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1 ABSCHLUSSARBEIT Anwendung der Personalen Existenzanalyse in der Arbeit mit onkologischen Patienten im Vergleich mit den Arbeiten von Dr. Lawrence LeShan und Dr. med. Bernie Siegel Eingereicht von: Mag. Alexandra Jaglitsch Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle Dr. Elfe Hofer Eingereicht am: 9.8.2013

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ABSCHLUSSARBEIT

Anwendung der

Personalen Existenzanalyse

in der Arbeit mit

onkologischen Patienten

im Vergleich mit den

Arbeiten von

Dr. Lawrence LeShan

und

Dr. med. Bernie Siegel

Eingereicht von: Mag. Alexandra Jaglitsch

Eingereicht bei: DDr. Alfried Längle

Dr. Elfe Hofer

Eingereicht am: 9.8.2013

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Existenzanalyse und Logotherapie

1.1. Entstehung

1.2. Menschenbild

1.3. Grundlagen und Grundmotivationen

1.4. Methoden

2. Der Personale Existenzanalyse am Fallbeispiel Lena

2.1. Die Personale Existenzanalyse (PEA)

2.2. Welche Fragen stellen onkologische Patienten im Unterschied zu

anderen Patienten? Und welche Themenbereiche werden dadurch

angeschnitten?

2.2.1. Authentizität

2.2.2. Entschiedenheit

2.2.3. Zustimmung

2.2.4. (Eigen-)Verantwortung

3. Die 4 Grundmotivationen in der Arbeit mit onkologischen

Patienten

3.1.1. 1. Grundmotivation - Ich bin - kann ich sein?

3.1.2. 2. Grundmotivation – Ich lebe – mag ich leben?

3.1.3. 3. Grundmotivation – Ich bin ich – darf ich so sein?

3.1.4. 4. Grundmotivation – Ich bin da – wofür soll ich da sein?

Wofür ist mein Leben gut?

4. Alternative Konzepte und Theorien in der “Psychoonkologie”

4.1. Die Arbeit von Dr. Lawrence LeShan - “Psychotherapie gegen den

Krebs” und “Diagnose Krebs - Wendepunkt und Neubeginn”

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4.1.1. Die Person Dr. Lawrence LeShan

4.1.2. Die Grundzüge seiner Arbeit

4.2. Die Arbeit von Dr. med. Bernie Siegel - “Prognose Hoffnung -

Liebe, Medizin und Wunder”

4.2.1. Die Person Dr. Bernie Siegel

4.2.2. Die Grundzüge seiner Arbeit oder “der außergewöhnliche

Patient”

5. Existenzanalytisches/logotherapeutisches Arbeiten mit

onkologischen Patienten

5.1. Warum ist die EA/LT prädestiniert mit onkologischen Patienten zu

arbeiten?

5.2. Welche Parallelen gibt es zwischen den Arbeiten oben genannter

Autoren und dem existenzanalytischen/logotherapeutischen

Ansatz nach A. Längle/V. Frankl?

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Abstract

Nach einleitenden Worten zur Existenzanalyse und Logotherapie wird die

praktische Anwendung der Personalen Existenzanalyse an einem

Fallbeispiel aus der Psychoonkologie dargestellt und verknüpft mit den

vier Grundmotivationen nach Längle. Weiters werden die Arbeiten von

LeShan und Siegel in Bezug auf die Arbeit mit Krebspatienten von der

existenzanalytischen Seite beleuchtet.

Schlüsselwörter:

Existenzanalyse, Logotherapie, Personale Existenzanalyse,

Grundmotivationen, Psychoonkologie

After introducing existential analysis and logotherapy the pracitcal

application of the personal existential analysis will be shown on a case of

psycho-oncology and it will be connected with the four existential

fundamental motivations of Längle. Eventually the contributions of LeShan

and Siegel concerning the work with cancer patients will be examined from

the perspective of existential analysis.

Key-words:

Existential analysis, logotherapy, personal existential analysis,

fundamental motivations, psycho-oncology

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Vorwort

In den ersten Tagen in freier Praxis erhielt ich einen Anruf eines Kollegen

mit der Frage, ob ich denn auch mit onkologischen Patienten arbeiten

würde. Nach kurzem Zögern - denn das Thema Krebs machte mir ein

Gefühl des Unbehagens - habe ich seine Frage aber mit Ja beantwortet.

Er sagte mir, dass sich in den nächsten Tagen eine junge Frau bei mir

melden würde, um einen Termin für ein Erstgespräch auszumachen.

Ab diesem Telefonat begann ich mich mit dem Thema Psychoonkologie

auseinanderzusetzen und stieß dabei auf sehr interessante Konzepte, die

sich gut in das Gedankengut und die Methodik der Existenzanalyse und

Logotherapie integrieren ließen und die mir so ein wenig mehr Sicherheit

gaben, um gut in den Therapieprozess mit meiner ersten Patientin

einzusteigen.

Auf den folgenden Seiten möchte ich meine Arbeit mit Lena beschreiben

basierend auf existenzanalytischen Methoden und Strukturen. Außerdem

werde ich im zweiten Teil der Arbeit auf die Konzepte eingehen, die ich im

Zuge meiner Vorbereitung auf die Arbeit im onkologischen Feld kennen

gelernt habe. Die Arbeiten von Lawrence LeShan und Bernie Siegel

haben mich in ihrer Menschlichkeit und gleichzeitig großen Kompetenz

und Erfahrung in der Arbeit mit onkologischen Patienten überzeugt und

haben mir auch sehr weitergeholfen in der praktischen Arbeit. Getragen

wurde ich allerdings von der phänomenologischen Haltung dem

Menschen gegenüber, die wir in unserer Ausbildung sehr plastisch

erleben und erlernen durften. Im dritten und letzten Teil meiner Arbeit

möchte ich versuchen die Arbeiten von LeShan und Siegel mit

existenzanalytischem und logotherapeutischem Arbeiten zu verknüpfen.

Aufgrund der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit auf eine

geschlechtsspezifische Differenzierung, wie z.B. PatientInnen, verzichtet.

Entsprechende Begriffe gelten für beide Geschlechter.

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1. Existenzanalyse und Logotherapie

Einleitend soll kurz auf die Entstehungsgeschichte der Existenzanalyse

und Logotherapie eingehen. Außerdem werde ich das zugrunde liegende

Menschenbild und die Grundlagen dieser Therapierichtung kurz skizzieren

und einige Methoden beschreiben, die für mich besonders in der Arbeit mit

onkologischen Patienten gut anwendbar waren und sind.

1.1. Entstehung

Die Logotherapie und Existenzanalyse geht auf den Begründer Viktor

Frankl zurück, der den Begriff Logotherapie verwendete für die praktische

Anwendung des in der Existenzanalyse beschriebenen theoretischen

Hintergrundes. Die Begriffe Logotherapie und Existenzanalyse wurden

von Frankl erstmals 1938 publiziert. Frankl stellte mit seiner Logotherapie

(„Logos“ verstanden als Sinnbegriff) die Sinnthematik in den Vordergrund

seiner Arbeit. Er stellte sich damit in Opposition zu den damals

vorherrschenden psychotherapeutischen Schulen Freuds und Adlers, im

Sinne einer Kritik am Psychologismus dieser Richtungen und an der

seiner Ansicht nach einseitigen Ausrichtung auf innerpsychische Abläufe.

Viktor Frankl lebte zur Zeit des 2. Weltkrieges in Wien und wurde aufgrund

seiner jüdischen Herkunft isoliert, verfolgt und schließlich mit seiner

Familie in mehrere Konzentrationslager deportiert. Er verlor in dieser Zeit

seine Frau, seine Eltern, seinen Bruder und unzählige Freunde und

Bekannte. Diese Zeit, in der er mehrmals dem Tode gegenüberstand und

nur knapp entrinnen konnte, prägte Frankl als Person und in seinem

Denken und Arbeiten. Sein wohl bekanntestes literarisches Werk

„… trotzdem Ja zum Leben sagen – ein Psychologe erlebt das

Konzentrationslager“ beschreiben seine dramatischen Erlebnisse, seine

Art des Umgangs mit dem Erlebten und seine Rückschlüsse daraus, die er

in seine Arbeit mit einfließen ließ.

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Heute wird die Existenzanalyse als eigenständige Therapieform

verstanden, was vor allem der Weiterentwicklung des Frankl´schen

Gedankengutes durch Alfried Längle zu verdanken ist. Die wesentlichste

Weiterentwicklung liegt darin, „die Sinnthematik nicht mehr als die zentrale

(tiefste) Motivationsdynamik anzusehen, sondern als eine von vier

existentiellen Grundmotivationen zu verstehen, der drei andere vorgängig

sind“ (Längle 2008, S. 76). Auf diese so existentiellen Grundmotivationen

werde ich weiter unten noch etwas genauer eingehen.

Die Existenzanalyse ist nach heutigem Verständnis ein psycho-

therapeutisches Verfahren mit dem Ziel dem Menschen zu einem Leben

mit innerer Zustimmung zum eigenen Handeln und Dasein zu verhelfen.

„Existenzanalyse ist eine Analyse der Bedingungen um zur Existenz zu

kommen“ (Längle 2004, S. 6). Existieren meint in diesem Zusammenhang

das Gegenteil von Vegetieren, ein aktives und entschiedenes

Engagement für die Sache, für das Leben. Und um das Leben als sinnvoll

zu erleben, braucht es geistige Offenheit nach innen zur Person hin und

nach außen zur Welt hin.

1.2. Menschenbild und Grundhaltung

Der existenzanalytischen und logotherapeutischen Arbeit liegt das

traditionell abendländische dreidimensionale Menschenbild zugrunde, das

Viktor Frankl in Bezugnahme auf Max Scheler und in weiterer Folge unter

Beeinflussung von Jaspers, Heidegger und Buber folgendermaßen

ausgearbeitet hat:

Der Mensch ist nach Frankl grundsätzlich eine Einheit und Ganzheit und

nicht zerlegbar in Einzelteile. Diese Ganzheit ist ein Ineinander von Leib

(Soma), Gefühlsseele (Psyche) und Geist (Nous). Diese Dimensionen

können in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, so kann z.B.

der Leib müde sein, doch die Seele ist in einem Spannungszustand, der

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den Körper nicht zur Ruhe kommen lässt. Diese körperliche Ruhephase

kann erst nach Entspannung des psychischen Zustandes eintreten.

Das Geistige, das der Mensch ist, setzt sich mit dem Leiblichen und

Psychischen, das ihn trägt (das an ihm ist, das er hat), „auseinander“ (vgl.

Frankl 1990, S. 176).

In der phänomenologischen Grundhaltung dem Patienten gegenüber wird

in der existenzanalytischen Therapie versucht das Wesen des Menschen

in seiner Ganzheit und Einzigartigkeit zu erfassen. Dafür ist es auf Seiten

des Therapeuten notwendig in der Haltung der Offenheit das Vorwissen

und die Vorurteile zurückzustellen und sich an den Anschauungsgehalt

hinzugeben (Epoché). Diese Grundhaltung orientiert sich in der Praxis an

den drei Heidegger´schen Fragen:

Was zeigt sich (spontan)? (Reduktion)

Wie ist es? (Konstruktion)

Ist es so? (Destruktion)

Diese Schritte entsprechen wiederum der weiter unten beschriebenen

Vorgangsweise in der Personalen Existenzanalyse (PEA). (vgl. Längle

2008, S. 62)

„Phänomenologie ist Konkretion, nicht Abstraktion, ist individualisierend,

nicht generalisierend, ist persönlich, nicht allgemein.“ (Längle 2008, S. 61)

Somit unterscheidet sich diese therapeutische Grundhaltung ganz klar und

eindeutig von den Grundhaltungen anderer Schulen, wie z.B. der

interpretativen, der systemisch-konstruktivistischen oder der

naturwissenschaftlich-empirischen Grundhaltung.

1.3. Grundmotivationen

Wie bereits oben erwähnt war für Frankl die Sinnfrage zentral. Die

Weiterentwicklung der Existenzanalyse und Logotherapie durch Alfried

Längle beschreibt noch zusätzlich drei existentielle Fragen, die dieser

Sinnfrage vorangehen. (Längle 2008, S. 76)

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Die erste dieser drei existentiellen Fragen lautet: Nun bin ich da in dieser

Welt – aber kann ich auch sein? Finde ich den Raum, den Halt und den

Schutz in dieser Welt, um sein zu können? Kann ich das, was ist,

annehmen und aushalten? In dieser ersten Grundmotivation oder

Grundbedingung, um zu einer erfüllten Existenz kommen zu können, setzt

sich der Mensch mit der Welt und dem Vertrauen in diese Welt

auseinander. Dies ist ein vorwiegend kognitiver Vorgang, es geht darum

wahrzunehmen von dem, was ist. Fehlt dieses Grundvertrauen oder kann

es nicht ausreichend entwickelt werden, so kommt es zu Verunsicherung,

Verschlossenheit der Welt gegenüber und zur Entwicklung von Angst.

Die zweite existentielle Frage des Menschen lautet: Nun lebe ich - aber

mag ich denn überhaupt leben? Kann ich den Wert des Lebens fühlen?

Die Voraussetzung, um diesen Wert des Lebens fühlen zu können, sind

Beziehung zu anderen und zum Leben, Zeit, um in Fühlung kommen zu

können und Nähe zu mir und zu anderen. Sich fühlend den eigenen

Werten zuzuwenden und wenn sie verloren gehen, dies auch zu

betrauern, sind die grundlegenden Aktivitäten auf der Ebene der 2.

Grundmotivation. Gelingt dies nicht, kommt es zur Entstehung von

Depressionen, emotionaler Kälte oder einem Gefühl der Sehnsucht nach

Leben.

In der dritten Grundbedingung für ein gelingendes Leben geht es um die

Grundfrage: Ich bin – und darf ich sein, wer ich bin? Es geht in dieser

Grundmotivation darum, sich selbst sein zu dürfen und seine ureigene

Authentizität spüren zu können und leben zu dürfen. Voraussetzungen für

das Gefühl des Selbst-sein-Dürfens ist das Erfahren von Gerechtigkeit,

Beachtung und Wertschätzung. So kann sich ein Gefühl für den eigenen

Wert, den Selbstwert entwickeln. Gelingt dies nicht, entstehen Gefühle der

Einsamkeit (ich kann nicht mit mir allein sein, weil ich mich nicht habe),

der Ruhelosigkeit in der ständigen Suche nach Beachtung, nach einem

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Gesehen werden von außen, der Verletztheit und Scham. Und

schlussendlich kann eine Störung auf dieser existentiellen Ebene zur

Entstehung eines hysterischen Krankheitsbildes führen.

Auf der vierten Ebene der Grundmotivationen begegnen wir nun der

Frankl´schen Sinnthematik. Es steht die Frage im Vordergrund: Ich bin da

– und wofür soll das gut sein? Wofür lebe ich? Was ist der Sinn meines

Seins? Diese Frage ist – im Gegensatz zu den drei vorangegangen

Grundfragen, die sich mit der Gegenwart auseinandersetzen – auf die

Zukunft gerichtet. Es geht darum, einen Wert in der Zukunft zu finden, auf

den ich mich hin orientiere, und das Meine in einem Kontext und einem

Betätigungsfeld einbringen kann, so, dass es ein sinnvoller Beitrag für das

große Ganze, für die Welt sein kann. Gelingt das nicht, kommt es zu

einem Gefühl der Leere, der existentiellen Frustration, der Verzweiflung

oder auch zur Entwicklung von Süchten, um diesem leeren Leben zu

entrinnen.

Da das Thema Sinn für Frankl so zentral war, möchte ich noch einen

kurzen Exkurs dazu anhängen. Mit Sinn ist nicht wie oftmals vermutet ein

übergeordneter Sinn gemeint – Was hat das Leben grundsätzlich für einen

Sinn, wenn wir doch alle wieder sterben müssen? – sondern ein sehr

individueller Sinn. Für jeden Menschen erschließt sich sein persönlicher

Sinn anders und ist nur erfassbar durch eine Offenheit sich selbst und der

Situation gegenüber.

Längle formuliert unter anderem folgende Fragen, um auf die Spur seines

persönlichen Sinns zu kommen: „Was berührt mich im Leben, spricht mich

an? Was oder wem wende ich mich gerne oder spontan zu? Gebe ich

dem Bedeutung, was mich innerlich ergreift?“ (Längle 2007, S. 20)

Dies lässt die Individualität von Sinn erkennen. Mein Sinn kann nicht dein

Sinn sein. Und Sinn muss kein zeitlich überdauerndes Konstrukt sein. Der

Sinn dieser Stunde muss nicht der Sinn der nächsten Stunde sein. „Jeder

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Augenblick hat sein Gutes und hat seine Not. Dich und mich zu erleben,

die Sonne, den Wind, den Morgen. Fühlen, was es mir gibt. Es schützen,

erhalten, fördern. Leben ist Teilnahme, Anteil nehmen gibt Leben.“ (Längle

2007, S. 48)

Frankl beschreibt zur Sinnfindung die 3 Hauptstrassen zum Sinn. Damit

meint er drei Wertkategorien, die es dem Menschen ermöglichen seinen

ganz eigenen Sinn zu erspüren. Im Schöpferischen Wert kann der Mensch

seine Werte durch ein Schaffen verwirklichen, z.B. durch soziales

Engagement. Erlebniswerte werden „im Aufnehmen der Welt“ realisiert

(Frankl 2005, S. 92), z. B. im Erleben von Musik, von Natur, von

Geselligkeit. Einstellungswerte kommen dort zum Tragen, wo der Mensch

sich einem unabänderlichen Schicksal stellen muss und er mit seinen

persönlichen Einstellungen der Situation einen Sinn geben kann (Frankl

2005). Frankl nimmt stark auch auf die schmerzlichen Seiten des Lebens

Bezug und gibt ihnen den Wert des sinnvollen und verantwortlichen

Nützens, um zu einer erfüllten Existenz zu kommen.

1.4. Existenzanalytische Therapie und einige Methoden

In der existenzanalytischen Therapie richtet sich der Fokus auf zwei

zentrale Bereiche bzw. Fragen (Längle 2004, S. 25):

1. In welchen Lebensbezügen steht der Mensch, mit dem wir es zu

tun haben mit den Fragen: Wo stehst du? Was bewegt dich? Was

steht an? Es geht also um den Weltbezug, denn der Mensch wir

nicht isoliert gesehen, sondern immer in den Wechselwirkungen, in

denen er steht.

2. Worauf bist du ausgerichtet? Wofür lebst du?

Anders als in anderen Therapierichtungen ist das zentrale Thema in der

Existenzanalyse das „Sich-Entscheiden“. Und dieses sich-Entscheiden

schließt die Arbeit an Einstellungen und Haltungen gegenüber

1. dem Dasein, d.h. gegenüber der Welt und ihren Bedingungen

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2. dem Leben, d.h. gegenüber den Emotionen und Beziehungen

3. der eigenen Person, d.h. gegenüber der eigenen Art und der

eigenen Weise des Umgehens

4. der Handlung, d.h. gegenüber der Zukunft und den

Zusammenhängen, die sich in den Anforderungen, Aufgaben und

Angeboten abzeichnen

mit ein, entsprechend den oben skizzierten 4 Grundmotivationen. (Längle

2004, S. 25 ff)

Für die therapeutische Arbeit an diesen Themen kommen verschiedenste

Methoden zum Einsatz. Einige davon möchte ich im Folgenden kurz

beschreiben.

Das therapeutische Gespräch ist nach den Schritten der Personalen

Existenzanalyse (kurz PEA) strukturiert und gliedert sich in

- das Erleben des Patienten

- die Stellungnahmen zum Erlebten

- den Umgang mit der Situation.

Die PEA ist also sowohl als Grundgerüst für existenzanalytisches Arbeiten

zu verstehen als auch als Methode. Die PEA ist per definitionem eine

Methode, „mit deren Hilfe eine Restrukturierung der Person in allen jenen

Fällen versucht werden kann, wo das Ich durch innere oder äußere

Überforderung in der Verarbeitung die Verbindung zum eigenen Ursprung

(zum Sich-selbst-Sein als Person) verloren hat.“ (Längle 2008, S. 59)

Im 2. Kapitel meiner Arbeit tauche ich in eine Fallbeschreibung ein, bei der

diese Methode im Vordergrund meiner Arbeit steht und in ihren Schritten

und den sich daraus ergebenden Themen dargestellt wird.

Natürlich bieten sich im Verlauf der Arbeit mit onkologischen Patienten

noch einige andere Methoden der Existenzanalyse und Logotherapie an.

Die erste dieser anderen Methoden, die mir bei Lena, meiner ersten

onkologischen Patientin, in den Sinn gekommen ist, war die

„Phänomenologische Dialogübung“ oder „Sesselmethode“. Indiziert ist die

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Sesselmethode besonders bei Patienten, die die Spur zu sich selbst, zu

den eigenen Gefühlen und zum eigenen Spüren verloren haben. „Mit

dieser Methode kann die phänomenologische, dialogische Offenheit der

Welt und sich selbst gegenüber schrittweise eingeübt werden.“ (Längle

2008, S. 163) Die Sesselmethode ist eine leicht erlernbare und gut im

Alltag einsetzbare Methode, die die Patienten besonders in Angst

machenden Situationen selbst anwenden können.

Weiters ist die Dereflexion (Frankl 2005, S. 259) ein Mittel der Wahl,

welche aber eher als Haltung zu verstehen ist, denn als Methode. In der

Dereflexion geht es darum, den Blick und die Aufmerksamkeit auf den

Wert der Situation zu lenken und weg vom angstmachenden Ereignis. Bei

Krebspatienten kommt es sehr zu Hyperreflexion bzw. zur Fixierung der

Aufmerksamkeit auf vegetative Prozesse. Der Körper ist durch die

Erkrankung zum zentralen Bereich des Seins geworden und die

Gedanken kreisen häufig um körperliche Prozesse, die scheinbar

unkontrollierbar geworden sind. Schlafstörungen sind oft eine logische

Konsequenz. Hier bietet sich eine dereflektorische Haltung im Besonderen

an.

Die Einstellungsänderung kommt ebenso zum Tragen wie die

Existenzielle Wende. In der Einstellungsänderung geht es darum,

Einstellungen, die als „ „Verhaltensantizipationen“, denen ein Werturteil

und eine Entschiedenheit vorausgeht und die eine Person handlungsbereit

machen“ (Längle 2008, S. 157), gesehen werden, zu bearbeiten. Nach

Längle gelingt dies nach den Schritten der PEA mit dem Endziel des

Herausarbeitens einer neuen Einstellung, die den aktuellen Werten der

Person entspricht.

Der Mensch wird in der klassischen wie auch in der modernen

Existenzanalyse als ein vom Leben Befragter gesehen. Es geht weniger

darum, dem Leben Fragen zu stellen, als auf die Fragen, die das Leben

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an den Menschen richtet, in Verantwortung zu antworten. Mit dieser

Haltung wird die von Frankl (Frankl 2005, S. 107) ursprünglich als

„kopernikanische Wende“ bezeichnete „existentielle Wende“ verstanden

und ist wiederum weniger Methode, denn Haltung.

2. Die Personale Existenzanalyse am Fallbeispiel Lena

2.1. Die Personale Existenzanalyse (PEA)

Die Personale Existenzanalyse ist immer dann indiziert (in Anlehnung an

obige Definition der PEA), wenn eine Person die Verbindung zum eigenen

Person-Sein verliert, durch innere oder äußere Überforderungssituationen.

Und genau das ist es, was passiert, wenn die Diagnose Krebs auf die

Person trifft. Eine Krebs-Diagnose bedeutet für die Allermeisten der

Betroffenen eine große emotionale Überforderung durch die

aufkommenden Gefühle, die im Moment der Diagnose oft weder konkret

benannt noch gefasst werden können. Es sind Gefühle der Leere, der

Erstarrung aufgrund der überflutenden Gefühle, der Todesangst, der

Verzweiflung, später der Wut (im Sinne der Frage: Warum gerade Ich?)

und der Entfremdung von der eigenen Körperlichkeit. Schlussendlich

braucht es dann oftmals Copingreaktionen wie Ablehnung des Gesagten,

Flucht in eine kurzfristige Normalität und ins Funktionieren bis hin zum

Abspalten und Leugnen der Tatsachen, um überhaupt wieder – zumindest

kurzfristig – überleben zu können.

Die Diagnose stellt alles Bisherige in Frage. Die Person verliert Strukturen,

die bisher das Leben zusammengehalten haben. Es passieren

Einschnitte in den Alltag, was den Ablauf des Lebens betrifft durch

häufigere Arztbesuche oder überhaupt notwendige stationäre Aufenthalte,

durch Rekonvaleszenzzeiten oder Rehabilitationsmaßnahmen. All diese

Eingriffe sind auch von außen sichtbar und spürbar, für die Familie, den

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Freundeskreis und in der Berufsausübung. Es passieren aber vor allem E

Veränderungen im psychischen und geistigen Gefüge einer Person. Wie

oben bereits erwähnt, löst eine Krebs-Diagnose die verschiedensten

Gefühle in zum Teil hoher Intensität aus, die für die Person nicht mehr

oder nur schwer bewältigbar sind und die Copingreaktionen besonders bei

nicht adäquatem Umgang mit dem Menschen „Patient“ unabdingbar

machen.

Die Personale Existenzanalyse macht es hier möglich ganz beim

Patienten bleiben zu können, ihn in seiner momentanen Befindlichkeit

aufzufangen und abzuholen. Denn es geht um ihn als Person, auch wenn

dieses Person-Sein in der Krise sich wie aufgelöst anfühlt, um seine

Psychodynamik, inklusive aller ablaufenden Copingreaktionen und nicht

um die Krankheit, die der Patient ja nicht ist, sondern hat. Somit geht es

darum mit ihm gemeinsam das, was da auf ihn einstürzt, über ihn

„drüberrollt“ (O-Ton meiner Patientin Lena), versuchen zu fassen, zu

benennen und aufzudröseln, um in weiterer Folge das Person-Sein, das

Sich-selbst-Sein wieder spürbar zu machen. Daraus ergeben sich die

Themen der Authentizität, der Entschiedenheit, der Zustimmung und der

(Eigen-)Verantwortung wie von selbst und ermöglichen es dem Patienten

wieder in eine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu kommen.

Als besonders hilfreich und den Patienten sehr gerecht werdend habe ich

in meiner praktischen Arbeit die phänomenologische Grundhaltung zum

Menschen und das Menschenbild der Existenzanalyse und Logotherapie

empfunden. Ich als Therapeutin kann dem Patienten als Mensch

gegenübertreten. Es geht nicht um Distanz oder den Einsatz von

bestimmten Manualen zur Angstbewältigung oder Stressbewältigung. All

das kann ich dazwischenschalten, wenn ich es für notwendig befinde.

Es geht vielmehr um das Mensch sein, und das ist nach meiner Erfahrung

genau das, was Patienten im Allgemeinen und besonders Patienten der

Onkologie bzw. der Schulmedizin sehr oft schmerzlich vermissen. Und

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diese Art der Begegnung allein wird oft schon als sehr heilsam und

wohltuend empfunden.

Das Sich-selbst-Sein und das Eigene im Leben zum Ausdruck bringen zu

können steht im Vordergrund existenzanalytischer Therapie, auch in der

Endlichkeit unseres Lebens, auch wenn die Lebenszeit und die

Möglichkeiten durch eine Krankheit beschränkt sind.

2.2. Welche Fragen stellen onkologische Patienten im Unterschied zu

anderen Patienten? Und welche Themenbereiche werden dadurch

angeschnitten?

Um die Themen, um die es im Folgenden gehen soll, etwas plastischer

darstellen zu können, werde ich aus meiner Arbeit mit Lena berichten.

Wie bereits im Vorwort erwähnt, erhielt ich einen Anruf von einem

Kollegen, der einen Therapieplatz für eine junge Frau suchte, die vor

kurzem eine Krebs-Diagnose erhalten hatte. Nach kurzem Zögern sagte

ich zu, da es mich doch reizte, mich mit der Thematik

auseinanderzusetzen.

Bereits zwei Tage später war der Termin für das Erstgespräch festgelegt,

es war bereits beim telefonischen Erstkontakt eine große Dringlichkeit

spürbar. Mein erster Eindruck von Lena (Name geändert) war für mich

überraschend. Ich begrüßte eine groß gewachsene, sehr hübsche junge

Frau (24 Jahre), die einen sehr gepflegten und selbstbewussten Eindruck

machte. Nach meinem Telefonat mit ihr erwartete ich eher eine kleine,

geschwächte junge Frau, in deren Körperhaltung ich die letzten Tage und

Wochen ersehen hätte können. Aber dem war nicht so.

Lena nahm Platz im Therapieraum. Gleich zu Beginn des Gesprächs

stellte sich heraus, dass Lena einige Wochen zuvor ihr Medizin-Studium

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abgeschlossen hatte und dass sie in ein paar Wochen ihr praktisches Jahr

antreten sollte. Nach einer kurzen Vorstellung meiner Person begann sie

von den Ereignissen der letzten Zeit zu berichten (PEA 0 – Was liegt

vor?). Sie erzählte, dass sie bereits seit ihrem 17. Lebensjahr jährlich

wegen Knoten in ihrer Schilddrüse punktiert wurde, aber vor ca. 5

Monaten erhielt sie erstmals den Befund „bösartig“. Parallel dazu wurde

auch ein bedenklicher gynäkologischer Befund erhoben (PAP 3d). Sie

habe allerdings diese beiden Diagnosen von sich weg geschoben, habe

die notwendigen Behandlungen über sich ergehen lassen. Sie musste sich

ja schließlich auf ihre letzte Prüfung vorbereiten und habe selbst im

Krankenhaus bei der stationären Aufnahme zur Entfernung des Knotens in

der Schilddrüse vor und nach der OP gelernt und sich nicht weiter mit den

Ereignissen um sie herum beschäftigt. Lena beschreibt sehr gut ihre

Flucht ins Funktionieren, ihr Wegschieben des Geschehens rund um sie

herum. Diese Copingreaktion war für sie im Nachhinein ganz wesentlich,

um „nicht durchzudrehen“, wie sie es bezeichnet hat und während der Zeit

vor der Prüfung der naheliegendste Umgang.

Seit diese Prüfung, auf die sich konzentriert hatte, vorbei sei, sei sie in ein

tiefes Loch gefallen, aus dem sie allein nicht mehr heraus zu kommen

glaubte und dabei brauchte sie meine Hilfe.

Ich bitte sie, mir ihre derzeitige Situation und die Themen, die sie

beschäftigen, näher zu beschreiben (PEA 1 – Wie geht es ihr dabei?), Sie

berichtet Folgendes: Das Schlimme am Kranksein und am Aufenthalt im

Krankenhaus als Patientin sei die große Unsicherheit, in der sie stecke.

Keiner spreche mit ihr, die Ärzte hätten kaum Zeit und sie werde immer

wieder auf den nächsten Tag, den nächsten Arzt oder die nächste Visite

verwiesen. Außerdem empfinde sie den Kontrollverlust über ihre

körperliche Befindlichkeit als außerordentlich verunsichernd und

beängstigend. Sie habe nie Schmerzen gehabt oder irgendwelche

anderen Beschwerden. Ihr Körper habe wie eine Eigendynamik entwickelt

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und die mache ihr Angst. Außerdem verspüre sie großen Ärger und Wut

über die Ungerechtigkeit, dass gerade sie und gerade jetzt von so was

betroffen sei. Sie wünsche sich ein normales Leben, so wie alle anderen

ihrer Studienkollegen und Kolleginnen. Sie möchte sich auf ihr praktisches

Jahr vorbereiten können und noch einen schönen Urlaub vorher machen,

doch sie traue sich nicht, das Land zu verlassen aus Angst davor, dass ihr

etwas passieren könne. Sie habe auch große Angst davor in Zukunft mit

Einschränkungen leben zu müssen, davor, dass sie vielleicht aufgrund der

Behandlungen (Strahlenbehandlung und medikamentöse Behandlung)

keine Kinder mehr bekommen könnte oder dass sie ohne Medikamente

nicht mehr leben könnte. Als weiteres Thema und auf die Frage „Was

halten sie von dem, was da geschieht in ihrem Leben?“ (PEA 2) schilderte

sie die Zerrissenheit zwischen der Tatsache, dass sie ein fertiges

Medizinstudium in der Tasche hätte und sie sich eigentlich Ärztin nennen

dürfte und der Tatsache, dass sie nun erleben müsse, wie hilflos sie

trotzdem einem System ausgeliefert sei, das sie braucht, um wieder

gesund zu werden, das ihr aber gleichzeitig nicht gut tue. Im selben

Atemzug zweifelte sie stark an ihrer Berufswahl im Sinne der Fragen: „Will

ich das wirklich sein, will ich so wirklich sein? Kann ich mit Menschen so

umgehen, denen es offensichtlich schlecht geht, so distanziert und von

oben herab? Ist das so notwendig, um in diesem Beruf arbeiten zu

können? Mag ich das?“

Eine große Stütze in all dem sei ihr Partner, er gebe ihr Halt und die

Möglichkeit doch einige normale Momente im Alltag zu erleben. Ihre

Familie brauche vor allem ihren Trost und sie müsse ihren Eltern und

ihren Geschwistern gegenüber stark sein und könne nicht ihre wahren

Gefühle äußern.

Zum Abschluss unseres Erstgesprächs, das circa zwei Stunden dauerte,

äußerte Lena den Wunsch, einerseits Strategien zu erlernen, wie sie mit

Angst umgehen könne, und zwar ganz konkret in Angst machenden

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Situationen (ich denke an die Sesselmethode als haltgebende und leicht

erlernbare Übung) und außerdem, dass sie in der Therapie einen Raum

finden könne, in dem es möglich ist, alles aus- und anzusprechen, was sie

sonst – um die anderen zu schützen – eher für sich behalten will und ihrer

Wahrnehmung nach muss.

Bereits in dieser ersten Begegnung werden die Themen sichtbar, um die

es im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit mit Lena gehen wird:

2.2.1. Authentizität

Das Selbst-Sein, also das authentisch sein, war für Lena – wie oben

beschrieben – in den ersten Tagen und Wochen nach der Diagnose und in

der Zeit der ersten Behandlungen insofern geschmälert, als sie sich ihren

aufkommenden Gefühlen durch Flucht ins Funktionieren nicht stellen

musste und aufgrund der überfordernden Dynamik des Geschehens auch

nicht stellen konnte. Damit war ein wesentlicher Teil ihres Seins von ihrem

Erleben abgespalten. Und somit war es ein großer Auftrag, Lena wieder

auf die Spur zu sich selbst zu führen und zu begleiten und ihr die

Sicherheit und das Vertrauen zu vermitteln, dass wir gemeinsam mit dem,

was da an Ängsten, an Verzweiflung, an Wut, an Trauer und an

Hilflosigkeit in ihr aufsteigen würde, einen Umgang finden können.

Auf der Basis einer guten, tragfähigen therapeutischen Beziehung, die

sich innerhalb der ersten Gesprächstermine aufbauen ließ, großer

Bereitschaft der Patientin sich auch schwierigen Gefühlen zu stellen und

eines engmaschigen Therapieplanes konnte Lena nach einigen Terminen

nicht nur ihre Gefühle gut benennen und differenzieren, sie konnte sie und

somit auch wieder sich selbst verstehen. Und in weiterer Folge konnte sie

ihre Gefühle nicht nur aushalten, sondern auch annehmen als das, was da

in ihr spricht.

In diesem Verlauf ist wiederum sehr gut die Struktur der PEA ersichtlich,

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die sich nicht nur auf das große Ganze bezieht, sondern immer wieder auf

Teilbereiche der Arbeit mit Patienten herab gebrochen werden kann.

Zunächst schilderte Lena, welche Gefühle in ihr aufstiegen, wenn sie von

ihrer Geschichte erzählt (PEA 0). Danach sahen wir gemeinsam darauf,

wie es aus einer gewissen Distanz für sie ist, wenn sie so auf das

Geschehen schaut (PEA 1). Die Frage danach, ob sie sich in dem, was da

in ihr passiert und passiert ist, verstehen kann und wie sie das beurteilt,

macht eine „authentische Restrukturierung“ (Längle 2008, S. 161) der

Person möglich (PEA 2). Aufgrund der Tatsache, dass nun die Person

wieder in den Vordergrund rückt, da die Copingmechanismen nicht mehr

vom Selbst ablenken, wurde Lena wieder handlungsfähig. Wir konnten

uns nun (nach einigen Wochen intensiver Arbeit) dem Ausdruck dessen

widmen, was da in ihr vorgeht (PEA 3).

Wie kann sie mit der Diagnose umgehen? Was bedeutet es für ihr Leben?

Wie kann der adäquate Umgang mit behandelnden Ärzten, mit dem

System der Schulmedizin, der Krankenanstalten sein, so, dass Lena sich

als Person gesehen fühlt? Wie möchte sie mit ihrem Umfeld

kommunizieren, wer ist wichtig auf ihrem Weg und wer kostet zu viel

Energie, die sie für Anderes braucht? All diese Fragen verlangen nach

einer Innenschau, nach einem Innehalten und genauem Hinsehen und

Hinfühlen, was da so kommt in ihr. Für Lena hat sich mit diesen Fragen

ein ganz neuer Raum eröffnet. Durch das Leugnen und Wegschieben der

Realität sind diese wichtigen, existentiellen Fragen gar nicht aufgetaucht.

Lena wurde – wie bereits oben beschrieben – durch die Konfrontation mit

dem, was ist, und dem Finden der Spur zu sich selbst wieder handlungs-

und entscheidungsfähig.

2.2.2. Entschiedenheit

Damit sind wir bereits beim nächsten wichtigen Thema, das sich in der

Arbeit mit Lena ergeben hat – der Entschiedenheit. Zu Beginn unserer

Arbeit hat sich Lena als einer Situation ausgeliefert gefühlt, die in ihrem

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Erleben keine Spielräume für eigene Entscheidungen mehr offen ließ. Sie

konnte nur die Flucht ergreifen ins Funktionieren, doch auch dies war

keine bewusst getroffene Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit im

Kampf ums psychische Überleben, so erlebte sie es zumindest. Je weiter

wir in unserer Arbeit kamen und je näher sie sich wieder selbst kam, umso

klarer wurde es, dass auch im Leiden und in der scheinbaren Unfreiheit

eine Freiheit da ist, um eigene Entscheidungen zu treffen. Dem voraus

ging in Anlehnung an die PEA und an den vorher beschriebenen Verlauf

zum Thema Selbst-Sein/authentisch sein, eine Einstellungsänderung. „Sie

ermöglicht über das Erarbeiten von Einstellungswerten das Finden von

persönlichem Sinn im Leid.“ (Längle 2008, S. 158)

Den Verlust der Möglichkeit Entscheidungen zu treffen erlebte Lena

besonders stark, als sie nach der abgeschlossenen Prüfung in das von ihr

beschriebene Loch fiel, aus dem sie ihrem Gefühl nach nicht mehr selbst

heraus zu kommen drohte. In diesem Loch überfielen sie unter anderem

die Gefühle des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und damit der

Unfreiheit. Ihr Schicksal hat ihr in ihrem Erleben die äußere Freiheit

genommen, sich für einen Urlaub zu entscheiden, sich mit ihren Freunden

über die bestandene Prüfung zu freuen, sich auf ihr erstes praktisches

Jahr als Ärztin vorzubereiten, sich mit ihrem Freund über Familienplanung

zu unterhalten. All dies wurde ihr durch die Krankheit scheinbar

genommen.

Wie zu Beginn beschrieben beschäftigten Lena unter anderem Fragen

wie: „Mag ich so eine Ärztin sein, die so mit Patienten umgehen muss, wie

ich es jetzt erlebe, um überhaupt selbst in dem Beruf überleben zu

können?“ Nachdem wir uns nach erster authentischer Restrukturierung

ihrer Person auch ihren Einstellungswerten gewidmet hatten, veränderte

sich diese Fragen und das klang dann so: „Kann ich aus dem, was da jetzt

geschieht, auch meine Lehren ziehen, um eine bessere Ärztin zu werden,

eine besondere Ärztin?“ Und was die weiteren Fragen betraf, die sich

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Lena besonders nach der Entdeckung einer - wenn auch veränderten -

Freiheit stellten, konnte sie zu Stellungnahmen kommen und für sich

Antworten finden, die es ihr ermöglichten ihrem Person-Sein Ausdruck zu

verleihen.

2.2.3. Zustimmung

Je mehr Lena sich als wieder handlungsfähig und entscheidungsfähig

erlebte, umso mehr konnte sie Zustimmung geben zu dem, wie ihr Leben

sich nun durch die Diagnose, durch die notwendigen Behandlungen

verändert hatte. Um aber überhaupt Zustimmung geben zu können, muss

vorher die Möglichkeit der Entscheidung in Freiheit vorhanden sein.

In den ersten Stunden unserer Zusammenarbeit hat Lena sehr wohl mit

ihrem Schicksal gehadert, sie konnte dem nichts abgewinnen, im

wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte für sich keinen „Gewinn“ darin

finden.

Das Finden einer Zustimmung fand für Lena auf zwei Ebenen statt:

Einerseits ging es im Großen darum den Blick auf das, was ist, zu lenken

weg von dem, was sein könnte, wenn diese Krankheit nicht wäre. Die

erste Entscheidung war also: Will ich mich dem stellen, dem Leiden, der

Krankheit und mein Leben bestmöglich damit leben oder will ich

wegsehen, dem ausweichen und weiter die Flucht ergreifen? Lena hat

sich für die Konfrontation entschieden und dafür, ihr Leben mit der

Krankheit neu zu strukturieren und ihre Energien für eine mögliche

Genesung zu verwenden anstatt sie fürs Leugnen zu verschwenden. Das

war eine im therapeutischen Prozess nochmals sehr bewusst getroffene

Entscheidung, der sie die volle Zustimmung geben konnte.

Auf der anderen Ebene ging es um die Antworten auf die Fragen, die sich

aus dem Prozess der authentischen Restrukturierung ergeben haben.

Welcher Form der Behandlung kann sie zustimmen? Wer soll sie auf

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ihrem Weg begleiten? Wo findet sie sich selbst wieder und wo hat sie das

Gefühl bei sich bleiben zu können?

Wir waren also soweit, dass Lena sich bereitwillig den Fragen gestellt hat,

die das Leben ihr stellte – die existentielle Wende war vollzogen und Lena

hatte das Handwerkszeug gelernt, Antworten auf diese Fragen zu finden.

2.2.4. (Eigen-)Verantwortung

„Menschsein heißt Gefragtsein.

Leben ist Antwort geben,

antworten auf die Fragen der jeweiligen Stunde.“ (Längle 2007, S. 74)

Diese Umkehr in der Herangehensweise ans Leben war einer der

wesentlichen Punkte, der es Lena ermöglichte sich wieder handlungsfähig

zu erleben. Sich dem Schicksal, der Krankheit und der Eigendynamik des

Körpers – wie sie es beschrieb – ausgeliefert zu fühlen, entzog Lena den

Boden für die Möglichkeit eigenverantwortlich mit dem, was von ihrem

Leben, ihren Plänen übrig geblieben war, umzugehen.

„Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu

fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu

antworten – das Leben zu ver-antworten hat.“ (Frankl 2005, S. 107)

Auf Basis dieser Sicht auf das Leben haben wir uns auch Lenas Biografie

gewidmet. In ihrer Geschichte fanden sich einige Themen, die sie noch mit

sich herumschleppte und mit denen sie haderte. Da gab es die Trennung

der Eltern nach vielen Jahren des Doppellebens des Vaters, das als

offenes Geheimnis gelebt wurde. Lena konnte nun endlich eine

authentische Stellungnahme dazu abgeben, nicht gefärbt von den

miterlebten Verletzungen der Mutter. Hier ging es nur um sie als Tochter

und um die Aufarbeitung ihrer Verletzungen und ihrer Wut dem Vater

gegenüber. Sie konnte einiges mit dem Vater direkt klären und sich auch

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mit ihren Geschwistern über die damalige Situation offen austauschen.

Die Möglichkeit sich auf sich zu beziehen, die eigene Stimme zu hören

und auf dieser Ebene zu antworten und zu ver-antworten gaben Lena eine

noch nicht gekannte Festigkeit und ein Gefühl von Halt, der nicht mehr nur

die Situation rund um ihre Krankheit betraf. Aber auch im Sinne der

Behandlungsstrategie betreffend ihre Erkrankung fand Lena einen

eigenverantwortlichen Umgang. Sie wechselte einen Teil ihrer

behandelnden Ärzte und holte sich Zweitmeinungen an anderen Stellen

ein. Und sie begann sich genauestens über die vorgeschlagenen

Behandlungen und deren Folgen und Alternativen zu informieren.

Doch natürlich gab es auch Rückschläge in unserer Zusammenarbeit. In

der Arbeit mit Krebspatienten kommt im therapeutischen Prozess die

körperliche Komponente viel stärker zum Tragen als in der Arbeit mit

körperlich gesunden Patienten. So gibt es neue Diagnosen, gescheiterte

Therapieversuche, Beeinträchtigungen der Befindlichkeit durch Therapien

und besonders die immer wieder auftauchenden Ängste, die von Hoffnung

und Zuversicht abgelöst werden, wenn ein Medikament anschlägt oder

nicht wirkt wie gewünscht, ein Wert sich bessert oder verschlechtert oder

Ähnliches. Jedenfalls kommt es zur Erschütterung auf allen vier

Grundmotivationen, die ich im Folgenden etwas näher ausführen möchte.

3. Die 4 Grundmotivationen in der Arbeit mit Lena

3.1 Die 1. Grundmotivation – Ich bin – kann ich sein?

Diese Grundfrage der Existenz stellt sich notgedrungen einem kranken

Menschen ganz besonders: Kann ich sein – mit meiner Krankheit? Die

Voraussetzungen, um eine Situation annehmen und aushalten zu können,

um überhaupt da sein zu können, werden erschüttert. Schutz, Raum und

Halt lösen sich mit der Diagnose für den Moment oder auch länger

dauernd auf. Der Mensch verliert das Vertrauen. Das Grundvertrauen,

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dass das Leben es gut meint mit mir, wird erschüttert. Lena formulierte es

so: „Das Leben hat sich mir als nicht wohl gesonnen dargestellt. Worauf

soll ich noch vertrauen?“ Das Gefühl der Angst ist die Konsequenz. Diese

Angst kann sich auf unterschiedliche Inhalte beziehen, doch im Letzten ist

es die Angst vor dem Sterben, die sehr klar im Raum steht und aufgrund

der Krankheit auch einen realistischen Anteil hat. Die Auseinandersetzung

mit dieser Todesangst ist demnach eine andere, als bei anderen

Angststörungen. Eine paradoxe Intention war hier für mich zum Beispiel

nicht angezeigt! Dies erschien mir als unethisch, da ich aufgrund meiner

fehlenden Erfahrung und meines doch noch jüngeren Lebensalters mich

nicht in der Position sah diese Methode einzusetzen, die nach meiner

Meinung ganz viel Fingerspitzengefühl erfordert, um den Patienten nicht

zu überfordern oder zu verletzen in seiner Offenheit.

In der Arbeit mit Lena war ein ganz großes Thema das Aushalten –

innezuhalten, wahrzunehmen, was ist und suchen, was Halt gibt, um „es“

aus-zu-halten. Die Sesselmethode als Möglichkeit sich auf den Moment,

auf den Körper, auf sich selbst zu beziehen war das erste Mittel der Wahl

und Lena hatte damit schon ein erstes Handwerkszeug, um konkret in

Angst machenden Situationen etwas zu tun, ohne Flüchten zu müssen.

Das Annehmen dessen, was ist, als unabänderlicher Umstand war der

nächste Schritt und wurde unter dem Punkt 2.2.3 Zustimmung bereits

näher beschrieben.

3.2 Die 2. Grundmotivation – Ich lebe – mag ich leben?

Eine Tatsache wie Lenas Erkrankung anzunehmen wirft die nächste Frage

auf. Nämlich: „Ja, so ist es jetzt. Ich lebe mit dieser Krankheit. Aber mag

ich das Leben auch so?“

Oder anders gefragt: “Mag ich mich meiner Realität zuwenden, sie fühlend

in mich aufnehmen, mich auf sie beziehen als mein Lebensgefüge? Auch

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dann, wenn sie wehtut, schmerzt, leidvoll ist und voller Verluste.” (Längle

2008 S. 113)

Sich ihrer Realität so zuzuwenden, in dieser Differenziertheit und Klarheit,

war für Lena neu. Das Wort “mögen” war ihr in den letzten Wochen und

Monaten nicht mehr sehr geläufig bzw. eher in dem Sinn, dass klar war,

was sie nicht mochte. Aber was konnten wir finden an ihrem Leben, so wie

es jetzt war, dem sie sich zuwenden mochte? Ganz stark da waren ihre

Beziehungen, die eine Klärung erfahren hatten in ihrer schwierigsten Zeit.

Es sind Beziehungen weg gebrochen, die ihr nicht gut taten und andere

Beziehungen wurden intensiviert. Daraus schöpfte Lena viel Kraft. Von

Lebensfreude wurde sie durch gute Freunde, Geschwister und ihren

Freund gestreift. Halt vermittelte ihr besonders die neu entstandene

Beziehung zu ihrem Vater. Und im Verlauf unserer Arbeit wurde klar, dass

sie all diese Erfahrungen und Entwicklungen nicht oder erst zu einem viel

späteren Zeitpunkt machen hätte können, wenn nicht ihre Erkrankung

dazwischen gekommen wäre. Bei Lena spürte ich eine immer stärker

aufkeimende Lebendigkeit und ein Aufbrechen der Starre, in der sie wie

gefangen war seit ihrer Diagnose. Die Lebenskraft, die sie aus der

Beschäftigung mit ihrer Emotionalität gewann, war auch für sie deutlich

wahrnehmbar. In dieser Lebendigkeit und Kraft war Lena als Person

immer mehr zu spüren und sie fand auch wieder mehr ihren Faden zu sich

selbst.

Zu Beginn des Therapieprozesses hätte Lena die Frage danach, ob sie

das Leben auch so mag, mit ihrer Krankheit, als provokant empfunden.

Für sie war vollkommen klar, dass sie dieses Leben mit der Krankheit und

den daraus resultierenden Folgen nicht mag. Sie hatte Pläne und

Vorstellungen von der Zeit um ihren Studienabschluss herum und für die

Wochen und Monate danach. Durch die Erkrankung sah sie nicht nur

diese mittelfristigen Pläne gefährdet, sondern sie sah auch langfristig eine

Gefahr ihr Leben nicht so leben zu können, wie sie es leben wollte bzw.

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vorhatte zu leben. Indem es ihr aber in einem ersten Schritt gelang

Zustimmung zu finden - im Sinne einer Anerkennung der derzeitigen

Realität - konnte sie auch zunehmend ihren Gefühlen wieder mehr Gehör

verschaffen, wie oben bereits beschrieben. Es brachen ganz verschiedene

Gefühle aus Lena heraus, nicht nur die zunächst verspürte Verzweiflung,

die Angst, die Wut oder die Leere und Hilflosigkeit, sondern auch Gefühle

der Dankbarkeit für Menschen in ihrem Umfeld, der Liebe zu ihrer Familie,

zu ihrem Partner, zum Leben, der Freude über ganz banale Dinge im

Leben, wie z.B. über einen sonnigen Tag, schöne Musik oder ihre wieder

entdeckte Kreativität.

Sie konnte sich dem Leben wieder zuwenden. Doch dieser Zuwendung

voraus ging eine Trauer um das, was nun anders war, als in ihren

Vorstellungen, um das was sie nun hinten anstellen musste. In der Folge

bekam Lena wieder das Gefühl geerdet zu sein, an das Leben

angebunden zu sein und sie konnte sich noch klarer für das Leben

entscheiden, unwissend darüber, wie lange dieses Leben dauern würde.

Umso tragender wurden die Fragen: Was mache ich nun mit diesem

Leben, das ich leben mag, egal wie lange es dauert? Was von mir soll in

diesem Leben vorkommen? Und wie kann ich mich in diesem Leben

ausdrücken und einbringen? Diesen Fragen ging aber noch eine

grundsätzliche andere Frage voraus, nämlich:

3.3 Die 3. Grundmotivation – Ich bin ich – darf ich so sein?

Für Lena war es schon zu Beginn unserer Zusammenarbeit ein großes

Thema, sich selbst treu zu bleiben, ihren Gefühlen zu vertrauen im Ablauf

schulmedizinischer Behandlungen. Sie beschrieb, dass sie sich sehr oft

wie ausgeschaltet erlebte, Entscheidungen rein rational traf, wohl

bemerkend, dass es da noch eine andere Stimme in ihr gab, die auch

gehört werden wollte. Sie stellte Fragen wie zum Beispiel: Wann darf ich

auf mein Gefühl hören? Wie kann ich differenzieren zwischen meiner

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Angst und meinem Wunsch einfach vor allem davon zu laufen und einer

Intuition, die mir sagt, dass das, was gerade passiert oder was andere mit

mir vorhaben, mir nicht gut tut?

Im Verlauf unserer Arbeit lernte Lena ihre Gefühle tatsächlich gut zu

benennen und in Folge zu differenzieren. Ihrer Angst stand sie Aug in Aug

gegenüber und sie lernte mit ihr zu kommunizieren und auch

gegebenenfalls zu kooperieren, aber auch sie beiseite zu stellen, wenn sie

hinderlich war. Und ihre innere Stimme wurde immer klarer und lauter,

sodass sich die Frage nach der Differenzierung bald nicht mehr stellte.

Allerdings in wie weit darf ich meiner inneren Stimme, meinem Ich, meiner

Person, meiner Intuition Ausdruck verleihen? Ist dies immer angebracht?

Darf ich überhaupt so sein wie ich bin und so denken, handeln, fühlen wie

es mir entspricht oder gibt es da doch noch eine übergeordnete Instanz?

All diesen wichtigen Fragen haben wir uns ausführlich gewidmet und für

Lena war es sehr wesentlich, auch hier in eine authentische

Handlungsfähigkeit zu kommen mit Hilfe des personalen Prozesses.

Durch die Vorarbeit im Rahmen der PEA 0 bis PEA 2 - wie oben

beschrieben - konnten wir nun dazu übergehen, wie wir das, was in uns

ist, was wir in uns finden, auch nach außen transportieren können bzw.

wie wir einen adäquaten Ausdruck unserer inneren Abläufe und

Stellungnahmen finden (PEA 3). Die Tatsache, dass nicht alles, was in

uns abläuft, auch nach außen gehört, hat Lena erleichtert und auch die

Möglichkeit, die inneren Abläufe gewisse Filter passieren zu lassen bevor

sie zum Ausdruck gebracht werden, war für Lena nachvollziehbar und in

einigen Übungssequenzen gut umsetzbar. „Denn nicht alles, was innerer

Prozess ist, gehört in die Hände der anderen (Schamfilter). Weiters sind

die Modalitäten zu prüfen (wie etwas gesagt werden kann), die

Adressaten sind zu wählen und natürlich der günstigste Zeitpunkt.“

(Längle 2008, S. 161)

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3.4 Die 4. Grundmotivation – Ich bin da – wofür soll ich da sein?

Wofür ist mein Leben gut?

Die Sinnfrage war für Lena besonders am Anfang unserer Arbeit sehr

zentral. Das Hadern mit dem Schicksal, die Frage: “Warum gerade ich und

warum gerade jetzt?” hat sie sehr beschäftigt. Im Verlauf unserer

gemeinsamen Stunden kristallisierten sich für Lena mehrere Ebenen ihres

eigenen Sinns heraus. Sie erlebte sich selbst darin, wie sehr sie das

Leben liebte und wie gut sie in Beziehungen sein konnte, die ihr gut tun.

Also war ein Sinn der derzeitigen Situation für sie klar, nämlich alles dafür

zu tun wieder gesund zu werden und keine Sekunde ihres Lebens mehr in

die Hände von anderen zu legen, wenn ihr ihr Gefühl, ihre Intuition davon

abriet. Sie erlebte sich in ihrer neu erlernten Authentizität und in ihrer

Entschiedenheit als sehr gestärkt und gekräftigt.

Ein anderer, für Lena höherer Sinn, war es, Lehren aus ihrer Erfahrung als

Patientin für ihren Beruf als Ärztin zu ziehen. Zu Beginn unserer Therapie

fragte sich Lena öfters, ob sie denn den richtigen Beruf gewählt hätte.

Gegen Ende unserer Zusammenarbeit war Lena fast enthusiastisch, wenn

sie darüber sprach, wie sie nun ihren Beruf sah und was sie alles anders

machen wollte als die meisten Ärzte, die sie in den letzten Monaten

behandelt hatten. Es waren menschliche Werte, die ihr fehlten in ihrer Zeit

als Patientin. Ein ermutigender Händedruck, ein Lächeln, sich Zeit

nehmen für Fragen und Anliegen der Patienten waren einige der Punkte,

die Lena als sehr wohltuend erlebt hätte und was sie in ihre

Berufsausübung mitnehmen wollte.

Diese Entwicklung war auch für mich sehr schön zu sehen und

mitzuerleben!

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3. Alternative Konzepte und Theorien in der “Psychoonkologie”

3.1. Die Arbeit von Dr. Lawrence LeShan - “Diagnose Krebs - Wendepunkt

und Neubeginn”

3.1.1 Die Person Dr. Lawrence LeShan

Dr. Lawrence LeShan wurde 1920 in New York geboren, wo er auch heute

wieder lebt und arbeitet. Er ist klinischer Psychologe und Psychoanalytiker

und arbeitet seit vier Jahrzehnten mit onkologischen Patienten immer mit

der Frage im Hintergrund, in wie weit psychotherapeutische Methoden den

Verlauf von körperlichen Krankheitsprozessen insbesondere bei Krebs

beeinflussen können.

Besonders angesprochen hat mich an seinem Konzept und an seiner

Arbeit mit Krebspatienten sein Blick auf die Individualität des Patienten,

auf das Person-Sein, das er durch seine therapeutische Arbeit versucht zu

bergen, um den Patienten einerseits wieder in eine authentische und

eigenverantwortliche Handlungsfähigkeit zu bringen und ihm gleichzeitig

wieder in all der Angst und in dem Gefühl des Ausgeliefertseins den Weg

zu sich selbst und in die eigene Kraft und Lebensfreude zu ebnen.

3.1.2 Die Grundzüge seiner Arbeit

Auf meiner Suche nach Modellen für die psychotherapeutische Arbeit mit

onkologischen Patienten stieß ich auf so einiges. Das meiste davon

konnte ich nicht in Einklang bringen mit dem in der Existenzanalyse

vermittelten Menschenbild und theoretischen Hintergrund.

Als ich dann aber das Buch “Diagnose Krebs - Wendepunkt und

Neubeginn” von Dr. Lawrence LeShan in den Händen hielt und eine

Kurzzusammenfassung am Bucheinband las, stieß ich auf Folgendes:

“LeShan ist davon überzeugt, dass für viele Krebspatienten eine Hoffnung

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darin besteht, ihren eigenen, einzigartigen Weg zu finden - was nach

Ausbruch der Krankheit häufig einen Wendepunkt in ihrem Leben

bedeutet. Er vermeidet jede Form der Schuldzuweisung, etwa von der Art:

”Wenn du leben willst, musst du dich ändern.” Er sucht vielmehr jene

Lebensbereiche zu entdecken oder wieder zu entdecken, in denen Vitalität

und Lebensfreude des Patienten gebunden oder verschüttet sind.”

(LeShan, 2008)

Diese Passage hat mich sehr an Begriffe wie Individualität, Authentizität

und Leben mit Zustimmung erinnert. Außerdem lassen diese Worte

erahnen, dass es sich hierbei um ein stark ressourcenorientiertes Arbeiten

handelt und weniger um ein defizitorientiertes bzw. um ein Modell, das

nach dem eigenen Anteil an der Erkrankung sucht im Sinne einer Klärung

der Schuldfrage.

All dies hat mich sehr angesprochen und in der weiteren Beschäftigung

mit LeShans Arbeiten fand ich noch einige Parallelen zur Existenzanalyse

und Logotherapie, die ich im Folgenden beschreiben möchte.

LeShan ist wie bereits oben erwähnt ausgebildet in Psychoanalyse. Er

beschreibt in “Diagnose Krebs: Wendepunkt und Neubeginn” seine ersten

Erfahrungen mit Krebspatienten, die er mit den Methoden der klassischen

Psychoanalyse behandelte mit folgenden Worten: “Zunächst einmal hatte

das, womit wir uns befassten, recht wenig mit den gegenwärtigen Sorgen

der Patienten zu tun. Diese Menschen hatten einen schweren

Schicksalsschlag erlitten, viele von ihnen hatten Schmerzen, Angst, und

sie machten sich Sorgen, was jetzt zu tun wäre und wie es weitergehen

sollte. Sie beschäftigten sich mit ihrem Tod, sie sorgten sich um ihre

Lieben und was aus ihnen werden würde, konfrontiert mit wider-

sprüchlichen Expertenmeinungen mussten sie sich, ohne wirklich

ausreichend informiert zu sein, für Behandlungsmethoden entscheiden,

bei denen es um ihr Leben ging. Das waren die Probleme meiner

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Patienten. Da das theoretische Modell, nach dem ich verfuhr, auf subtile

Weise den therapeutischen Prozess lenkte, sprachen wir schon sehr bald

über die frühen Erfahrungen der Kindheit, über Sauberkeitserziehung und

dergleichen. Immer mehr wurde mir bewusst, dass wir bei dieser

Vorgehensweise die für die Patienten entscheidenden Fragen außer Acht

ließen.” (LeShan 2006, S. 32)

Spätestens in diesem Absatz wird klar, dass es einen großen Unterschied

macht mit onkologischen Patienten zu arbeiten, deren Lebenswelt sich

dramatisch verändert hat durch die Diagnose Krebs, deren Leben spürbar

endlich geworden ist, die vielfach unter physischer Beeinträchtigung leben

müssen und deren Ängste einen höchst realen Hintergrund haben, im

Vergleich zur Arbeit mit physisch Gesunden. LeShan machte die

Erfahrung, dass die Arbeit mit den klassischen psychoanalytischen

Methoden “keinerlei Einfluss auf die Anzahl derer, die überlebten”

(LeShan 2006, S. 33) hatte.

Aufgrund dieser Erfahrungen entwickelte LeShan et al. einen Ansatz für

die Arbeit mit Krebspatienten, der einerseits die psychologische Situation

und die Lebensumstände der Patienten zum Zeitpunkt des Auftretens der

Krankheit berücksichtigte und andererseits die Bedürfnisse der Patienten

in den Vordergrund rückte. Dieser Ansatz sollte im Gegensatz zu

Vorgaben der verschiedenen psychotherapeutischen Theorien, wie eine

Psychotherapie abzulaufen hätte, stehen. Es sollte vielmehr “eine

Psychotherapie, die in vielen Fällen das Immunsystem der Patienten

stimulierte, wodurch sie dann auf ihre medizinische Behandlung

wesentlich besser ansprachen” (LeShan 2006, S. 33) werden.

LeShan berichtet Folgendes: “Seit ich vor nunmehr über zwanzig Jahren

gelernt habe, dieses Verfahren anzuwenden, ist bei ungefähr der Hälfte

meiner “hoffnungslosen” und “unheilbaren” Patienten die Krankheit

dauerhaft zum Stillstand gekommen, und sie leben heute noch. Viele

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andere Patienten lebten länger, als die üblichen medizinischen Prognosen

hoffen ließen. Fast alle waren der Auffassung, dass die neue Art des

Umgangs mit ihrer Krankheit ihre Lebensfreude erhöhte, die emotionale

Grundstimmung ihres Daseins verbesserte und dazu führte, dass die

letzte Phase ihres Lebens viel schöner und interessanter wurde, als sie

vor Beginn des therapeutischen Prozesses gewesen war.” (LeShan 2006,

S. 33-34)

Was ist denn nun das Zentrale in LeShans Arbeit? Wie oben bereits

beschrieben, geht es um einen stark ressourcenorientierten Ansatz, der

sich in der ersten großen Frage seines therapeutischen Ansatzes

widerspiegelt:

“Was ist bei diesem Patienten in Ordnung? Welche Formen des Seins, der

Beschäftigung und der Beziehungen zu seiner Umwelt entsprechen seiner

wirklichen Persönlichkeit am besten? Wie klingt die Melodie seines

Lebens, welches Lied muss er anstimmen, um zufrieden zu Bett zu gehen

und sich auf den nächsten Tag zu freuen? Was würde seinem Leben

Freude, Begeisterung und Sinn geben?” (LeShan 2006, S. 35)

LeShan sucht also nach dem Person-Sein des Patienten, nach einem

authentischen Sein, nach einem Leben mit Zustimmung und

Entschiedenheit immer mit Blick auf das ganz Eigene und Einzigartige. Es

kommen Werte zum Tragen. Schöpferische Werte, Erlebniswerte und

Einstellungswerte als die Hauptstrassen zum Sinn lassen sich in diesen

Fragen erahnen, auch wenn sie so nicht explizit benannt werden.

Weiters stellt LeShan folgende Fragen: “Wie können wir miteinander

arbeiten, um diese Formen zu finden? Was ist es, das diesen Menschen

bisher in seiner Aufnahmefähigkeit oder an einem erfüllten Leben

gehindert hat? Wie soll unsere Zusammenarbeit aussehen, damit der

Patient sich immer weiter in seine eigene Richtung bewegt, bis sein Leben

so ausgefüllt ist, dass er schließlich für eine Psychotherapie gar keine Zeit

oder Energie mehr aufbringt?” (LeShan 2006, S. 35)

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All diese Fragen steuern auf die zentrale Frage hin: ” Welches Leben

würden sie führen, wenn sie die Welt an sich anpassten, statt - wie es

unsere Patienten üblicherweise getan haben - sich der Welt anzupassen?”

Und dabei traf ich auf die existentielle Wende (ich als ein vom Leben

Befragter), die auch in meiner bescheidenen Erfahrung ein ganz

wesentlicher Bestandteil der Therapie mit onkologischen Patienten ist.

Wie zentral diese Frage ist, bestätigt eine Beispielsequenz aus meiner

Arbeit mit Lena. Ohne noch auf diesen Punkt unserer Zusammenarbeit

gekommen zu sein, hinterfragte Lena gleich zu Beginn den äußeren

Rahmen unserer Gespräche, nämlich die Zeitstruktur. Aufgrund ihrer

Lebensumstände zu Beginn unserer Arbeit und der Dringlichkeit ihrer

Themen stand die Frage im Raum, ob wir statt uns einmal wöchentlich für

fünfzig Minuten zu treffen einen Termin vereinbaren könnten, der in seiner

zeitlichen Dauer nicht so stark begrenzt wäre. Und Lena äußerte auch den

Wunsch, eine Zeit lang intensiv an ihren Themen zu arbeiten und dann

eine Pause zu machen. Da ich einen ganz ähnlichen Patientenwunsch in

LeShans (2006, S. 39-40) Erfahrungsberichten bereits gelesen hatte,

habe ich mich darauf mit gutem Gefühl eingelassen und es hat sich

gelohnt. Diese erste Erfahrung die Welt den eigenen Bedürfnissen

anzupassen, war sehr wertvoll für Lena und ließ sich umlegen auf viele

andere Bereiche in ihrem Leben. Es geht nicht immer darum,

Vorgegebenes ungefragt zu akzeptieren, sondern viel öfter sollte es

darum gehen, den Anforderungen des Lebens zu antworten im Einklang

mit den eigenen Bedürfnissen und in Verantwortung sich selbst und dem

eigenen endlichen Leben gegenüber.

In den Grundzügen von LeShans Arbeit können sehr schön die Parallelen

zu unserem Zugang zum Menschen gezeigt werden, ich hoffe dies ist mir

auch für den Leser gelungen. Zum Abschluss und um das oben Gesagt zu

unterstreichen möchte ich noch einige eindrückliche Zitate von Lawrence

LeShan anführen, die eigentlich für sich selbst sprechen.

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„Die meisten von uns sind damit groß geworden, uns darüber Gedanken

zu machen, was wir tun sollten, statt was wir tun wollten; was wir für unser

Leben zu wünschen hätten, statt was wir uns wirklich wünschen.

Üblicherweise richten wir unser Handeln nach diesem „Sollen“, statt dass

wir fragen: „Was würde mein Leben mit Sinn erfüllen, welche Art des

Seins, des Schaffens, der Beziehungen zu meinen Mitmenschen würde

mir Schwung und Freude bringen?“ Dieses Leben und die Suche danach

sind es, was das Immunsystem mehr gegen den Krebs mobilisiert als alles

andere, von dem wir bis heute wissen.“ (LeShan 2006, S. 75)

Ein tragendes Zitat zieht sich durch LeShans Arbeit hindurch, parallel zu

Frankls Gedankengut: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes

Wie.“ (Friedrich Nietzsche) Und weiter: „Mit einem Lebensziel vor Augen

ist unsere Fähigkeit größer, Schweres zu ertragen und zu bewältigen.“

(LeShan 2006, S. 177)

Zum Thema Lebensziel und Gesundheit schreibt er:

„Der einzige emotionale Stress, von dem wir heute wissen, dass er diese

Wirkung (Krebsabwehrmechanismus schwächende Wirkung) hat,

entsteht, wenn ein Mensch die Hoffnung verliert, jemals ein seinen

Vorstellungen entsprechendes Leben führen zu können, das ihm Freude

bereitet und in dem er Sinn sieht.“ (LeShan 2006, S. 37)

Zum Thema ganzheitlicher Behandlungsansatz schreibt LeShan:

„Ganzheitsmedizin besteht aus einer Reihe von Konzeptionen, nicht von

Techniken. Sie gründet sich auf vier Axiome, vier Ideen, die miteinander

das Ganze bilden.

1. Der Mensch existiert auf vielen Ebenen, von denen alle gleich

wirklich und wichtig sind. Körperliche, seelische und geistige Ebene

machen zusammen die Einheit des Menschen aus, und keine

dieser Ebenen kann einer anderen „untergeordnet“ werden. (…)

2. Jeder Mensch ist einzigartig. (…)

3. Jeder Mensch sollte an den Entscheidungen, die ihn betreffen,

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beteiligt sein. (…)

4. Der Mensch verfügt über Selbstheilungskräfte. (…)“ (LeShan 2006,

S. 150f)

Dieser Absatz beschreibt deutlich die Parallelen in Bezug auf das

dreidimensionale Menschenbild und die wertschätzende Sicht auf die

Individualität und Einzigartigkeit des Menschen in seiner

eigenverantwortlichen Herangehensweise an das Leben und das

Vertrauen in das Leben an sich.

3.2. Die Arbeit von Dr. med. Bernie Siegel - “Prognose Hoffnung - Liebe,

Medizin und Wunder” und “Mit der Seele heilen”

3.2.1 Zur Person Dr.med. Bernie Siegel

Dr. med. Bernie Siegel wurde 1932 in Brooklyn, New York, geboren. Er ist

Facharzt für Chirurgie und Kinderchirurgie und lebt in New Haven,

Connecticut.

Sein bekanntestes Buch ist “Prognose Hoffnung - Liebe, Medizin und

Wunder”, das 1986 erstmals erschien. Weiters erschienen sind u.a. “Mit

der Seele heilen - Gesundheit durch inneren Dialog (1989)” oder “A Book

of Miracles: Inspiring True Stories of Healing, Gratitude and Love (2011)”.

Bernie Siegel vermittelt einen ganz anderen Eindruck als Lawrence

LeShan. Er wirkt besonders in seinen TV und Radio-Auftritten wie ein

Pop-Star seiner Zunft und doch hat mich sein Konzept vom

“außergewöhnlichen Patienten” beeindruckt und mir wiederum sehr

interessante Einblicke in die Arbeit eines Altmeisters gewährt.

Am Cover seines Buches “Prognose Hoffnung - Liebe, Medizin und

Wunder” ist folgender Text über das Buch zu finden: “Erst wenn ein Arzt

sich als mitfühlender Mensch und nicht nur als Techniker engagiert, erst

wenn ein Kranker sich nicht als Opfer versteht, sondern seinen

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Lebenswillen mobilisiert, können beide gemeinsam die Heilung

herbeiführen.” In diesen Zeilen ist die Richtung seiner Arbeit erkennbar.

Es geht einerseits um einen Appell an die hochtechnisierte Schulmedizin,

sich wieder mehr dem Menschen zuzuwenden, der Hilfe sucht und

weniger dem Symptom. Und andererseits - parallel zu Lawrence LeShan -

erkennt man in diesen Worten seinen Anspruch an den Patienten in die

eigene Kraft zu kommen und mit dieser Kraft die Heilungschancen zu

erhöhen.

3.2.2 Die Grundzüge seiner Arbeit oder “der außergewöhnliche

Patient”

Eine Grundannahme in Bernie Siegels Arbeit ist, “dass der geistige

Zustand den Zustand des Körpers verändert, und zwar auf dem Weg über

das zentrale Nervensystem, das endokrine System und das

Immunsystem. Seelischer Frieden sendet dem Körper die Botschaft Lebe!,

während Depressionen, Angst und ungelöste Konflikte eine Botschaft

Stirb! vermitteln.” (Siegel 2007, S.17)

Aber wie kommt nun ein Patient, der mit der Diagnose Krebs konfrontiert

wurde, in den Zustand seelischen Friedens, innerer Ruhe und Hoffnung,

wenn doch die im ersten Moment so oft vorherrschenden Gefühle Angst,

Verzweiflung, Leere, Wut oder Hoffnungslosigkeit sind?

Bernie Siegel sagt dazu: “Die Menschen, die gelernt haben, die

Herausforderung, die ihre Krankheit bedeutet, anzunehmen und die

Verantwortung für ihre Behandlung mit zu übernehmen, haben den Weg

gewählt, der auf einer spirituellen Ebene zu seelischem Frieden und

Heilung führt. Das hat einen starken Einfluss auf ihre physische Heilung,

denn dann wird die Energie, die zuvor an einen Konflikt gebunden war,

frei, und das Immunsystem des Körpers empfängt eine wichtige “Lebens”-

Botschaft.” (Siegel 2009, S. 12)

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In dieser einleitenden Passage finden sich bereits Begriffe wie Annehmen

der Realität, Annehmen der Krankheit als eine Herausforderung, sich nicht

als Opfer des Lebens und der Umstände zu sehen, sondern sich als aktiv

Mitbeteiligter auf dem Weg zur Heilung zu verstehen im Sinne einer

existentiellen Wende und Übernahme von Verantwortung für das eigene

Leben. Bernie Siegel vertritt allerdings eher ein zweidimensionales

Menschenbild - der Mensch besteht aus Körper und Geist - im

Unterschied zum dreidimensionalen Menschenbild der Existenzanalyse

und Logotherapie - der Mensch ist Körper, Geist und Seele. Er spricht viel

von Spiritualität, geht aber auf psychodynamische Prozesse weniger ein

bzw. erwähnt diese nicht explizit. Doch der Hinweis darauf, dass geistige

Aktivitäten wie Annehmen einer Realität, Annehmen der Verantwortung für

das eigene Leben und die eigene Gesundwerdung und sich zu befreien

von Konflikten und Schuldgefühlen einen starken Einfluss auf das Erleben

von “seelischem Frieden” und “physische Heilung” hat, integriert die

Psyche indirekt in sein Menschenbild.

Der folgende Absatz hebt die Bedeutung des inneren Dialoges, der bisher

noch nicht Thema war, deutlich hervor:

“Wer aber Schuldgefühle hat, weil er glaubt, seine Krankheit selbst

verursacht zu haben, oder wer sich wie ein Versager fühlt, wenn er sich

nicht selbst heilen kann, lässt seinem Heilungssystem eine destruktive

Botschaft zukommen. Wir alle müssen unsere Schuldgefühle ablegen und

auch das Gefühl, versagt zu haben, damit wir unbeeinflusst von diesen

negativen Botschaften unsere angeborenen Kapazitäten zur Heilung voll

ausschöpfen und anwenden können.” (Siegel 2009, S. 12) Mit anderen

Worten: Welchen Umgang habe ich mit mir selbst? Wie ist meine innere

Haltung mir selbst gegenüber? Und wie spreche ich mit mir im inneren

Dialog?

Die Bedeutung des inneren Dialoges für existenzanalytisches bzw.

logotherapeutisches Arbeiten ist zentral. Der Patient soll im

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Therapieprozess lernen, mit sich im inneren Dialog in einer konstruktiven

Weise zu sprechen, ähnlich wie er es vom Therapeuten erlebt. “In der

Therapie wird dadurch der Heilungsprozess angestoßen - die

Nachhaltigkeit der therapeutischen Wirkung aber entsteht dadurch, dass

der Patient zu einem konstruktiven Sprechen-Können mit sich selbst findet

und sich dadurch in seiner Ursprünglichkeit erreichen kann, ohne immer

auf die wohlwollende und fürsorgliche Begegnung mit anderen

angewiesen zu sein. Das therapeutische Gespräch ist somit auch

Anleitung zum Innenbezug über das innere Sprechen.” (Längle, Holzhey-

Kunz 2008, S. 123)

In den so genannten “ECaP”-Gruppen (Exceptional Cancer Patients), die

auf Bernie Siegel zurückgehen und sich u.a. auf das Konzept des

außergewöhnlichen Patienten des Ehepaars Simonton stützen, spielt das

Erlernen eines konstruktiven inneren Dialoges ebenso eine zentrale Rolle

wie “den Menschen dabei zu helfen, die Flexibilität, Anpassungsfähigkeit

und das Selbstvertrauen der Überlebenspersönlichkeit zu entwickeln.”

(Siegel 2007, S. 219) Diese Überlebenspersönlichkeit wurde u. a. von Al

Siebert und dem Ehepaar Simonton beschrieben.

Zusammengefasst lebt die “Überlebenspersönlichkeit” ein authentisches,

entschiedenes, selbst bestimmtes Leben. Diese Persönlichkeit kennt ihre

Stärken und vermag ihre Fähigkeiten sowohl zum eigenen Vorteil und

Nutzen als auch zum Nutzen und Vorteil anderer einzusetzen. Sie kann

aber auch für sich und ihr Wohl eintreten und lässt sich nicht zum Spielball

machen. All diese Faktoren machen einen Patienten aber aus der Sicht

der meisten Ärzte zu einem Problempatienten. Diese Patienten haben ihre

eigene Meinung, machen sich schlau über weitere Behandlungsmethoden

und wollen mitbeteiligt sein am Heilungsprozess. Bernie Siegel schreibt:

”Der sogenannte “Problempatient” erholt sich schnell, lebt länger und hat

ein aktives Immunsystem.” (Siegel 2007, S. 232)

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“Außergewöhnliche Menschen haben alle etwas gemeinsam. Sie

manifestieren alle die gleichen wichtigen Eigenschaften - geistigen

Frieden, die Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe, den Mut sich selbst zu

sein, das Gefühl von Kontrolle über ihr eigenes Leben, Unabhängigkeit,

die Verantwortung für Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen, und

die Fähigkeit, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen.” (Siegel 2009, S.

244)

Über Begriffe wie Verantwortung für das eigene Leben, in Verantwortung

Entscheidungen zu treffen oder authentisches Leben wurde in den

vorliegenden Seiten schon einiges geschrieben. Aber als ebenso wichtig

betont Dr. Siegel die Bedeutung des Ausdrucks dessen, was sich da in

der Person abspielt. Die Gefühle, die aufsteigen, sollen die Patienten im

Rahmen seiner ECaP-Gruppen lernen zu hören, zu benennen und

schließlich wie sie an den richtigen Adressaten herangetragen werden

können. Und dies ähnelt ja wiederum dem Ablauf der PEA.

Außerdem beziehen sich die Gruppengespräche in den ECaP-Gruppen

weniger auf die jeweilige Symptomatik der Patienten, als viel mehr auf den

Blick auf den Menschen als Ganzes, z.B. auf seine jeweils individuellen

Gründe zu leben, auf individuelle Ziele, aber auch auf Themen wie den

sekundären Krankheitsgewinn. So schreibt Siegel: “Ganz besonders

wichtig ist es, zu wissen, welche Bedürfnisse durch die Krankheit

befriedigt werden, und sich dann Ziele zu setzen, die diese Bedürfnisse -

anstelle der Krankheit - befriedigen.” (Siegel 2007, S. 229) Bezüglich der

individuellen Ziele, zu denen die Patienten angehalten werden, ist es in

diesen Gruppen wichtig, dass es sich um realistische Ziele handelt. “Denn

wenn wir sie erreichen, werden wir in dem Gefühl bestärkt, kompetent zu

sein und etwas wert zu sein, und die Ziele selbst lassen die Zukunft sofort

heller aussehen. Das Ziel bedeutet nichts anderes, als auf selbstlose Art

für uns selbst zu leben. Und schon die Bewegung auf das Ziel zu ist

wichtig und bringt Veränderung. Der Prozess ist das Produkt.” (Siegel

2007, S. 229)

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Und weiter schreibt er: “Der Prozess der Umstrukturierung des Lebens auf

dem Weg zum authentischen Menschen bedeutet, dass man aufhört, sich

selbst als eine Sache anzusehen - als eine Reihe von Gewohnheiten,

einen Job, eine Rolle. Das macht einen zum Sklaven des eigenen

Selbstbildes, so als wäre man in gewisser Hinsicht schon tot. Stattdessen

bemühen wir uns, unseren PatientInnen dabei zu helfen, sich selbst als

einen dynamischen, sich ständig verändernden Prozess zu verstehen.

Das gelingt, wenn wir erkennen, dass wir alle vollkommen unvollkommen

sind. Wir sind durch das Unvermeidliche des Todes gebunden und durch

die Tatsache, dass bestimmte Entscheidungen die destruktiven Prozesse

beschleunigen. Außerdem wissen wir nicht genau wann wir sterben

werden, und innerhalb dieser Ungewissheit stehen uns fast unbegrenzte

Möglichkeiten zur Verfügung.” (Siegel 2007, S. 229f)

Die Begrenztheit unseres Daseins zu thematisieren und zu akzeptieren

und aus dieser Erkenntnis eine Art Geschenk zu machen, das eigene

Leben neu zu überdenken, neu zu strukturieren und mehr an das Eigene

anzupassen, ist eine zutiefst existenzanalytische und logotherapeutische

Arbeit. Insofern ist die Arbeit von Dr. Siegel sehr interessant auch für uns

als Existenzanalytiker und gut integrierbar in unsere therapeutische Arbeit

insbesondere mit onkologischen Patienten. Es wäre auch durchaus

denkbar mit unserem theoretischen, philosophischen und methodischen

Unterbau an der Gründung solcher ECaP-Gruppen zu arbeiten, mit dem

Erfahrungsschatz von Dr. Siegel im Hintergrund.

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4. Existenzanalytisches/logotherapeutisches Arbeiten mit

onkologischen Patienten

4.1. Warum ist die EA/LT prädestiniert mit onkologischen Patienten zu

arbeiten?

Bei dieser Frage schließt sich für mich ein Kreis. Als ich vor einigen

Jahren auf der Suche nach einer für mich passenden

psychotherapeutischen Methode war, probierte ich als “Patientin” so

einiges aus. Als einige wesentliche Wirkfaktoren stellten sich für mich

persönlich folgende Punkte heraus:

Wie sehr ist mein Gegenüber als Mensch präsent? Oder versteckt er sich

hinter einer Theorie oder einem Behandlungsmanual?

Wie sehr ist es greifbar und nachvollziehbar was ich höre und spüre als

Patientin? Wie sehr ist mein Gegenüber - der Therapeut - bei mir?

Und wie fühle ich mich nach einer therapeutischen Einheit?

In der Existenzanalyse bleibt der Therapeut als Mensch da, er

verschwindet nicht hinter Theoriegebäuden. Im phänomenologischen

Schauen nehme ich mich als Therapeutin wahr und den Patienten. Ich bin

als Therapeutin mein wesentlichstes Instrument. Also kann ich mich auch

als Person dem Prozess nicht entziehen. Meine Erfahrung mit Lena und

das Studium diverser Literatur zum Thema “Psychotherapie mit

onkologischen Patienten” legen den Schluss nahe, dass es insbesondere

- wie ich bereits eingangs erwähnt habe - für Menschen, die aufgrund

einer Krankheit in den schulmedizinischen Apparat eingespannt werden,

genau dieses Menschsein, dieses menschliche Gegenüber wesentlich ist.

Es geht um Funktionen des Körpers, aber nur selten um Gefühle, die

einen Menschen ausmachen. Insofern ist phänomenologisches Arbeiten

aus meiner Sicht ein wertvolles Geschenk, das einem kranken, leidenden

Menschen gemacht werden kann.

Außerdem setzt der phänomenologische Ansatz im Hier und Jetzt an. Wie

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ist die derzeitige Situation? Was braucht der Patient jetzt? Für

onkologische Patienten ist die Aufarbeitung der Vergangenheit meist nicht

primäres Ziel. Es geht viel mehr um Fragen, wie der Alltag jetzt bewältigt

werden kann, wie mit den aufsteigenden oft widersprüchlichen Gefühlen

umgegangen werden kann oder wie sie sich authentisch und selbst

bestimmt und selbstverantwortlich in den Heilungsprozess einbringen

können. Auf all dies weist sowohl Lawrence LeShan in seiner Arbeit hin

als auch Bernie Siegel. Dr. LeShan beschreibt den Beginn seiner Arbeit

sehr eindrücklich, wie aus einem Psychoanalytiker ein Therapeut wird, der

sich mit der aktuellen Situation des leidenden Menschen

auseinanderzusetzen versuchte. Die Arbeit mit onkologischen Patienten

muss gegenwarts- und zukunftsorientiert sein, schon allein aufgrund der

zeitlichen Begrenztheit, vor der viele Krebspatienten im subjektiven

Erleben und manchmal auch objektiv gesehen stehen. Für die

Vergangenheit gibt es nur in dem Sinn Platz, als dass es z.B. schwelende

Konflikte im familiären Umfeld geben kann, die den Patienten Energie

abziehen, die sie für die Bewältigung der neuen herausfordernden

Situation brauchen, und die es zu lösen bzw. zu bewältigen gilt. Für Lena

war es - wie bereits oben erwähnt - wichtig ihre konflikthafte

Elternbeziehung zu bearbeiten und ihre Stellungnahme dazu zu finden,

um an die Ressourcen heranzukommen, die eine funktionierende

Beziehung zu Mutter und Vater bieten können.

Nicht zuletzt ist es noch wichtig zu erwähnen, dass doch die Themen und

Fragen, die sich in der Arbeit mit Krebspatienten stellen, natürlich

hauptsächlich sehr existentielle Themen sind, wie ich es im ersten Kapitel

meiner Arbeit beschrieben habe. Es hat der Tod genauso Platz wie der

Zweifel an der Gerechtigkeit des Lebens, das Hadern mit dem Schicksal

oder auch spirituelle Themen. Die Existenzanalyse und Logotherapie

schließt nichts aus und das ist für Patienten meiner Erfahrung nach

spürbar und heilsam.

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Meine Erfahrung und die Rückmeldung meiner Patienten hat gezeigt, dass

die Fragen nach den Wirkfaktoren, die ich mir in der Position als Patientin

gestellt habe, auch für andere Menschen, die Hilfe suchen, von

wesentlicher Bedeutung sind und meiner Meinung nach in der

Existenzanalyse und Logotherapie durchaus mehr als befriedigend

beantwortet werden können.

4.2. Welche Parallelen gibt es zwischen den Arbeiten oben genannter

Autoren und dem existenzanalytischen/logotherapeutischen Ansatz nach

A. Längle/V. Frankl?

Was beiden Autoren - LeShan und Siegel - gemeinsam ist und auf den

ersten Blick auffällt, ist die Sicht auf den Menschen als Ganzes. Es geht in

beiden Konzepten nicht um eine Konzentration auf die Krankheit und die

damit verbundenen Einschränkungen, sondern vielmehr darum wie sich

der Betroffene “trotzdem” in sein Leben einbringen kann, wie das Eigene

“trotzdem” gelebt werden kann und zum Ausdruck gebracht werden kann

als Mitbeteiligter auf dem Weg zur Gesundung oder in den letzten

Momenten des Lebens, in dem Sinne wie “... trotzdem Ja zum Leben

sagen” (Viktor Frankl), trotz der Krankheit, trotz des Leidens, trotz der

Endlichkeit des Lebens.

Es geht bei beiden Autoren um Begriffe wie “Annehmen der Realität der

Erkrankung”, sich dem “Zuwenden was ist” und mit “Entschiedenheit

authentische Antworten zu geben”. Eine Orientierung auf ein realistisches

Ziel hin stellt besonders Siegel in den Vordergrund, was einerseits viel

Sinnstiftendes in sich birgt, und gleichzeitig dem Ausdruck des ganz

Eigenen, des authentischen Weges entspricht. Den Wert des inneren

Dialogs betont ebenfalls Siegel besonders, was sich sehr gut in unser

Gedankengut einfügt.

Ein phänomenologisches Arbeiten mit den Fragen, die Lawrence LeShan

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seinen Patienten stellt und seiner Aufforderung “das ganz eigene Lied zu

singen”, im Hintergrund und der Idee des außergewöhnlichen Patienten

als übergeordneten Begriff im Sinne einer ECaP-Gruppen stelle ich mir als

sehr viel versprechend und reizvoll vor. Besonders auch auf den

methodischen Möglichkeiten, die wir in der Existenzanalyse und

Logotherapie zur Verfügung haben, aufbauend können die Arbeiten beider

Autoren sehr bereichernd und befruchtend für existenzanalytisches

Arbeiten mit Krebspatienten sein.

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Literaturverzeichnis:

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Existenzanalyse und Daseinsanalyse. Wien: UTB (Facultas), 29-180

Längle A (2007) Sinnvoll leben – Eine praktische Anleitung der

Logotherapie. St. Pölten: Residenz Verlag

Längle A (2004) Lehrbuch zur Existenzanalyse (Logotherapie),

Grundlagen. Wien: GLE-Verlag

Längle A (1998) Viktor Frankl – Ein Porträt. München: Piper

Siegel B (2007) Prognose Hoffnung - Liebe, Medizin und Wunder. Berlin:

Ullstein Taschenbuch, 5. Auflage

Siegel B (2009) Mit der Seele heilen - Gesundheit durch inneren Dialog.

Berlin: Ullstein Taschenbuch, 1. Auflage

LeShan L (2006) Diagnose Krebs: Wendepunkt und Neubeginn. Stuttgart:

Klett-Cotta, 7. Auflage

Simonton O, Matthews Simonton S, Creighton J (2008) Wieder Gesund

werden - Eine Anleitung zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte für

Krebspatienten und ihre Angehörigen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

Taschenbuch, 7. Auflage

Herschbach P, Heußner P (2008) Einführung in die psychoonkologische

Behandlungspraxis. Stuttgart: Klett Cotta

Frankl V (1997) Der Wille zum Sinn. München: Piper

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Frankl V (2005) Ärztliche Seelsorge. Wien: Deuticke, 11. Überarbeitete

Neuauflage

Frankl V (2002) Das Leiden am sinnlosen Leben, Psychotherapie für

heute. Wien: Herder