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PROFIL > titel Fußnoten finden Sie im gesonderten Kasten auf Seite 34 Alle wollen Abi und Uni Über tabuisierte Ursachen von Bildungshysterie und Bildungsdünkel von PROF. DR. RAINER DOLLASE Welche gesellschaftlichen Strömungen führen dazu, dass heute immer mehr junge Menschen studieren wollen? Stimmt die Annahme, dass man nach einem akademischen Studium besser verdient? Ist die angestrebte Bildungsgerechtig- keit zu erreichen, indem möglichst viele Men- schen eines Jahrgangs Abitur machen und stu- dieren? Der Autor beobachtet seit Jahren die gesellschaftlichen Annahmen und Diskurse zum Thema Studium und Ausbildung und zieht seine Schlüsse zu diesen Fragen. D ie grundlegende Frage lau- tet: Kann ein Akademiker über die Akademiker- schwemme unbefangen reden? Ist er vielleicht nur neidisch, dass sein exklusiver sozialer Status durch die vielen Nachahmer gemindert wird? Hat er eigentlich genug Ah- nung davon, wie ‘schlecht’ es den Nichtakademikern geht? Oder hat er nur Vorurteile? > PROFIL | März 2017 24

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Alle wollen

Abi und

UniÜber tabuisierte Ursachen von

Bildungshysterie und Bildungsdünkel

von PROF. DR. RAINER DOLLASE

Welche gesellschaftlichen Strömungen führendazu, dass heute immer mehr junge Menschen

studieren wollen? Stimmt die Annahme, dassman nach einem akademischen Studium besserverdient? Ist die angestrebte Bildungsgerechtig-

keit zu erreichen, indem möglichst viele Men-schen eines Jahrgangs Abitur machen und stu-

dieren? Der Autor beobachtet seit Jahren diegesellschaftlichen Annahmen und Diskurse

zum Thema Studium und Ausbildung undzieht seine Schlüsse zu diesen Fragen.

Die grundlegende Frage lau-tet: Kann ein Akademikerüber die Akademiker-

schwemme unbefangen reden? Ister vielleicht nur neidisch, dass seinexklusiver sozialer Status durch

die vielen Nachahmer gemindertwird? Hat er eigentlich genug Ah-

nung davon, wie ‘schlecht’ es denNichtakademikern geht? Oder hat er

nur Vorurteile?

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diesen ehrenwerten Tätigkeiten habe ich mehr oder wenigermein Studium finanziert (Erspartes aus zwei Jahren Bundes-wehrzeit und Studiendarlehen kamen dazu).

Armut ist kein Grund für geistiges Desinteresse

Kürzlich erschien wieder einmal eine Armutsstudie2 mit einerjämmerlichen und jammernden Auflistung darüber, was den ar-men Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft ver-schlossen bleibt. Und dass Armut die Ursache von Bildungsabs-tinenz sei. War das in meiner Generation (Jahrgang 1943) ge-nauso? Auf uns traf alles zu, was man heute als Ursache für denBildungsnachteil armer Kinder und Jugendliche annimmt: Die

Kleidung im Winterwar nicht passend, esgab zu wenig Zimmerin der Wohnung, ichschlief lange Jahre im-mer mit mehrerenMenschen in einemZimmer, die Eltern hat-ten kein Auto, sie konn-ten nicht mit mir in Ur-laub fahren etc. Natür-lich bin ich auch nie-mals mit meinen Elternin ein Konzert oder ei-ne Oper gegangen, inder Oberstufe desGymnasiums habe ichvon meinem Taschen-geld (5 DM im Monat)

und meinem Lohn für nachmittägliches Helfen auf dem Bau(mit 16 Jahren, von 14 bis 17 Uhr, 1,55 DM die Stunde) Eintritts-karten für Schüler-Aufführungen zu ermäßigten Preisen abge-zweigt. Armut ist kein Grund für geistiges Desinteresse – daslehrte die Nachkriegszeit. Der Argumentations-Fehler dieser Ar-mutsstudien ist, dass das intellektuelle und wissenschaftlicheInteresse nicht durch den Besuch klein- und bildungsbürgerli-cher Kulturveranstaltungen und durch spießige Lebensgestal-tung erzeugt wird, sondern durch freies Spiel und radikale ko-gnitive Anregungen. Wir lernten, die Weltschlager von ElvisPresley gegen klassische Bildungsansprüche von Musiklehrernund Eltern zu verteidigen. Wir hielten die Bilder von Prinz Eisen-herz für bessere Kunst als Picassos ‘Guernica’. Und wir überleg-ten uns mit diebischer Freude Argumente, mit denen wir derAufgeblasenheit der ‘Vornehmen’ die Luft rausließen. Intelli-genz und Bildungsbedürfnis entsteht also nicht dadurch, dassman das nötige Geld hat, um als Konsument seine Zeit in Kon-zertsälen oder Museen zu vertrödeln, sondern indem die Intelli-genz auf Trab gebracht wird. Das gilt übrigens heute genausowie früher.

Ein letztes Wort zum fehlenden Abstandsneid. Am 1. März 1963hielt ich am mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasi-um Mönchengladbach die Abiturrede über Elite und ihre sozialeVerantwortung und machte mich darin über den Akademiker-dünkel lustig. Ich sprach von der Gefahr, ein ‘Doktor LieschenMüller’ zu werden, und mahnte den Respekt vor handwerkli-chen Berufen an. Kein Wunder aufgrund meiner Biografie. Wei-tere thematische Befassung mit der Entzauberung der Akade-

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Die Psychologie unterscheidet eine Vielzahl von Neidformen.1

Die hier infrage kommende Neidform wäre der sogenannte ‘Ab-standsneid’, den man vor den Aufgestiegenen haben kann undder sich aus der Angst speist, dass diese ihm im Sozialprestigezu nahe kommen könnten. Noch schlimmer: Sie könnten bessersein als man es selbst war und ist, und man würde sich nichtmehr so ‘besonders’ fühlen können wie bisher. (»Ach – nochso’n Professor«).

Gegen derlei Unterstellungen hilft nur die eigene Abstammung:Ich bin bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr in Duisburg imStadtteil Hamborn/Bruckhausen groß geworden – schon da-mals ein belasteter und abgehängter Stadtteil von Duisburg, indem es immer Gewalt, Armut und Kriminalität gab. Zu allemÜberfluss teilte sich die eigene Familie in ein mütterliches Ar-beitermilieu und einen eher kleinbürgerlich gebildeten Lehrer-Stamm. Die einen beschimpften die andern im Streit schon malals ‘Proleten’, die anderen unterstellten, dass sie einen ‘Pin imKopp’ hätten. ‘Pin im Kopp’ bedeutet im Ruhrpott-Slang, nach‘Höherem’ streben – im Arbeitermilieu damals ein schlimmerSolidaritätsbruch.

Du bist Professor geworden? Das macht nichts,Hauptsache, du bleibst ein anständiger Mensch.

In einer dermaßen zwiegespaltenen sozialen Situation konnteich während Kindheit und Jugend immer wieder erleben, dassder Besuch der höheren Schule, das Abitur und die akademischeKarriere nicht sonderlich geschätzt wurden. Meine hoch verehr-te Großmutter Paula Lüsser (1887 bis 1978), die mich in derKleinkindzeit wegen der Kriegswirren erzogen hatte, sagte mireinmal: »Wenn du dich über einen Steineklopper lustig machst,bist du nicht mehr mein Enkel.« Als ich 1976 Professor wurde,sagte sie: »Du bist Professor geworden? Das macht nichts,Hauptsache, du bleibst ein anständiger Mensch.«

Zum Leibniz-Gymnasium in Duisburg/Hamborn (heute eine Ge-samtschule) bin ich immer mit einem bangen Gefühl gegangen,weil die Kinder vom Ostacker (einem Arbeiterviertel) auchschon mal eine Straßensperre gegen die Gymnasiasten einrich-teten, die sich dann den Faustkämpfen durch allerlei Tricks mehroder weniger schnell entzogen. Genügend ‘Muckis’ (Muskeln),um denen die ‘Fresse zu polieren’, hatten wir nicht. Ich hatte,weil meist der Jüngste unter den Gymnasiasten, allerdingsleichtes Spiel: »Den Kleinen mit den blonden Locken lass mallaufen […].«

Dass man als Akademiker in einer anderen Umgebung Minder-wertigkeitsgefühle entwickeln kann, das war tägliche Erfah-rung. Aufgrund der Tatsache, dass ich als ältestes von fünf Kin-dern eines Lehrers natürlich mein Studium selbst verdienenmusste, folglich auch allerlei praktische Arbeit auf dem Bau, inSpeditionen, in Lagern und Fabriken verrichtet habe, ist mir ei-gentlich immer noch bis heute bewusst, dass ich als ‘ProfessorDr. phil.’ und ‘Diplom-Psychologe’ niemals Dächer decken konn-te und könnte, weil mir schwindlig wäre. Für die Verschalungvon Betondecken in Häusern und Hochhäusern bin ich moto-risch zu ungeschickt. Teppiche auf einer gewendelten Holztrep-pe zu verlegen fordert meine räumlichen mathematischen Fä-higkeiten derartig heraus, dass ich davor kapituliere und nachFachleuten rufe. Ich eignete mich bestenfalls als Bauhilfsarbei-ter, Soldat, Küchenhilfe, Gartenhelfer und Lagerarbeiter – mit

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Prof. Dr. Rainer Dollase: Kann einAkademiker über die Akademiker-schwemme unbefangen reden?

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miker: In den Jahren 1974 bis 1986 habe ich zusammen mit Mi-chael Rüsenberg (späterer Grimme-Preisträger und ausgezeich-net mit dem WDR-Jazzpreis für sein Lebenswerk) und Hans Stol-lenwerk vom Freizeitinstitut der Deutschen Sporthochschule(Erfinder der Event-Demoskopie) drei Bücher über die Befragungdes Konzertpublikums geschrieben, in denen wir insbesonderedie Vorurteile der Bildungsschicht über die ‘gehobene’ Musikaufs Korn genommen haben. Von 2007 bis 2010 war ich Mit-glied der ‘Hauptschulinitiative NRW’ und habe im Stadion vonBorussia Dortmund einen Vortrag zum Thema ‘Eine lebenswer-te Gesellschaft braucht Hauptschüler’ gehalten. Seit 2006 un-terstütze ich ein Stipendienprogramm für Hauptschüler derBöllhoff-Stiftung. Ich habe also keinen Abstandsneid, sondernich schätze Facharbeiter, Gymnasiasten, Hilfsarbeiter und Uni-Absolventen, alle Menschen also, die mit ihren Möglichkeitenzum Wohlstand und zum Wohlergehen dieser Gesellschaft bei-tragen – ganz unabhängig von ihrem Schulabschluss.

Die Situation des Akademinkerdünkels –altbekannt

Unser gedankliches Bild von einer harmonischen Gesell-schaft ist dadurch gekennzeichnet, dass Menschen un-terschiedlicher Bildung und Tätigkeit sich harmo-nisch aufeinander beziehen: Jeder tut seine Pflichtund trägt in unterschiedlicher Weise zum Wohler-gehen dieser Gesellschaft bei. Tabuisiert wird dieungleiche Bezahlung für diese Tätigkeiten – zu of-fensichtlich ist, dass sie ungerecht ist. Manche ge-mütlich und stressfrei Arbeitenden bekommen‘Geld wie Heu’ – andere ruinieren ihre Gesundheitbei schwerster ‘Maloche’ für ein bescheidenes Sa-lär. Wir streben – romantisch denkend – nach Un-terschieden und anerkennen in Sonntagsredenden Bauhilfsarbeiter wie den Geschäftsführer ei-ner Sparkasse. Über Geld reden wir nicht.

Dieses romantisch gedachte Gleichgewichtscheint durch die zunehmende Akademisierunggestört zu sein. Offenbar machen zu viele ‘Abi’ undzu viele treiben sich auf der Universität herum. Siesind leider nicht auf Mangelfächer spezialisiert,sondern sie vermehren das Arbeitskräfte-Reser-

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voir, das man ohnehin nicht sonderlich häufig braucht: Kunstge-schichte, Archäologie, »was mit Medien«, Diplompädagogik,Germanistik, Soziologie, Diplom-Historiker etc. Zu wenige inte-ressieren sich offenbar für handwerkliche Berufe, für Facharbei-terberufe, für höchst notwendige, existenzielle Arbeiten beiWind und Wetter, in Schmutz und Ekel. Man muss sich im gesell-schaftlichen Interesse fragen, wo wir das notwendige Personalherbekommen. Muss man gar die Entlohnung für die gesuchtenBerufe kräftig anheben und die für manche Akademiker ordent-lich senken?

Durch die aktuelle Flüchtlingswelle (2015) hört man in dieser Fra-ge durch die Berichterstattung über das Elend hindurch die Hoff-nung, dass mit der Zuwanderung von vielen jungen Männerndiese Facharbeiterlücke doch noch geschlossen werden kann.Gleichzeitig warnen Experten vor dieser Hoffnung, da die Zuwan-derer zu achtzig Prozent keinen Schulabschluss hätten, also demArbeitsmarkt nicht sofort zur Verfügung stehen können.

‘Akademikerschwemme’ versus ‘Restschule’

Niemand muss sich wundern, dass alle Menschen nach dembestmöglichen Ergebnis und der bestmöglichen Art und Weisezu leben streben. Wer aus Syrien kommt und sein Haus verkaufthat, mithin einen fünfstelligen Betrag in die Flucht investierthat, der wird sich nicht auf irgendeinem Eifel-Dorf niederlassenund seine Arbeitslosigkeit bei Hartz IV genießen wollen. Ermöchte dorthin, wo er am mittelständischen Wohlstand derdeutschen Gesellschaft teilnehmen kann. Und ein jungerMensch in unserer Gesellschaft, der schon länger hier wohntund dessen Vorfahren immer hier gewohnt haben, wird die vie-len Pressemeldungen nicht vergessen wollen, in denen es hieß,dass sich das Studium immer noch lohnt und dass man als Aka-demiker 2,3 Millionen Euro im Leben verdient und ohne Berufs-ausbildung nur 1,08 Millionen. Solche Zahlen lösen den Zustromzum Abitur und zum Hochschulabschluss aus.

Diese Bewegung hin zum Besseren, Bequemeren und Sicherenwiederum erzeugt eine Art von Kollateralschaden. Straßenfeger,

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Ächtung gesellschaftlich wichtiger Tätigkeiten mit nicht akademischem Bildungs-abschluss und gleichzeitig Anerkennung von deren Unersetzlichkeit scheint inallen Gesellschaften der modernen Zeit üblich zu sein.

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Ich schätze alleMenschen, ganz un-abhängig von ihrem

Schulabschluss.

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Installateure, Bäcker und andere Handwerksberufe werden we-nig geachtet. In Befragungen assoziieren die meisten mit einemBild von einem Installateur, einem Dachdecker oder Bäcker:»Der ist ein Schulversager, der hat kein Abi geschafft.« Diese ty-pische Widersprüchlichkeit – Ächtung gesellschaftlich wichtigerTätigkeiten mit nicht akademischem Bildungsabschluss undgleichzeitig Anerkennung von deren Unersetzlichkeit scheint inallen Gesellschaften der modernen Zeit üblich zu sein. Überallgilt: »Wenn Du Dich in der Schule nicht anstrengst, dann musstDu Straßenfeger werden!« – »Bügelstube – wenn ich das schonhöre!!« – entsetzter Ausruf einer Sozialpädagogin in Berlin, dieein türkischstämmiges Mädchen berät, das in der Bügelstubearbeiten möchte. »Streng Dich an, damit etwas Ordentliches

aus Dir wird.« Gleichzeitig hält jeder das Bügeln und Straßenfe-gen für außerordentlich wichtig. Streiken die Straßenfeger – hatjede größere Stadt ein großes Problem. Streiken die Bäcker, dieMaurer, die Müllabfuhr – dann wird das Leben in den Industrie-staaten ungenießbar. Ein sechs Monate langer Streik einer Unihätte hingegen kaum Auswirkungen.

Aus der unterschiedlichen Wertigkeit, dem anerkannten, gutentlohnten Akademikersein entspringt der Dünkel. Wer das ist,muss ja was Besseres sein. Und scheinheilig und gönnerhaftwird Lob auch für den Hilfsarbeiter verteilt, im Unterbewusst-sein aber lauert die Angst, dass die gesellschaftlich konstruierteHierarchie vielleicht doch nicht stimmt. Der dünkelnde Aka-

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Der dünkelnde Akademiker hatgleichzeitig Angst um seinenStatus, also Abstiegsangst, undAngst vor Entdeckung seinervielleicht doch substantiellenWertlosigkeit.

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demiker hat gleichzeitig Angst um seinen Status, also Abstiegs-angst, und Angst vor Entdeckung seiner vielleicht doch substan-tiellen Wertlosigkeit.

Der Abitur- und Hochschuldünkel, der für alle modernen Gesell-schaften typisch, aber nicht immer funktional ist, setzt sich intausenden von Facetten und in ebenso vielen Gesprächen undBemerkungen fort. So wird in einer Gesellschaft, die glaubt,durch Sprache die Realität verändern zu können, d. h. durch po-litische Korrektheit des Wortgebrauchs, hierauf besonders Wertgelegt. So auch bei diesem Thema. Der Begriff der ‘Akademiker-schwemme’ wird gelegentlich heftig angegriffen, weil das eineDiskriminierung unserer vielen Abiturienten und Akademikerbedeuten könnte. Sie könnten sich womöglich nicht als beson-ders wichtig erleben. Aber so was. Gleichzeitig darf man von derHauptschule selbstverständlich als ‘Restschule’ reden, von ei-nem ‘auslaufenden Schulmodell’, von ‘bildungsfernen Haupt-schulfamilien’ und davon, dass bei derlei ‘Gesocks’ das Betreu-ungsgeld für Kinder unter drei Jahren selbstverständlich ‘versof-fen’ wird. Wenn gar öffentlich verbreitet wird, dass Hauptschü-ler mit der modernen Industriegesellschaft aufgrund ihrer nied-rigen Bildung nicht Schritt halten können, so aktiviert das of-fenbar nicht die moralische Hülle der politischen Korrektheit.Quod licet Jovi, non licet bovi.

Dabei zeigen empirische Untersuchungen ganz deutlich, dass esim Deutschland des 21. Jahrhunderts eine Diskriminierung vonMenschen mit einfachen Schulabschlüssen gibt und gegebenhat. Die Soziologin Sibylle Töniess schreibt, dass sie »vor vielen

Jahren einmal beim Wasserturm mit Jugendlichen im Gesprächwar, die aus der Berufsschule kamen. Da schepperten die mitBlechbüchsen behängten Autos der neuen Abiturienten vorbei,die einen Triumphzug durch die Gemeinde veranstalteten. ‚Dassind die, für die wir mal arbeiten müssen‘, sagte einer der Be-rufsschüler.« Die Soziologin schreibt weiter: »Nicht ohneSchmerz kann ich seitdem die fröhliche Karawane sehen, die je-des Frühjahr durch die Stadt fährt und deren oberer Hälfte esdas Herz hebt, während sie die untere deprimieren muss.«3

»Wähle einen Beruf, dergesellschaftlich gebraucht wird.«

In einer statistischen Untersuchung des Verfassers bei6.500 Bundesbürgern zum Thema Fremdenfeindlichkeit wurdeunter anderem auch gefragt: »Welche Art von Information istwichtig, um andere Menschen zu beurteilen?«4 Mithilfe einesvollständigen Paarvergleichs wurden die Kriterien Schulab-schluss, Beruf, Alter, Geschlecht, Nationalität und Religion je-weils in Zweier-Kombinationen vorgelegt, um eine Entschei-dung für eine der beiden Alternativen herbeizuführen. Diese Artder Erhebung ist besonders aufwendig und produziert die we-nigsten Fehler. In insgesamt zwölf unabhängigen Stichprobenergab sich eine ganz klare Reihenfolge: 1. Schulabschluss, 2. Be-ruf, 3. Alter, 4. Geschlecht, 5. Nationalität, 6. Religion. Man er-kennt ganz deutlich, dass Schulabschlüsse in der Gesellschaftwesentlich zur Beurteilung und zum Ansehen von Menschenbeitragen. Kriterien wie Geschlecht, Nationalität und Religionfallen dem gegenüber ab. Die Frage sei erlaubt, ob die Diskrimi-

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DIHK: Eine duale Ausbildung mitanschließender Aufstiegsfortbil-dung schützt oft besser vor Ar-beitslosigkeit als ein Studium.

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nierung nach Schulabschluss in einem Antidiskriminierungsge-setz nicht verboten werden sollte? Um zum Beispiel zu verhin-dern, dass ein Wohnungsmieter aufgrund seines Schulab-schlusses eine Wohnung nicht bekommt. Die Antwort gibt derVerfasser selber: eigentlich ja. Ein Merkmal wie Religion istauch variabel – man kann seine Religion ja ändern – also müs-sen auch Beruf und Schulabschluss vor Diskriminierung ge-schützt werden wie die Religion. Natürlich wird das niemandwollen. Na klar.

Eigenartigerweise gab es schon im Jahre 2007 vom ‘Institut fürdie Zukunft der Arbeit’5 eine ziemlich eindeutige Ansage, dasswir im Jahre 2020 keinesfalls so viele Abiturienten brauchen,wie wir im Augenblick haben. Die Prognose war: 23,6 ProzentAbsolventen mit Fachhochschul- und Universitätsabschluss,11,8 Prozent Meister, Techniker, Fachschulabschluss, 55,7 Pro-zent mit Berufsabschluss und neun Prozent ohne Berufsab-schluss – da selbstverständlich sogenannte ‘Hilfsarbeiter’ exis-tenziell notwendige Arbeiten für das Wohlergehen einer Ge-sellschaft leisten können und müssen. Es gibt eben wichtigeArbeiten, für die die Fähigkeit zur geschickten Interpretationvon expressionistischen Gedichten (‘Hurz! Das Schaf, das Reh’)nicht notwendig ist. Die Zeitungen sind auch voll von Meldun-gen, dass ‘Hauptschüler oft gute Mitarbeiter’ seien, oder ‘We-niger Jugendliche beginnen einen Lehre’ oder ‘Ich ärgere michüber den Akademisierungswahn, sagt ein Handwerker.’

Die höhere Bildung diente als Faustpfand dafür, dass wir dendemografischen Knick besser überwinden können. Die höhereEffizienz der Bildung, mehr Patente, mehr praktische und theo-retische Tüchtigkeit sollen die Produktivität der Gesellschaft soweit erhöhen, dass in Zukunft ein arbeitender Mensch zweiRentner finanzieren kann. Diesem Ziel dienen natürlich auchandere Lösungen wie die Früheinschulung (bringt nichts), dieVerkürzung der Gymnasialzeit (die dann gleichzeitig auch derhöheren Effizienz abträglich ist), die Teilung des Studiums inBachelor und Master (soll Studienzeit verkürzen – tut es abernicht), die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (die gerade vonder großen Koalition wieder zurückgenommen wird) und na-türlich die Zuwanderung, die in der Tat im Millionenbereich lie-gen muss, damit Deutschland sein Rentenniveau aufrechter-halten kann (wenn denn alle Zugewanderten in Arbeit undBrot gebracht werden könnten).

Zur Überwindung des demografischen Knicks ist es nun durch-aus sinnvoll, dass viele Menschen bessere Ausbildungen ma-chen. Niemand hat aber gesagt, dass dazu nur ein germanisti-sches Studium an der Hochschule führen kann. Es geht nichtum mehr Dünkel, sondern um mehr Produktivität. D. h. also, dieindividuelle Schul- und Berufswahl ist aus einer individuellenLogik heraus sinnvoll, weil alle Quellen immer wieder behaup-ten, dass es nachher mehr Geld gibt, wenn man ‘irgendwas’ stu-diert und nicht, wenn man Handwerker wird. Die Botschaft ansVolk lautete: »Schick dein Kind länger auf bessere Schulen«oder »Werde Akademiker, um mehr zu verdienen.« Sie hättelauten müssen: »Wähle einen Beruf, der gesellschaftlich ge-braucht wird.« Wenn man nun vom gesellschaftlichen Bedarf anFacharbeitern redet, wird das niemandes individuelle Entschei-dung für mehr Anerkennung und mehr Geld ändern. Eigentlichmüsste der Markt mit einer Minderbelohnung auf langes Stu-dieren reagieren, wenn man etwas ändern will und mehr Fach-arbeiter einstellen möchte. Das wird der Markt natürlich nichttun.

Akademische Bildung = mehr Lohn?

Es gibt Risse in diesem scheinbar so eindeutigen Bild, denn dieZahlen stimmen hinten und vorne nicht. 5,6 Prozent Akademi-ker arbeiten zum Niedriglohn oder in Berufen, die sie nicht an-gestrebt haben.6 Beispiel: in der Altenpflege oder als Taxifahrer.Das kann schon mal einen Diplomphysiker oder eine promovier-te Soziologin betreffen. Dieser Prozentsatz, der ohnehin inner-halb der Wirtschaftsstatistik umstritten ist, ist aber nicht dasHauptproblem. Es gibt in Deutschland 20,9 Prozent akademischausgebildete Menschen,7 die sich vollständig vom Arbeitsmarktzurückgezogen haben. Das wurde in dem Artikel der ‘Welt’ (vonTobias Kaiser) als ‘Deutschland – die Republik der bequemenAkademiker’ betitelt. Das könnte aber auch völlig anders sein:Es handelt sich um Resignation, die möglicherweise einen gro-ßen Teil der weiblichen Arbeitnehmer mit akademischer Ausbil-dung betrifft. Resignation, weil man keine angemessene Stellefindet, deshalb zieht man sich ins Private zurück und lässt seinLeben von einem Partner/einer Partnerin mit regelmäßigemEinkommen bezahlen. Oder kümmert sich um die Kinder. DieDIHK hat geschrieben: »Eine duale Ausbildung mit anschließen-der Aufstiegsfortbildung schützt demnach noch besser vor Ar-beitslosigkeit als ein Studium« und etwas weiter, »bei den

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Sprach-, Literatur- und Geisteswissenschaftlern liegt die Ar-beitslosenquote berechnet auf der Basis der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten bei 9,3 Prozent.«

Oder eine andere Argumentation: die Chefgehälter im Hand-werk (zwischen 72.000 und 114.000) übertreffen meist das jähr-liche Einkommen von C4-Professoren. Zusammen mit Tantie-men, die Handwerkermeister durch den Verkauf von Heizungen,Dachpfannen, Isoliermaterial etc. bekommen, ergibt sich einweiterer Betrag (rund 12.000 bis 40.000), an den C4-Professorennur in verschwindenden Prozentsätzen mit zusätzlichen Vor-tragshonoraren oder Honoraren für Bücher heranreichen.

Im Jahre 2014 erschien beim ‘Institut für die Zukunft der Arbeit’das Ergebnis einer rückblickenden Langzeit-Studie,8 in der deut-lich gezeigt wurde, dass etwa Realschulabsolventen gegenüberHochschulabsolventen oder Abiturienten in keiner Hinsicht be-nachteiligt sind, was ihr weiteres Leben anbelangt. Ein Befund,für den ich allein in meiner eigenen Verwandtschaft genügendEinzelfälle beitragen könnte: Realschulabsolventen haben einetolle, gut bezahlte und gesellschaftlich anerkannte Karriere ge-macht und damit Professoren finanziell und prestigeträchtighinter sich gelassen. Gut so.

Eine der am liebevollsten gepflegten Legenden ist die, dass derdurchschnittliche Gymnasiast oder Abiturient auch in den klas-sischen Fächern wie Mathematik, Deutsch, Englisch mehr könneals ein Hauptschüler, Realschüler oder Gesamtschüler. Leider istdie letzte Untersuchung zur Überprüfung dieser Legende schonim Jahre 2002 gemacht worden.9 Interessanterweise fand man,dass die Lernmotivation in den zwanzig besten Hauptschulklas-sen höher ist als die Lernmotivation in den zwanzig besten Real-schulen und erst recht in den besten Gymnasialklassen, wo dieLernbereitschaft außerordentlich niedrig ist (natürlich – weil diemeisten Menschen am traditionell Akademischen null Interessehaben). Aber auch in den Leistungen im Fach Mathematik zeigtesich, dass die zwanzig besten Hauptschulklassen alle einen bes-seren Mittelwert in mathematischer Kompetenz hatten als diezwanzig schlechtesten Gymnasialklassen. D. h. also, es istdurchaus denkbar, dass Hauptschüler auch in Mathematik bes-ser waren bzw. sind als Gymnasiasten.

Weitere Risse im schönen eindeutigen Bild: Griechenland zumBeispiel hat in der jüngeren Generation eine deutlich höhereAbi- und Uniquote als Deutschland. »Das größte Problem«, soheißt es einem Bericht des Deutschlandfunks, »ist die hohe Ar-beitslosigkeit unter den Jungakademikern. Sie müssen sich vor-stellen: Da kommen Studierende von überall her nach Athen,bleiben hier vier oder fünf Jahre und danach finden sie keinenJob. Selbst wenn Du auf das Bachelorstudium noch einen Mas-ter draufsetzt, kriegst du einfach keinen Job hier.« Und weiter:»Nicht zuletzt die Jugendarbeitslosigkeit, die auch bei Jungaka-demikern bei nahezu unvorstellbaren sechzig Prozent und darü-ber liegt, führte erst zu heftigen Protesten, dann auch zu einemvier Monate anhaltenden Streik an acht griechischen Unis, da-runter auch die Universität von Athen.«10

Das Märchen von der besseren Entlohnung des homo academi-cus ist partiell falsch – es trifft, wie in allen Berufen, nur einenTeil. Aber das höhere Sozialprestige? Das wird ein langer Prozessin zähflüssiger Reaktion auf die beginnende Marktregulation.Die historische Erfahrung, dass ‘die da oben’ immer auch ‘Stu- >

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dierte’ waren, wird noch lange nachhallen, auch dann noch,wenn es nicht mehr stimmt.

Das Streben nach ‘Bildungsgerechtigkeit’als Motor des Akademisierungswahns

Man hat hin und wieder den Eindruck, dass große Teile derdeutschen Gesellschaft glauben, wenn alle Abi machen und ei-nen Uni-Abschluss haben, dann ist es gerecht. Und dass dannalle einen akademischen Schreibtischberuf garantiert bekom-men. Daraus folgern sie messerscharf, dass alle auf dieselbeSchule müssen, ob sie die entsprechenden Interessen oder Fä-higkeiten besitzen odernicht, auf jeden Fall soll-ten sie an der hohen ge-sellschaftlichen Wert-schätzung teilhaben, dieein Abi und ein Uni-Ab-schluss mit sich bringen.Auf die naheliegendeIdee, dass man nicht denformalen Bildungsab-schluss als Grundlage fürseine Ungerechtigkeits-urteile nehmen sollte,sondern den tatsächli-chen gesellschaftlichenWert der Tätigkeit, die je-mand ausübt, kommengroße Teile unserer bil-dungshysterischen Ge-sellschaft nicht. Oder siefragen gar nicht mehr, obdie ungerecht Benachtei-ligten sich auch so fühlen, ob sie was anderes hätten machenwollen oder ob sie mit ihrem Leben so, wie es ist, zufrieden sind.

Auch die Idee, dass man durch eine Einheitsschule mehr sozialeGerechtigkeit oder Bildungsgerechtigkeit schaffen könnte, istlängst eindeutig widerlegt worden. Helmut Fend hat mit Be-dauern festgestellt, dass es keine Unterschiede zwischen einemgegliederten und einem Einheitsschulsystem bezüglich der so-zialen Gerechtigkeit gibt.11 Die angestrebten Abschlüsse vonLehre, von Fachhochschule und von Hochschulen verteilen sich– egal welche Schulform – immer ähnlich nach dem Bildungs-hintergrund der Eltern. Also auch an einer Gesamtschule findetdiese ‘Selektion’ statt. Muss ja auch, solange das Leistungsprin-zip gilt. Vielleicht denkt man auch mal daran, dass es unter-schiedliche Interessen an Berufen und Lebensweisen gebenkann, darf und soll – nicht ein jeder dieser Entwürfe benötigtdas Abitur. Es liegt nicht immer an Begabung und IQ.

In Finnland gibt es so wenig Arbeiterkinder an den Unis wie nir-gends sonst in der Europäischen Union, trotz eines lückenlosenGesamtschulsystems.12 Vermutlich haben sie die strengen Auf-nahmeprüfungen dort nicht geschafft. In Großbritannien kannman einen Schulabschluss an einer Gesamtschule auch mit vie-len schlechten Noten auf den Zeugnissen bekommen. Wird dasSitzenbleiben in Einheitsschulsystemen abgeschafft, hat mankeine zweite Chance für den Rest seines Lebens: Man muss sichmit einem zufällig miserablen Zeugnis das ganze Leben lang zu-frieden geben.

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Viele Länder, die ein konsequentes integriertes Gesamtschulsys-tem haben, zum Beispiel USA und Peru, sind bei PISA deutlichschlechter als Deutschland. Und das Schicksal der ‘Restgruppe’in der Gesamtschule (ein Begriff, der an nordrhein-westfäli-schen Gesamtschulen kursiert, also jene, die mit den Anforde-rungen der Gesamtschule trotz Förderangebot nicht zurecht-kommen) ist auch an deutschen Gesamtschulen problematisch,da sie mangels multiprofessionellem Personal und wegen zugroßer Schulklassen vom Lernfortschritt abgehängt werdenmüssen. Manchmal aber auch schlicht mangels Fähigkeit undInteresse.

Die Abiturnoten werdenim Zuge der Gerechtig-keitsdiskussion ‘natür-lich’ alle besser, genausowie die Hochschulnotenalle eine Eins vor demKomma haben (mit Aus-nahme der Staatsprü-fungen). Wir wissen,dass sich dahinter keinLeistungsfortschritt ver-birgt. Schuld daran isteinmal die vollständigeTransparenz der Prü-fungsanforderungen13

sowie die ‘Kompetenz-orientierung’, die es invielen Fächern (nicht al-len) erlaubt, mit gesun-dem Menschenverstanddie Aufgaben zu lösen,ohne dass fundiertes

und verstandenes Wissen vorhanden ist. Genauere Untersu-chungen des Leibniz-Instituts Kiel im Jahre 2015 zeigten,14 dassdie wesentlichen Grundlagen – zum Beispiel in Mathematik –bei den meisten Abiturienten bzw. Studierenden nicht vorhan-den sind. Unsere einzige Hoffnung ist, dass die besonders Gu-ten und Interessierten, die in keinem Land der Welt mehr als ei-nige Prozente ausmachen, sich durch kein Schulsystem der Weltwirklich verbiegen lassen. Und auch nicht die, für die die akade-mischen Anforderungen in unserem Schulsystem subjektiv un-sinnig sind.

Abstiegsängste bei allen

Fend hat in seiner Längsschnittstudie aber auch festgestellt,15

dass die Auf- und Abstiege, gemessen am Schulabschluss der El-tern mit und ohne Abitur und dem Abschluss ihrer Sprösslinge,nicht vollständig von dem elterlichen Hintergrund determiniertwerden. Bei Eltern ohne Abitur machen ungefähr 31 Prozentbzw. 37 Prozent der Töchter bzw. Söhne Abitur, bei den Elternmit Abitur gibt es 39 Prozent der Töchter und 33 Prozent derSöhne, die keines haben. Viel mehr an Durchlässigkeit und so-zialer Mobilität wird man durch kein Schulsystem erreichenkönnen.

OECD-Daten werden nur dann zitiert, wenn sie die eigene Ideo-logie bestätigen. Dass Deutschland innerhalb der OECD diehöchste Bildungs-Abstiegsquote hat unter den 24- bis 64-Jähri-gen, deren Bildungsabschluss niedriger ist als der ihrer Eltern,

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Das Märchen von der besserenEntlohnung des homo academicusist partiell falsch.

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wird schnell vergessen.16 Das würde ja bedeuten, dass ein ge-gliedertes System doch flexibel ist, also alle ihre Chancen ha-ben. Die Abstiegsquote macht in Deutschland ungefähr17,9 Prozent aus. Deutschland ist damit Spitzenreiter vorSchweden und Dänemark.

Wegen der hohen Abstiegsquote in Deutschland, also der gro-ßen sozialen Durchlässigkeit unseres gegliederten Systems, istdenkbar, dass die bildungsbeflissenen Eltern Deutschlands vor

dem ‘Abstieg ins Handwerk’ oder in ‘niedrige’ Abschlüsse be-sonders viel Angst haben.

Auf der anderen Seite scheint es auch eine Angst des Prekariatsdavor zu geben, allein nur mit Bildung den Aufstieg schaffen zumüssen. Der Parteienforscher Franz Walter (auch bekannt we-gen der Untersuchung der Pädophilie-Bewegung innerhalb derGrünen in den 1980er-Jahren) hat in einer entsprechenden Stu-die zum Prekariat geschrieben: »[...] denn Bildung war ja derSelektionshebel, der sie in die Chancenlosigkeit hinein sortierthatte. Bildung bedeutet für sie infolgedessen das Erlebnis desScheiterns, des Nicht-Mithalten-Könnens, der Fremdbestim-mung durch andere, die mehr gelesen haben, besser redenkönnen, gebildeter aufzutreten vermögen.« In der Tat: DieseFähigkeiten sind nicht für alle Berufe sinnvoll. Walter schreibtweiter: »[...] für sie selbst heißt die Konzentration staatlicherAnstrengungen auf Bildung statt sozialer Transfers die Verfesti-gung von sozialer Labilität, ja Marginalisierung. Ganz illusions-los sehen sie, dass es für sie nicht eine einzige plausible Ideefür ein sozial gesichertes und respektables Leben in den nächs-ten Jahrzehnten gibt.«17

Dreißig Prozent Studienabbrecher –Folgen des Akademisierungsdünkels

Offenbar denken Deutschlands Politiker auch selten an diezeitweise rund dreißig Prozent Studierenden (zum Beispiel Bie-lefeld, stabil überall um die zwanzig Prozent), die ihr Studiumnicht abschließen können. Manchmal mangels Interesse,manchmal mangels Fähigkeit. Wenn man den Eltern die Schul-wahl überlässt, wird die soziale Schere auch nicht weniger ge-öffnet, da vor allem nicht daran gedacht wird, dass für ein er-folgreiches Abitur und einen wirklich erfolgreichen Hochschul-abschluss auch Interesse an praxisfernen theoretischen Proble-men existieren muss. Jede Gesellschaft braucht von solchenMenschen einen gewissen kleinen Prozentsatz – die anderenkönnten mit einem Realschulabschluss (historischer Begriff‘denkende Praktiker’) oder einem ‘Produktionsschulabschluss’(nach dänischem Vorbild) ebenso ihren Beitrag zu dieser Ge-sellschaft leisten – und sie dürfen je nach Anstrengung selbst-redend mehr verdienen als manche Akademiker.

Gesamtschulsysteme sind teurer

Vollends verdrängt wird die Tatsache, dass Gesamtschulsyste-me teurer sind als ein gegliedertes System. Erstaunlicherweisekommen hin und wieder Wirtschaftswissenschaftler und Bil-dungsökonomen zu einem gegenteiligen Ergebnis, was mansich leicht vorstellen kann, weil diese meist nur die Interessendes jeweiligen Schulträgers, also der Gemeinde oder Stadt, ver-treten. Da kann es schon einmal vorkommen, dass es besserist, ein Gebäude zu betreiben als zwei, die auseinander liegen.Bezogen auf die Personalsituation, die nicht (unbedingt) inhundertprozentiger Hand der Schulträger liegen muss, ergibtsich, dass im OECD-Mittel auf sechzehn Lehrpersonen eineVollzeitstelle als pädagogisch unterstützendes Personal kommtund auf neun Lehrpersonen eine Vollzeitstelle als administrati-ves Personal.18 Haben wir das in Deutschland erreicht – nein.An der Umfrage hat Deutschland übrigens nicht teilgenom-men. Deutschland muss jetzt noch sehr viel investieren, umdurch die gestiegene Heterogenität, die eine Erschwerung derArbeit von Lehrkräften bedeutet19 und auch das Lernen der

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1 Haubl, Rolf: Neidisch sind immer nur die anderen:

Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein, München 2004.

2 Groos, Thomas/Jehles, Nora: Der Einfluss von Armut auf

die Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der

Schuleingangsuntersuchung, Gütersloh 2015.

3 Aus einem FAZ-Artikel, Anfang der 2000er-Jahre.

4 Dollase, Rainer/Koch, Kai-Christian: Publikation i.V., 2016.

5 Bonin, Holger/Schneider, Marc/Quinke, Hermann: Zukunft von Bildung

und Arbeit – Perspektiven von Arbeitskräftebedarf und -angebot bis

2020, in: IZA Research Report 9/2007.

6 Wisdorff, Flora: Tausende Akademiker arbeiten für Niedriglohn, in: Die

Welt, 19.1.2014, www.welt.de/wirtschaft/article123993919/Tausen-

de-Akademiker-arbeiten-fuer-Niedriglohn.html, Stand: 2. November

2015.

7 Kaiser, Tobias: Republik der bequemen Akademiker, in: Die Welt,

13. Mai 2015, www.welt.de/print/welt_kompakt/print_wirtschaft/

article140945717/Republik-der-bequemen-Akademiker.html,

Stand: 2. Nvember 2015.

8 Dustmann, Christian/Puhani, Patrick A./Schönberg, Uta: The Long-Term

Effects of Early Track Choice, in: IZA Discussion Paper Series

7897/2014, ftp.iza.org/dp7897.pdf, Stand: 2. November 2015.

9 Helmke, Andreas/Jäger, Reinhold S. (Hrsg.): Das Projekt MARKUS.

Mathematik-Gesamterhebung Rheinland-Pfalz: Kompetenzen,

Unterrichtsmerkmale, Schulkontext, Landau 2002.

10 Wagner, Thomas: Hungerlohn für Akademiker, in: PISAplus im

Deutschlandfunk, 7. Juni 2014, www.deutschlandfunk.de/griechische-

unis-hungerlohn-fuer-akademiker.1180.de.html?dram:article_id=

288576, Stand: 2. November 2015.

11 Fend, Helmut/Berger, Fred/Grob, Urs: Lebensverläufe, Lebensbewälti-

gung, Lebensglück, Ergebnisse der LifE-Studie, Wiesbaden 2009.

12 GEO-Magazin, Februar 2011.

13 Dollase, Rainer/Koch, Kai-Christian: Publikation i.V., 2016.

14 Mehrheit der Abiturienten schlecht in Mathe, in: ZEIT, 25. März 2015,

www.zeit.de/karriere/2015-03/mathematik-abitur-studie-leibniz-

institut, Stand: 2. November 2015.

15 Fend/Berger/Grob: Lebenverläufe.

16 Arp, Susmita: Bildungsmythen im Fakten-Check: Deutschland, ein Land

der Bildungsabsteiger?, in: Spiegel online, 25. Oktober 2015, OECD

Daten von 2012, www.spiegel.de/schulspiegel/bildung-in-deutsch-

land-oecd-statistik-im-fakten-check-a-1054154.html,

Stand: 2. November 2015.

17 Walter, Frank: Prekariat-Studie: Fatale Furcht ergreift die ewigen

Verlierer, in: Spiegel online, 2. April 2009, www.spiegel.de/politik/

deutschland/prekariat-studie-fatale-furcht-ergreift-die-ewigen-

verlierer-a-616392.html, Stand: 2. November 2015.

18 Schmich, Juliane: Kapitel 9: Ressourcen an Schulen und Unterrichts-

beeinträchtigungen, in: BIFIE-Report 4/2010: TALIS 2008: Schule als

Lernumfeld und Arbeitsplatz. Vertiefende Analysen aus österrei-

chischer Perspektive, Salzburg 2010, www.bifie.at/buch/1179/9,

Stand: 2. November 2015.

19 Ulich, Eberhard/Inversini, Simone/Wülser, Marc: Arbeitsbedingungen,

Belastungen und Ressourcen der Lehrkräfte des Kantons Basel-Stadt,

Basel 2002.

20 Bos, Wilfried/Tarelli, Irmela/Bremerich-Vos, Albert (Hrsg.): IGLU 2011 –

Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im interna-

tionalen Vergleich, Münster 2012, www.waxmann.com/fileadmin/

media/zusatztexte/2828Volltext.pdf, Stand: 2. November 2015.

FUSSNOTEN

> PROFIL | März 2017 35

PROFIL > titel

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Foto: MEV

Schüler erschwert, die nötige multiprofessionelle personelleAusstattung zu sichern.

Wie stark dieser Tatbestand – die durch Heterogenität derSchülerschaft notwendig werdende Kostenexplosion – ver-drängt wurde, konnte man auch an empirischen Untersu-chungen sehen. Zum Beispiel an IGLU 2011, erschienen imWaxmann-Verlag. Auf Seite 143 stellt sich heraus, dass inFinnland, Dänemark und Niederlande, die besser abgeschnit-ten haben als Deutschland, zwar überall die gleiche Schul-klassengröße existiert, dass aber fast 100 Prozent der finni-schen Lehrer sagen, dass sie Spezialisten für die Leseförde-rung zur Verfügung haben, und zusätzlich geben 73 Prozentauch noch an, weitere Hilfskräfte, also zum Beispiel Assis-tenzlehrkräfte, zu haben. In Deutschland sind es gerade mal34 Prozent bzw. 20 Prozent, die diese Frage bejahen. Diese Er-gebnisse hat die genannte Publikation allerdings in die Fuß-note verbannt.20

Voll-Akademisierung sollte die Gerechtigkeitbringen, hat sie aber nirgends

Man kann ein interessantes Fazit ziehen: Die Schulreformenmit der Wirkungsbehauptung des ‘längeren gemeinsamenLernens’ haben keinen Einfluss auf die unterschiedlicheSchichtallokation gehabt, also nirgendwo die sogenannte Bil-dungsgerechtigkeit hergestellt. Das war eine Illusion des 19.und 20. Jahrhunderts, stark geprägt vom Industriezeitalter.Die Voll-Akademisierung sollte die Gerechtigkeit bringen, hatsie aber nirgends. Darüber hinaus finden der Akademisie-rungswahn und der Versuch, alle unter einem Dach zu be-schulen, unter den falschen Rahmenbedingungen statt. Daskönnte nur mit mehr Personal gelingen.

Ob es gelingen sollte, darf man bezweifeln: Es führt kein Wegdaran vorbei, dass nicht nur unterschiedliche Begabungen,sondern auch krass unterschiedliche Interessenslagen großerTeile unserer Bevölkerung für die Funktionalität der schuli-schen Allgemeinbildung ausschlaggebend sind. Im Klartext:Viele wollen in Wirklichkeit keine echt akademische Bildung– sie wollen Respekt und Ansehen. Die Botschaft, dass es ineinem gegliederten System sehr unterschiedliche Wege in dieRealität geben könnte und dass man damit jedem Individu-um seine optimalen Chancen eröffnen könnte, ist durch denAkademisierungwahn von Bildungsökonomen (dem ‘politischökonomischen Komplex’) und Gesellschaft schwer gestört.Niemand hat heute die freie Wahl, sich bewusst als Jugendli-cher für einen handwerklichen Beruf (zum Beispiel Dachde-cker) zu entscheiden. Alle Beratungen eröffnen den Druck aufeine weitere Akademisierung. Und glauben auch, dass manmit dieser Akademisierung die Welt besser bewältigen könn-te. Was man ja erst einmal beweisen müsste. Eine Anpassungan modernes Denken und an moderne Technik wäre ohneFrage auch in Hauptschulen möglich gewesen und war sieauch. In Dänemark gibt es seit den 1980er-Jahren sogenann-te ‘Produktionsschulen’, das heißt Ausgliederungen aus ei-nem Gesamtschulsystem für diejenigen, die für die Bewälti-gung des Lebens lieber handeln und konkrete Dinge tunmöchten, was alle brauchen, als Probleme theoretisch zu wäl-zen, die niemand hat. ■

Lesen Sie den Abschluss dieses Artikels in der nächsten Ausgabe von Profil 2017.

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