Alterstraumatologie am Beispiel der...

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16. Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) 2016 Alterstraumatologie am Beispiel der Beckenfrakturen Frank Hildebrand Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Aachen

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16. Kongress der Deutschen Interdisziplinären

Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) 2016

Alterstraumatologie am Beispiel der

Beckenfrakturen

Frank Hildebrand

Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie

Universitätsklinikum Aachen

Geriatrisches Trauma

Wie ist die aktuelle Situation?

Geriatrisches Trauma

Im Krankenhaus behandelte Unfälle

Geriatrisches Trauma

Todesrate und relative posttraumatische Mortalität

(Unfalltote in % aller Todesursachen)

Geriatrisches Trauma

Ursachen für tödliche Verletzungen bei geriatrischen Patienten

Geriatrisches Trauma

• In der EU versterben jährlich 123 000 Patienten über 60 Jahre

nach Unfällen (entspricht 53% aller Unfalltoten)

• Posttraumatische Todesrate (pro 100 000) mit erheblichen

Anstieg bei Patienten über 70 Jahre

• Stürze als Hauptursache (28%) für fatale Unfallfolgen

• Auch bei geriatrischen Patienten EU-weite Unterschiede im

Outcome

Posttraumatischer Verlauf

Komplette Erholung

Tod

Verlauf beim geriatrischen Patienten

Komplette Erholung

Tod

Absoluter Impact

+

Reserven des Patienten

Alters-bedingter Funktionsverlust und

Vorerkrankungen

ATLS®, Textbook

Alters-bedingter Funktionsverlust und

Vorerkrankungen

Wutzler S et al. J Am Coll Surg 2010

• > 33% der Patienten über 75 Jahre haben Vorerkrankungen

• Sechs spezifische Vorerkrankungen mit Bedeutung für

posttraumatischen Verlauf:

- pAVK (Grad IV)

- KHK

- Hepatitis/Leberzirrhose

- Karzinom/maligne Erkrankungen

- Gerinnungsstörung

- Übergewicht

Ergebnisse eines systematischen Reviews

Calland F J Trauma 2012

1. Ist ein fortgeschrittenes Alter ein Triage-Kriterium für die

Einlieferung in ein Traumazentrum und die Aktivierung des

Schockraum-Teams

2. Sollte eine Limitierung der Therapie allein vom Alter abhängig

gemacht werden?

3. Wie ist die Bedeutung von Vorerkrankungen auf den Verlauf?

4. Wie sollte eine medikamentös-verursachte Koagulopathie

behandelt werden?

5. Ist ein erhöhter BE ein Parameter für die Verletzungsschwere

und Intensivpflichtigkeit?

6. Ist es sinnvoll, eine „supraphysiologic resuscitation"

durchzuführen?

Triage?- Therapielimitierung?

Calland F J Trauma 2012

Grad A

1. Insuffiziente Daten zur Beantwortung der Fragen

Grad B

1. ... Fortgeschrittenes Alter (≥65 Jahre) und Vorerkrankungen sollten

zur Triage in ein Traumacenter führen.

2. Ein fortgeschrittenes Alter... sollte nicht als alleiniges Kriterium zur

Therapielimitierung herangezogen werden

3. ...aggressive Therapie sollte begonnen werden... bis interdisziplinärer

Beschluss..., dass Patient morbibund ist

Grad C

1. Niedrigere Schwelle für Schockraumaktivierung ... bei Patienten >65

Jahre

2. Geriatrische Patienten mit schweren Verletzungen (z.B. mind. 1

Körperregion mit AIS ≥3) sollten in Traumazentren behandelt werden

3. Patienten > 65 Jahre mit GCS <8 und keiner Verbesserung über 72

Stunden...Überlegung zur Limitierung aggressiver Therapiemaßnahmen

Medikamentöse Koagulopathie?

Calland F J Trauma 2012

Grad A + B

1. Insuffiziente Daten zur Beantwortung der Fragen

Grad C

1. ... bei vorbestehender systemischer Antikoagulation ... schnelle und

angemessene Beurteilung des Gerinnungsprofils

2. ... bei V.a. SHT (z.B. erniedrigter GCS, Kopfschmerz) und

vorbestehender systemischer Antikoagulation sollten... schnellst möglich ein

CCT erhalten

3. ... bei Marcumar –Therapie und intrakranieller Hämorrhagie ... sollte

schnellst möglich eine Therapie (max. 2h nach Aufnahme) zur Normalisierung

des INR erfolgen

Welches Monitoring? –

Supraphysiologische Resuscitation? – BE?

Calland F J Trauma 2012

Grad A + B

1. Insuffiziente Daten zur Beantwortung der Fragen

Grad C

1. BE Messungen können nützliche Informationen zur Beurteilung der

initialen Resuscitation und des Mortalitätsrisikos liefern. Eine ICU-

Aufnahme kann bei Patienten >65 Jahre und einem base deficit von −6

mEq/L oder weniger erfolgen

Epidemiologie von Beckenverletzungen

Niedrigenergietrauma

8. Dekade

Hochenergietrauma

2. und 5. Dekade

Böhme J, Chirurg 2012, Pelvic Expert Group Database, German Trauma Society

Zusätzliche

Verletzungen:

20%

(Polytrauma 8%)

Zusätzliche

Verletzungen:

>80%

Epidemiologie

Stuby F, Unfallchirurg 2012, Rommens P, Injury 2013, Z Orthop Unfall 2012, Wagner D, EJTES 2015

Geriatrische(Fragility) Fraktur

Insuffizienzfraktur

- nach physiologischer Last

- Sklerotische Linien im Röntgen

Osteoporotische Fraktur

- nach Niedrigenergietrauma(Stolpern, Transfer Bett-Stuhl)

• “Eine isolierte Insuffizienzfraktur (kein Trauma) und Frakturen

nach Niedrigenergietrauma weisen nur marginale

Unterschiede in der klinischen Praxis auf“

Epidemiologie

Fuchs T, Unfallchirirg 2011, Böhme J, Chirurg 2012, Wagner D, EJTES 2015

• Steigende Inzidenz geriatrischer Beckenfrakturen (460% Anstieg

zwischen 1970 und 1997, 56% zwischen 2005 und 2025)

• 65% von Beckenringfrakturen bei Patienten >65 Jahren

• Maximum bei Patienten zwischen 80-85 Jahren

Age

Ab

so

lute

num

ber

of

pa

tie

nts

(n

) female

male

Epidemiologie

• Stabiler Ring

• SI-Komplex stabil

• Inkomplette Ruptur SI-Komplex

• Rotationsinstabilität

• Translationale Stabilität

Typ A-Fraktur: Typ B-Fraktur: Typ C-Fraktur:

• Komplette Ruptur SI-Komplex

• Rotationsinstabilität

• Translationale Instabilität

Fracture Type

Pro

po

rtio

n o

f p

atie

nts

(%

)

65+

total

Typ A:

•≈60% geriatrischer Becken-Fx

•>90% Fx des vorderen

Beckenrings

Diagnostik

Gänsslen A, Acta Chir Orthop Traumatol 2013, Rommens P, Z Orthop Unfall 2012, Wagner D, EJTES 2015

• Klinische Untersuchung: zuverlässig (z.B. dorsaler Schmerz bei

83% der Patienten mit Fraktur hinterer Beckenring)

• Röntgen: Diagnostische Standardprozedur

- relevante Anzahl “verpasster” Typ B/C Frakturen (bis zu 50%)

- CT-Frequenz korreliert mit Diagnose einer Typ B Fraktur

• CT: Goldstandard für (hintere) Beckenringfrakturen

- bei Patienten mit Fx im konventionellen Röntgen

- bei Patienten mit klaren klinischen Symptomen

• Bei 54-98% der Patienten mit zusätzlicher hinterer

Beckenringfraktur Diagnose durch CT

Diagnostik: CT immer genug?

• 17-25% der Fx des hinteren Beckenrings durch CT verpasst

• MRI als komplementäre Diagnostik bei persistierenden

Schmerzen (bone bruise Fissuren vermehrte Instabilität

Dislokation Pseudarthrose bilaterale Instabilität)

• Bone bruise und Fissuren: Medikation gegen Osteoporose

Nüchtern JV, Injury 2015; Stuby F, Unfallchirurg 2013

Ist die AO (mod. Tile) Klassifikation auch bei

geriatrischen Patienten geeignet?

Rommens PM, Z Orthop Unfall 2012, Injury 2013

•Keine ligamentären sondern knöcherne Verletzungen bei

geriatrischen Patienten (Beckenring-Fx bei geriatrischen Patienten:

Implosion, bei jungen Patienten: Explosion)

•Keine Klassifikation von spinopelvinen Dissoziationen

•Hauptziel der neuen Klassifikation: Definition von Instabilitäten

Fragility Fraktur Klassifikation: Typ I und II

IIb

IIa

IIc

Ia

Ib

Rommens PM, Z Orthop Unfall 2012, Injury 2013

• Isolierte vordere Läsion

• Konservative Therapie

• Bei persistierenden Schmerzen,

Re-Evaluation mit CT oder MRT

• Nicht-dislozierte hintere Läsion

• Perkutane Techniken nach

Versuch konservativer Therapie

Fragility Fraktur Klassifikation: Typ III und IV• Unilaterale, dislozierte hintere

Läsion mit vorderer Läsion

• Offene Reposition und interne

Fixation

IIIa

IIIb

IIIc

IVb

IVc

IVa

• Bilaterale, dislozierte hintere

Läsion

• Bilaterale Fixation

Lokalisation der Instabilitäten

transiliacal

transiliosakral transsakral

transacetabulär

transsymphysärtranspubisch

Notfallbehandlung

Rommens PM, Z Orthop Unfall 2012, Dietz SO, EJTES 2015, Fuchs T, Unfallchirurg 2011

• Becken-assoziierte hämodynamische Instabilität relativ selten

• Beckengurt effektives Mittel zur temporären Stabilisierung

• Bei osteoporotischem Knochen

- Verwendung Beckenzwinge nur unter radiologischer Kontrolle

(CAVE: Perforation, Ausmaß der Kompression)

- Limitierte Stabilisierung bei supraazetabulärer Fixation

Konservative Behandlung

Böhme J, Chirurg 2012, Fuchs T, Unfallchirurg 2011, Stuby F, Unfallchirrug 2013

• Möglich bei Mehrzahl der Patienten (Typ A: 98%, Typ B/C, 68%,

isolierte Sakrumfraktur: 76%)

• Stationäre Aufnahme, Analgesie und Thromboseprophylaxe

• Mobilisation unter Anleitung (Teilbelastung/Stützen, CAVE: neue Fx

oder Fx Dislokation nach aggressiver Mobilisation)

• Permanente Re-Evaluation der Strategie (z.B. frühzeitige (5-7 Tage)

radiologische Kontrolle bei persistierenden Schmerzen)

• Sturzprävention, Therapie der Osteoporose

• Rehabilitation bis zu 3 Monaten

• >10 mm vertikale Dislokation + Verkürzung (lat. Kompressions-Fx):

Fixateur assoziiert mit Schmerz und Funktionalität

Retrograde Großfragmentschraube or Platte

Böhme J, Chirurg 2012, Pelvic Expert Group Database, German Trauma Society, Rommens P, EJTES 2012

Chirurgische Versorgung des vorderen Beckenrings

In 44% of

operated

geriatric

patients

Transsymphysäre Instabilität:

•Plate osteosynthesis (6 Loch)

Transpubische Instabilität:

•Externer Fixateur (CAVE: frühe Lockerung, Infektion, geringer Komfort)

•Interner Fixateur

Simonian P, Injury 1998 Gänsslen A, Chirurg 2011

• Doppelplattenosteosynthese (winkelstabil)

Chirurgische Versorgung transiliakaler Instabilitäten

SI-Schrauben

•In un- oder minimal dislozierten Frakturen

•Angewendet bei 20% der operierten geriatrischen Patienten

•Unterlegscheibe, Zementaugmentation möglich

Rommens P, Z Orthop Unfall 2012, Böhme J, Chirurg 2012

Chirurgische Versorgung transsakraler Instabilitäten

Bereiche der besten Knochenqualität- Gewinde sollt hier enden

Ilioiliakale Überbrückungsplatte

•Sakrale Trümmerfrakturen als Teil vertikal instabiler Fx

Transsakrale Stabilisierungsstangen (erlauben Kompression)

•Frakturen mit bilateraler Instabilität

Spinopelvine Abstützung

•Spinopelvine Dissoziation (H- or U Fx), grobe Dislokation

Böhme J, Chirurg 2012, Pelvic Expert Group Database, German Trauma Society

Chirurgische Versorgung transsakraler Instabilitäten

Klinisches Outcome und Komplikationen

Wagner D, EJTES 2015

Bettruhe bei konservativer Therapie 12 Tage - 8 Wpchen

Verbesserte Symptomatik/ Volle Mobilisation 4 Wochen – 3,3 Monate

Komplikationen (Thrombose, Embolie,

Muskelschwäch, Pneumonie, Ulzera)

20 - 52%

Krankenhaus-Liegedauer 10 – 45 Tage

Mortalität (Krankenhaus) 3 - 10%

1 Jahres Mortalität 11 - 19%

Mobilisation ohne Stützen / unabhängiges

Leben (nach 1 Jahr)

16 - 18%

Verlust der prätraumatischen Autotomie bis 50%

Lösungen: Protokolle

Calland F J Trauma 2012

Lösungen

Protokolle mit positivem Effekt auf Behandlungsdauer:

•Ventilator-assoziierte Pneumonie-Präventionsprotokolle (VAP)

•Protokolle zur Frakturversorgung

•Protokolle zur Massivtransfusion

•Protokolle zur Antikoagulation

Zusammenfassung

• Geriatrische Patienten erleiden häufig ein schweres Trauma

• Assoziiert mit hoher Mortalität / Verlust der Unabhängigkeit

• Anatomische/physiologische Veränderungen,

Vorerkrankungen (pAVK (Grad, KHK, Hepatitis/Leberzirrhose, maligne

Erkrankungen, Übergewicht, Gerinnungsstörung) und Vormedikation mit

Einfluss auf Outcome

• Muskuloskelettale Verletzungen häufig und mit diagnostischen

und therapeutischen Besonderheiten

• Protokolle und Organisation von Klinik-internen Abläufen

(Alterstraumazentren) essentiell

Danke!