichte des Bachschen Choralsatzes ih-ren Anfang nahm, wurde sie dadurch notwendig zu seiner Verfallsgeschichte.Einige ihrer Dokumente seien der Untersuchung vorausgeschickt.

In auffälligem Gegensatz zu seinem hohen Bekanntheitsgrad hat derSchlußsatz der Kantate Nr. 60 von seiten der Forschung stets nur beiläufigeBeachtung gefunden.

Kaum noch diskutabel ist die Beschreibung der ersten Choralzeile, die Ar-nold Schmitz versuchte6. Der Begriffsapparat der musikalischen Figurenlehrereicht bei weitem nicht aus, das komplexe Bildprogramm des manieristischenChoralsatzes zu dechiffrieren. Wir werden dies zu begründen versuchen.

wissenschaft, Bd. 5); W. Breig, Grundzüge einer Geschichte von Bachs vierstimmigemChoralsatz, in: Archiv für Musikwissenschaft 45, 1988, S. 165–185 und S. 300–319 (hierauch weitere Literaturhinweise).

5 „Man ist von ihm [Bach] gewohnt gewesen, nichts als Meisterstücke zu sehen. Die-sen Namen werden die Kenner der Setzkunst gegenwärtiger Sammlung ebenfals nicht ver-sagen können, wenn sie die ganz besondere Harmonie und das natürlich fliessende derMittelstimmen und des Baßes, wodurch sich diese Choralgesänge vorzüglich unterschei-den, mit gehöriger Aufmerksamkeit betrachten. Wie nutzbar kann eine solche Betrachtungden Lehrbegierigen der Setzkunst werden, [...].“ Aus: C. Ph. E. Bach, Vorrede zu Joh. Seb.Bachs vierstimmige Choralgesänge, Berlin 1765.

6 A. Schmitz, Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik J. S. Bachs, Mainz 1950 (=Neue Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 1), S. 51 f.

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„Es ist genug“

In einigen Hinweisen auf rhetorische Figuren bleibt auch die Ambition vonKarl Geiringer stecken, als er danach fragte, „wie genau Bach den Gehalt desTextes innerhalb des engen Rahmens einer einfachen Choralharmonisierungauszudrücken vermag“. Die Stelle eines Nachweises vertreten offenbar unver-meidliche Stereotypen musikologischer Sprachlosigkeit („herbe Dissonanzen“und „kühnes harmonisches Fortschreiten“)7.

Werner Breig attestiert dem Satz einzig „Extravaganzen“ der Harmonisie-rung. Schon die Beschreibung der Zeile „mein großer Jammer bleibt darnie-den“ ist ein Ausdruck der Desorientierung, versperrt er doch durch terminolo-gische Willkür („Folge von fünf Septakkorden“) den Weg zu einer adäquaten,das heißt kontrapunktischen Apperzeption der Zeile8.

Die an den Choralsatz „Es ist genug“ anknüpfenden Bemerkungen GrigorijPantijelevs werden ihrem Gegenstand weder sprachlich noch gedanklich ge-recht9. Der groteske Druckfehler [?] „Seelenworte (statt ‚Sehnworte‘) des Elias“(1. Könige 19,4) erhellt blitzartig die latitudinale Nacht marxistischer Kunst-geschichtsschreibung. Die Untersuchung erschöpft ihre Energien bereits in derKonstatierung „harmonischer Kühnheiten“. Ausdrücke von Sprachlosigkeitwie „dissonierende Kombinationen von Septimenakkorden durch die Verbin-dung von Leittonbildungen“ und „verstärkte Wirkung der linearen Funktion“verschütten den Zugang zum Bachschen Text durch bloßen Anschauungsmüll.

In dem von Pantijelev avisierten rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhangbleibt auffällig, daß die Frage, warum Alban Berg nur zwei Zeilen des Bach-schen Chorals in sein Violinkonzert wörtlich übernahm, keine der übrigenZeilen satztechnisch unverändert ließ und dem solcherart redigierten Tonsatzfalsche Texte unterlegte, weder aufgeworfen, geschweige denn beantwortetwurde.

Es seien hier einmal die Fragen gestellt, die durch ihre scheinbare Gering-fügigkeit hindurch den ideengeschichtlichen Kontext des Bergschen Choralzi-tats zu erhellen vermögen10:

7 K. Geiringer, Johann Sebastian Bach, München 1971, S. 147.8 W. Breig, Grundzüge einer Geschichte von Bachs vierstimmigem Choralsatz,

a. a. O., S. 303 f.9 G. Pantijelev, Die Geschichte und Bedeutung des Chorals ‚Es ist genug‘, in: Bericht

über die Wissenschaftliche Konferenz zum V. Internationalen Bachfest der DDR [...], hrsg.v. W. Hoffmann und A. Schneiderheinze, Leipzig 1988, S. 269–276.

10 Wir denken hier an den Zusammenhang, den Theodor W. Adorno in seiner SchriftAlban Berg. Der Meister des kleinsten Überganges, Wien 1968, S. 7, andeutete.

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a) Dem ersten, von der Solo-Violine vorgetragenen Stollen (Takt 136–141)folgt in Takt 142 f. ein vierstimmiges Choral-Pasticcio, dem der Text deszweiten Stollens beigegeben ist. Das Verhältnis von Wort und Ton ist „gleich-gültig“ geworden.

1. Zeile = 1. Stollen2. Zeile = 1. Stollen3. Zeile = 2. Stollen

b) Die erste Choralzeile ist durch die Manipulation der Altstimme dissonanz-technisch entschärft11. Instrumentierung, Dynamik und Vortragsbezeichnungweisen eine religionsgeschichtliche Perspektive, die nicht zuletzt wegen ihresunüberhörbaren Widerspruchs zur Bachschen Ausdruckswelt kommentarbe-dürftig wäre.

c) Der „schulmeisterliche“ Eingriff Bergs, das Hinzufügen der Septime im er-sten Akkord der zweiten Choralzeile verstellt den Weg der Erkenntnis dessen,was Bach durch seine auffällige Unterlassung möglicherweise zum Ausdruckbringen wollte.

d) In der neunten Zeile wird die Liquidierung des Zitats eingeleitet. Der Cho-ral tritt in seine dodekaphone Folie zurück, von der er sich für die Dauer eines„Variationsthemas“ löste. Die Anfangstöne der Innenstimmen sind vertauscht.Die initialen Baßtöne des Originals entfallen zugunsten einer Verdoppelungder Tenorstimme. In den Takten 155–157 ist das Volksliedzitat („Hallt nach solang, so lang“) kaum zu überhören.

3. Jedes musikalische Werk, so auch der hier untersuchte Bachsche Kanta-tensatz, offeriert dem Interpreten ein vieldeutiges Assoziationsmuster. Es istdem Steckenpferd vergleichbar, dessen Abstraktion von der Natur des Pferdesder kindlichen Phantasie so viel Raum läßt. Der zügellosen Phantasie aller-dings gebietet Einhalt schon der Vorsatz der Entschlüsselung eines histori-schen Textes. Denn der Philologe, der dies beabsichtigt, ist darauf angewie-sen, über die Vorstellungswelt des Autors wie auch seines damaligen Adressa-ten etwas herauszufinden. Er ist daher auf Kontexte angewiesen. Zum engerenKontext des im folgenden zu untersuchenden Choralsatzes gehören

im Hinblick auf den Text:

das Libretto der zum 24. Sonntag nach Trinitatis komponierten Kantate „OEwigkeit, du Donnerwort“, BWV 60,

11 Der Eingriff im Alt kommt einer physischen Lähmung der ersten Zeile gleich. DieDynamik der satztechnischen Gebärde ist zurückgenommen.

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„Es ist genug“

das Gedicht Franz Joachim Burmeisters, aus dem der unbekannte Librettistder Kantate die fünfte Strophe für den Schlußchoral auswählte,

im Hinblick auf die Musik:

die Gattungsgeschichte des Kantionalsatzes im allgemeinen,

das dieser Gattung eng verbundene Chorlied „Es ist genug“ von Johann Ru-dolf Ahle im besonderen,

der kompositionsgeschichtliche Kontext der Bachschen Kirchenkantate sowiederen spezifische Idiomatik und Bilderwelt, deren Entschlüsselung sowohltheologische Kenntnisse als auch eine hinreichende Vertrautheit mit der Mu-sikanschauung des deutschen Barock zur Voraussetzung hat12.

Zum Libretto der Kantate BWV 60

Inhalt und Form von Bachs Kantate über Johann Rists Kirchenlied13 skizzier-te Alfred Dürr mit den Sätzen, die zum Zwecke einer ersten Orientierung hierim Wortlaut wiedergegeben seien:

Der unbekannte Textdichter knüpft an das zuvor verlesene Evangelium an: Die Totener-weckung durch Jesus wird – ähnlich wie in den Kantaten zum 16. Sonntag nach Trinitatis– als Symbol der erhofften eigenen Auferstehung empfunden, der der Mensch im Ange-sicht des Todes mit Zweifel und Hoffnung entgegensieht. Dieses Schwanken zwischen Ver-zagtheit und Zuversicht bildet das Thema der Kantate, die in Form eines „Dialogus zwi-schen Furcht und Hoffnung“ abgefaßt ist. In den beiden allegorischen Figuren „Furcht“und „Hoffnung“ spiegelt sich die zwiespältige Menschenseele wider.

Der Text weist eine planvolle, symmetrische Gliederung auf. Den Rahmen bilden zweiKirchenliedstrophen: die Anfangsstrophe von Johann Rists Lied ‚O Ewigkeit, du Donner-wort‘ (1642) und Strophe 5 des Liedes ‚Es ist genug, so nimm, Herr, meinen Geist‘ vonFranz Joachim Burmeister (1662). Gleichfalls rahmenförmig sind zwei Bibelsprüche ange-ordnet, der erste, ‚Herr, ich warte auf dein Heil‘ (1. Mose 49,18), wird als Antwort der„Hoffnung“ im Eingangssatz mit dem Choralgesang der „Furcht“ kombiniert, der zweite,‚Selig sind die Toten ...‘ (Offenb. 14,13) steht im vorletzten Satz gleichfalls als Antwortauf die Einwendungen der „Furcht“, die daraufhin ihre Besorgnisse endgültig verwirft. Sofolgt das erste Bibelwort aus dem Eingangschoral und der Schlußchoral aus dem zweitenBibelwort. Die Mittelsätze sind freie Dichtung: Im Zentrum steht eine Duett-Arie; um siegruppieren sich zwei Rezitative, das zweite, wie erwähnt, mit Bibelwort alternierend14.

12 Die Ergebnisse jahrzehntelanger musikwissenschaftlicher Grundlagenforschung faß-te Rolf Dammann in seiner Monografie Der Musikbegriff im deutschen Barock, Laaber21984, zusammen.

13 Die Kantate zum 24. Sonntag nach Trinitatis wurde am 7. 11. 1723 in Leipzig zumersten Male aufgeführt. Die Kantate BWV 20, die von demselben Kirchenlied ihren inven-tionalen Ausgang nahm, eröffnete am 11 .6. 1724 den Jahrgang der Choralkantaten.

14 A. Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, Kassel usw. 1971, S. 516 f.

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Eine Übersicht über die Verarbeitung des Stoffes im Kantatenlibretto machtdessen Nähe zur sogenannten Wiedergebrauchsrede (Predigt) deutlich15.

15 Zu den hier und im folgenden verwendeten Termini der literarischen Rhetorik ver-gleiche H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München 81987.

Eine Rekonstruktion der frömmigkeitsgeschichtlichen Voraussetzungen vor al-lem der Kantatenperipherie Nr. 4, die wir im folgenden versuchen, soll nichtnur die Absicht des Librettisten, die Kantate mit Burmeisters Strophe abzu-schließen, verständlich machen; sie bietet dazu die Chance, die Notwendigkeiteiner Umarbeitung von Ahles Chorlied durch Bach aus der Sicht des Kanta-tentextes heraus plausibel zu machen.

praemissa maior Die „Stimme der Menschheit“, vorgetragen mit(Nr. 1) der Wucht des cantus firmus in großen Noten-

werten, das Allgemeine, das Man, das Seinzum Tode und die Todesfurcht.

1. Satz praemissa minor Die Stimme des Glaubens als Kontrapunkt descantus firmus. Melismatisch, fragil, inständig,nuancen- und figurenreich. Das Individuelleder „jemeinigen“ Hoffnung. Singen als das dieFurcht bannende „Selbstgespräch der Seele“.

argumentatio Die Konkretisierung der Todesfurcht:(Nr. 2) Inkompetenz dem „Gesetz“ gegenüber. Die

Stimme der Hoffnung hält dagegen die geläu-figen Trostworte der christlichen Erbauungsli-teratur.

2. bis Dies geschieht offenbar ohne Erfolg. Die Posi-4. Satz (Nr. 3) tionen verfestigen sich. Der dramatische Kno-

ten wird geschürzt in der Gleichzeitigkeit derParteienreden.

Die Situation scheint ausweglos. Die Stimme(Nr. 4) der Hoffnung ist verstummt. Das Auftreten ei-

nes „Situationsmächtigen“ führt den „Glücks-umschwung“ herbei.

5. Satz peroratio Die positive Wende wird konsolidiert durch(Nr. 5) eine confirmatio.

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„Es ist genug“

Zu Text und Musik der Kantatenperipetie

Die Antithese als der allgemeine Satz, der sowohl hinter dem Evangelium des24. Sonntages nach Trinitatis, der Perikope der leiblichen Auferweckung vonJairi Töchterlein (Matthäus 9, 18–26), als auch hinter der alttestamentlichenErzählung von der Todesfurcht, der Flucht und der geistlichen Wiedergeburtdes Propheten Elia (1. Könige 19) zum Vorschein kam, ist die klassisch luthe-rische von natura und gratia. Aus diesem Verständnis heraus läßt sich dennauch sagen, daß die Denkform des Kantatenlibrettos von der Dialektik diesesBegriffspaares geprägt ist, während die Antithese von Furcht und Hoffnung zuden Stoffen zu rechnen ist, welche die Toposlehre der literarischen Rhetorikzu deren Veranschaulichung zur Verfügung stellte.

Der Librettist der Kantate dokumentiert die Inkompetenz des Menschen„sub lege“, seine stets offenbare Nichtigkeit, durch poetische Ausdrücke derTodesfurcht in Liedstrophe und freier Dichtung. Dagegen hält die Stimme derHoffnung; unermüdlich und unerschütterlich memoriert sie die Glaubenssätzevom Gnadenurteil Gottes über den Menschen. Der Dialog der Protagonistenzeigt am Ende keinen Ausweg. Die Parteiinteressierten, als Anwälte der con-ditio humana, führen einen endlosen Stellungskrieg. Immer tiefer graben siesich in ihre Argumente ein.

Die Wende wird durch den Auftritt eines „Situationsmächtigen“ herbeige-führt. Die vom Komponisten überaus effektvoll inszenierten Offenbarungs-worte konstituieren den „fruchtbaren Augenblick“ der Kantatenpredigt. DieAutorität des einzigen Kronzeugen des Gnadenurteils Gottes bringt die Stim-me der Furcht endlich zum Schweigen. Die Art und Weise, wie Textdichterund Komponist ebendiesen „Glücksumschwung“ ihres „auto sacramental“von „Gesetz und Gnade“ in Szene setzten, muß auf die Hörer der Erstauffüh-rung am 7. November 1723 in der Leipziger Thomaskirche einen unauslösch-lichen Eindruck gemacht haben.

Zu den theologischen Voraussetzungen des Chorals

Aus der Ausweglosigkeit der zahllosen Parataxen des Kantatendialogs, diesich im Duett Nr. 3 förmlich ineinanderschlingen, weist das Rezitativ Nr. 4 ei-nen letzten Ausweg. Die Stimme der Hoffnung verstummt. Auf der Peripetieder Hoffnungslosigkeit ertönt plötzlich und unvorhergesehen „die Stimme desHeiligen Geistes“. Der Kantatensatz führt uns das Modell einer „mystischenErfahrung“ vor Augen, die das Ausbrechen aus der Zwickmühle der conditiohumana, ihrem Teufelskreis aus Furcht und Hoffnung, ermöglicht, und einenneuen Spielraum, eine neue Welt sich verschafft.

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Wir fragen hier nach den ideengeschichtlichen Vorstellungen, von denendie Autoren der Kantate vermutlich geleitet wurden, als sie ihr Kantaten-Lehr-stück von der mystischen Begegnung der Seele mit Gott-in-seinem-Wort in-szenierten, in dem sie die natürliche Todesangst als eine Art Tod und dessenÜberwindung im Hören des Wortes als eine Art Wiedergeburt be-deuteten. In-dem wir so fragen, versuchen wir, Klarheit zu gewinnen über die Möglichkeiteiner methodischen Begründung der Interpretation des hier untersuchten Cho-ralsatzes durch erweisbare traditionsgeschichtliche Zusammenhänge16.

Die kontroverse theologische Diskussion über Luthers Stellung zur Mystikkann schon wegen der Fülle der Sekundärliteratur, die sie hervorrief, hiernicht referiert werden. Auch zeichnet sich ihr Ende nicht ab17. Dennoch isteine Skizzierung der Grundzüge der „mystischen Theologie“ Luthers, ihrerheute konsensfähigen Elemente, die Voraussetzung für ein Verständnis des„transzendentalen Dialogs“ von Nr. 4, ohne dessen katharsis weder Ausdrucknoch Funktion des Chorals als peroratio der Kantatenrede dargestellt werdenkann.

1. In das Zentrum von Luthers Neubewertung der deutschen Mystik führt derBegriff „Anfechtung“. In der „resignatio ad infernum“ ist das „Fegefeuer“Teil des Lebens selbst geworden. Der Zorn Gottes über den Sünder, im Ent-schwinden der Hoffnung offenbar, hat diesem jeden Trost genommen. Dies istdie Situation zu Beginn des Rezitativs Nr. 4, einem „Lehrgedicht“ von Lu-thers „sapientia experimentalis et non doctrinalis“. Es handelt von der die To-desfurcht überwindenden Kraft des Glaubens als demjenigen Werk Gottes,das von der Erfahrung der zeit- und bedingungslosen „realen Gegenwart“ desLogos seinen Ausgang nimmt.

16 Die erste Abfassung dieses Teils der vorliegenden Arbeit akzentuierte die pietisti-sche Perspektive des „inneren Erlebnisses“ der Gottesbegegnung von Nr. 4. Dr. Elke Ax-macher verdanke ich den Hinweis darauf, daß die wesentlichen Momente der lutherischenMystikrezeption in den Predigten und der Erbauungsliteratur der Orthodoxie zur Bachzeitlebendig waren und deswegen der Umweg über den Hallenser Pietismus entbehrlich ist.Grundsätzliches zu dieser Frage berührt die Rezension der Monografie von L. Haselböck,Du hast mir mein Herz genommen. Sinnbilder und Mystik im Vokalwerk von Johann Seba-stian Bach, Wien 1989, von R. Steiger, in: Musik und Kirche 60, 1990, S. 95–98. ÜberBach als „eine Erscheinung in der Geschichte der deutschen Mystik“ (Albert Schweitzer)reflektiert der Aufsatz von J. Herchert und J. Milbradt, Bach als Mystiker, in: Studien zumWerk Johann Sebastian Bachs, hrsg. im Auftrag des kirchlichen Komitees Johann Sebasti-an Bach 1985 v. M. Petzold, Göttingen 1985.

17 Literaturhinweise aus neuerer Sicht gibt A. M. Haas, Luther und die Mystik, in:Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2, 1986,S. 177–207.

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„Es ist genug“

Die mystische Erfahrung, die das Lehrstück vermittelt, ist die der radikalenGegensätzlichkeit oder, wie Luther sie nannte, eine „experimentia sub contra-ria species“. Diese Erfahrung „per viam contrarii“ hat er in einer Scholie zuRömer 9,3 veranschaulicht: „Denn unser Gut ist verborgen, und zwar so tiefverborgen, daß es unter seinem Gegensatz verborgen ist. So ist unser Lebenverborgen unter dem Tode, die Liebe zu uns unter dem Haß wider uns, dieHerrlichkeit unter der Schmach, das Heil unter dem Verderben, das König-reich unter dem Elend, der Himmel unter der Hölle, die Weisheit unter derTorheit, die Gerechtigkeit unter der Sünde, die Kraft unter der Schwach-heit“18.

2. Der Augenblick, den der Librettist wählte, um einen dritten Dialogpartnereinzuführen – besser vielleicht: den alten in neuer Maske –, der als „Situati-onsmächtiger“ die Lösung herbeiführt, scheint glücklich gewählt. Über dieArt und Weise von dessen Auftreten und Handeln muß jetzt noch ein Ver-ständnis hergestellt werden. Dieses gründet in der reformatorischen Anschau-ung, das einzig Sichtbare des deus involutus ist der fleischgewordene LogosJesus Christus. Das im Wort Gottes Hörbare ist „in statu viae“ das von Gotteinzig Erkennbare. Dies wollten die Autoren der Kantate doch wohl deutlichmachen: Das Vermögen zu hören, der Vorgang des Hörens selbst, ist auch dieeinzige Möglichkeit, Glauben zu erfahren19. Und dieser endlich macht dieChristen fähig, eine Lebensgemeinschaft, ja eine unio mystica mit Gott inChristus zu begründen.

Ohne die Vergegenwärtigung von Luthers Privilegierung des Gehörsinnesals des für den Glauben einzig relevanten Rezeptionsorgans20 muß das mysti-sche Tableau des vierten Kantatensatzes, auf dessen Folie der Ausdruck desabschließenden Choralsatzes erst deutlich werden kann, dem heutigen Hörerunverständlich bleiben. Er erfährt ihn nurmehr als Musik, als bloße Hülle,nicht als „reale Gegenwart“21.

18 M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. (im folgenden abge-kürzt WA), Bd. 56, S. 392, Z. 28–32.

19 Vergleiche hierzu Luthers Scholion zu Psalm 119,105, wo vom Glauben die Redeist, dessen Organ nicht das Auge, sondern das Ohr ist. WA 4, S. 356, Z. 6 ff.

20 „Gottesdienst verlangt weder Füße noch Hände noch irgendein anderes Glied außerden Ohren und das einzige Werk des Christen ist das Hören des Wortes Gottes.“ Zitiertnach A. M. Haas, Luther und die Mystik, a. a. O., S. 199.

21 Insofern ist in der Bachschen Vokalmusik (und nicht nur in dieser) das ganze Mittel-alter gegenwärtig: Alles ist Abbild; alle Abbilder führen analoge Diskurse; alle Diskursehaben dasselbe Ziel, die Gegenwärtigkeit Gottes zu erweisen.

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Wenn wir jetzt, von diesem Interesse geleitet, Wort und Ton des Rezitativsnoch einmal vergegenwärtigen, so tun wir dies, um über die ästhetischen Fol-gerungen, die Bach vermutlich aus Luthers Worttheologie gezogen hat, Klar-heit zu gewinnen. Dabei erhellt, daß die Kategorie des Ereignishaften und dieVorstellung des senkrecht herabfahrenden, trinitarisch definierten Wortes22

den Phänomensinn der Bachschen Tonsprache in ihren Grundzügen geprägthaben. Das Rezitativ liefert dazu ein klassisches Beispiel.

Zur Kategorie des Ereignishaften im Rezitativ Nr. 4

Am Tiefpunkt der „geistlichen Handlung“ der Kantate setzt das Handeln Got-tes ein. Der erste Secco von Nr. 4 gibt Ausdruck der „resignatio ad infer-num“23. Im „fruchtbaren Augenblick“ koinzidiert der harmonisierte Ausdruck„des Gesetzes der Sünde und des Todes“, die Tonart fis-Moll24, mit der TonartD-Dur der Bachschen Kantate, in der stets die christologischen KonnotationenFrieden und Freude (Weihnachten und Ostern) instrumentiert sind. Es ist dieAntizipation des Tones a am fragilen Beginn des Arioso, die „coincidentia op-positorum“, die cusanische Gleichung von Finsternis und Licht, die das Uner-wartete im Hineintreten des Numinosen in den Bereich menschlicher Erfah-rung zum Ausdruck bringt. So gesehen offeriert das Rezitativ Nr. 4 den Mit-vollzug einer „inneren Erleuchtung“. Der „modus docendi mysticus“, in einer„sonderbaren Art und Weise“ zur Vorstellung gebracht, er zielt auf die Erbau-ung des inneren Menschen. „Die Stimme des Heiligen Geistes“, durch eineBaritonstimme vorgetragen, soll doch wohl den Gedanken zur Anschauungbringen, daß die Worte der Verheißung (Offenbarung 14,113) durch Christusselbst als dem Erstling unter den Auferstandenen (1. Korinther 15,20) beglau-

22 Die lutherische Orthodoxie hat schon im Zeitalter der Konkordienformel (nach1555) die Einwohnung der Trinität und Christi als eine coniunctio realis und unio mysticagelehrt. Hierzu E. Vogelsang, Die unio mystica bei Luther, in: Archiv für Reformationsge-schichte 35/36, 1938/39, S. 63–80.

23 „Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhaßt und reißet fast die Hoffnungganz zu Boden.“ Das Wörtchen „fast“ ist ein Hinweis auf Luthers „Nahezu-Verzweiflung“(prope desparatio), „von der man sich nicht loskaufen soll, die vielmehr der ‚scharfe Sand‘ist, mit dem Gott das Herz scheuert und reinigt“. Zitiert nach A. M. Haas, Luther und dieMystik, a. a. O., S. 193.

24 Dieselbe Tonart wählte C. Ph. E. Bach in seiner „Todesfantasie“ zur Darstellung sei-ner „Empfindungen“. Vergleiche hierzu H. Poos, Nexus vero est poeticus. Zur fis-mollFantasie Carl Philipp Emanuel Bachs, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikfor-schung 1983/84, S. 83–114.

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„Es ist genug“

bigt sind. Er, der fleischgewordene Logos, ist es, der durch den Buchstabendes Bibelworts hindurch das neue, geistliche Leben schafft, welches derMensch erlangt in der „Wiedergeburt“25. Sein Ausdruck ist das Schlußwortder „Furcht“:

Wohlan! Soll ich von nun an selig sein:So stelle dich, o Hoffnung wieder ein!Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruhn,Der Geist kann einen Blick in jene Freude tun.

Der Text läßt sich verstehen als ein Dokument mystischer „Gottesgelassen-heit“. Dies wird vor allem deutlich in der poetischen Verdichtung der komple-xen Gedankengänge der beiden abschließenden Verse. Das Wort „Schlaf“ hathier ein ungewöhnliches Gewicht. Will es zunächst den kreatürlichen Schlafin Konnotation mit kreatürlichem Aufwachen bedeuten, so meint es zugleichauch den geistlichen Schlaf in Konnotation zur Neugeburt sowie den Todes-schlaf26.

Der letzte Vers führt aus der Gegenwart des soeben mitvollzogenen„Glücksumschwungs“ der Kantate an den Ursprung zurück. Der durch die To-desfurcht „außer Fassung“ geratene Geist hat den Körper verlassen27. In sol-cher „Gelassenheit“ bedeutet er den leblosen „Erdenkloß“ (Genesis 2,7), dasAbbild, das zum Ebenbild erst wird durch die „In-spiration“ Gottes. Die Neu-geburt des Menschen in der „geistlichen Handlung“ der Kantate ist der Anti-typus des biblischen Typos von der pneumatischen Geburt Adams. Was mitdiesem Geist während des leiblichen Todesschlafs geschieht, darauf gibt derletzte Vers eine Antwort. Auch Valentin Ernst Löscher, der Dresdner Zeitge-nosse Bachs, hat sie zu geben versucht. Wir zitieren sie hier aus zwei Grün-den vollständig. Erstens knüpft sie an das Evangelium desselben Sonntags an,

25 Das Verständnis der Wiedergeburt als dem obersten Begriff der Kantate BWV 60gründete „sowohl für den Dichter als auch für den Komponisten in den beiden einzigenneutestamentlichen Belegstellen des Wortes [...]: Während bei Titus 3,5 der alltägliche An-fang eines Lebens in der Christus-Nachfolge gemeint ist, bedeutet es im andern Fall, Mat-thäus 19,28, den Eingang in das Ewige Leben am Jüngsten Tag“. Vergleiche hierzu den Ar-tikel „Wiedergeburt“, in: F. Melzer, Das Wort in den Wörtern. Die deutsche Sprache imDienste der Christus-Nachfolge. Ein theo-philosophisches Wörterbuch, Tübingen 1965,S. 346.

26 Vergleiche hierzu Luthers Kirchenlied „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“, 1. Stro-phe, letzter Vers: „Der Tod ist mein Schlaf worden“.

27 Im Wort „Geist“ scheinen nichtchristliche, zum Beispiel das indogermanische„gheis“ (= aufgebracht, bestürzt, erschreckt) und biblische Vorstellungen zu einem „fastunübersehbaren Bedeutungsreichtum“ konnotiert. Vergleiche F. Melzer, Artikel „Wiederge-burt“, a. a. O., S. 150–161.

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Heinrich Poos

zu dem Bach seine Kantate schrieb, zweitens werden wir bei der Interpretati-on der ersten Choralzeile auf die Sprachgebärde Löschers, vor allem seinesvorletzten Satzes zurückgreifen.

Das Mägdlein im Evangelio war zwar natürlich todt; aber in den Augen JEsu war es nurein Schlaff, weil auch der Tod des Schlaffes Bruder ist. Meine Liebsten,

Was wollen wir denn fürchten sehrDen Tod auf dieser Erden?

Er ist denen Kindern GOttes ein Schlaff. Denn sie gehen mit Daniel in ihre Kammer, ruhenin Friede, biß sie aufstehen an ihrem Theil, am Ende der Tage, und erwachen nach demBilde GOttes. Allein mercket, daß es heißt: Sie ist nicht todt, sondern schläfft. Wollen wirdereinst in unsern Gräbern schlaffen, und zur Wirklichkeit erwachen, so müssen wir nichttodt seyn, ich will sagen: Wir müssen nicht in geistlichen Tode bleibe, sondern uns durchdas Wort, und durch die Stimme CHristi in der Gnaden=Zeit ruffen und erwecken lassen.Wohlan, sind wir todt, wie Lazarus, und stincken von den Eyter=Beulen der Sünde, so las-set uns auf das Wort CHristi: Komm heraus, Joh. XI,43. auf das Wort Petri: Lasset euchhelffen von diesem unartigen Geschlechte, Act. II, 40. mercken, und uns loß reissen, CHri-stum, das Leben, im Glauben ergreiffen, und mit dem auferstandenen Erlöser in einemneuen Leben wandeln. So wird denn auch der Tod über uns keine Macht haben28.

Figura. Zum Schönheitsbegriff der Ariosi

Alfred Dürr hat von einer Faszination der Ariosi gesprochen, ihrer „aus-drucksvollen und einprägsamen Melodik, die den Text in beseelter Sprachedarbietet, ohne in ihrer Textbezogenheit dem musikalischen Fluß Fesseln an-zulegen“, und sie „eine späte, reife Frucht der generalbaßbegleiteten Mo-nodie“ genannt29. Wir wollen diesen Gesichtspunkt hier einen Augenblickvertiefen, mit der Absicht, ein intensiveres Hineinhören in die Bachsche Mu-sik, vor allem in die äußerst verdichtete Figürlichkeit des finalen Choralsat-zes, anzuregen.

1. Den Vollzug der innerlich subjektiven Bewegung, in der sich Gott als derenobjektiver Grund unmittelbar erfahrbar erschließt, hatte der Rostocker Profes-

28 V. E. Löscher, Übung der Gottseligkeit [...] worinnen alles, was zum thätigen Christen-tum nöthig / sonderlich Busse, Glaube, Liebe, Hoffnung, Gebet / Creutzes= und Todes=Über-windung / gezeiget wird, Dresden 1721, S. 814. Vergleiche hierzu E. Axmacher, Mystikund Orthodoxie im Luthertum der Bachzeit, in: Programmbuch der Bach-Tage Berlin1991, S. 109–115.

29 „[...] des Geistlichen Solokonzerts zu einer Zeit, in der textgezeugte Deklamationund musikalisch durchgebildete Form im allgemeinen längst in Rezitativ und Arie ihre ge-trennte Ausprägung erfahren hatten.“ A. Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach,a. a. O., S. 519.

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„Es ist genug“

sor, Superintendent und weithin wirksame lutherisch-orthodoxe Erbauungs-schriftsteller Heinrich Müller (1631–1675) mit Ausdrücken musikalischenVollzuges identifiziert. So bedeutet ihm „Seelenmusik“30 die durch unmittel-bare Erfahrung erschlossene, den worthaften Bereich überschreitende Kund-gabe Gottes in der Tiefe der Einzelseele. Hier, an dem Quellpunkt aller reli-giösen Erfahrung, in der „inneren Einöde“ der Eckhartschen Mystik, wird dasSubjekt hellhörig für das „innere Singen“ als dem immer schon vorhandenen,durch die Objektwelt bloß verschütteten Ausdruck ursprünglicher Gemein-schaft des Menschen mit Gott. Die mystisch bestimmte Gotteserfahrung unddarum auch die „Seelenmusik“ ereignen sich im inneren Menschen. Bachs„Vorstellung“ dieses unaufhörlichen „inneren Singens“ ist das Paradigma ei-ner pneumatischen Ästhetik, in der das Horazsche delectare und prodesse eineneue Dimension gewinnt.

„Die durch Antrieb des heiligen Geistes hervorgebrachte ... Herzens- undSeelenmusik“31 artikuliert die mit Worten nicht wiederzugebende Beziehungvon Gott und Seele vor allem als „süße Freude“. So auch Müllers Lehrer Lüt-kemann in einer Auslegung von Psalm 33,3; „Sollen wir’s gut machen, müs-sen wir den rechten Meister brauchen. Der Meister ist der heilige Geist, derstimmt und spielt. Zuerst bringt er Christum mit der Erkenntnis seiner Güteund viel Liebe in mein Herz und richtet meine Sinne und Begierden zu Chri-stus, da ist das Instrument gestimmt. Danach läßt er mich schmecken, wie süßund gütig der Herr ist, da gehet der Klang an [...]“32. So auch die seelenmusi-kalische Begründung des äußeren Singens: „Die Worte machen unseren Geistimmer lustiger und brünstiger; je süßer Worte, je fröhlicher Mut [...]“33. Fürunseren Zusammenhang muß dies Wenige zur traditionell-lutherischen An-schauung der Lieblichkeit, die dazu dient, „daß die Nutzbarkeit der schönenWorte durchs Gehör ehe vergriffen werde, ehe wirs selber merken“34, genü-gen.

30 Geistliche Seelenmusik lautete der Titel seines im Jahre 1659 erschienenen Gesang-buches. Vergleiche hierzu Chr. Bunners, Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zu Fröm-migkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1966.

31 So im Titel des Leipziger Gesangbuches aus dem Jahre 1715. VergleicheA. Schering, Musikgeschichte Leipzigs, Bd. 2: Von 1650 bis 1723, Leipzig 1926, S. 240.

32 J. Lütkemann, Vorschmack göttlicher Güte, [...], Rostock 1643.33 H. Müller, Zehn Betrachtungen über das geistliche Liedersingen, in: Müllers Ge-

sangbuch Geistliche Seelenmusik, Rostock 1659, S. 144.34 Ebenda, S. 9 f. Gottes Wort wird schon in der Bibel als süß, anmutig, gemütserquik-

kend, das unruhige Herz stillend vorgestellt. Hohes Lied 2,3 und 5,16; Offenbarung 10,9–10; Sirach 24,27.

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Heinrich Poos

2. Wir fragen jetzt nach der Bedeutung der genannten Schlüsselwörter für diears-moriendi-Literatur der lutherischen Orthodoxie. In ihrer Monografie über„Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller“ zitiert Elke Axmacher einePassage aus dem „Manuale de praeparatione ad mortem“ (1593), in dem voneinem willigen Sterben die Rede ist. Der Schrecken des natürlichen Sterbenswird zum bloßen Schein für den Gläubigen, der sich an Christus hält und mitihm den Tod schon überwunden hat.

Aber die Kinder Gottes, ob man wol an ihnen auch Todes Aengsten und Schmertzen sihet,werden sie doch derselben nicht gewahr, weil ihr Hertz verwahret und versichert ist durchdie Süssigkeit und Kraft der Gnaden JEsu Christi, damit ihre Hertzen eingenommen, gantzdurchgangen und also erfüllet seyn, daß sie für die Süssigkeit seines kräftigen Trostes kei-ne Todes=Aengsten, kein Bitterkeit fühlen, und des Zitterns und Angst-Schweisses nichtgewahr werden können: Denn der Trost JEsu Christi ist so groß, daß er stehet für alles, undwider alles Schrecken, und der Name JEsu ist so süß, daß er alle Bitterkeit vorgehet, undden Gläubigen auch mittem im Tode einen Vorschmack machet der ewigen Wonne und Se-ligkeit35.

3. Das Wort „Süßigkeit“ (suavitas), das auf das delectare und prodesse allu-diert, hat auch innerhalb des Topos „irdische Musik als Vorspiel (praeludium)der himmlischen (musica coelestica)“ eine Jahrhunderte alte Tradition. JohannKuhnau, Bachs Vorgänger im Leipziger Amt, spricht von der Schönheit derMusik als „Vorklang der Seligkeit“:

Nam Musicam in se consideratam omni laude dignissimam esse, ejusque incredibili svavi-tate aeternas futurae beatorum vitae felicitates exprimi uno omnes saniores mentis confi-tentur ore, hacque suum omnium verum Conditorem maxime coli36.

Im Rezitativ Nr. 4 bewegt der „süße“, Klarheit bringende, „freundlich entge-genkommende“, „verheißend heilbringende“ Ton der Verkündigung den Ange-fochtenen zu einem Sinneswandel. Diesen Ton der „suavitas“ meinen wir, inder Musik der Ariosi zu hören. Eine Verständigung darüber ist schwer. Mitder Vortragsbezeichnung „dolce“ hat er kaum etwas gemein. Wenn wir hierdennoch Stichworte geben, so nicht zuletzt deshalb, um auf die Notwendig-keit einer fundierten, das heißt werkbezogenen Darstellung „geistiger Süße“in der Musik aufmerksam zu machen.

35 E. Axmacher, Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller(1547–1606), Göttingen 1989, S. 204 f.

36 Divini Numinis Assistentia, Illustrisque Jure Consultorum in florentissima AcademiaLipsiensis Ordinis indultu Jura circa Musicos Ecclesiasticos […], 21. Dezember 1688,Leipzig, Cap. 1; zitiert nach R. Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock, a. a. O.,S. 449. Auf den religionsgeschichtlichen Kontext „Cosonantiae mysticae suavitas in omni-bus rebus“ verweist der Aufsatz von W. Wiora, Lex und Gratia in der Musik, in: Zum 70.Geburtstag von Joseph Müller-Blattau, hrsg. v. Chr.-H. Mahling, Kassel usw. 1966(= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 1), S. 330–340.

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„Es ist genug“

4. Wir riskieren zunächst einen Rückgriff hinter die Textmassen der musikali-schen Rhetorik, um einen Standpunkt zu finden, von dem auch eine musikali-sche suavitas-Forschung auszugehen hätte.

Die Aufgabe der Poetica nova oder Rhetorica, wie sie genannt wurde, ist es, die tiefe Be-deutung des göttlichen Kunstwerkes hervorzukehren und klärend in verständlichen, wohl-gesetzten Worten vorzubringen; oder anders gesagt, die Obskurität der Bibel, die ein sohervorstechendes Kennzeichen der ganzen Schöpfung ist, zur Klarheit zu führen. Dunkel,weil vom höchsten Geiste und übermenschlichen Schöpfer erdacht, war unter allen Kunst-werken allein die Bibel, das Kunstwerk schlechthin. Zum Unterschied davon mußten dieWerke aller menschlichen Künstler, da sie erdnahe, menschennahe Ableitungen und Über-setzungen des göttlichen Kunstwerkes sein sollten, ihrem Wesen nach klar und allgemeinverständlich sein. Das gerade war das Losungswort der Poetica nova, die Klarheit37.

Und dann, nach einem Beleg aus Anticlaudianus, dem allegorischen Eposvom idealen Menschen des Alanus ab Insulis (1183/44), heißt es weiter:

Daß der Autor so nachdrücklich auf der Tiefe und Gewichtigkeit des sensus, auf demReichtum des Gedichtes an Sinngehalt (dives et uberior sententia) besteht, ist nötig, denndiese innere Form, die von der Theologie entliehen ist, verleiht der Spreu des stofflichenGewandes erst einigen Wert. Sie erst macht den Überschwang und Reichtum der Worte, dieblühende Rede und den Blätterwald der Sprache erträglich. Das sprachliche Medium erhältseine Schönheit gar erst von der inneren Form38.

Indem wir diesen Gesichtspunkt zur Untersuchung der Tonsprache der Bach-schen Ariosi heranziehen, fragen wir nach der „Geistlichkeit“ der musikali-schen Form, ihres Verhältnisses zur oben angesprochenen „Lieblichkeit“.Denn noch scheint die Verhältnisbestimmung gültig zu sein, die Bunners fürdie „Seelenmusik“ reklamiert:

Alle künstlerischen Mittel sind gut, so lange sie nicht den geistlichen Sinn des Musizierensin den ästhetischen Bereich entführen; auf den geistlichen Sinn bezogen aber wird dieserdurch den ästhetischen Bereich gefördert. Mit den Ausdrücken des 17. Jahrhunderts heißt

37 H. H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters, Frankfurt/Main21963, S. 222 f. Die Bach-Ferne des Zitats wurde gewählt, um die universale Gültigkeit derVorstellung zu dokumentieren, die allein schon durch die Masse der von Rolf Dammannvorgetragenen Belege anschaulich wird. Vergleiche Der Musikbegriff im deutschen Barock,a. a. O., vor allem das 5. Kapitel: „Mythologische, naturphilosophische und theologischeVorstellungen“. Ein begründetes historisches Verhältnis des Bachschen Schönheitsbegriffshat vom christlichen Stilideal auszugehen, das oft durch Hinweise auf die Forschungen vonErich Auerbach und Ernst Robert Curtius belegt wird. So auch H. H. Eggebrecht in seinemgrundlegenden Aufsatz Zum Figur-Begriff der Musica poetica, in: Archiv für Musikwissen-schaft 16, 1959, S. 57–69.

38 H. H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters, a. a. O., S. 222 f.

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Heinrich Poos

das: Lieblichkeit und Andacht müssen zusammengehen, sich durchdringen. Dabei gilt An-dacht im Sinne der Kirchenmusik als das Gerichtetsein auf die res quae canitur39.

Welches ist die innere Wahrheit, die in der äußeren „Lieblichkeit“ der „geistli-chen Süße“ der Ariosi zum Ausdruck gebracht ist?

1. „Diese Zahl 3 vergleichet sich dem Heiligen Geiste / denn sie giebet mit ih-rer vorigen Zahl 2. eine solche Consonanz die die Natur an sich hat / als wiesie mit der Unität zusammen gesetzet wäre […]

in Clavibus C c g. Hierdurch die Dreyfaltigkeit sehr fein abgebildet / nach un-sern Glaubens-Articule / und Symbolis“40.

Die Form des Arioso ist die concinnitas der Zahl 3: Jeder der drei Teile istdreiteilig gegliedert, ebenso diese selbst.

In diesem Zusammenhang kann es auch kaum zufällig sein, daß zum Beispieldie Singstimme in A 30 = 9 + 9 + 12 = 3 x 3 + 4 x 3 und der Continuo 37 =4 x 9 + 1 Töne enthält41.

39 Chr. Bunners, Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zu Frömmigkeit und Musik imLuthertum des 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. 148.

40 A. Werckmeister, Musicalische Paradoxal-Discourse, Quedlinburg 1707, S. 92 f.41 „Die Zahl 37 (4 x 9 + 1) bezeichnet die Vereinigung der Gemeinde der Ecclesia, die

sich aus den Gläubigen der vier Weltteile zusammensetzt, mit der Gemeinschaft der En-gel.“ H. Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch, München1975 (= Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 25), S. 159.

α β γ

a aa' ''

A A A''

oder a b a (in A )' ''

(Halteton, Tirade, Seufzer )"

"

_____ _____1

2 3

_____ _____

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„Es ist genug“

2. Daß die Figürlichkeit aller Phrasen darüber hinaus von der Ikonografie desbiblisch-lutherischen Logos, dem fleischgewordenen Wort und seinem Erlö-sungstun, geprägt ist, dazu noch ein Hinweis. Man sollte nicht von der Radi-kalität des Bachschen Ausdruckswillens reden, wenn man nicht erkennen will,daß dieser sogar die tonsprachlichen Elemente zum Reden zu bringen vermag.Scheut man dieses Verständnis nicht, so vernimmt man schon im ersten Ario-so den Hinweis auf den, der redet und der sich nach Offenbarung 1,8 als das„A und O, der Anfang und das Ende“ zu erkennen gibt. Das erste Intervall a-d' ist auch das letzte d-A. Die Figur, die aus dem initialen „Schwellenton“(bzw. Schwellton) rhythmisch-melodisch emaniert, der katabasierende Hexa-chord, über ihre Bedeutung ist kaum ein Zweifel möglich: Luther ließ außerdem einen, hier ausgedrückten, keines der geistlichen Stufenschemata der ro-manischen Mystik gelten: „Christus hat in seiner Herabkunft die Himmelslei-ter bereitet, eine andere gibt es nicht“42.

3. Die skizzenhafte Interpretation hat zu vergegenwärtigen versucht die sinnli-che, einbildliche und intellektuale Gegenwart des Geistes in der komponiertenForm des Arioso. Sie kann so als „incarnatio mystica“ verstanden werden43.In der evangelischen suavitas von Bachs Musik ist Christus, der Logos, leib-haftig, sinnlich gegenwärtig. In Bachs Arioso zieht er ein auditives Bild undGleichnis an, damit er uns, wie Luther es in einer Weihnachtspredigt aus-drückte, „mit seinem Bild, mit seiner Gestalt und seinem Gleichnis beklei-de“44. Im „sacrum commercium“, im „wunderlichen Tausch“ einer experi-mentia sub contraria specie im Rezitativ Nr. 4 ist dem Hörer die Barmherzig-keit Gottes kundgetan. Christi Geburt im Herzen der „Furcht“, eine Einwoh-nung im „verbum spirituale“ geistlicher Musik, bedeutet die Neugeburt desMenschen im todesüberwindenden Glauben45.

42 A. M. Haas, Luther und die Mystik, a. a. O., S. 186, vergleiche Luther WA, S. 144,Z. 3 f.

43 Luther, WA 4, S. 3, Z. 19.44 Luther, WA 1, S. 28, Z. 27 ff.45 In welchem Ausmaß die hier skizzierte Vorstellungswelt der lutherisch-orthodoxen

Mystik die Kunstgeschichte und vor allem die Musik geprägt hat, kann aus heutiger Sichtgar nicht überschätzt werden. Wenig darüber ist bekannt. Die Saat, die in den praecepta dermusikalischen Rhetorik aufging, hat nie so recht Früchte getragen. Sie blieb in der Propä-deutik stecken. Und die Werke, in denen sie aufging, sie lagen erst dann vollständig undphilologisch zuverlässig vor, als das Interesse an der Spiritualität von Luthers Logos-Theo-logie außerhalb deren theologischer Reservate der Theologie bereits erloschen war.

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Heinrich Poos

Wir brechen hier ab, nicht ohne zu schließen mit einem Gedanken Fried-rich Ohlys, der für den von uns verfolgten Zusammenhang unentbehrlichscheint:

Die Musik des Himmels als etwas mannon seltanaz will mehr als gehört [...], will im Gei-ste aufgenommen werden, eine akustische Transparenz auf den spirituellen Sinn ihrer Formhin gewinnen, um – schön vor Gottes Angesicht – auch für den Menschen in ihrer Unbe-greiflichkeit schön zu werden, wenn er sie am Ende wie mit Gottes Ohren hört, der (selboscówot er thaz, bi thû ist iz scónaz) ihre spirituelle Schönheit unmittelbar anschaut, wäh-rend sie dem Menschen das Auge der Hermeneutik vermittelnd erschließt46.

Überleitung

Wir haben der Untersuchung des Bachschen Choralsatzes eine frömmigkeits-geschichtliche Skizze vorangestellt, weil wir meinen, ohne diese Vorausset-zungen die Gründe, die den Komponisten zu seiner Umarbeitung des Ahle-schen Chorliedes veranlaßt haben mögen, nicht verstehen zu können. DieLiedstrophe Burmeisters reicht nicht aus, um in der Musik den enthusiasti-schen Ton der „Seelenmusik“, der ihren Ton der „süßen Freude“ kontrapunk-tiert, mit einer gewissen Sicherheit zu bestimmen. „Die heftige Bewegung /dadurch der Heilige Geist das Herz treibt / ist die Freude“47. Von ihr als einer„Sterbensfreudigkeit“ wird im folgenden die Rede sein.

Der Choralsatz ist nicht bloßer Appendix der Kantate. Sein kunstvollesÄußeres ist nicht nur die Stilisierung einer weniger kunstvollen Vorlage, vor-genommen zu dem Zweck, diese einer höheren Stilebene anzupassen. DerChoralsatz BWV 60, Nr. 5 ist die peroratio der dialogischen Kantatenrede, inder die ideengeschichtlichen Motive aus den vorhergehenden Redeteilen glei-chermaßen summieren als auch kulminieren. Aus diesem Grund meinten wir,auf deren Vor-Stellung notwendig nicht verzichten zu können.

46 F. Ohly, Geistige Süße bei Otfried, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeu-tungsforschung, Darmstadt 1983, S. 103.

47 H. Müller, Himmlischer Liebeskuß, Leipzig und Frankfurt 1659, S. 206.

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„Es ist genug“

Zu Johann Rudolph Ahles Chorlied

Beispiel 1: Ahles Chorlied „Es ist genug“

Indem wir die historisch greifbaren Voraussetzungen des Bachschen Choral-satzes benennen, erinnern wir an die rhetorische Trias der praecepta, exempla

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und imitatio48. Eine doctrina als eine überlieferte Lehrmeinung, die wir zuRate ziehen könnten, um Bachs artifizielle Choralharmonisierung zu erklären,kennen wir nicht.

Der Vergleich eines Bachschen Choralsatzes mit einem historisch früherenSatz zu demselben cantus firmus vermag oft Antworten auf die Frage zu ge-ben, welche Absichten Bach bei dessen Nachahmung geleitet haben mögen.Der vorliegende Fall ist diesbezüglich sehr einfach: Einziges exemplum istAhles Chorlied49. Auch ist ein anderer Satz Bachs über dieselbe Melodie nichtbekannt.

Carl von Winterfeld war der erste Musikhistoriker, der Ahles Chorlied ei-nen ausführlichen Kommentar widmete:

Er beginnt zu vieren, mit diesen, von den höheren Stimmen vorgetragenen Worten; danntreten die drei tieferen Stimmen, in gleicher Melodie, mit der zweiten Hälfte des Aufgesan-ges ein; wechselnd tragen darauf die 3 höheren und 3 tieferen Stimmen die erste und diezweite Zeile des Abgesanges vor, und, kräftig zuerst, dann sanft, endet der volle sechsstim-mige Gesang, mit der letzten, kurzen Zeile: „Es ist genug.“ Alles dieses ist kunstmäßig,mannichfaltig geordnet, überall aber ist die liedhafte Form das unbedingt Vorherrschende,ungebrochen und in stetem Flusse erscheint die Melodie in der jedesmaligen Oberstimme,in zeitgemäßer, faßlicher Gestalt, weshalb sie denn auch leicht in dem Gemeinegesangeheimisch werden konnte50.

Den „eigenthümlichen Ausdruck des Anfangs“ erkannte Winterfeld darin,

[…] daß die Modulation, obgleich, ihrem Wesen zufolge, nach der Oberquinte des Grund-tones der Singweise gerichtet, dieses Ziel bei deren erstem Ruhepunkte doch nicht erreicht,sondern auf dem Tonverhältnisse verweilt, das bei der Nähe des angestrebten Zieles dasVerlangen danach am lebhaftesten erregt, auf dem Leittone der Tonart, in welche ausgewi-chen werden soll. Es war der Ausdruck der „Sehnworte des Elias“, auf welchen das LiedBurmeisters beruht, [...]51.

Ahles Erfindung ist ein Paradoxon: Der A-Dur-Tonleiter okuliert er eine Ton-folge der quinthöheren Tonart. Er vermischt die harmonische mit der arithme-tischen Teilung zweier Tonarten in einem Ausdruck poetischer „Scharfsinnig-keit“. Das Paradoxon ist ein musikalisches Sinnbild des Transzendierens, desÜbergangs von einer unteren in eine obere Sphäre. Ahles Chorlied läßt sichals ein Sterbelied verstehen. Sein Ton kommt von jenseits der Grenze, deren

48 Zur Tradition der exempla vgl. W. Barner, Barockrhetorik, Tübingen 1970, S. 59 ff.49 Ahles Chorlied ist die Nr. 9 aus dem Band Drittes Zehn neuer geistlicher Arien,

Mühlhausen 1662. Vergleiche Johann Rudolf Ahles ausgewählte Gesangswerke, hrsg. v.J. Wolf, in Neuauflage hrsg. u. krit. revidiert v. H. J. Moser, Wiesbaden und Graz 1957 (=Denkmäler Deutscher Tonkunst, 1. Folge, 5. Bd.).

50 C. v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst desTonsatzes II, Leipzig 1845, S. 308 (Nachdruck Hildesheim 1966).

51 Ebenda, S. 321.

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„Es ist genug“

Überschreiten eine Rückkehr ins tätige Leben unmöglich macht. In der Eu-phonie der ersten Zeile scheint frömmigkeitsgeschichtlicher Aspekt instru-mentiert, die Ausdruckswelt pietistischer Himmelssehnsucht in schlichten mu-sikalischen Äquivalenten zur Vorstellung gebracht.

Die Liedweise ist durch eine auffällige Dichotomie ausgezeichnet. Sie istausgedrückt durch eine melodische Affinität, die die viertönigen Stollenanfän-ge mit dem Ende des Abgesangs verbindet. Die viertönigen Phrasen erklingenjeweils zweimal und bilden den Rahmen der Barform des Chorliedes. In ihrerSinnbildlichkeit sind, wenn wir ihre Überdeutlichkeit noch recht verstehen,die im transzendentalen Diskurs gründenden und sich bedingenden Aus-drucksgebärden von Himmelssehnsucht und „tröstendem Zuspruch von oben“durch eine dispositionelle Geometrie veranschaulicht: steigender, durch diequarta superflua verfremdeter Tetrachord und fallende trias harmonica perfec-ta stehen sich spiegelbildlich gegenüber.

52 Vergleiche hierzu das Kapitel „Die Verankerung der Rhetorik im Bildungswesen des17. Jahrhunderts“ in: W. Barner, Barockrhetorik, a. a. O., S. 241 ff.

Bachs theologisch orientierte Schulbildung (Eisenach, Ohrdruf, Lüneburg) ist im we-sentlichen durch drei Namen bestimmt: Leonhard Hutter (Compendium locorum theologi-cum ...), Johann Amos Comenius (Vestibulum ianuae linguarum) und Andreas Reyher (Sy-stema logicum). Comenius’ Vestibulum (1633), das wohl erfolgreichste, in 24 Sprachenübertragene Schulbuch überhaupt, vertrat die neuplatonische Auffassung einer Korrelationvon Makro- und Mikrokosmos durch die erkennende Mitwirkung des Verstandes am göttli-

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durch Vertauschung der Innentöne entsteht hieraus:

Notenbeispiel 2

Worauf will die Antithese aufmerksam machen? Das Gedankengerüst Ahleshat die Form eines Kreissatzes. Ihm eingeschrieben ist die Identität des A undO der vita christiana. Die genaue Reziprozität ist in der Mitte durch einenChiasmus verfremdet. Die scharfsinnige Erfindung fordert den Hörer heraus,die Innenglieder zu vertauschen, damit die Identität der beiden Figuren sicherweisen kann. Das melodische Sinnenbild auf seinen theologischen Gehalthin durchsichtig zu machen, durch den musikalischen Sinn auf den geistigenSinn zu schließen, das war nun gewiß für jeden Zeitgenossen Ahles ein oft ge-übtes „Kinderspiel“52. Über Ahles Erfindung läßt sich nicht mit einer Redens-art hinwegsehen. Im komponierten Meditationsbild sind aufsteigender Tetra-

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Heinrich Poos

chord als menschliche Frage (pathopoeia) und fallende trias harmonica alsgöttliche Antwort (Figur der Inkarnation) durch den Chiasmus, das Christus-symbol, zum Ausdruck der Einigung der Substanzen des dreieinigen Gottes(Dreiklang) mit dem gerechtfertigten Menschen gebracht53. Ahles Erfindungläßt sich als ein Emblem der lutherischen „unio mystica“ verstehen. In ihmkommt zum Ausdruck nicht nur die Einigung des Willens – im steigenden undfallenden, fragenden und antwortendem „es ist genug“ – sondern auch desWesens: Die Einigung durch Christus (Chiasmus) ist die Einigung mit Gott(trias harmonica)54. Als „dispositionelles Leitmotiv“ gibt die Figur dem Bur-meisterschen Strophenlied einen musikalisch-spirituellen Rahmen.

Der Kontrapost der beiden die Kantate BWV 60 rahmenden Liedweisenofferiert übrigens eine analoge, das Ganze umgreifende Konstruktion. Nichtnur, daß hier, worauf Alfred Dürr bereits hinwies55, die Initialzeile von AhlesMelodie ein verzerrendes Echo auf die zweite Hälfte der ersten Zeile des Rist-schen Liedes gibt, auch dessen erste Hälfte weist das vergleichende Ohr aufdie Verwandtschaft mit Ahles letzter Liedzeile. Die Pointe des Vergleichs, indem der „Scharfsinn“ der Bachschen Disposition gründet und der die Sinnig-keit seiner Liedauswahl verdeutlicht, macht das folgende Schema anschaulich.Die „Vergleichung“ konnte die Identität des Verglichenen anschaulich ma-

chen Ordnungszusammenhang der Welt. Vergleiche hierzu M. Petzold, Zwischen Orthodo-xie, Pietismus und Aufklärung. Überlegungen zum theologischen Kontext Johann Sebasti-an Bachs, in: Johann Sebastian Bach und die Aufklärung, hrsg. im Auftrag des For-schungskollektivs ‚Johann Sebastian Bach‘ an der Karl-Marx-Universität Leipzig v.R. Szeskus, Leipzig 1982 (= Bach-Studien, Bd. 7), S. 66–108.

53 Man erinnere den Arienanfang „Kreuz und Krone sind verbunden“ der KantateBWV 12,4, eine der vielen textlich-kompositorischen Antithesen des Bachwerkes, die hierwie allgemein in der oxymoresken Ausdruckswelt des literarisch-musikalischen Barock ei-nes ihrer klassischen Vorbilder hat. Hierzu: H. Poos, Kreuz und Krone sind verbunden.Sinnbild und Bildsinn im geistlichen Vokalwerk J. S. Bachs. Eine ikonografische Studie,in: Musik-Konzepte 50/51, 1986, S. 3–85. (Vergleiche S. 43?***)

54 Zum Begriff der unio mystica vergleiche E. Vogelsang, Die unio mystica bei Luther,a. a. O.

55 A. Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, a. a. O., S. 519.56 Daß die erste Choralzeile den passus duriusculus impliziert, dessen chromatische

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Notenbeispiel 356

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„Es ist genug“

chen. Bachs homiletische (Ton)Kunst brachte die natürliche Kausalität von„Donnerwort“ und superlativer Sprachgebärde, dazu die transzendentale vonEwigkeit und metaphysischem Trost nach dem Vorbild Ahles durch die Wei-sungsgeometrie des Kreuzes von Golgatha auf einen lakonischen Nenner.

Zum Verhältnis von Phänomen- und Bedeutungssinn des BachschenChoralsatzes

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Halbtöne durch die detractio „weggekürzt“ werden, macht deren Rekonstruktionsversuchdeutlich:

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Notenbeispiel 4

Die Antithese ist die Grundfigur der Ausdruckswelt der Kantate Nr. 60. DasAffektpaar „Furcht und Hoffnung“ (metus et spes) begleitet den Argumentati-onsablauf bis zu dessen katharsis. Der Choral Nr. 5 bringt das „Vor-läufige“der Kantatensätze 1–4 auf den Punkt eines „End-gültigen“, einer abschließen-den Sentenz. Schon die erste Zeile führt den Hörer „in medias res“. Mit wel-chen kompositorischen Mitteln hat Bach hier, auf der höchsten, den Kantaten-zyklus übertönenden Affektstufe, die Grundfigur des Dialogs, die Antithese,in einer unerhörten Pathosformel zur Aufhebung gebracht, um diese in dieEthosformel der finalen Zeile zu überführen?

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„Es ist genug“

Kontrapunkt

Die „harte Schale“ der Außenstimmen umhüllt den „weichen Kern“ der In-nenstimmen. Der „Ausdruck des Anderen“ ist durch einen zweistimmigenimitatorischen Kontrapunkt der Phrase eingeschrieben. Wenn nun aber kaumzweifelhaft ist, daß die gradatio der Außenstimmen als ein im theologisch-rhetorischen Formenkanon selbstverständlich „nach oben“ gerichteter Aus-druck existentieller Not und „Himmelssehnsucht“ verstanden werden kann, soliegt auch die Wahrscheinlichkeit nahe, den Kontrapunkt der Innenstimmenals einen Ausdruck der Hoffnung verstehen zu müssen. Und in der Tat: Die„Stimme der Hoffnung“ in Nr. 3 zeigt in den Takten 21 f., an einem der Kul-minationspunkte des Furcht-Hoffnung-Dialogs zu den Worten „mich wird desHeilands Hand bedecken“, einen Kontrapunkt, der sich als die Sequenzierungeiner zweitaktigen Phrase über einen chromatisch aufsteigenden Baß beschrei-ben läßt57. Als sein „motivischer“ Vorläufer kann die Tenorstimme von Nr. 1,Takt 35–36 gelten. Beide „Fundstellen“, die zeitraffende Harmonieformel vonNr. 1 und die (zum Zwecke ihrer Anpassung an die Choralzeile verdichtete)melodische Sequenz von Nr. 2, sind in der ersten Choralzeile gegenwärtig.

Der durchimitierte Satz der ersten Zeile drückt den engsten Kontakt zuminventionalen Ganzen der Kantate aus58. Die unerhörte Gleichzeitigkeit vonstilus theatralis (Harmonik) und stilus gravis (imitatorische syncopatio der In-nenstimmen) ist, so gesehen, ein klassisches Beispiel für die Rezeption der lu-therischen experimentia sub contraria specie – für den musikalischen „concet-tismo“ im 18. Jahrhundert.

Das ungewöhnliche Verfremdungserlebnis, das der Choralanfang vermit-telt, gründet im Stoff, an den die Kantate anknüpft. Das christliche Parado-xon, auf das das Evangelium von der Totenerweckung aufmerksam machenwill und das der Kantatendialog versinnlicht, ist aufgehoben und verdichtetim komponierten Oxymoron der ersten Choralzeile. Ihre figürliche Analyseverdeutlicht einen intellektuellen Aspekt, in dem die Absicht des movere deut-lich wird, die Art und Weise des „nervosum dicendi genus“, die hier gleich-zeitig zum Ausdruck kommt, haben wir in der Untersuchung ihrer Harmonikauszuarbeiten.

57 Die spannungsfördernde Absicht ist deutlich: Die Phrasierung der Oberstimme(Furcht) ist der Sequenz (D-G, E-A, Fis-H ...) konform. Die Unterstimme (Hoffnung) ak-tualisiert deren harmonisch „tote“ Intervalle zum Zweck der affektischen Steigerung.

58 Dies scheint auch in „umgekehrter Richtung“ zu gelten. So machte Alfred Dürr aufdie Ähnlichkeit der Initialphrase von Nr. 2 mit dem Choralanfang aufmerksam; Die Kanta-ten von Johann Sebastian Bach, a. a. O., S. 518.

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Heinrich Poos

Harmonik

Um uns des Ausdrucks der Harmonik der ersten Choralzeile zu vergewissern,wollen wir diese zunächst im Kontext der Generalbaßharmonik erklären. Wirwählen dazu einen Vergleich, den der Komponist selbst nahelegte. DenselbenTetrachord harmonisierte er in der Stollenwiederholung anders, und zwar so,daß wir in ihr eine harmlosere Variante59 der ersten Zeile zu erkennen vermö-gen.

In sinnstiftender Absicht hat Bach die Hoffnungsformel Burmeisters,„Mein Jesus kömmt“ durch eine satztechnische Formel vertont, die ich in ei-nem anderen Zusammenhang den „Crux-gloria-Topos“ genannt habe. Das in-ventionale Instrument hatte für Bach die Qualität eines Gnomon, weil es einenSpruch verkörperte, der als lakonische Summe des zweiten Glaubensartikelsvergegenwärtigt werden kann60. Der Harmonik der vierten Choralzeile (mitEinschluß ihres transitus zur fünften) liegt der toposspezifische Gerüstsatz zu-grunde, den wir (nicht ohne Hintersinn) durch seinen locus classicus, derSchlußfuge der Motette „Fürchte dich nicht“ (BWV 228), vorstellen.

59 Die literarische Rhetorik bezeichnet ihre Funktion als eine „glossierende Synono-mie“; dazu H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, a. a. O., § 284.

60 Hierzu H. Poos, Kreuz und Krone sind verbunden. Sinnbild und Bildsinn im geistli-chen Vokalwerk J. S. Bachs. Eine ikonographische Studie, a. a. O. Die dort bezüglich desToposbegriffs gemachten Ausführungen seien hier ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegendurch einige Sätze aus den Elementen der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg(a. a. O., § 83) ergänzt:

„E.R. Curtius hat den Begriff des Topos in die Literaturwissenschaft eingeführt, undzwar im Sinne eines ‚infiniten (in seiner infiniten Fassung formulierten oder nicht formu-lierten) Gedankens, der in einem Kulturkreis durch Schulbildung und literarische Tradition

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Notenbeispiel 5 aus BMV 228

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„Es ist genug“

Den erweiterten Gerüstsatz der vierten Choralzeile gibt das folgende Beispielwieder:

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Notenbeispiel 6

oder durch die Wirkung analoger Erziehungsinstanzen Gemeinbesitz mindestens gewisserGesellschaftsschichten geworden ist und nun von einem Schriftsteller auf seinen finitenBehandlungsgegenstand, sei es in ausführlicher, sei es in kurzer Form, finit angewandtwird.‘ [...] – Der Leser, der in Unkenntnis des Topos die vorgefundene finite Formulierungdes Schriftstellers für eine völlig originale Gelegenheitsleistung dieses Schriftstellers hältund so semantisch überbewertet, irrt ebenso wie der Leser, der, blasiert durch die Kenntnisdes Topos, die vorgefundene finite Formulierung des Schriftstellers nur für nichtssagendensemantischen Leerlauf hält. Der Topos ist eine Form, die (wie ein Gefäß bald mit Wasser,bald mit Wein: jeweils mit verschiedener Funktion) mit jeweils aktuell gemeintem Inhaltgefüllt werden kann. Die Erkenntnis, daß ein in einem Text angetroffener Gedanke einemTopos entspricht, ist historisch wertvoll und auch für das Verständnis des betreffenden Tex-tes nicht wertlos, wenn man beachtet, daß der Autor den Topos finitisiert und in den kon-kreten Kontext eingefügt hat, wo er seine aktuelle Funktion erfüllen soll, ebenso wie imBereich der Grammatik ein Konjunktiv eine aktuelle Funktion zu erfüllen hat.“

Die Ergebnisse neuerer Toposforschung faßt zusammen der Sammelband Toposfor-schung, hrsg. v. M. L. Baeumer, Darmstadt 1973.

61 Die Figur tritt häufig auf in der Kantate. Zum Beispiel Nr. 1, Takt 35 (der „Typus“der 1. Choralzeile), Nr. 2 („Todesangst“) und Nr. 4, Takte 3, 9–10, 16, 24, 29. Nach dem„Glücksumschwung“ verschwinden die Detraktionen. Die einzige am Ende ist ein um sowirkungssicherer Ausdruck eschatologischer Ungeduld.

In der Choralzeile ist dessen viertes Glied mit dem fünften zusammengezo-gen, was in der Gleichzeitigkeit des Fundamenttones D (nach „links“ bezo-gen) und H (nach „rechts“, auf die nächste Zeile weisend) zum Ausdruckkommt. Das „Motiv der Variation“, das Bach verwendete, um Choralzeile undTopos kompatibel zu machen, ist die detractio61. Durch seine Wirksamkeit er-scheint komponierte Zeit als eine verdichtete. Als „schwere“ Zeit ist sie kom-positorisches Analogon zur betonten Zeit des Wortakzents. Die detractio istvor allem aber die kompositorische Figur des „Augenblicks“. In ihm werden„buchstäblich“ die „Zeitschranken“, die Vergangenes und Zukünftiges tren-nen, zur Aufhebung gebracht. Die durch den Text ausgedrückte „Ungedulddes Herzens“ antizipiert metaphorisch die „visio beatifica“ in der Zeit.

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Heinrich Poos

Die erste Choralzeile wird nun auch nach demselben „harmonietechni-schen“ Verfahren als ein „Superlativ“ aus dem „Komparativ“ der vierten Zeileentwickelt. Der Gerüstsatz des Topos fällt der gradatio der Außenstimmen unddem imitatorischen Kontrapunkt der Innenstimmen zum Opfer. Das Verhältnisder vierten zur ersten Zeile läßt sich als das von Thema und Variation be-schreiben: Die Fundamente des „Themas“ A-(D)-H werden durch deren klei-ne Unterterz, die Fundamente H und (Gis) ersetzt.

Ein analoges Verhältnis spiegeln die beiden Schlußzeilen. Ihre Vergleichungmacht auf die Wirksamkeit desselben harmonischen Motivs aufmerksam. Inspürbarer Zurücknahme des Ausdrucks in den Zeilen 1 und 4 wird jetzt nurnoch die zweigliedrige harmonische „Systolenformel“ der Zeilenanfängenachgeahmt. Akkordfolge und Baßtöne sind mit be-deutender Absicht imKrebs gespiegelt. Die zweite Hälfte der vorletzten Zeile, deren Baß noch ein-mal an die erste Melodiezeile erinnert, ist durch den harmonischen Parallelis-mus nur leicht verfremdet. Im Zusammenhang läßt er sich als die sukzessiveDarstellung der Kleinterzsubstruktion verstehen. Im Parallelismus der Ak-kordfolge E-A-Cis-Fis ist der Crux-gloria-Topos der vierten Zeile erinnert.Doch erst mit der allerletzten Arsis-thesis-Formel des vollkommenen Ganz-schlusses der zehnten Choralzeile sind sämtliche Komplikationen des harmo-nischen ordo naturalis zur Aufhebung gebracht.

Indem Bach überlieferte Redensarten, das erwähnte Kontrapunktmodellund die authentische Klausel, einem einzigen Variationsprinzip unterwarf,stellte er die wirkungsvolle Buntheit eines opulenten „disegno esterno“ unterein vereinheitlichendes Prinzip. Das einheitstiftende Moment läßt sich kom-positorisch als entwickelnde Variation des Motives der harmonischen detrac-tio benennen. Das harmonische Material, das sie „verdichtet“, ist die aufstei-gende Quintschrittsequenz, die die erste mit der zweiten und die vierte mit derfünften Zeile verbindet.

Wenn wir damit zunächst die Wirksamkeit des Motivs in den miteinanderverglichenen Zeilen aufgezeigt haben, so haben wir bisher noch wenig nach

Notenbeispiel 7Die Harmonik der 1. Choralzeile als entwickelnde Variation der 4. Zeile

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„Es ist genug“

dem Wesen dessen gefragt, was durch die motivische Arbeit als die „Arbeitdes Geistes aus geistfähigem Material“ heraus „entwickelt“ wird, um als „voninnen heraus gestalteter Geist“ am Ende verstanden werden zu können. Auf-fällig wurde zunächst eine allmähliche qualitative Verschiebung der Sprach-ebenen in den verglichenen Zeilen: Ein lineares Gefälle leitet das Ohr aus derobskuren „superlativischen Gebärde“ der Initialzeile über deren „Komparativ“in der vierten Zeile in ihr vollkommenes Gegenbild, die kompositorische cla-ritas der finalen A-Dur-Kadenz.

Im Kontext der Kantate läßt sich über die Bedeutung der vorgestelltenPhänomene vielleicht soviel sagen: Die entwickelnde Variation der Pathosfor-mel der Initiale weist in Richtung des oben vorgestellten melodischen Rah-mens von Ahles Liedweise. Deren sinnstiftender Spiegelgeometrie wird durchden kompositorischen Diskurs eine „Seele“ verliehen. In die kontrapostischenEmbleme kommt Bewegung. Ihre statische Bildlichkeit wird liquidiert. Zwi-schen Pathosformel und Ethosformel vermittelt komponierte Zeit. Diese Zeitist gerichtete Zeit, sie hat Form, die sich durch den Stoff hindurch entwickelt.Und weil sie anfangs eine größere Dichte hat als am Ende62 und dies durch ei-nen Prozeß vermittelt wird, ist die Zeit des Chorals als psychologische, proto-kollarische Zeit qualifiziert. Was hat sie zu Protokoll gegeben? Die Antwortkann aufgrund des bisher Erarbeiteten nur lauten: die Überwindung der An-fechtung. Die lakonische Gebärde des Anfangs bedeutet Furcht; ihr korre-spondiert der Ausdruck der Gelassenheit am Ende. Vermittelt werden die Rah-mengebärden durch einen textlich-musikalischen Ausdruck der entgegenkom-menden Liebe Gottes63, durch den wir auf das kompositorische Ferment auf-merksam wurden, das uns die Entelechie des Chorliedes, seine kompositori-sche „agitatio“ (Melanchthon), verständlich machte.

Die Einheit des Affekts ist im protokollarischen Ausdruck „freudigen Ster-bens“ zur Aufhebung gebracht. Im Bewußtsein des Sterbenden, so sagt man,resümiert ein „letztes Stündlein“ ein ganzes Leben. Ähnlich hier: In 20 Cho-raltakten ist die Fabel als das „innere Erlebnis“, das der Kantatendialog ent-faltet, in ihren Grundzügen gegenwärtig. Durch die Vielheitlichkeit der Cho-ralzeilen hindurch zieht sich jedoch der „eine Ton“, der das Ohr auf einendem Ganzen exzentrischen „Bildmittelpunkt“ lenkt. Wer an ihn gelangt, hatdie Welt der Affekte hinter sich gelassen. Aus der Maßlosigkeit, der chaoti-schen Diversität eines Ausdrucks der musica pathetica, führte der komposito-rische Diskurs in die Unität der finalen trias harmonica. Die Pathosformel

62 In der ersten Zeile sind sechs Fundamente (A-E-A-Fis-H-Gis) zu vier zusammenge-zogen, in der zehnten Zeile koinzidieren Metrum und Fundament in einem vollkommenenAusgleich nach Maßgabe der Gattungsnorm.

63 Vergleiche den sprachlichen Ausdruck von dessen Typus im Hohen Lied 1,8.

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Heinrich Poos

wird in eine Ethosformel überführt. Das griechische Wort Ethos meint Woh-nung, Wohnort in dem Wortsinne, der auf Heimat deutet. Die letzte trias har-monica, die im Choral auch die erste war, ist hier nicht nur das, was auch ananderem musikalischem Ort vielfältig-schlicht da ist, sie bedeutete dem zeit-genössischen Hörer Bachs den Ort, wo Gott ist, von dem alle Bewegung aus-ging, um in ihm – am Ende der Zeit – zur Ruhe zu kommen64.

Zum „pararhetorischen“ Aspekt des Chorals

Denn oft läßt er den Gedanken, von dem sein Satz ausging, in der Schwe-be und schiebt inzwischen wie eine fremdartige und unwahrscheinlicheAnordnung immer wieder anders mitten und irgendwie von außen hineinund versetzt den Hörer in Furcht, die Konstruktion des Satzes könnte völ-lig zerbrechen, und zwingt ihn, aus persönlicher Beteiligung mit dem Hö-rer die Gefahr zu teilen, dann, unerwartet, nach langem Abschweifen, amSchluß im richtigen Augenblick läßt er den längst gesuchten Hauptsatzauftauchen und überwältigt oft eben durch den kühnen und waghalsigenGebrauch des Hyperbaton.

(Pseudo-Longinus, Vom Erhabenen)

Vom Interpreten und Hörer fordert der Choralsatz Bachs den Nachvollzug desartifiziellen Vorgangs, des Kunstgriffs. Formintellektualismus und die Lehrevon den „öberen eingiessungen“65 gehen in der Auffassung der poetischen wieauch der poetisch-musikalischen Sprache als eines Organons göttlicher Offen-barung im literarischen Barock eine innige Verbindung ein. „Indem der Dich-ter in fast wissenschaftlicher Weise neue Sprachformen sucht und findet, of-fenbart er verborgene Welt. Dichten wird zur Welt- und damit Gotteserkennt-nis“66. Insofern läßt sich auch der Bachsche Stilwille als religiöser Formalis-mus definieren. Und von hier aus läßt sich dann auch erkennen, daß BachsKontrapunkt in einer erschöpfenden Anstrengung des Begriffs motettischerKomposition das traditionelle Modell des oberstimmenorientierten Kantional-satzes – der in Ahles Chorlied nachgeahmt ist – die epideiktische musikali-sche Rede, aus seiner Begrenztheit der „Einstimmigkeit“ des contrapunctus

64 Zur Emblematik der trias harmonica vergleiche R. Dammann, Der Musikbegriff imdeutschen Barock, a. a. O., S. 84 u. a.; zum Begriff Ethos das Historische Wörterbuch derPhilosophie, hrsg. v. J. Ritter u. a., Bd. 2, Stuttgart 1972, Sp. 812–815.

65 Albrecht Dürer, zitiert nach E. Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers,München 1977, S. 372.

66 C. Wiedemann, Johann Klaj und seine Redeoratorien. Untersuchungen zur Dichtungeines deutschen Barockmanieristen, Nürnberg 1966 (= Erlanger Beiträge zur Sprach- undKunstwissenschaft, Bd. 26), S. 74.

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„Es ist genug“

simplex befreit und zu einem vielstimmigen Instrument, einem sämtliche Gat-tungen der Kirchenkantate alludierenden Manual musiksprachlicher Form um-gebildet hat. Das strukturelle Konzept ihres sprachpoetischen Analogons hatConrad Wiedemann „pararhetorisch“ genannt. Wiedemann verdeutlicht durcheinen Vergleich:

Während der Aufklärer67 seine Kunstformen aus einer offenbaren Welt bezieht, schafft derhoch- und spätbarocke Dichter, als der Entdecker einer verborgenen Welt, Formen des Un-wahrscheinlichen, deren Bezüge zur dargestellten Sache nicht ohne weiteres klar sind, son-dern erst durch einen Erkenntnisakt verifiziert werden müssen. Form, die dem Dichter ei-nes Hoch- und Spätbarocks ‚ziemlich‘ scheint, deckt neue, gesuchte Analogien in Bild undKlang auf und verbindet scheinbar Widersprüchliches. Das iudicium hat nicht zu entschei-den, wie man eine Sache am klarsten und damit am gefälligsten ausdrücken kann, sondernwie man sie auch oder gerade noch ausdrücken kann. Diese wichtigste ästhetische Maximedes Barockmanierismus kann jedoch aufgrund ihrer Tendenz zur Verrätselung nur noch be-dingt als rhetorisch gelten – sie ist pararhetorisch68.

Wiedemann spricht von zwei gleichzeitig auftretenden Sprachnormen und un-terscheidet durch einen Vergleich ihrer „immer wiederkehrenden Charakteri-stika [...]“

[...] eine gewissermaßen konventionelle, der reinen Wirkungsästhetik der Rhetorik entspre-chende, welcher Ausdrücke wie

angenehm, anmutig, artig, hurtig, kunstrichtig, lieblich, nachdrücklich, natürlich, zierlich

angehören und eine andere, moderne, d. h. pararhetorische, mit Ausdrücken wie curiös, be-sonders, fremd, geistreich, neuartig, scharfsinnig, sinnreich, spitzfindig, ungewohnt, ver-blümt, witzig69.

Nicht nur, daß die beiden Stilebenen im Bachschen Choral deutlich werdendadurch, daß sie sich am Anfang und am Ende gegenüberstehen und, wie sichzeigen ließ, die eine aus der anderen aus einem kompositorischen Diskurs her-aus entwickelt wurde: Der antithetische Formalismus des Kantatendialogs hatsich in den Zeilen und deren zwei- und dreiteiliger Syntax noch tiefer einge-prägt. Einer illuminierten Majuskel vergleichbar, die das Ganze einer Periko-pe zur „Vor-stellung“ bringt, sind der initialen Hieroglyphe Bachs komposito-rische Figuren eingeschrieben, deren antithetische Eigenschaften der Text zurVerfügung stellt, damit das obligate Furcht-Hoffnungs-Schema (bzw. dessenmusiksprachliche Abstraktionen in Gestalt „tonsprachlicher Antithesen“) in

67 Wiedemann spricht hier von Eduard Neumeister (1671–1756), „der bereits wiederein horazisch-klassizistisches Geschmacksurteil“ vertrat, ebenda, S. 122.

68 Ebenda.69 Ebenda, S. 123.

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Heinrich Poos

der recapitulatio der geistlichen Rede, dem Schlußchoral, wiedererkannt wer-den. Der „concettismo“70 des Choralanfangs läßt sich durch ein Schema ver-anschaulichen.

Die Initialzeile als kompositorische Antithese

70 Die Rezeption der wirkungsmächtigsten Schrift des europäischen Manierismus, Bal-thasar Gracians Arte de Ingenio, Tratado de la Agudeza (Madrid 1642) hat hier (und nichtnur hier) die Formenwelt der Bachschen Kantate erreicht. Vergleiche hierzu auch H. Poos,Gesualdos Madrigal ‚Moro lasso al mio duolo‘, in: Chormusik und Analyse, hrsg. v.H. Poos, Mainz 1983, S. 87–102; dort S. 97 f.

Das Verhältnis der ersten zur zweiten Choralzeile ist bezüglich der Modulati-on, des harmonischen Rhythmus, der Satztechnik und der Figur (anabasis –katabasis) als durchweg antithetisch charakterisiert. Die dritte Zeile kann alseine vorläufige Synthese gehört werden: Die beiden harmonisch „labilen“

SIMULTAN

SUKZESSIV

Die Tonart wird anfangs klar, danach infrage gestellt.(claritas von A-Dur) (obscuritas von A-Dur)

Zwei diatonische Akkorde, zwei chromatische Akkorde,kadenzierend modulierend

claritas der beiden Fundamente obscuritas der vier Fundamente((A) Fis, (H) Gis)

zwei Konsonanzen zwei Dissonanzen(variatio (Alt), syncopatio (Tenor))

Thesis – Arsis Arsis – ArsisDer harmonische Rhythmus weist Der Harmonietypus weistauf den Kantionalsatz. auf das Rezitativ.

lineare gradatio der Außenstimmen sequenzierte gradatio der Innenstimmen(canon sine pausis)

contrapunctus simplex Die Imitation der Innenstimmen und dieEngführung der cantus firmus-(Außen-)stim-men weisen auf die Motette (bzw. Choral-bearbeitung).

disegno esterno: disegno interno:Generalbaß imitatorischer Kontrapunkt

These Antithese

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„Es ist genug“

Zeilen71 vereinen sich mit der dritten zu einer ersten vollständigen Kadenz inder Tonart der Oberquinte. Gleichzeitig bilanziert die dritte Zeile die harmoni-sche Summe von Sequenz (Reflex auf die erste Zeile) und modulatorischemEnjambement (Ausweichung in die Parallele der Oberquinte) am Stollenende.Vom zweiten Stollen ließe sich Entsprechendes sagen.

Die schärfste Profilierung erfährt die inventionale Hauptfigur, die Antithe-se, zu Beginn des Abgesanges, eben dort, wo die Identität zweier aufeinanderfolgender Melodiephrasen eine Konfrontation so wenig erwarten läßt, wie siedurch den Text gleichwohl nahegelegt wird. Von der achten Choralzeile mußausführlich die Rede sein.

Die achte Choralzeile als musikalisches Oxymoron

1. Der auf Wirkung bedachte Ausleger einer biblischen Perikope führt seineHörer durch die tentatio72, den Ort des Zweifels, der Dunkelheit, zum Lichteiner finalen Erkenntnis. Der erlösende Gedanke muß über eine negative Peri-petie erreicht werden, damit eine klärende Lösung „mit Aufatmen“ quittiertwerden kann. Das „Rettungsschema“ der Ästhetik des Erhabenen ist ein apo-kalyptisches73. Apokalypse bedeutet „Enthüllung“, in deren Schrifttraditioneine bevorstehende Vollendung des Heilsgeschehens in Bildern und Gesichtengeschildert wird. Der utopische Gehalt ist dem Bachschen Furcht-Hoffnungs-Schema, das er im Choralsatz in pointierter laconitas noch einmal und ab-schließend auslegt, eingeprägt. Die Art und Weise seiner Inszenierung läßtsich durch eine Analyse der harmonisch rätselhaftesten Zeile des Ganzen zurVorstellung bringen.

2. Die Harmonik der achten Zeile könnte als Paradigma einer rationalistischenPoetik des musikalischen concettismo gelten, wäre eine solche bekannt. Dennso einleuchtend es jedem zeitgenössischen Hörer erscheinen mußte, zur Verto-

71 Die erste endet harmonisch „offen“ und das A-Dur der zweiten Zeile ist besser cha-rakterisiert als eine angehängte VI. Stufe denn als Ergebnis einer förmlichen Rückmodula-tion.

72 Tentatio = Angriff, Versuch, Probe. Möglicherweise konnotativ auch Versuchung(tentamen).

73 Einen Überblick über die schier unübersehbare Literatur, die das Bekanntwerden desTraktats Peri hypsus des Pseudo-Longinus hervorrief, sowie über den aktuellen For-schungsstand vermittelt der Sammelband Das Erhabene, hrsg. v. Chr. Pries, Weinheim1989, der eine reiche Bibliographie enthält.

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Heinrich Poos

nung des Textes den altbewährten passus duriusculus heranzuziehen, so weithergeholt scheint doch dessen Verbindung mit Ahles Melodie. Der Aufwandkompositorischen Scharfsinnes, der nötig wurde, um diatonische claritas mitchromatischer obscuritas zu einer prekären coincidentia oppositorum zu fü-gen, mußte das Erstaunen des Hörers hervorrufen; ein Erstaunen, das über dasGelingen eines kompositorischen Experiments par excellence auf den Experi-mentator sich richtete, dessen Formoptimismus das Unmögliche herausforder-te, um, wie so oft, so auch hier, in den eng gezogenen Grenzen eines gat-tungsgeschichtlich so weitgehend determinierten „exemplums“ sich zu be-währen.

Die Dramaturgie des Abgesangs ist nun schon fast geläufig: In der Quie-tas-Darstellung der siebten Zeile hatte die Hoffnung ihren vorläufig deutlich-sten Ausdruck gefunden. Der Ex-abrupto-Beginn ihrer Zwillingszeile, der„Barbarismus“ ihres Außenstimmensatzes, ihre „heulende“ Chromatik undgroteske Kakophonie geben der „resignatio ad infernum“ hyperbolischen Aus-druck. Unvermittelt und unerwartet, dramaturgisch analog zum RezitativNr. 4, antwortet auch hier eine „Stimme von oben“74, die dem Glücksum-schwung nunmehr seinen endgültigen Ausdruck verleiht.

3. Der Ausdruck kompositorischen Scharfsinns in Bachs (auch von ihm selbstnirgends überbotenem) textlich-musikalischem Emblem „säkularen Jammers“läßt sich als eine inventionale congeries, als eine chaotische Ballung von teilssynonymen, teils heteronymen Fragmenten und musikalisch-rhetorischen Fi-guren vorstellen75. Die Fülle der hier „ineinandergekeilten“ Sinnträger veran-schaulicht die folgende kommentierte Übersicht.

74 Vergleiche die Analyse von Ahles Melodie, oben, S. 153 ff.75 Vergleiche hierzu H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, a. a. O., § 80

und § 282. Zum besseren Verständnis des folgenden sei an einen Grundsatz barocker Emp-findungsästhetik erinnert, durch den diese sich von späterer Genieästhetik unterscheidet:„Der Barockmusiker wartet [...] nicht auf die Inspiration, auf den Einfall [...]. Auch steigerter sich nicht emotional in den darzustellenden Affekt. Er rechnet mit den Möglichkeitender Erfindung. Diese erfolgt durch eine wissensmäßig gelenkte und vernunftgesteuertePhantasie. [...] Der Verstand […] erschließt eine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten unddie ranghöhere Vernunft (Ratio) sorgt dabei für die stetige Zielrichtung des Willens.[…Das Werk] will gründlich erdacht [...] und in ruhiger Überlegung, bei ‚kalt Blut‘(Mattheson) ausgearbeitet sein.“ R. Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock,a. a. O., S. 230 f.

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„Es ist genug“

a) Ahles Melodiefragment ist ein „Fortspinnungstypus“ en miniature.

b) und c) Entsprechendes gilt für eine geläufige, generalbaßtypische Harmoni-sierung des passus duriusculus (der hier [a] transponiert – wegen seiner parti-ellen Kongruenz mit dem Zeilenanfang – und [b] in der Haupttonart – wegender finalen Halbschlußformel – wiedergegeben ist).

d) Das in der 4. Choralzeile verwendete „zentrale Gnomon“, das hier ein drit-tes Mal in Erscheinung tritt.

e) Ein älteres „Harmonisierungsmodell“ des chromatischen Basses76.

Die inventionalen Sinnträger waren satztechnisch inkompatibel. Ihre Harmo-nie machte vorbereitende kompositorische Maßnahmen erforderlich.

76 Vergleiche hierzu H. Poos, Zur Tristanharmonik, in: Festschrift Ernst Pepping zuseinem 70. Geburtstag am 12. September 1971, hrsg. v. H. Poos, Berlin 1971, S. 269–297,und ders., Nexus vero est poeticus. Zur fis-moll Fantasie Carl Philipp Emanuel Bachs,a. a. O.

Notenbeispiele 8 a – 8 e

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Vordersatz Entwicklungsteil

a

Epilog

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6 7 7 76 6# #

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Heinrich Poos

Die partielle Kongruenz des Zeilenanfangs mit der Akkordfolge von b)und d) läßt sich kontextuell erklären. Der Beginn mit dem dritten Viertel wardie notwendige Bedingung, die das Gnomon zu erfüllen hatte, um eine Konta-minierung sowohl mit den melodischen als auch den generalbaßharmonischenVoraussetzungen der vorigen Choralzeile zu ermöglichen. Die relative obscu-ritas seiner anabasierenden Komponente im Tenor war dabei alles andere alsein oktroyierter Kompromiß. Sie kam der dramatischen Absicht geradezu ent-gegen; denn das in der achten Zeile Verborgene, eben das zentrale Gnomon,wird im „Glücksumschwung“ der neunten Zeile offenbar: Ihr disegno ist ge-prägt von einer diatonischen Variante, auf deren Bedeutungssinn noch einzu-gehen ist.

Mit dem Baßton fis ist die Wirksamkeit des zentralen Gnomon zu Ende.Wie läßt sich die restliche Harmoniefolge erklären, in der der „Barbarismus“dieser Zeile so recht erst deutlich wird, ohne die Perspektive, die doch eineobligate Strukturierung des Tonsatzes durch das diatonische Grundschemaverdeutlichen will, zugunsten einer neuen Arbeitshypothese aufzugeben?

Die literarische Rhetorik spricht von dem Barbarismus als einer Redefigur,sobald in einem gewöhnlichen Idiom ein archaisches auftritt. Den Gegensatzvon „jetzt“ (sub gratia) und „einst“ (sub lege), mußte Bach ihn nicht geradehier, auf der Peripetie des Chorals, der Zeile eingeprägt haben? Und in derTat, der Tonsatz drängt diesen Aspekt dem Hörer geradezu auf: Sein „Tonfall“ändert sich schlagartig mit dem vierten Viertel; der generalbaßharmonische„Dialekt“ ist durch ein archaisches Idiom verfremdet. Dem „stilo moderno“der Passus-duriusculus-Harmonik der ersten Zeilenhälfte wird in dramati-scher, die Verwirrung vergrößernder Absicht ein satztechnischer Ausdruck des„stilo antico“ entgegengesetzt77.

77 Vergleiche Anmerkung 76.

Notenbeispiel 9

Der Nonenkanon zwischen Baß und Alt kann jetzt (neben seiner sekundärenBedeutung als Figur des „sub lege“) als ein Indiz für die Plausibilität unsererArbeitshypothese gelten. Dem zweigliedrigen Zeilen-Epilog en miniature ist

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etc.

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„Es ist genug“

seine Herkunft aus dem stilo moderno, der Generalbaßformel von Beispiel c),deutlich anzusehen. Hier erhellt, welche hohe Aufmerksamkeit die Idiomatikdes Bachschen Tonsatzes dem Hörer abverlangt: Am „Leitstrahl“ desGnomon-Fragments wird das Ohr in die obscuritas der Zeile geführt. Derenhöchste Komplikation ist in ihrer Mitte, in einer Verschränkung zweier ver-schiedener Sprachebenen erreicht. Der Höhepunkt mündet mit dem fünftenund sechsten Viertel in den Wendepunkt des „Rettungsschemas“. Den Glücks-umschwung bereitet vor eine preziöse, durch den halbverminderten Septimen-akkord der Wechseldominante verfremdete Halbschlußformel.

Dem bedeutungsschweren „disegno artificiale“ der Choralperipetie sindam Anfang und Ende zwei konventionelle musikalisch-rhetorische Figurenaufgesetzt. Die Figur des diapason im Alt be-deutet das Adjektiv im Sinne ei-ner säkularen Dimension (diapason = durch das Ganze). Die finale katabasisder Innenstimmen reflektiert darauf durch eine Oktavtransposition der analo-gen Töne von Takt 14. Diese Transposition wird kompliziert durch eine hete-rolepsis, die die Figur des Chiasmus mit einbezieht. Der Sextenparallelismusumschreibt schließlich auch noch eine circolo-Figur. In der kompliziertenKalligraphie des „Zeilenrandes“ ist die Antithese von Gerade (Oktave) undKreis (circolo), wie sie visuell im Schriftsinn des A und O zum Ausdruckkommt, in einem der denkwürdigsten Halbschlüsse der Choralgeschichte aufden Punkt einer auditiven Metapher gebracht.

Die Frage nach dem Sinn eines derartigen inventionalen Kraftaktes, unterdem die Gattungsnorm förmlich zu zerspringen droht, ist unabweisbar gewor-den.

Zum rhetorischen Aspekt des Bachschen Tonsatzes

Die Interpretation eines Textes ist der Versuch, die einzelnen Gesichtspunktekursorischer Lektüre unter einem synthetischen Aspekt vorzuführen. ZweiMöglichkeiten bieten sich hier an:

1. Ich greife den wiederholt verwendeten Terminus „peroratio“ auf, referiereseine Funktion in der „Wiedergebrauchsrede“ der dialogischen Kantatenpre-digt, um seinen literarischen Phänomensinn mit dem entsprechenden musika-lischen zu vergleichen. Auf das Ergebnis sei zunächst vorausgedeutet: DieKantaten-peroratio antwortet auf die conclusio, das sind die Takte 45–52 desvorangehenden Satzes. Sie verdeutlicht dabei eine Beziehung zur praepositioder Kantate, deren erstem Satz. „Furcht und Hoffnung“ sind dort in einer be-merkenswerten Formel (cantus firmus + Arie) der Kantaten-argumentatio derSätze 2–4 vorangestellt. Die fundamentale Zwiespältigkeit ist, wie sich zeigenließ, im Choralsatz mannigfaltig aufgehoben. Dies scheint auch für den hier

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auffälligen Wechsel der Affektstufen und deren übergreifende kompositori-sche Vermittlung zu gelten. Und in der Tat: Die peroratio der Gerichtsrede –der Kantaten-Dialog hat Wesentliches gerade mit dieser Spezies gemein – istder Ort der affektischen Einflußnahme: Der Hörer soll hier zum Mitfühlenund Mithandeln bewegt werden. Der stilistische Schwerpunkt liegt im soge-nannten genus sublime, das durch starke Verfremdungsgrade des gewöhnli-chen sprachlichen Ausdrucks charakterisiert ist78. Der heftige Affekt, derHandlungsimpulse vermitteln soll, wird in Stationen einer sanften Affektstufeentgegengeführt, das Unruhige, Gärende der initialen Pathosformel in einer fi-nalen Ethosformel zur Aufhebung gebracht. Der Charakter (Ethos), der hierzur Vorstellung kommt, ist der des Wohlwollens, der delectatio. Wenn wir Tonund Gebärde der Formel recht verstehen, können wir uns auch vorstellen, daßbezüglich des Affektpaares „Furcht und Hoffnung“ (metus et spes), das denGeschehensablauf der Kantate – diese einmal begriffen als eine geistliche Ko-mödie79 – von Anfang an begleitet, zu guter Letzt durch den Gnadenspruchdes Situationsmächtigen (der entgegenkommenden Liebe Gottes) zugunstender Letzteren, der Hoffnung, ein für alle Mal entschieden wird.

2. Um eine Perspektive zu finden, aus der heraus der Zusammenhang vonPhänomen- und möglichem Bedeutungssinn des Choralsatzes sich überblickenläßt, stellen wir zunächst eine methodisch elementare Frage, die dem Lesermöglicherweise während unserer Analyse der achten Choralzeile bereits aufder Zunge lag. Der Versuch ihrer Beantwortung führt auf den Grund der„Chaosdarstellung“, die sich als ein syntaktisch und semantisch kompliziertesZeugma80 analysieren ließ. Denn, daß die achte Zeile im Kontext die Funktioneiner Parenthese hat, leuchtet ohne weiteres ein: Harmonisch ist sie einFremdkörper innerhalb des Abgesangs. Und auch, daß die komprimierendedetractio81 die Bedingung war, ohne deren Erfüllung die Vielfalt der komposi-torischen Sinnträger keinen Platz in der Zeile gefunden hätte, bedarf keinesweiteren Kommentares. Die resultierende obscuritas des figürlichen Kontra-punkts der Zeile war insofern geradezu willkommen, als sie dem Eindruck ei-nes impulsiv-chaotischen Affektausbruchs Vorschub leistete.

78 Vergleiche H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, a. a. O., § 468.79 Die Komödie schließt im gesellschaftlichen Kontext mit der Heirat, im geistlichen

(Divina Comedia) mit der unio. Ihr Typus ist die unio-Mystik des Hohen Liedes. Der Textder vierten Choralzeile weist in diesen Zusammenhang.

80 Vergleiche H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, a. a. O., §§ 320–326.81 Vergleiche ebenda, §§ 327–328.

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Dieselbe Frage und der Versuch ihrer Beantwortung macht schließlich dieachte Choralzeile durchsichtig auf die Fundamente des universalen Musikbe-griffs des deutschen Barock. Aus den rudimentären Hinweisen, die uns überdie Tradition seiner spekulativen Musiktheorie erreichten82, läßt sich auf dieAktualität naturphilosophischer Anschauungen in der mündlichen Lehreschließen. Aber daß die hier skizzierten, nur scheinbar esoterischen Anschau-ungen, die nicht nur durch Andreas Werckmeisters Traktate im UmkreisBachs lebendig waren, einen interpretatorischen Ansatz ermöglichen, hat dieneuere Musiktheorie noch kaum wahrgenommen. Das Fehlen von For-schungsergebnissen, an die hier angeknüpft werden könnte, sollte allerdingsangesichts des soliden Fundamentes des hier akribisch Recherchierten den In-terpreten nicht entmutigen.

Die methodische Frage, über deren Beantwortung ein solch ambitioniertesBegreifen möglich scheint, lautet: Aus welchen Gründen konnten wir uns beider Beschreibung der harmonischen Form der achten Zeile nicht bescheidenmit dem Formalismus des sogenannten Fortspinnungstypus, dessen fünftesund sechstes Viertel die mit Rücksicht auf die vorgegebene Oberstimme ent-wickelte Variation des dritten und vierten Viertels des Sequenzmodells bedeu-tet? Warum haben wir aus den vieldeutig-undeutlichen harmonischen Poten-zen der Zeile heraus gerade diese und nicht eine andere, konkurrierende Fi-gürlichkeit durch unsere Beschreibung aktualisiert?

Daß der in Notenbeispiel 8 c) vorgestellte Topos als „figura“, der zweite,unter e) aufgeführte, als „pathopoeia“83 verstanden werden kann, macht diefolgende Beobachtung deutlich. Der chromatische Quartbaß (Notenbeispiel8 c) ist durch eine Gegenstimme, den hier durch die syntaktische detractio desZeugma deformierten logosspezifischen aufsteigenden Tetrachord, als figuraChristi definiert. Die chromatische Komponente weist auf Inkarnation undPassion, ihr diatonischer Kontrapunkt auf Auferstehung und Himmelfahrt. Indieser Figürlichkeit ist in einer wiederholten Spiegelung die kontextuelle An-tithese von Gesetz und Gnade, Furcht und Hoffnung sowie Tod und Auferste-hung gleichermaßen zur Anschauung gebracht.

Der chromatische Quartbaß (Notenbeispiel 8 e) ist durch keine Gegenbe-wegung kompensiert. Er ist vielmehr „belastet“ durch die kanonische kataba-sis, den „Druck“ der Septimen-syncopatio und der Seufzerfiguren der Ober-stimme. Die zweite inventionale Formel kommt der Absicht des affektischen

82 Wir verweisen wiederum auf Rolf Dammanns enzyklopädische Darstellung, insbe-sondere deren naturphilosophische Kapitel. Der Musikbegriff im deutschen Barock, a. a. O.

83 Zur Definition des Unterschiedes sei auf Hans Heinrich Eggebrechts grundlegendenAufsatz, Zum Figur-Begriff der Musica poetica verwiesen, a. a. O.

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Heinrich Poos

„movere“ entgegen. Die satztechnisch antithetisch definierte Chromatik weisteinmal auf das sensum, das andere Mal auf den affectus verborum. Das Sinn-bild der theologia crucis und das Abbild der „reuigen Zerknirschung des Ge-müts“, beide sind sie der Zeile in zeitlicher Folge derart eingeschrieben, daßder Ausdruck des „Gnadenzuspruchs von oben“ (den wir hier noch unterstel-len) im Glücksumschwung um so wirkungssicherer den Hörer erreicht. Umrecht verstanden zu werden: Der analytische Regreß galt der Erinnerung einestheologischen Aspektes, den uns der Phänomensinn der Zeile nahelegte. Inletztdenkbarer Gegensätzlichkeit, in der Erfahrung sub contraria species derGlaubensanfechtung durch Todesfurcht, die hier, im Augenblick des Loslas-sens, der Erlösung, in Tönen „erinnert“ wird, ist der unsichtbare Logos imHörbaren gegenwärtig.

Wenn also im musikalischen Emblem, als das wir nicht nur die eine Cho-ralzeile, sondern den ganzen Satz verstehen, der vertonte Text die Funktioneiner inscriptio hat, die zum Beispiel hier die achte Zeile als hypotyposis von„großer Jammer“ be-deutet, so wäre jeder weitere interpretierende Aufwanddurch einen „Kurzschluß“ von significans und significatum überflüssig ge-worden: die Funktion der subscriptio aber auch, abstrahiert von der emblema-tischen Trias pictura, inscriptio und subscriptio, undeutlich geblieben. ImChoral ist die subscriptio durch das Libretto gegeben. Ohne eine Aktualisie-rung von dessen auslegenden Potenzen ist die achte Zeile eine Pathosformel,weiter nichts. In der latitudinalen Nacht der Musikpsychologie wird ihr Rät-selcharakter unkenntlich. Die Einbeziehung der subscriptio macht das Ohr fürdie „reale Gegenwart“ der theologischen Dialektik von Hoffnung und Furchtin jedem Moment der musikalischen pictura hellhörig. Ohne die exegetischeHilfe, die sie anbietet, läßt sich der superlativische Ausdruck der katharsis inder achten Choralzeile nicht verstehen84.

84 Der theologisch-phänomenologische Zusammenhang, den der Bachsche Choralsatzmit Cranachs einflußreichen Merk- und Lehrbildern von „Gesetz und Gnade“ bildet, kannhier nicht dargestellt werden. Desgleichen auch nicht der Zusammenhang mit der emble-matischen Predigtweise des Protestantismus. In seinen Geistlichen Gemaelden (1646) woll-te Johann Saubert das, was „in den Sontäglichen Evangeliis vorgetragen wird / gleichsamauff ein Tafel mahlen“, in „einem Gemähld / nicht zwar äusserlich / oder vor Augen / son-dern innerlich in die Hertzen durch das Gehör“ darstellen. Vergleiche hierzu D. W. Jöns,Die emblematische Predigtweise Johann Sauberts, in: Rezeption und Produktion zwischen1570 und 1730. Festschrift Günther Wydt, hrsg. v. W. Rasch u. a., München 1972, S. 137–158; vergleiche auch ders., Das Sinnen-Bild. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei An-dreas Gryphius, Stuttgart 1964, und I. Hölpel, Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zumErbauungsbuch, Frankfurt/Main 1987.

Cranachs Bilder sind statisch konzipiert. Links die Darstellung von Sündenfall, Gerichtund Tod, rechts Golgatha und Auferstehung. Die Bildhälften sind auf den Betrachter hin

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„Es ist genug“

Tonsatz und Alchemie

Um die obscuritas der Logosfigur, durch die ihr Sinnträger fast unkenntlichwird, in ihrer fundamentalen, sinnstiftenden Bedeutung für den Choralsatz zuverstehen, sei ein letzter Umweg eingeschlagen. Durch ihn läßt sich einStandpunkt finden, aus dessen Perspektive heraus die Ursache der scharfsinni-gen Erfindung Bachs deutlicher noch zu erkennen ist.

Die Bedeutung der einst mächtigen Denkschule der Alchemie – ihr ging esweniger um Gold als um eine umfassende Deutung der Erscheinungswelt, dersie eine Verbindung zu jenseitigen, magischen Kräften unterstellte85 –, ihrerVorstellungen und ihrer Sprache für die Geschichte der neueren Musik, aberauch für die Theologie und Philosophie, in die sie nach ihrem „Scheitern“ im16. Jahrhundert sich auflöste, wird immer noch weit unterschätzt86.

orientiert, der durch die Darstellung über Ursache und Folge des Gesetzes belehrt unddurch den Hinweis auf das Erlösungsopfer Christi und dessen Auferstehung zur Hoffnungbewegt werden soll.

Die Vision Cranachs übersetzte Bach in die Sprache der musikalischen Audition. ImChoralsatz wird eine Handlung nachgeahmt. Eine „Fabel“ (Gottsched, Critische Dicht-kunst, Leipzig 1730) wird instrumentiert und so dem alten Gebäude des Cantus-firmus-Sat-zes eine „Seele“ verliehen. Den Ausdruck der Furcht (in der ersten Choralzeile) überführtBach durch die entwickelte Variation einer Sequenz in sein Gegenbild, die Gelassenheit.Das initiale textlich-musikalische Erregungsbild, in der finalen zehnten Choralzeile ist eszum Trostbild verwandelt. Das Thema der „fliehenden“ Sequenz ist zur „ruhenden“ Ka-denz variiert. Die Referenz hat sich in das melodische Urgestein des Satzes eingeprägt. DerSystole a-gis (im Baß) korrespondiert am Ende ihr diastolisches Gegenbild gis-a.

85 „Auch für die ersten alchimistischen Schriftsteller [...] war Gold gewiß etwas Hand-greifliches, etwas Materielles. Aber zugleich bauten sie auf der Suche nach dem Mittel,künstlich Gold zu machen, das Lehrgebäude einer Art Geheimtheologie. Sie machten denVersuch, griechische Naturphilosophie, ägyptische Technik, babylonische Astronomie undAstrologie mit christlich-jüdischer Metaphysik zu amalgamieren und so eine Ader zu fin-den, durch die sie zu den Ursprüngen allen Seins und zum Sinn aller Dinge vordringenkönnten. Sie suchten das innere Gold, und sie fanden es in der menschlichen Vollkommen-heit. Der Ausgangspunkt dieser neuen Sparte der Wissenschaft der Goldmacher war dieÜberzeugung, daß Gott das Geheimnis nur demjenigen schenken würde, der den höchstenGrad menschlicher Reinheit erreicht habe.“ R. Federmann, Die königliche Kunst. Eine Ge-schichte der Alchemie, Wien 1964, S. 12.

86 Alchemistische Aspekte der Musica Enchiriadis behandelte F. Liessem, Musik undAlchemie, Tutzing 1969. Ihr rezeptionsgeschichtlicher Ausblick reicht nur bis zu MichaelMajers Atalanta fugiens (Frankfurt/Main 1618), einem musikalischen Emblembuch mitmusiktherapeutischer Zweckbestimmung.

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Heinrich Poos

1. Schon durch die Art und Weise der Chiffrierung von Mitteilungen habenMusik und Alchemie auffällige Gemeinsamkeiten. Die Umwandlungen desStoffes im „magnum opus“ symbolisieren Etappen geistiger Einsichten, derenChiffrierung notwendig war, um kirchlicher Zensur zu entgehen. SchriftlicheDokumente werden mit entzifferbaren Stellen gespickt (in der Tradition dermusikalischen Rhetorik sind es die kodifizierten Figuren), die den Schein des„common sense“ wohl aufrecht erhalten, für die wesentlichen Absichten desVerfassers aber von peripherer Bedeutung waren. Dieses einst notwendigeVerfahren scheint in den Werken hermetischer Kunst habitualisiert. Dersprachliche Diskurs nicht nur der Musik verläuft zweigleisig: Jeder sprachli-che Ausdruck, jede Handlung, jede Gebärde hat in einem gewissen Stadiumauch religiöse Bedeutung.

Ob die Musik zur Kunst- oder Religionsgeschichte gehört, ist also deshalbschon gleichgültig, weil – so gesehen – eine Unterscheidung nicht notwendigist. Der Ausdruck des Halbschlusses im Menuett, eine Gebärde des „eroti-schen Augenblicks“, der Kontaktsuche mit dem Gegenüber, ist derselbe wieder im „phrygischen Halbschluß“ des „Crux-gloria-Topos“ oder, einfacher, im(wiederholten) Halbschluß der Binnenintroduktion87 des Confiteor der Bach-schen h-Moll Messe; nur stehen sich im Profanen Mensch und Mitmensch, imSakralen Mensch und Gott gegenüber. Wie so oft, geht es der Theorie umWörter, nicht um Wirklichkeiten.

2. Die Gemeinschaft von Alchemie und Musik gründet in der Gemeinsamkeitdes Experimentellen. Wozu wird das Experiment der Alchemie veranstaltet?Was soll durch seinen Verlauf deutlich werden? Die klassischen Autoren derbis ins 17. Jahrhundert ständig nachgedruckten Hauptwerke der hermetischenAlchemie88 berichten von der Suche nach irgendeinem Verlorenen. Das „opusmagnum“ ist insofern keine originale Schöpfung eines Noch-nie-Dagewese-nen, vielmehr die ausgeklügelte Rekonstruktion eines stets Gegenwärtigen,nur Verlorengegangenen89. In den Bruchstücken geschaffener Natur ertastet

87 Es scheint lohnend, den ideengeschichtlichen Hintergrund der Binnenintroduktion,zum Beispiel in Beethovens La Malinconia op. 18,6 im „magnum opus“ des alchemisti-schen Melancholikers zu suchen. Auf die therapeutische Wirkung der Musik spielt Beetho-ven im „arkadischen Reigen“ des Finalsatzes an.

88 Diese präsentieren in einem „bedeutenden“ Sinne nur den einen Text „aus grauer Ur-zeit“, der durch Glossen erweitert wurde.

89 „Die Vielfalt des Stofflichen ist aus dem ursprünglichen All-Einen hervorgegangen;das Eine ist aber im Chaos der Materie fast unauffindbar versteckt. Dieses Eine gilt es zufinden und wiederherzustellen, und zwar durch das ‚opus‘ (das ‚Werk‘ des Alchemisten),das an den Stoffen vollzogen wird. Da alle Substanzen aus dem Einen stammen, sind sie

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„Es ist genug“

der geistige Archäologe die Spuren, die an den Anfang führen. Er rekonstru-iert diesen in der Absicht, an den Ort des Verlustes zu gelangen, um dort dasVerlorene zu finden. Unter großen Anstrengungen macht er sich los von denEindrücken der Gegenwart, um eine ursprüngliche Erfahrung, die Erfahrungeines Ursprungs zu machen90.

Im Zentrum dieser „ältesten Theologie“ steht der Hohepriester ihrer „me-tallurgischen Liturgie“ als der Schmiedegott, den die Griechen „Hephaistos“nannten. Alles Kunstreiche war sein Werk. Die „Hostie“ der Liturgie, die erzelebrierte, ist das „opus magnum“, das mineralische Kürzel der Geschichteder Welt unter dem Aspekt ihrer Schöpfung und Vervollkommnung, in dasalle Operationen rituellen und experimentellen Charakters koinzidieren.

So wie im Mikrokosmos des alchemistischen Experiments der Adept seineMeinung über das Verhältnis von Kosmos und Mensch bezüglich ihres Ur-sprungs überprüfte, so reflektierte der Schöpfer des manieristisch-pararhetori-schen Werkes des Barock das Verhältnis der natura naturata – vorgestellt etwaim Ton, in der trias harmonica perfecta oder in den Proportionen der Natur-tonreihe – zur natura naturans, der das ursprüngliche Schöpfungswerk nachah-menden Tätigkeit des menschlichen Geistes im opus der ars musica.

Durch den Ort, an dem ein solches Experiment durchgeführt wurde, dieKantate, war sein Ergebnis, ein dogmatischer Lehrsatz, weitgehend präjudi-ziert. Das kompositorische Experiment, das im zeitlichen Ablauf des Choralsvollzogen wurde, war so – wie das alchemistische am Ende auch – wenigerein Experiment als eine Demonstration eines zuvor bekannten Satzes. Da erim „ersten Buch Gottes“, der Natur, bereits niedergeschrieben war, seine Chif-fren dem Menschen post lapsum jedoch unverständlich wurden, war ein zwei-tes Buch notwendig, mit dessen Hilfe der ursprüngliche Klartext dechiffriertwerden konnte91. In den Koordinaten dieses Vorverständnisses von Natur und

untereinander verwandt und können deshalb ineinander verwandelt werden (Transmutati-on). Diese stoffliche Wandlung ist zugleich ein menschlicher Läuterungsprozeß.“ F. Lies-sem, Musik und Alchemie, a. a. O., S. 14.

90 Diese Erfahrung ist den anfänglichen Modulationen sowohl der Binnenintroduktionals auch der Sonatendurchführung, die beide an den „Kern der Durchführung“ heranführen,als ein „Charakter“ eingeschrieben. Im Phänomensinn der Beethovenschen Sonatendurch-führung überhaupt, und in dessen „Liquidationsexperiment“ im besonderen, ist ein Mo-ment der „negativen Theologie“ aufgehoben. Im Kryptogramm der Instrumentalmusik kön-nen deren naturphilosophische Konditionen also noch erkannt werden.

91 Hierzu ausführlich H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1981;insbesondere die Kapitel IX („Verschlüsselung und Entzifferung der Menschenwelt“) undXIII („Das Hamburger Buch der Natur und sein Königsberger Reflex“).

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Offenbarung läßt sich auch der spirituelle Sinn des Bachschen Werkes er-schließen. Dessen Chiffren sind den mathematischen Punkten vergleichbar,die durch einen Doppelwert bestimmt sind und in denen in jedem komposito-rischen Augenblick das Gleichnis von Natur- und Heilsgeschichte zu auditiverAnschauung kommt.

3. Die Operationen, die das alchemistische Experiment begleiten, wurden inseiner Tradition immer mehr verweltlicht. Mit den Philosophen und den Theo-logen wurden die Schüler der Adepten zu Magistern einer in die Öffentlich-keit wirkenden profanen Lehre. Die Alchemie zerfiel in die Geheime Gesell-schaft und die Zunft der Handwerker. Die Spaltung blieb im kommunizieren-den System der artes liberales nicht ohne Folgen: Auch die ars musica zerfielin Werk und Handwerk. Das Werk dokumentierte in hermetischen Zeichendasjenige, was auf seinen Ursprung verwies, während durch die „massive“Vordergründigkeit der unverschlüsselten Worte der praecepta (der Lehrwerke)der Blick auf die theologischen Zusammenhänge allmählich verstellt wurde92.

Das „Wissen von den Ursprüngen“ überlebte solche Profanisierung jahr-hundertelang durch die mündliche Unterweisung, in der der Meister überlie-ferte Werke dem Schüler erklärte. Von ihr wissen wir fast nichts, allenfallsAphoristisches. Da die schriftliche Lehrtradition, beginnend mit dem 18. Jahr-hundert, zu alledem auch noch den trivialen Kanon (in dem die Grammatikmit der Rhetorik und der Dialektik kommunizierte) auf die Vermittlung vonVokabular und Syntax verkürzte, ist die Kunstwissenschaft allein auf dasWerk angewiesen als dem Fundus, der von den Folgen der Spaltung weitge-hend unberührt blieb, solange er aus eben diesen mündlichen Quellen gespeistwurde. Jede Interpretation ist auf diese Fiktion angewiesen, wenn sie – untergewiß riskanten Bedingungen arbeitend – Spuren einer Tradition entziffernund deuten will, die in die Richtung eines Ursprünglichen weisen, in der, wiein der jüdisch-christlichen Geschichtsphilosophie, ein Verlorenes wiederzufin-den wäre.

4. Die kompositorische obscuritas, die Dunkelheit eines Tonsatzes, die denZugang zum experimentellen Werk erschwert, soll die Kräfte der produktivenEinbildungskraft des Interpreten stimulieren. Das Verlorene ist hier ja zu ha-ben, nur hier kann es als ein Schatz der Erkenntnis auch gehoben werden. Soll

92 Dem ikonoklastischen Sturm, den der pädagogische Furor der Aufklärung entfessel-te, war die durch die Schulbildung schon entwurzelte Forschung längst nicht mehr gewach-sen. Die Interpretation der Werke kippte um in System-Idolatrie (für diese steht beispiel-haft der „absolute“ Schenkerismus der angelsächsischen Musikanalyse).

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„Es ist genug“

heißen: Der Sinn der komponierten Chiffre ist nicht von außen, vielmehrdurch die Buchstäblichkeit eines Textes hindurch zu haben. Der Komponistals der Experimentator tritt an die Stelle des Allwissenden. Als „alter deus“offeriert er in dem von ihm geschaffenen Mikrokosmos, dem Werk, das alsmusikalisches die Verlaufsform eines Experimentes angenommen hat, dieChiffre und mit ihr das Lösungswort. Letzteres kennt er bereits; der Hörerauch, nur ohne dies als solches auch schon erkannt zu haben.

Solange die mündliche Tradition lebendig blieb, konnte dem Komponistenein experimenteller Hinweis auf das Lösungswort genügen. Alles war „imGrunde“ schon da. Von dort tönte es unaufhörlich herauf. Allein, für diesenTon des Bachschen Satzes scheint uns das „zärtliche Gehör“ (Kirnberger), mitdem Bach noch rechnete, verloren gegangen.

Von Bachschen Texten gilt dasselbe wie von alchemistischen. Nur durcheine akribische Lektüre, bei der mit Ausdauer durch all den „Hirsebrei“ mu-siktheoretischer praecepta hindurch gelesen werden muß, vermögen sich diewichtigsten Symbole in ihren wechselseitigen Beziehungen zu erschließen.

Alle von Bach in der achten Choralzeile zusammengezogenen „Inventio-nen“,

der fragmentarische Crux-gloria-Toposdie pathopoeiadie doppelte circolatio im Tenorder diapason im Altdie fuga im Altdie heterolepsisder chiasmusund das hyperbaton,

weisen jede für sich und in ihrer chaotischen „Koagulierung“ auf eine Viel-zahl von Bedeutungen, darin ähnlich den Gegenständen der Natur. Das se-mantische Zeugma bedarf noch des Geistes, der das Ohr für den Sinn hellhö-rig macht, in dem ihre Bedeutungspolyphonie zu einem Ideenkontrapunkt sichklärt. In diesem einfachen Sinne lesbar wird die inventionale Vielheit erstdurch den Text. Kantate, Choralsatz und dessen achte Zeile koinzidieren imtertium comparationis der Antithese von Tod und Auferstehung, Sterben und„Wiedergeborenwerden“.

Über ihre Dialektik will das Verweisungssystem des Tonsatzes uns eineNachricht vermitteln. Der Komponist taucht uns zurück in ein geistiges Uni-versum. Zu einem miniaturistischen Experiment verwendet er fragmentarischeFormeln, isolierte oder amorphe melodische Gestalten. Im Glücksumschwungscheint auch sein Experiment geglückt: Das in der achten Zeile „Verlorene“gibt sich in der neunten Zeile als der „deus involutus“ der lutherischen An-fechtungs-Theologie durch ein musikalisches symbolon zu erkennen. Dessen

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eine Scherbe hält der Sterbende in der Hand, als ihm Christus entgegenkommt(„mein Jesus kommt“). In der neunten Zeile hält ihm der Logos selbst, „dieStimme von oben“, die „tessera hospitalis“ entgegen93. Sie paßt genau. Unterden erschwerenden Bedingungen des Cantus-firmus-Satzes ist es Bach gelun-gen, dies zu verdeutlichen. Im Tonsatz hat sie die Figur des transponiertendoppelten Kontrapunkts der Oktave (auf cis) angenommen. Sie war symbo-lisch aber auch in der achten Zeile, im Ausdruck des „säkularen Jammers“ ge-genwärtig, hier nur übertönt von der „lärmenden“ Vordergründigkeit affekti-scher Rede. In der Pathosformel verborgen, wurde sie als Ethosformel in derneunten Choralzeile wiedergefunden.

Die „Stimme von oben“ am Choralende deutete Bach, wenn wir dies nochrecht vergegenwärtigen, als die Stimme des Logos. Sie erhellt die Dunkelheitdes ton-alchemistischen Desorientierungssystems der Choralperipetie. Derenschillernde Kakophonie wird „zu guter Letzt“ zur Euphonie der trias harmoni-ca und zur „Eintönigkeit“ der wiederholten Arsis-Thesis-Formel der Kadenzgeläutert. So wie der Alchemist vom Rohstoff zum Merkur, vom Merkur zumSchwefel, vom Schwefel zum „Stein der Weisen“ gelangt, so Bach von derrohen Initiale des Chorals zum Christusemblem der vierten Zeile und über diePathosformel der achten zum finalen Gnadenspruch als dem „End’ von derGeschicht’“. Der träumende Adept und der scharfsinnige Tonsetzer, beide re-den sie durch Bilder der Natur von der einen Reise, die am Ende auch die ge-schwätzigen Könige aus dem Morgenlande das Paradies erreichen ließ.

Zusammenfassung

Wir haben den Bachschen Satz unter dem Gesichtspunkt der aristotelischenPoetik als Nachahmung vorgestellt. Nachgeahmt wurde ein historisches Ex-emplum, die kostbare Ikone eines Sterbeliedes von Johann Rudolph Ahle. Ihrwird eine Seele verliehen durch die Imaginierung einer „Handlung“. Die vor-gegebene Einheit des 20taktigen Chorliedes wurde neu konstituiert und mime-tisch begründet. Der Leser möge denn auch nicht mit Kopfschütteln quittie-ren, wenn wir im Choral den miniaturesken Spiegel „einer edlen und abge-

93 Auf diese ursprüngliche Bedeutung des Symbols verweist H.-G. Gadamer in seinemEssay Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977 (= Re-clams Universalbibliothek, Nr. 9844), S. 41.

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„Es ist genug“

schlossenen Handlung [...] in gewählter Rede“ erkennen94. In „gesondertenTeilen“ (den Choralzeilen) wird gehandelt, nicht berichtet, und wir hatten nurversucht, herauszufinden, was in der Handlung der Töne, nicht in einem äuße-ren Hergang, erzählt wird. Wir gingen dabei bereits von der Vorstellung aus,daß Bach das Motiv seiner „invenzione“, als der künstlerischen Auffassungseiner Metamorphose des Chorliedes, sowohl aus Burmeisters Strophe, dannaber auch, sollte der Satz Nr. 5 nicht zum bloßen Appendix der Kantate gera-ten, aus deren Libretto heraus erfunden hatte. Infolgedessen schien uns vor-stellbar, daß Bach das vage Echo, das in Ahles Melodie der ersten Choralzeileam Schluß antwortet, als Figur eines „Gnadenzuspruchs von oben“ imaginier-te. Er konnte in ihm wegen einer Affinität zur ersten Zeile des Titelchorals so-gar diejenige dialogische Formel erkennen, die das Kantatenganze hinterfaßte.Seine kompositorische Aufmerksamkeit richtete sich somit ganz auf das Cho-ralende. Durch eine dialogische Dramaturgie des Tonsatzes hindurch, gewis-sermaßen als deren Resultat, wurde das doppelte finale „Es ist genug“ als dererlösende Zuspruch des „Situationsmächtigen“ zu auditiver Vorstellung ge-bracht. Wie so oft, ging Bach damit weiter und sah viel tiefer die Gehalte, diein den von ihm vertonten Texten und musikalischen exempla und Figuren, dieer zu deren Vertonung heranzog, eher verborgen lagen.

Figur und Handlung

Die Geschichte der künstlerischen Konkurrenz auf dem Gebiet des Choralsat-zes ist noch nicht geschrieben. Ihr Antrieb war wohl auch hier, im Bereich an-wendungsbezogener Kunst, häufig genug die Überlegenheit der Invention. Inder Choralkantate, im Oratorium – jedenfalls im hier untersuchten Fall – wur-de sie zur Bedingung der Umwidmung eines Chorliedes zum Schlußakt des„sacro teatro“ der Kantate Nr. 60. Bachs „Spielraum“ war eingeschränkt durch

94 Die Idee der Sonatenreprise ist ohne die Vorstellung einer Exposition antithetischen„An-sich-Seins“ und dessen Liquidierung im „kompositorischen Experiment“ der Durch-führung nicht zu haben. Die wörtliche Reprise, die Beethoven suspekt schien, weil sie alsein Findling der Vorgeschichte musikalisch-zyklischen „Vorstellens“ (Suite, Rondeau) li-nearem, entwickelndem Denken im Wege lag, konnte aus Gründen der Konvention (als der„Geschäftsgrundlage“ des „freischaffenden“ Künstlers) nicht aus dem Wege geräumt, siemußte vorerst förmlich umgangen werden. Schon die erste Sonate op. 2,1 deutet auf sol-chen „Bypass“: Schlußsatz und Coda zeigen Exposition und Durchführung in retrospekti-ver Verdichtung. Ein Vergleich der Beethovenschen Instrumentalform mit den „Reprisen“einiger Choräle Bachs könnte möglicherweise auf eine gemeinsame Wurzel in der plato-nisch-christlichen Vorstellung eines Neu- oder Wiedergeborenwerdens aufmerksam ma-chen.

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die Gattungskonvention und die rigiden Regeln des „reinen Satzes“. Aus sol-cher „Not“ wußte er eine Tugend zu machen. Zeilengliederung, kadenzmäßigeFixierung der „Attraktionspunkte“ und deren Zusammenfassung zu drei Teilengaben der Komposition den Rahmen eines „offenen Fensters“, durch dessenStatik hindurch die Gebärdensprache zweier Akteure als Bewegung einer„Bildhandlung“ um so deutlicher wahrgenommen werden konnte. Aus solcherDistanz heraus läßt sich diese, von uns als antithetisch-dialogisch vorgestellte„Handlung“ diagrammatisieren nach dem Schema von Polarität und Steige-rung. Klar hatte sich uns das Verhältnis von 1. zu 2., 4. zu 5. und 7. zu 8. Zei-le dargestellt. Deren übergeordnete Summe ist in den Steigerungszeilen 3 und5 wiederum in gradueller Stufung gezogen.

Um die 9. Zeile als Kulmination und die 10. Zeile als Vollendung desSchemas zu verstehen, haben wir von der kathartischen Funktion eines kom-positorischen Experimentes gesprochen, durch welches das Ausdrucksschemaeine Wendung von 180° erhielt. Die Umkehr des Steigerungsschemas zusam-men mit der Umkehrung der Melodie des Sterbeliedes veranlaßte uns dazu,von der 9. Zeile als einer Art Reprise und von der 10. als einer Art Coda zusprechen.

In der Kantate Nr. 60 gewährte Bach im Bedeutungsüberschuß der Musikihres choralischen Schlußtableaus einen „Blick in jene Freuden“ christlichenJenseitsglaubens, von denen am Ende des Rezitativs Nr. 4 die Rede war. DieFiguren von Ahles kostbarer „Ikone“ erhalten Profil und Farbe. Sie geraten„förmlich“ in Bewegung. Durch Physiognomie und Gebärde lassen sie sicham Ende als Personifizierungen der Heilsgeschichte, als Braut und Bräutigamdes Hohen Liedes, identifizieren. Physiognomisch in der conformitas der dop-pelten trias harmonica perfecta, des Symbols des trinitarischen Gottes, undmimetisch im Ausdruck vollkommener Gelöstheit der doppelten Aris-Thesis-Diastole der Schlußkadenz, hat sie Bachs musikalische Bilderzählung im„Hochzeitsbild“ der 10. Choralzeile fixiert.

Affekt

Die Handlung der geistlichen Komödie wird von dem Protokoll einer Ge-mütsbewegung begleitet. Den Ausdruck der Furcht, eingeschrieben dem Aus-druck des Todesmutes, der entschlossenen Annahme desjenigen Todes, vordem kein prämortales Gnadenurteil den Menschen „jenseits von Eden“ be-wahren kann, dirigierte der Komponist über den Ausdruck der „gewissenHoffnung“ (der 4. Zeile) und der „Ganzhingabe“ (der 8. Zeile) in den der fi-nalen „Ruhe in Gott“. Ein letztes Mal in der Kantate ist der Zusammenhangvon Gebärde und Affekt, Körper und Seele zur Vorstellung gebracht. Durchdie heftige Bewegung des harmonisch-melodischen „Körpers“ der initialen

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„Es ist genug“

95 Bachs Tätigkeit war angesichts der ideologischen Vorstellungswelt der Kantate eherein Finden als ein Erfinden der „Fabel“.

Zeile werden wir in die Gemütsbewegung mit einbezogen. Aus ihr entlassenwerden wir im finalen Ausdruck der „Gelassenheit“.

Dadurch, daß Bach hierzu die Lyrik des Chorliedes auf eine hohe Tonlagestimmte, eine Mannigfaltigkeit musikalischen Sprechens und einen dramati-schen Ausdruckswechsel aus ihr heraus entfaltete, kam ihm die choralische„Fabel“, die er vermutlich mit der Absicht einer Anbindung an den Kantaten-dialog erfand95, nicht zuletzt aus ästhetischer Notwendigkeit höchst gelegen.Sie wurde ihm zur Bedingung der pararhetorischen Ausdruckswelt des Cho-rals. Denn extremistische Affektdarstellung und liedhafte Syntax fanden in derentwickelnden Variation, dem kompositorischen Medium der Fabelerzählung,den Ausgleich einer „schiefen Ebene“, deren Gefälle die peroratio der Kantatevor dem ästhetischen Mißlingen einer durch den Überschuß an Bühnenrheto-rik entstellten „Ausdrucks-Etüde“ bewahrte.

Schluß

Dem Bilderbuch der Mnemosyne hat Bachs Choralsatz ein Blatt hinzugefügt.In seiner Kalligraphie, seinem „Zug in Zügen“, hatten wir ein musikalischesEmblem erkannt. Als ein „letztes Wort“ der Kunst an der Grenze von Seinund Zeit deutet es die „vita christiana“ selbst als ein Kunstwerk, als GottesWerk der Neuschöpfung des Menschen. Unter der Hand des scharfsinnigenKünstlers wurde die Umarbeitung einer Vorlage – Dichtung aus Dichtung – zudessen kompositorischem Gleichnis.

Auf vielen Wegen und notwendigen Umwegen sind wir am Ende zu jenemOrt gelangt, von dem unsere Untersuchung ihren Ausgang nahm. Wir hattendiese verstanden als den Versuch, über ein ästhetisches Vorurteil Rechenschaftabzulegen, dem Leser eine Faszination zu erklären, die von den affektischenUmbrüchen des Satzes, seiner rätselhaften Harmonie und oxymoresken Formausgegangen war. Die Faszination ist am Ende ungebrochen; nur wollen wirsie, nachdem unser Ohr durch eine hermeneutische Erfahrung für den spiritu-ellen Sinn einer akustischen „Sensation“ hellhörig wurde, nicht mit der Pa-thosformel des Choralanfangs, sondern mit der Ethosformel seiner Schlußtak-te begründen.

Die Wahrheit, die uns hier in künstlerischer Imagination begegnet, ist dieeiner Wahrheit a posteriori. Als errungene oder wiedergefundene verleiht sie

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den Schlußtakten den Ausdruck eines ganz und gar nicht faulen Friedens, ei-nes nicht bloß schalen Glücks. Die Faszination dieser Schönheit hatte ArthurSchopenhauer mit einer denkwürdigen Synopse von ästhetischer und philoso-phischer Erfahrung veranschaulicht. Wir schließen mit seinen Worten, weil sie– als Kommentar zu Bachs Choralschluß verstanden – unser Denken in Bewe-gung zu halten vermögen über die spirituelle Schönheit der Musik.

Daher bleibt, beim Verschwinden alles Wollens aus dem Bewußtseyn, doch der Zustandder Freude, d. h. der Abwesenheit alles Schmerzes, und hier sogar der Abwesenheit derMöglichkeit desselben, bestehn, indem das Individuum, in ein rein erkennendes und nichtmehr bloß wollendes Subjekt verwandelt, sich seiner und seiner Thätigkeit, eben als einessolchen, doch bewußt bleibt. Wie wir wissen, ist die Welt als Wille die erste (ordine prior)und die als Vorstellung die zweite Welt (ordine posterior). Jene ist die Welt des Verlangensund daher des Schmerzes und tausendfältigen Wehes. Die zweite aber ist an sich selbst we-sentlich schmerzlos: dazu enthält sie ein sehenswertes Schauspiel, durchweg bedeutsam,aufs Wenige belustigend. Im Genuß desselben besteht die ästhetische Freude96.

Und endlich, im Souterrain des Diskurses, im Understatement einer Anmer-kung der kleine Spalt, durch den immer noch und unaufhörlich das spirituelleLicht in Platons Höhle, das Kunstwerk, dringt:

Das vollkommene Genügen, die finale Beruhigung, der wahre wünschenswerte Zustandstellen sich uns nur im Bilde dar, im Kunstwerk, im Gedicht, in der Musik. Freilich könnteman hieraus die Zuversicht schöpfen, daß sie noch irgendwo vorhanden seyn müssen97.

96 A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Zweiter Band, Kapitel 19: „Zur Meta-physik des Schönen und Ästhetik“, § 205, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. A. Hübscher,Bd. 6, Leipzig 1939, S. 442.

97 Ebenda.