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Aristoteles Nikomachische Ethik (Êthika nikomacheia)

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Aristoteles

Nikomachische Ethik

(Êthika nikomacheia)

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Vorbemerkung

1. Die Stufenleiter der Zwecke und der höchsteZweck

Alle künstlerische und allewissenschaftliche Tätig-keit, ebenso wie alles praktische Verhalten und jedererwählte Beruf hat nach allgemeiner Annahme zumZiele irgendein zu erlangendes Gut. Man hat darumdas Gute treffend als dasjenige bezeichnet, was dasZiel alles Strebens bildet. Indessen, es liegt die Ein-sicht nahe, daß zwischen Ziel und Ziel ein Unter-schied besteht. Das Ziel liegt das eine Mal in der Tä-tigkeit selbst, das andere Mal noch neben der Tätig-keit in irgendeinem durch sie hervorzubringenden Ge-genstand. Wo aber neben der Betätigung noch solchein weiteres erstrebt wird, da ist das hervorzubrin-gende Werk der Natur der Sache nach von höheremWerte als die Tätigkeit selbst.

Wie es nun eine Vielheit von Handlungsweisen,von künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkei-ten gibt, so ergibt sich demgemäß auch eine Vielheitvon zu erstrebenden Zielen. So ist das Ziel der ärztli-chen Kunst die Gesundheit, dasjenige der Schiffsbau-kunst das fertige Fahrzeug, das der Kriegskunst derSieg und das der Haushaltungskunst der Reichtum.

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Wo nun mehrere Tätigkeiten in den Dienst eines ein-heitlichen umfassenderen Gebietes gestellt sind, wiedie Anfertigung der Zügel und der sonstigen Hilfsmit-tel für Berittene der Reitkunst, die Reitkunst selbstaber und alle Arten militärischer Übungen dem Ge-biete der Kriegskunst, und in ganz gleicher Weisewieder andere Tätigkeiten dem Gebiete anderer Kün-ste zugehören: da ist das Ziel der herrschenden Kunstjedesmal dem der ihr untergeordneten Fächer gegen-über das höhere und bedeutsamere; denn um jeneswillen werden auch die letzteren betrieben. In diesemBetracht macht es dann keinen Unterschied, ob dasZiel für die Betätigung die Tätigkeit selbst bildet,oder neben ihr noch etwas anderes, wie es in den an-geführten Gebieten der Tätigkeit wirklich der Fall ist.

Gibt es nun unter den Objekten, auf die sich dieBetätigung richtet, ein Ziel, das man um seiner selbstwillen anstrebt, während man das übrige um jeneswillen begehrt; ist es also so, daß man nicht alles umeines anderen willen erstrebt, / denn damit würde manzum Fortgang ins Unendliche kommen und es würdemithin alles Streben eitel und sinnlos werden /: sowürde offenbar dieses um seiner selbst willen Begehr-te das Gute, ja das höchste Gut bedeuten. Müßtedarum nicht auch die Kenntnis desselben für die Le-bensführung von ausschlaggebender Bedeutung sein,und wir, den Schützen gleich, die ein festes Ziel vor

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Augen haben, dadurch in höherem Grade befähigtwerden, das zu treffen, was uns not ist? Ist dem aberso, so gilt es den Versuch, wenigstens im Umriß dar-zulegen, was dieses Gut selber seinem Wesen nach istund unter welche Wissenschaft oder Fertigkeit es ein-zuordnen ist. Es liegt nahe anzunehmen, daß es diedem Range nach höchste und im höchsten Grade zurHerrschaft berechtigte Wissenschaft sein wird, wohinsie gehört. Als solche aber stellt sich die Wissen-schaft vom Staate dar. Denn sie ist es, welche darüberzu bestimmen hat, was für Wissenschaften man in derStaatsgemeinschaft betreiben, welche von ihnen jedereinzelne und bis wie weit er sie sich aneignen soll.Ebenso sehen wir, daß gerade die Fertigkeiten, dieman am höchsten schätzt, in ihr Gebiet fallen: so dieKünste des Krieges, des Haushalts, der Beredsamkeit.Indem also die Wissenschaft vom Staate die andernpraktischen Wissenschaften in ihren Dienst zieht undweiter gesetzlich festsetzt, was man zu tun, was manzu lassen hat, so umfaßt das Ziel, nach dem sie strebt,die Ziele der anderen Tätigkeiten mit, und mithin wirdihr Ziel dasjenige sein, was das eigentümliche Gut fürden Menschen bezeichnet. Denn mag dieses auch fürden einzelnen und für das Staatsganze dasselbe sein,so kommt es doch in dem Ziele, das der Staat an-strebt, umfassender und vollständiger zur Erschei-nung, sowohl wo es sich um das Erlangen, wie wo es

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sich um das Bewahren handelt. Denn erfreulich ist esgewiß auch, wenn das Ziel bloß für den einzelnen er-reicht wird; schöner aber und göttlicher ist es, dasZiel für ganze Völker und Staaten zu verfolgen. Dasnun aber gerade ist es, wonach unsere Wissenschaftstrebt; denn sie handelt vom staatlichen Leben derMenschen.

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2. Form und Abzweckung der Behandlung desGegenstandes

Was die Behandlung des Gegenstandes anbetrifft,so muß man sich zufrieden geben, wenn die Genauig-keit jedesmal nur so weit getrieben wird, wie der vor-liegende Gegenstand es zuläßt. Man darf nicht inallen Disziplinen ein gleiches Maß von Strenge an-streben, sowenig wie man es bei allen gewerblichenArbeiten dürfte. Das Sittliche und Gerechte, die Ge-genstände also, mit denen sich die Wissenschaft vomstaatlichen Leben beschäftigt, gibt zu einer großenVerschiedenheit auseinandergehender AuffassungenAnlaß, so sehr, daß man wohl der Ansicht begegnet,als beruhe das alles auf bloßer Menschensatzung undnicht auf der Natur der Dinge. Ebensolche Meinungs-verschiedenheit herrscht aber auch über die Güter derMenschen, schon deshalb, weil sie doch vielen auchzum Schaden ausgeschlagen sind. Denn schon somancher ist durch den Reichtum, andere sind durchkühnen Mut ins Verderben gestürzt worden. Manmuß also schon für lieb nehmen, wenn bei der Be-handlung derartiger Gegenstände und der Ableitungaus derartigem Material die Wahrheit auch nur in grö-berem Umriß zum Ausdruck gelangt, und wenn beider Erörterung dessen, was in der Regel gilt und bei

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dem Ausgehen von ebensolchen Gründen auch diedaraus gezogenen Schlüsse den gleichen Charaktertragen. Und in demselben Sinne muß man denn auchjede einzelne Ausführung von dieser Art aufnehmen.Denn es ist ein Kennzeichen eines gebildeten Geistes,auf jedem einzelnen Gebiete nur dasjenige Maß vonStrenge zu fordern, das die eigentümliche Natur desGegenstandes zuläßt. Es ist nahezu dasselbe: einemMathematiker Gehör schenken, der an die Gefühle ap-pelliert, und von einem Redner verlangen, daß erseine Sätze in strenger Form beweise.

Jeder hat ein sicheres Urteil auf dem Gebiete, wo erzu Hause ist, und über das dahin Einschlagende ist erals Richter zu hören. Über jegliches im besonderenalso urteilt am besten der gebildete Fachmann, allge-mein aber und ohne Einschränkung derjenige, der eineuniverselle Bildung besitzt. Darum sind junge Leutenicht die geeigneten Zuhörer bei Vorlesungen überdas staatliche Leben. Sie haben noch keine Erfahrungüber die im Leben vorkommenden praktischen Fra-gen; auf Grund dieser aber und betreffs dieser wirddie Untersuchung geführt. Indem sie ferner geneigtsind, sich von ihren Affekten bestimmen zu lassen,bleiben die Vorlesungen für sie unfruchtbar und nutz-los; denn das Ziel derselben ist doch nicht bloßeKenntnis, sondern praktische Betätigung. Dabeimacht es keinen Unterschied, daß einer jung ist bloß

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an Jahren oder unreif seiner Innerlichkeit nach. Dennnicht an der Zeit liegt die Unzulänglichkeit, sonderndaran, daß man sich von Sympathien und Antipathienleiten läßt und alles einzelne in ihrem Lichte betrach-tet. Leuten von dieser Art helfen alle Kenntnisseebensowenig wie denen, denen es an Selbstbeherr-schung mangelt. Dagegen kann denen, die ihr Begeh-ren vernünftig regeln und danach auch handeln, dieWissenschaft von diesen Dingen allerdings zugroßem Nutzen gereichen.

Dies mag als Vorbemerkung dienen, um zu zeigen,wer der rechte Hörer, welches die rechte Weise derAuffassung, und was eigentlich unser Vorhaben ist.

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Einleitung

1. Verschiedene Auffassungen vom Zweck desLebens

Wir kommen nunmehr auf unseren Ausgangspunktzurück. Wenn doch jede Wissenschaft wie jedes prak-tische Vorhaben irgendein Gut zum Ziele hat, so fragtes sich: was ist es für ein Ziel, das wir als das imStaatsleben angestrebte bezeichnen, und welches istdas oberste unter allen durch ein praktisches Verhal-ten zu erlangenden Gütern? In dem Namen, den sieihm geben, stimmen die meisten Menschen so ziem-lich überein. Sowohl die Masse wie die vornehmerenGeister bezeichnen es als die Glückseligkeit, die Eu-dämonie, und sie denken sich dabei, glückselig seinsei dasselbe wie ein erfreuliches Leben führen und esgut haben. Dagegen über die Frage nach dem Wesender Glückseligkeit gehen die Meinungen weit ausein-ander, und die große Masse urteilt darüber ganz an-ders als die höher Gebildeten. Die einen denken andas Handgreifliche und vor Augen Liegende, wie Ver-gnügen, Reichtum oder hohe Stellung, andere an ganzanderes; zuweilen wechselt auch die Ansicht darüberbei einem und demselben. Ist einer krank, so stellt ersich die Gesundheit, leidet er Not, den Reichtum als

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das höchste vor. Im Gefühle der eigenen Unzuläng-lichkeit staunen manche Leute diejenigen an, die inhohen Worten ihnen Unverständliches reden. Vonmanchen wurde die Ansicht vertreten, es gebe nebender Vielheit der realen Güter noch ein anderes, einGutes an sich, das für jene alle den Grund abgebe,durch den sie gut wären.

Alle diese verschiedenen Ansichten zu prüfenwürde selbstverständlich ein überaus unfruchtbaresGeschäft sein; es reicht völlig aus, nur die gangbar-sten oder diejenigen, die noch am meisten für sichhaben, zu berücksichtigen. Dabei dürfen wir nichtaußer acht lassen, daß ein Unterschied besteht zwi-schen den Verfahrungsweisen, die von den Prinzipienaus, und denen, die zu den Prinzipien hin leiten.Schon Plato erwog diesen Punkt ernstlich und unter-suchte, ob der Weg, den man einschlage, von denPrinzipien ausgehe oder zu den Prinzipien hinführe,gleichsam wie die Bewegung in der Rennbahn vonden Kampfrichtern zum Ziele oder in umgekehrterRichtung geht. Ausgehen nun muß man von solchemwas bekannt ist; bekannt aber kann etwas sein in dop-peltem Sinn: es ist etwas entweder uns bekannt oderes ist schlechthin bekannt. Wir müssen natürlich aus-gehen von dem, was uns bekannt ist. Deshalb ist eserforderlich, daß einer, der den Vortrag über das Sitt-liche und das Gerechte, überhaupt über die das

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staatliche Leben betreffenden Themata mit Erfolghören will, ein Maß von sittlicher Charakterbildungbereits mitbringe. Denn den Ausgangspunkt bildet dieTatsache, und wenn diese ausreichend festgestellt ist,so wird das Bedürfnis der Begründung sich gar nichterst geltend machen. Ein so Vorgebildeter aber ist imBesitz der Prinzipien oder eignet sie sich doch mitLeichtigkeit an. Der aber, von dem keines von beidengilt, mag sich des Hesiodos Worte gesagt sein lassen:

Der ist der allerbeste, der selber allesdurchdenket;

Doch ist wacher auch der, der richtigem Ratesich anschließt.

Aber wer selbst nicht bedenkt und was er vonandern vernommen

Auch nicht zu Herzen sich nimmt, ist ein ganzunnützer Geselle.

Wir kehren nunmehr zurück zu dem, wovon wirabgeschweift sind. Unter dem Guten und der Glückse-ligkeit versteht im Anschluß an die tägliche Erfahrungder große Haufe und die Leute von niedrigster Gesin-nung die Lustempfindung, und zwar wie man anneh-men möchte, nicht ohne Grund. Sie haben deshalb ihrGenüge an einem auf den Genuß gerichteten Leben.Denn es gibt drei am meisten hervorstechende Arten

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der Lebensführung: die eben genannte, dann dasLeben in den Geschäften und drittens das der reinenBetrachtung gewidmete Leben. Der große Haufe bie-tet das Schauspiel, wie man mit ausgesprochenemKnechtssinn sich ein Leben nach der Art des liebenViehs zurecht macht; und der Standpunkt erringt sichAnsehen, weil manche unter den Mächtigen der ErdeGesinnungen wie die eines Sardanapal teilen. Dievornehmeren Geister, die zugleich auf das Praktischegerichtet sind, streben nach Ehre; denn diese ist esdoch eigentlich, die das Ziel des in den Geschäftenaufgehenden Lebens bildet. Indessen, auch dieses istaugenscheinlich zu äußerlich, um für das Lebensziel,dem wir nachforschen, gelten zu dürfen. Dort hängtdas Ziel, wie man meinen möchte, mehr von denenab, die die Ehre erweisen, als von dem, der sie emp-fängt; unter dem höchsten Gute aber stellen wir unsein solches vor, das dem Subjekte innerlich und un-entreißbar zugehört. Außerdem macht es ganz denEindruck, als jage man der Ehre deshalb nach, um denGlauben an seine eigene Tüchtigkeit besser nähren zukönnen; wenigstens ist die Ehre, die man begehrt, dievon seiten der Einsichtigen und derer, denen mannäher bekannt ist, und das auf Grund bewiesenerTüchtigkeit. Offenbar also, daß nach Ansicht dieserLeute die Tüchtigkeit doch den höheren Wert hatselbst der Ehre gegenüber. Da könnte nun einer wohl

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zu der Ansicht kommen, das wirkliche Ziel des Le-bens in den Geschäften sei vielmehr diese Tüchtig-keit. Indessen auch diese erweist sich als hinter demIdeal zurückbleibend. Denn man könnte es sich im-merhin als möglich vorstellen, daß jemand, der imBesitze der Tüchtigkeit ist, sein Leben verschlafe oderdoch nie im Leben von ihr Gebrauch mache, und daßes ihm außerdem recht schlecht ergehe und er dasschwerste Leid zu erdulden habe. Wer aber ein Lebenvon dieser Art führt, den wird niemand glücklich prei-sen, es sei denn aus bloßer Rechthaberei, die hart-näckig auf ihrem Satz besteht. Doch genug davon,über den Gegenstand ist in der populären Literaturausreichend verhandelt worden.

Die dritte Lebensrichtung ist die der reinen Be-trachtung gewidmete; über sie werden wir weiterhinhandeln. Das Leben dagegen zum Erwerb von Geldund Gut ist ein Leben unter dem Zwange, und Reich-tum ist sicherlich nicht das Gut, das uns bei unsererUntersuchung vorschwebt. Denn er ist bloßes Mittel,und wertvoll nur für anderes. Deshalb möchte manstatt seiner eher die oben genannten Zwecke dafürnehmen; denn sie werden um ihrer selbst willen hoch-gehalten. Doch offenbar sind es auch diese nicht;gleichwohl ist man mit Ausführungen gegen sie ver-schwenderisch genug umgegangen. Wir wollen unsdabei nicht länger aufhalten.

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Förderlicher wird es doch wohl sein, jetzt das Gutein jener Bedeutung der Allgemeinheit ins Auge zufassen und sorgsam zu erwägen, was man darunter zuverstehen hat, mag auch einer solchen Untersuchungmanches in uns widerstreben, weil es teure und ver-ehrte Männer sind, die die Ideenlehre aufgestellthaben. Indessen, man wird uns darin zustimmen, daßes doch wohl das Richtigere und Pflichtmäßige ist,wo es gilt für die Wahrheit einzutreten, auch die eige-nen Sätze aufzugeben, und das erst recht, wenn manein Philosoph ist. Denn wenn uns gleich beides liebund wert ist, so ist es doch heilige Pflicht, der Wahr-heit vor allem die Ehre zu geben.

Die Denker, welche jene Lehre aufgestellt haben,haben Ideen nicht angenommen für diejenigen Dinge,bei denen sie eine bestimmte Reihenfolge des Voran-gehenden und des Nachfolgenden aufstellten; das istder Grund, weshalb sie auch für die Zahlen keine Ideegesetzt haben. Der Begriff des Guten nun kommt vorunter den Kategorien der Substanz, der Qualität undder Relation; das was an sich, was Substanz ist, istaber seiner Natur nach ein Vorangehendes gegenüberdem Relativen; denn dieses hat die Bedeutung einesNebenschößlings und einer Bestimmung an dem selb-ständig Seienden. Schon aus diesem Grunde könnte eskeine gemeinsame Idee des Guten über allem einzel-nen Guten geben.

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Nun spricht man aber weiter vom Guten in ebensovielen Bedeutungen wie man vom Seienden spricht.Es wird etwas als gut bezeichnet im Sinne des sub-stantiell Seienden wie Gott und die Vernunft, imSinne der Qualität wie wertvolle Eigenschaften, imSinne der Quantität wie das Maßvolle, im Sinne derRelation wie das Nützliche, im Sinne der Zeit wie derrechte Augenblick, im Sinne des Ortes wie ein gesun-der Aufenthalt, und so weiter. Auch daraus geht her-vor, daß das Gute nicht als ein Gemeinsames, Allge-meines und Eines gefaßt werden kann. Denn dannwürde es nicht unter sämtlichen Kategorien, sondernnur unter einer einzigen aufgeführt werden.

Da es nun ferner für das Gebiet einer einzelnenIdee auch jedesmal eine einzelne Wissenschaft gibt,so müßte es auch für alles was gut heißt eine einheit-liche Wissenschaft geben. Es gibt aber viele Wissen-schaften, die vom Guten handeln. Von dem, was einereinzigen Kategorie angehört, wie vom rechten Augen-blick, handelt mit Bezug auf den Krieg die Strategik,auf die Krankheit die Medizin; das rechte Maß aberbestimmt, wo es sich um die Ernährung handelt, dieMedizin, und wo um anstrengende Übungen, dieGymnastik.

Andererseits könnte man fragen, was die Platonikerdenn eigentlich mit dem Worte »an sich« bezeichnenwollen, das sie jedesmal zu dem Ausdruck

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hinzufügen. Ist doch in dem »Menschen-an-sich« unddem Menschen ohne Zusatz der Begriff des Menscheneiner und derselbe. Denn sofern es beidemale»Mensch« heißt, unterscheiden sich beide durch garnichts, und wenn das hier gilt, so gilt es auch für dieBezeichnung als Gutes. Wenn aber damit gemeint ist,daß etwas ein Ewiges sei, so wird es auch dadurchnicht in höherem Maße zu einem Guten; gerade wieetwas was lange dauert deshalb noch nicht in höheremGrade ein Weißes ist, als das was nur einen Tag dau-ert. Größere Berechtigung möchte man deshalb derArt zuschreiben, wie die Pythagoreer die Sache aufge-faßt haben, indem sie das Eins in die eine der beidenReihen von Gegensätzen einordneten und zwar in die-selbe, wo auch das Gute steht, und ihnen scheint sichin der Tat auch Speusippos angeschlossen zu haben.

Indessen, dafür wird sich ein andermal der Platzfinden. Dagegen stellt sich dem eben von uns Ausge-führten ein Einwurf insofern entgegen, als man erwi-dert: die Aussagen der Platoniker seien ja gar nichtvon allem gemeint was gut ist, sondern es werde nuralles das als zu einer Art gehörig zusammengefaßt,was man um seiner selbst willen anstrebt und wert-hält; das aber was diese Dinge hervorbringt oder ihrerErhaltung dient oder was das Gegenteil von ihnenverhütet, werde eben nur aus diesem Grunde und alsoin anderem Sinne gut genannt. Daraus würde denn

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hervorgehen, daß man vom Guten in doppelter Be-deutung spricht, einerseits als von dem Guten an sich,andererseits als von dem was zu diesem dient. Wirwollen also das an sich Gute und das bloß zum ansich Guten Behilfliche auseinanderhalten und untersu-chen, ob denn auch nur jenes unter eine einzige Ideefällt. Wie beschaffen also müßte wohl dasjenige sein,was man als Gutes-an-sich anerkennen soll? Sind esetwa die Gegenstände, die man auch als für sich alleinbestehende anstrebt, wie das Verständigsein, dasSehen, oder wie manche Arten der Lust und wie Eh-renstellen? Denn wenn man diese auch als Mittel fürein anderes anstrebt, so wird man sie doch zu demrechnen dürfen, was an sich gut ist. Oder gehört dahinwirklich nichts anderes als die Idee des Guten? Dannwürde sich ein Artbegriff ohne jeden Inhalt ergeben.Zählen dagegen auch die vorher genannten Dinge zudem Guten-an-sich, so wird man verpflichtet sein, denBegriff des Guten in Ihnen allen als denselbigen soaufzuzeigen, wie die weiße Farbe im Schnee und imBleiweiß dieselbe ist. Bei der Ehre, der Einsicht undder Lust aber ist der Begriff gerade insofern jedesmalein ganz anderer und verschiedener, als sie Gutes vor-stellen sollen. Mithin ist das Gute nicht ein alledemGemeinsames und unter einer einheitlichen Idee Be-faßtes.

Aber in welchem Sinne wird denn nun das Wort

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»gut« gebraucht? Es sieht doch nicht so aus, als stän-de durch bloßen Zufall das gleiche Wort für ganz ver-schiedene Dinge. Wird es deshalb gebraucht, weil dasVerschiedene, das darunter befaßt wird, aus einer ge-meinsamen Quelle abstammt? oder weil alles dahinGehörige auf ein gemeinsames Ziel abzweckt? odersollte das Wort vielmehr auf Grund einer bloßen Ana-logie gebraucht werden? etwa wie das was im Leibedas Sehvermögen ist, im Geiste die Vernunft und ineinem anderen Substrat wieder etwas anderes bedeu-tet? Indessen, das werden wir an dieser Stelle wohlauf sich beruhen lassen müssen; denn in aller Strengedarauf einzugehen würde in einem anderen Zweigeder Philosophie mehr an seinem Platze sein. Undebenso steht es auch mit der Idee des Guten. Denn ge-setzt auch, es gäbe ein einheitliches Gutes, was ge-meinsam von allem einzelnen Guten ausgesagt würdeoder als ein abgesondertes an und für sich existierte,so würde es offenbar kein Gegenstand sein, auf denein menschliches Handeln gerichtet wäre und den einMensch sich aneignen könnte. Was wir aber hier zuermitteln suchen, ist ja gerade ein solches, was dieseBedingungen erfüllen soll.

Nun könnte einer auf den Gedanken kommen, essei doch eigentlich herrlicher, jene Idee des Guten zukennen gerade im Dienste desjenigen Guten, was einmöglicher Gegenstand des Aneignens und des

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Handelns für den Menschen ist. Denn indem wir jeneIdee wie eine Art von Vorbild vor Augen haben, wür-den wir eher auch das zu erkennen imstande sein, wasdas Gute für uns ist, und wenn wir es nur erst erkannthaben, würden wir uns seiner auch bemächtigen. Einegewisse einleuchtende Kraft ist diesem Gedankengan-ge nicht abzusprechen; dagegen scheint er zu der Rea-lität der verschiedenen Wissenschaften nicht recht zustimmen. Denn sie alle trachten nach einem Gute undstreben die Befriedigung eines Bedürfnisses an; abervon der Erkenntnis jenes Guten-an-sich sehen siedabei völlig ab. Und doch ist schwerlich anzunehmen,daß sämtliche Bearbeiter der verschiedenen Fächerübereingekommen sein sollten, ein Hilfsmittel vondieser Bedeutung zu ignorieren und sich auch nichteinmal danach umzutun. Andererseits würde man inVerlegenheit geraten, wenn man angeben sollte, wasfür eine Förderung für sein Gewerbe einem Weberoder Zimmermann dadurch zufließen sollte, daß ereben dieses Gute-an-sich kennt, oder wie ein Arztnoch mehr Arzt oder ein Stratege noch mehr Strategedadurch soll werden können, daß er die Idee selbergeschaut hat. Es ist doch klar, daß der Arzt nicht ein-mal die Gesundheit an sich in diesem Sinne ins Augefaßt, sondern die Gesundheit eines Menschen, und ei-gentlich noch mehr die Gesundheit dieses bestimmtenPatienten; denn der, den er kuriert, ist ein Individuum.

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/ Damit können wir nun wohl den Gegenstand fallenlassen.

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2. Kennzeichen und Erreichbarkeit derEudämonie

Wir kommen wieder auf die Frage nach dem Gute,das den Gegenstand unserer Untersuchung bildet, undnach seinem Wesen zurück. In jedem einzelnen Ge-biete der Tätigkeit, in jedem einzelnen Fach stellt sichdas Gute mit anderen Zügen dar, als ein anderes inder Medizin, ein anderes in der Kriegskunst und wie-der ein anderes in den sonstigen Fächern. Was ist esnun, was für jedes einzelne Fach etwas als das durchdasselbe zu erreichende Gut charakterisiert? Ist nichtdas Gut jedesmal das, um dessen willen man das übri-ge betreibt? Dies wäre also in der Medizin die Ge-sundheit, in der Kriegskunst der Sieg, in der Baukunstdas Gebäude, in anderen Fächern etwas anderes, ins-gesamt aber für jedes Gebiet der Tätigkeit und despraktischen Berufs wäre es das Endziel. Denn diesesist es, um dessen willen man jedesmal das übrige be-treibt. Gäbe es also ein einheitliches Endziel für sämt-liche Arten der Tätigkeit, so würde dies das aller Tä-tigkeit vorschwebende Gut sein, und gäbe es eineVielheit solcher Endziele, so würden es diese vielensein. So wären wir denn mit unserer Ausführung instetigem Fortgang wieder bei demselben Punkte ange-langt wie vorher.

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Indessen, wir müssen versuchen dieses Resultat ge-nauer durchzubilden. Wenn doch die Ziele der Tätig-keiten sich als eine Vielheit darstellen, wir aber daseine, z.B. Reichtum, ein Musikinstrument, ein Werk-zeug überhaupt, um eines anderen willen erstreben, soergibt sich augenscheinlich, daß nicht alle diese Zieleabschließende Ziele bedeuten. Das Höchste und Besteaber trägt offenbar den Charakter des Abschließen-den. Gesetzt also, nur eines davon wäre ein ab-schließendes Ziel, so würde dieses eben das sein, dasuns bei unserer Untersuchung vorschwebt, und bildetees eine Vielheit, dann würde dasjenige unter ihnen,das diesen abschließenden Charakter im höchstenGrade an sich trägt, das gesuchte sein. In höheremGrade abschließend aber nennen wir dasjenige, dasum seiner selbst willen anzustreben ist, im Gegen-sätze zu dem, das um eines anderen willen angestrebtwird, und ebenso das was niemals um eines anderenwillen begehrt wird, im Gegensatze zu dem, was so-wohl um seiner selbst willen, als um eines anderenwillen zu begehren ist. Und so wäre denn schlechthinabschließend das, was immer an und für sich und nie-mals um eines anderen willen zu begehren ist.

Diesen Anforderungen nun entspricht nach allge-meiner Ansicht am meisten die Glückseligkeit, die»Eudämonie«. Denn sie begehrt man immer um ihrerselbst und niemals um eines anderen willen. Dagegen

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Ehre, Lust, Einsicht, wie jede wertvolle Eigenschaftbegehren wir zwar auch um ihrer selbst willen; dennauch wenn wir sonst nichts davon hätten, würden wiruns doch jedes einzelne davon zu besitzen wünschen;wir wünschen sie aber zugleich um der Glückseligkeitwillen, in dem Gedanken, daß wir vermittelst ihrer zurGlückseligkeit gelangen werden. Die Glückseligkeitdagegen begehrt niemand um jener Dinge willen oderüberhaupt um anderer Dinge willen.

Das gleiche Resultat ergibt sich augenscheinlich,wenn wir uns nach dem umtun, was für sich allein einvolles Genüge zu verschaffen vermag. Denn das ab-schließend höchste Gut muß wie jeder einsieht die Ei-genschaft haben, für sich allein zu genügen; damitmeinen wir nicht, daß etwas nur dem einen volles Ge-nüge verschafft, der etwa ein Einsiedlerleben führt,sondern wir denken dabei auch an Eltern und Kinder,an die Frau und überhaupt an die Freunde und Mit-bürger; denn der Mensch ist durch seine Natur auf dieGemeinschaft mit anderen angelegt. Allerdings, eineGrenze muß man wohl dabei ziehen. Denn wenn mandas Verhältnis immer weiter ausdehnt auf die Vorfah-ren der Vorfahren, auf die Nachkommen der Nach-kommen und die Freunde der Freunde, so gerät mandamit ins Unendliche. Doch davon soll an spätererStelle wieder gehandelt werden.

Die Eigenschaft volles Genüge zu gewähren

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schreiben wir demjenigen Gute zu das für sich alleindas Leben zu einem begehrenswerten macht, zu einemLeben, dem nichts mangelt. Für ein solches Gut siehtman die Glückseligkeit an; man hält sie zugleich fürdas Begehrenswerteste von allem, und das nicht so,daß sie nur einen Posten in der Summe neben anderenausmachte. Bildete sie so nur einen Posten, so würdesie offenbar, wenn auch nur das geringste der Güternoch zu ihr hinzukäme, noch mehr zu begehren sein.Denn kommt noch etwas hinzu, so ergibt sich ein Zu-wachs an Größe; von zwei Gütern ist aber jedesmaldas größere mehr zu begehren. So erweist sich dennoffenbar die Glückseligkeit als abschließend undselbstgenügend, und darum als das Endziel für alleGebiete menschlicher Tätigkeit.

Darüber nun, daß die Glückseligkeit als das höch-ste Gut zu bezeichnen ist, herrscht wohl anerkannter-maßen volle Übereinstimmung; was gefordert wird,ist dies, daß mit noch größerer Deutlichkeit aufge-zeigt werde, worin sie besteht. Dies wird am ehestenso geschehen können, daß man in Betracht zieht, wasdes Menschen eigentliche Bestimmung bildet. Wieman nämlich bei einem Musiker, einem Bildhauer undbei jedem, der irgendeine Kunst treibt, und weiterüberhaupt bei allen, die eine Aufgabe und einen prak-tischen Beruf haben, das Gute und Billigenswerte inder vollbrachten Leistung findet, so wird wohl auch

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beim Menschen als solchem derselbe Maßstab anzu-legen sein, vorausgesetzt, daß auch bei ihm von einerAufgabe und einer Leistung die Rede sein kann. Ist esnun wohl eine vernünftige Annahme, daß zwar derZimmermann und der Schuster ihre bestimmten Auf-gaben und Funktionen haben, der Mensch als solcheraber nicht, und daß er zum Müßiggang geschaffensei? Oder wenn doch offenbar das Auge, die Hand,der Fuß, überhaupt jedes einzelne Glied seine beson-dere Funktion hat, sollte man nicht ebenso auch fürden Menschen eine bestimmte Aufgabe annehmenneben allen diesen Funktionen seiner Glieder? Undwelche könnte es nun wohl sein? Das Leben hat derMensch augenscheinlich mit den Pflanzen gemein;was wir suchen, ist aber gerade das dem Menschenunterscheidend Eigentümliche. Von dem vegetativenLeben der Ernährung und des Wachstums muß manmithin dabei absehen. Daran würde sich dann zu-nächst etwa das Sinnesleben anschließen; doch auchdieses teilt der Mensch offenbar mit dem Roß, demRind und den Tieren überhaupt. So bleibt denn als fürden Menschen allein kennzeichnend nur das tätigeLeben des vernünftigen Seelenteils übrig, und diesteils als zum Gehorsam gegen Vernunftgründe befä-higt, teils mit Vernunft ausgestattet und Gedankenbildend. Wenn man nun auch von diesem letzteren inzwiefacher Bedeutung spricht als von dem bloßen

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Vermögen und von der Wirksamkeit des Vermögens,so handelt es sich an dieser Stelle offenbar um dasAktuelle, die tätige Übung der Vernunftanlage. Denndie Wirksamkeit gilt allgemein der bloßen Anlage ge-genüber als das höhere.

Bedenken wir nun folgendes. Die Aufgabe desMenschen ist die Vernunftgründen gemäße oder dochwenigstens solchen Gründen nicht verschlossene gei-stige Betätigung; die Aufgabe eines beliebigen Men-schen aber verstehen wir als der Art nach identischmit der eines durch Tüchtigkeit hervorragenden Men-schen. So ist z.B. die Aufgabe des Zitherspielers die-selbe wie die eines Zithervirtuosen. Das gleiche giltohne Ausnahme für jedes Gebiet menschlicher Tätig-keit; es kommt immer nur zur Leistung überhaupt dieQualifikation im Sinne hervorragender Tüchtigkeithinzu. Die Aufgabe des Zitherspielers ist das Zither-spiel, und die des hervorragenden Zitherspielers istauch das Zitherspiel, aber dies als besonders gelunge-nes. Ist dem nun so, so ergibt sich folgendes. Wir ver-stehen als Aufgabe des Menschen eine gewisse Artder Lebensführung, und zwar die von Vernunftgrün-den geleitete geistige Betätigung und Handlungswei-se, und als die Aufgabe des hervorragend Tüchtigenwieder eben dies, aber im Sinne einer trefflichen undhervorragenden Leistung. Besteht nun die trefflicheLeistung darin, daß sie im Sinne jedesmal der

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eigentümlichen Gaben und Vorzüge vollbracht wird,so wird das höchste Gut für den Menschen die imSinne wertvoller Beschaffenheit geübte geistige Be-tätigung sein, und gibt es eine Mehrheit von solchenwertvollen Beschaffenheiten, so wird es die geistigeBetätigung im Sinne der höchsten und vollkommen-sten unter allen diesen wertvollen Eigenschaftensein, dies aber ein ganzes Leben von normalerDauer hindurch. Denn eine Schwalbe macht keinenFrühling, und auch nicht ein Tag. So macht denn auchein Tag und eine kurze Zeit nicht den seligen nochden glücklichen Menschen.

Dies nun mag als ungefährer Umriß des Begriffesdes höchsten Gutes gelten. Es ist zweckmäßig, denBegriff zunächst in grober Untermalung zu entwerfenund sich die genauere Durchführung für später vorzu-behalten. Man darf sich dann der Meinung hingeben,daß jedermann die Sache weiterzuführen und die rich-tig gezeichneten Umrisse im Detail auszuführen ver-mag, und daß auch die Zeit bei einer solchen Aufgabeals Erfinderin oder Mitarbeiterin an die Hand geht. Inder Tat hat sich der Aufschwung der Künste und Wis-senschaften in dieser Weise vollzogen; denn was nochmangelt zu ergänzen ist jeder aufgefordert.

Zugleich aber müssen wir im Gedächtnis behalten,was wir vorher ausgeführt haben: wir dürfen nicht diegleiche Genauigkeit auf allen Gebieten anstreben,

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sondern in jedem einzelnen Fall der Natur des vorlie-genden Materials gemäß die Strenge nur so weit trei-ben, wie es der besonderen Disziplin angemessen ist.So bemüht sich um den rechten Winkel der Zimmer-mann wieder Mathematiker, und doch beide in sehrverschiedener Weise. Der eine begnügt sich bei dem,was für seine Arbeit dienlich ist, der andere sucht dasWesen und die genaue Beschaffenheit zu erfassen.Denn das eben ist sein Fach, sich nach der reinenWahrheit umzusehen. In derselben Weise muß manauch bei anderen Objekten verfahren, damit nicht dieHauptsache von dem Beiwerk überwuchert werde.Nicht einmal die Frage nach der Begründung darfman auf allen Gebieten gleichmäßig aufwerfen. Beimanchen Gegenständen ist schon genug damit gelei-stet, wenn nur der tatsächliche Bestand richtig aufge-zeigt worden ist, so auch was die Prinzipien als Aus-gangspunkt und Anfang anbetrifft. Die Tatsache istdas Erste und der Ausgangspunkt. Die Prinzipienwerden teils auf dem Wege der Induktion, teils aufdem der Anschauung, teils vermittels einer Art voneingewöhntem Takt ergriffen, die einen auf diese, dieanderen auf andere Weise. Da muß man nun versu-chen, zu ihnen jedesmal auf dem Wege zu gelangen,der ihrer Natur entspricht, und dann alle Mühe daraufverwenden, sie richtig zu bestimmen; denn sie sindfür das Abgeleitete von ausschlaggebender

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Bedeutung. Der Anfang ist nach dem Sprichwortmehr als die Hälfte des ganzen Werkes, und schonvermittels des Prinzips, von dem man ausgeht, trittmanches von dem in den Gesichtskreis, was man zuerkunden sucht.

Wenn wir das Prinzip bestimmen wollen, so dürfenwir uns nicht auf unser Ergebnis und auf seine Be-gründung beschränken; wir werden gut tun, auch daszu berücksichtigen, was darüber im Munde der Leuteist. Denn mit der Wahrheit stehen alle Tatsachen imEinklang, mit dem Irrtum aber gerät die Wirklichkeitalsobald in Widerstreit.

Man teilt die Güter in drei Klassen ein: in die äuße-ren Güter, die Güter der Seele und die des Leibes, undnennt die, welche der Seele zugehören, Güter im ei-gentlichsten und höchsten Sinne; die Betätigungswei-sen und Wirksamkeiten der seelischen Vermögen aberrechnet man zu dem, was der Seele zugehört. Insoferndarf man, was dieser altüberlieferten und von denDenkern einmütig geteilten Auffassung entspricht, zu-treffend bemerkt finden, und zutreffend ist es auch,wenn als der Endzweck gewisse Betätigungsweisenund Wirksamkeiten bezeichnet werden; denn sokommt der Endzweck in die Klasse der geistigen,nicht der äußeren Güter zu stehen. Auch das stimmtzu unserer Auffassung, daß der, dem die Eudämonieeignet, ein erfreuliches Leben führt und es gut hat;

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denn als ein Leben im rechten Sinne und als subjekti-ves Wohlbefinden ist die Eudämonie wohl von je auf-gefaßt worden. Aber auch alles das, was man als Be-standteil der Eudämonie verlangt, ist augenscheinlichin unserer Bestimmung des Begriffes mit enthalten.Die einen fassen sie als Trefflichkeit überhaupt auf,die anderen heben Einsicht, wieder andere hohe gei-stige Bildung als herrschenden Zug hervor; diese Ei-genschaften oder eine von ihnen denkt man sich inVerbindung mit der Lustempfindung oder doch nichtohne sie, und manche wieder ziehen auch die äußerenGlücksumstände mit hinein. Einige dieser Bestim-mungen stammen aus alten und weit verbreiteten An-sichten, andere wieder werden von wenigen, aber her-vorragenden Autoritäten vertreten. Da ist es dochwohl anzunehmen, daß niemand von ihnen in allenPunkten irrt, sondern daß sie wenigstens in einemPunkte oder auch in den meisten recht behalten wer-den.

Wenn man die Eudämonie als Trefflichkeit einesMenschen überhaupt oder doch als eine Seite dersel-ben bezeichnet, so ist unsere Begriffsbestimmungganz damit einverstanden; denn es gehört ja dazuauch die solcher Trefflichkeit entsprechende Betäti-gung. Allerdings macht es einen nicht unbedeutendenUnterschied, ob man das Höchste und Beste in denbloßen Besitz oder in die tätige Bewährung setzt, also

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in eine innere Fertigkeit oder in die äußere Ausübung.Denn wo bloß die Fertigkeit vorhanden ist, da ist esdoch immer möglich, daß sie nichts Gutes wirklichzustande bringt; so, wenn einer im Schlafe liegt odersonst auf andere Weise untätig bleibt. Das nun istvöllig ausgeschlossen, sobald man in den Begriff diewirkliche Betätigung gleich mit hineinzieht. Denn daergibt sich die Ausübung als notwendiges Zubehör,und zwar eine Ausübung im rechten Sinn. Wie man inOlympia nicht die schönsten und stärksten bekränzt,sondern diejenigen, die wirklich in den Wettkampfeintreten, / denn unter diesen befinden sich die, dieden Sieg erringen, / so werden auch in dem prakti-schen Leben diejenigen des Guten und Schönen teil-haftig, die im rechten Sinne tätig sind. Ihr Leben istdenn auch schon an sich ein Leben voll innerer Be-friedigung. Denn Freude ist ein seelischer Affekt, undjeder hat seine Freude an dem, wofür er Zuneigunghegt. Wer Pferde liebt, freut sich an Pferden, und werSchauspiele liebt, an Schauspielen. Auf dieselbeWeise hat der Freund der Gerechtigkeit seine Freudeam Gerechten, und überhaupt der Freund des Gutenund Rechten an dem, was guter und rechter Gesin-nung entspricht. Allerdings, was dem großen Haufenals vergnüglich gilt, das liegt miteinander im Streite,weil das nicht seiner Natur nach geeignet ist, Freudezu gewähren; denen dagegen, die das Edle lieben,

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macht dasjenige Freude, was seiner Natur nach erfreu-lich ist. Dahin nun gehört die Tätigkeit im Sinne desGuten und Rechten, und diese ist deshalb zugleich ansich erfreulich und den so Gesinnten erfreulich.Darum bedarf auch ihre Lebensführung keiner weite-ren Quelle des Lustgefühls wie eines äußerlichen An-hängsels; vielmehr trägt es seine Freude in sich. Vonunserem Satze gilt dann auch die Umkehrung. Wernicht an edler Betätigung seine Freude hat der ist auchkein edelgesinnter Mensch. Niemand wird denjenigengerecht nennen, der sich nicht am gerechten Handeln,noch hochgesinnt den, der sich nicht an hochsinnigenHandlungen freut. Und das gleiche gilt auch vonallem sonstigen. Ist dem aber so, dann gewähren auchdie von edler Gesinnung zeugenden Betätigungen anund für sich Befriedigung. Ebenso sind aber auch dieHandlungen, und zwar jede im höchsten Sinne, gutund edel dann, falls ein edelgesinnter Mensch über siedas richtige Urteil hat; das hat er aber, wie wir obenbemerkt haben. Es ist also die Eudämonie, wie dasBeste und Herrlichste, so auch zugleich das Lust-vollste; das läßt sich nicht so voneinander trennen,wie es in der bekannten Delischen Inschrift geschieht:

Wie das Gerechteste auch das Schönste, dasBeste Gesundheit,

So ist das Süßeste dies, wird einem das, was er

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liebt.

Denn in den edelsten Arten der Betätigung findetsich das alles beisammen, und diese, oder falls einevon ihnen die alleredelste ist, diese eine verstehen wirunter der Eudämonie.

Gleichwohl sieht man ein, daß sie, wie wir schonbemerkt haben, auch der äußeren Güter nicht wohlentbehren kann. Denn wo man nicht mit den nötigenMitteln ausgestattet ist, ist es unmöglich oder dochnicht leicht, edle Handlungen zu vollbringen. Es gibtso vielerlei, zu dessen Bewerkstelligung man derFreunde, des Reichtums und des politischen Einflus-ses gleichsam als Werkzeuges bedarf. Manche Gütersind überdies derart, daß beim Mangel derselben dasGlück doch nur ein getrübtes bleibt, wie edle Ab-kunft, wohlgeratene Kinder, stattliches Aussehen.Denn ein Mensch, der überaus häßlich von Gestalt,von niederer Herkunft oder im Leben vereinsamt undkinderlos wäre, besäße nicht das volle Glück; nochweniger allerdings würde es einer besitzen, wennseine Kinder mißraten, seine Freunde wertlos, oderwenn sie zwar brav, aber ihm durch den Tod entrissenwären. Also wie wir vorher gesagt haben, es scheintdoch, daß auch solche äußeren Glücksumstände mitdazu gehören. Darum stellen denn auch manche dasäußere Wohlergehen, wie andere die Trefflichkeit des

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Wesens mit der Eudämonie auf gleiche Linie.Daraus entspringt dann weiter die schwierige

Frage, ob sie etwas ist, was durch Lernen, durch Ge-wöhnung oder sonst irgendwie durch Übung erwor-ben werden kann, oder ob sie einem nach göttlichemRatschluß oder auch durch bloßen Zufall zuteil wird.Wenn es nun auch sonst irgend etwas gibt, was denMenschen als Gabe der Götter zufällt, so wird dieAnnahme nahe liegen, daß auch die Eudämonie einegöttliche Gabe sei, und zwar eine solche im höchstenSinne, je mehr sie unter allem was ein Mensch habenkann das Wertvollste ist. Indessen, diese Frage möch-te doch wohl ihren eigentlicheren Platz in einer ande-ren Untersuchung haben; soviel ist jedenfalls klar,daß die Eudämonie, auch wenn sie nicht von den Göt-tern gesandt sein sollte, sondern durch Tüchtigkeitund auf dem Wege des Lernens und Übens errungenwird, zu dem gehört, was am meisten göttlichen We-sens ist. Denn der Kampfpreis und der Endzweck sitt-licher Vollkommenheit erweist sich augenscheinlichals das Höchste, als etwas Göttliches und Seliges.Doch wird es zugleich einem jeden erreichbar seinmüssen, als etwas, was die Möglichkeit bietet, allendenen, die nicht zu rechter Seelenverfassung vonvornherein verdorben sind, auf dem Wege des Ler-nens und der Übung zuzufallen. Wenn es aber etwasSchöneres ist, zur Eudämonie auf diesem Wege statt

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durch bloßen Zufall zu gelangen, so ist auch anzuneh-men, daß es wohl auf jenem Wege geschehen wird. Istdoch das was aus den Händen der Natur hervorgehtdarauf angelegt, soweit als irgend möglich die höchsteVollkommenheit zu erreichen; und das gleiche istauch bei dem der Fall, was des Menschen Kunst, wiebei dem was jede andere Ursache und am meisten wasdie erhabenste der Ursachen hervorbringt. Gerade dasGrößte und Herrlichste aber dem Zufall zuzuschrei-ben würde über alles Maß gedankenlos sein.

Aber schon aus dem Begriff der Sache läßt sich dieAntwort auf unsere Frage entnehmen. Wir haben dieEudämonie als eine bestimmte Form geistiger Wirk-samkeit, der inneren Trefflichkeit entsprechend, be-zeichnet. Von den übrigen Gütern nun sind die einennotwendig damit verbunden, die anderen von Naturbestimmt, ihr nach Art von Werkzeugen förderlichund hilfreich zu sein. Dies stimmt nun auch vortreff-lich zu dem, was wir gleich im Eingang bemerkthaben. Wir haben dort das Ziel der Staatsgemein-schaft als das höchste hingestellt; diese aber betreibtdies als ihre bedeutsamste Aufgabe, die Staatsangehö-rigen mit gewissen Beschaffenheiten auszurüsten,also sie tüchtig und zu löblicher Lebensführung ge-eignet zu machen. Daß bei einem Rinde, einem Pferdeoder sonst einem Tier von Eudämonie nicht die Redesein kann, ist selbstverständlich; denn keines von

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ihnen bietet die Möglichkeit, zu solcher geistigenWirksamkeit angeleitet zu werden. Aus dem gleichenGrunde kommt Eudämonie auch einem Kinde nichtzu. Kinder sind ihrer Altersstufe wegen noch nicht zusolcher Betätigung befähigt, und wenn man sie glück-lich preist, so geschieht es in Hinsicht auf die Hoff-nung, die sie für die Zukunft gewähren. Denn wie ge-sagt, es gehört dazu vollendete Innerlichkeit und einvollendetes Leben. Im Leben aber begegnen uns zahl-reiche Veränderungen und Wechsel jeder Art, und werjetzt im schönsten Glückszustande blüht, kann mögli-cherweise im Alter von den furchtbarsten Schicksals-schlägen betroffen werden, wie sie in den Sagen vomtrojanischen Kriege vom König Priamus berichtetwerden. Wer aber solchen Glückswechsel erfahrenund ein jammervolles Ende gefunden hat, demschreibt niemand Eudämonie zu.

Soll man nun auch sonst keinen Menschen glück-lich preisen, solange er noch lebt? Muß man wirklichwie Solon meint erst das Ende abwarten? Gesetzt alsoauch, man müsse diesen Satz gelten lassen: wäre je-mand dann wirklich glücklich, wenn er gestorben ist?Oder ist dies nicht vielmehr eine völlig widersinnigeAnsicht, abgesehen von allem anderen schon aus demGrunde, weil wir die Eudämonie in einer Art vonWirksamkeit finden? Schreiben wir aber dem Gestor-benen keine Eudämonie zu, und ist es auch gar nicht

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das, was Solon hat sagen wollen, sondern vielmehrnur dies, daß man einen Menschen erst dann alseinen, der nunmehr aus dem Bereiche des Übels unddes Mißgeschickes entronnen ist, mit Sicherheitglücklich preisen kann, so gibt doch auch das wiederAnlaß zu einem Streit der Ansichten. Man möchtedoch eher meinen, daß es für den VerstorbenenSchlimmes und Gutes gibt, wenn es doch dergleichenauch für den Lebenden gibt, ohne daß dieser es ge-wahr wird, wie Ehre und Schande, wie der Kinder undüberhaupt der Nachkommen Wohlergehen und Miß-geschicke.

Indessen ein Bedenken findet sich auch dabei. Werbis zum hohen Alter ein glückliches Leben geführtund einen dem entsprechenden Tod gefunden hat, denkönnen doch immer noch in seinen Nachkommenviele wechselnde Geschicke betreffen; es können dieeinen brav sein und ein ihrem Verdienst entsprechen-des Lebenslos ziehen, während die anderen dazu dasGegenteil bilden. Offenbar ist auch die Möglichkeitgegeben, daß sie sich nach der Größe des Abstandesvon den Vorfahren mannigfach verschieden verhalten.Nun wäre es doch eine seltsame Vorstellung, daßauch der Verstorbene ihre wechselnden Geschicke mitihnen erlebte und danach bald glücklich, bald elendwürde, und ebenso seltsam die Vorstellung, daß dasGeschick der Nachkommen die Vorfahren gar nicht,

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auch nicht zeitweise, berühren sollte.Aber wir müssen zu unserer ursprünglichen Frage-

stellung zurückkehren; denn auf das, was wir jetzt zuermitteln suchen, kann sich die Antwort vielleicht mitjener zusammen ergeben. Muß man das Ende abwar-ten und darf man jeden erst dann glücklich preisen,nicht wie einen der jetzt glücklich ist, sondern der esdereinst war: wie will man dabei den Widersinn ver-meiden, wenn zu der Zeit wo einer wirklich glücklichist, die Aussage, daß er es sei, nicht wahr sein soll,weil man den Lebenden wegen der möglichen Glücks-wechsel nicht glücklich preisen darf, oder auch des-halb, weil man sich die Eudämonie als etwas vor-stellt, was dauert und in keiner Weise den Wechselzuläßt, die Schicksale aber bei einer und derselbenPerson immer wieder einen Kreislauf durchmachen?Denn das ist ausgemacht: wenn wir uns nach demWandel der Geschicke richten, so werden wir einenund denselben Menschen wiederholt glücklich undnachher wieder elend nennen, und damit aus demGlücklichen eine Art von Chamäleon oder ein Bildauf tönernen Füßen machen. Oder ist es nicht viel-mehr völlig unstatthaft, sein Urteil nach dem Wandelder Geschicke einzurichten? Liegt doch das Wohloder Wehe eines Menschen gar nicht in diesen: son-dern wenn auch das menschliche Leben ihrer zwar be-darf, wie wir ausgeführt haben, so bleibt doch das

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Entscheidende die Handlungsweise, für die Eudämo-nie die der edlen Gesinnung, und für das Gegenteildie der entgegengesetzten Gesinnung entsprechende.

Für unsere Auffassung nun zeugt auch das eben er-örterte Bedenken. Denn nichts in den menschlichenDingen besitzt eine solche Zuverlässigkeit wie dieÄußerungen des sittlichen Charakters; man darf siefür noch dauerhafter halten als selbst die Erkennt-nisse. Unter jenen selbst aber sind die am höchstenstehenden auch die dauerhafteren, weil das ganzeLeben des Glücklichen in ihnen am tiefsten und amanhaltendsten aufgeht. Das darf man denn auch alsden Grund ansehen, daß für sie niemals ein Vergesseneintreten kann. Ein glücklicher Mensch wird deshalbeben das besitzen, was wir für die Eudämonie in An-spruch nehmen; er wird, was er ist, sein ganzes Lebenhindurch bleiben. Denn er wird immer oder doch vorallem anderen im Handeln wie im Denken die sittlicheAnforderung vor Augen haben; die Geschicke aber,die ihn treffen, wird er auf das edelste tragen, in jedemSinne, an jedem Orte wohlbedacht, in rechter Wahr-heit ein wackerer Mann, fest gegründet und ohneMakel.

Wenn nun das Geschick vielerlei nach Größe oderGeringfügigkeit seiner Bedeutung sehr Verschiedenesmit sich bringt, so übt offenbar das Geringfügige, seies ein Glücksfall, sei es das Gegenteil, keine

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besondere Einwirkung auf sein Leben; dagegen wirddas nach Inhalt und Anzahl Beträchtliche, was ihmbegegnet, sofern es erfreulich ist, sein Lebensglücknoch vermehren. Denn es selbst hat von Natur die Be-stimmung, zum Schmucke des Lebens zu dienen, undes gestattet eine Verwertung zu edlen und wackerenHandlungen. Sofern aber etwas von umgekehrter Be-deutung begegnet, schwächt und trübt es wohl denGlückszustand, indem es Kummer bereitet und fürmancherlei Wirksamkeiten ein Hemmnis bildet;gleichwohl strahlt auch durch solche Bedrängnis nochder Adel der Seele hindurch, wo einer zahlreicheschwere Schicksalsschläge mit Gelassenheit trägt,nicht aus Unempfindlichkeit, sondern vermöge einesedlen und hochgestimmten Gemütes.

Ist aber, wie wir nachgewiesen haben, das für dasLeben Entscheidende die Äußerung in Handlungen,so kann kein Beglückter jemals elend werden; denn eskann ihm nie geschehen, daß er etwas täte, was häß-lich und seiner unwürdig wäre. Denn dem in Wahr-heit tüchtigen und besonnenen Manne trauen wir eszu, daß er jedes Geschick mit edler Haltung trägt undin jeder gegebenen Lage jedesmal das tut, was dasVerdienstlichste ist, geradeso wie ein tüchtiger Gene-ral das ihm anvertraute Heer zum Kriegszweck aufsangemessenste verwendet, oder wie ein Schuhmacheraus dem Leder das ihm zu Gebote steht, Schuhzeug

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von möglichster Vollendung bereitet, oder wie die an-deren Gewerbtätigen, die es jeder in seinem Facheebenso machen. Ist dem aber so, so kann der Glückli-che zwar niemals elend werden; aber allerdings kanner auch kein Beglückter bleiben, wenn ihn ein Ge-schick wie das des Priamus träfe. Ist er doch nicht un-stät noch von wandelbarem Sinne. Er wird nicht leichtaus dem Besitze der Eudämonie vertrieben werdenkönnen, auch nicht durch Unglücksfälle von beliebi-ger Art, die ihn treffen, sondern höchstens nur durcheine lange Reihe von sehr schweren Unglücksfällen.Und andererseits wird er nicht in kurzer Zeit aus sol-chem Unglück wieder zur Eudämonie gelangen, son-dern wenn überhaupt, dann erst nach langem und be-trächtlichem Zeitverlauf, wenn er während desselbenbedeutsamer und herrlicher Gaben teilhaftig gewordenist.

Was hindert also, denjenigen glücklich zu nennen,der in vollkommen edler Gesinnung tätig und mit äu-ßeren Gütern hinlänglich ausgestattet ist, und dasnicht während einer beliebigen Dauer, sondern ineinem ganzen vollen Leben? Oder muß man noch hin-zufügen, daß er in diesem Zustande auch künftig wei-terleben und ein dem entsprechendes Lebensende fin-den muß, weil uns doch das Zukünftige nicht durch-schaubar ist, und wir unter der Eudämonie den letztenGipfel und das in jeder Beziehung durchaus

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Vollkommene verstehen? Ist dem nun so, so werdenwir diejenigen unter den Lebenden als Beglückte be-zeichnen, die das oben Bezeichnete jetzt besitzen undkünftig besitzen werden, als Beglückte aber allerdingsso weit, wie Menschen beglückt sein können. / Damitmag die Erörterung dieses Gegenstandes abgeschlos-sen sein.

Daß aber das Geschick der Nachkommenschaft undbefreundeter Menschen im allgemeinen zur Eudämo-nie nicht das geringste beitragen sollte, das ist offen-bar eine überaus herzlose und der unter Menschenherrschenden Empfindungsweise zuwiderlaufende An-sicht. Die Geschicke, die die Menschen betreffen kön-nen, sind so zahlreich und zeigen so sehr alle mögli-chen Unterschiede; sie berühren zudem die Menschenso mannigfach, teils näher, teils weniger nahe, daß esumständlich und undurchführbar erscheint, jeden ein-zelnen Fall für sich besonders ins Auge zu fassen, undman es als ausreichend ansehen darf, einige allgemei-ne Betrachtungen darüber nur im Umriß mitzuteilen.Wenn, wie es für die eigenen unglücklichen Erlebnis-se gilt, die einen für den Lebensgang von Gewichtund Bedeutung sind, die anderen leichter genommenwerden können, und das gleiche auch für die Erlebnis-se aller uns nahestehenden Menschen gilt; wenn fer-ner der Unterschied, den es macht, ob ein Leid, es seiwelches es wolle, jemanden während seiner Lebzeiten

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oder nach seinem Tode trifft, viel größer ist als derUnterschied, den es in einer Tragödie ausmacht, obFreveltaten und furchtbare Geschicke der Handlungvorausliegen oder während derselben sich vollziehen:so muß man auch diesen Unterschied mit in Betrachtziehen, und vielleicht ist es in noch höherem Gradeerforderlich, die Frage in betreff der Abgeschiedenenzu untersuchen, ob sie denn überhaupt noch von ir-gend etwas Erfreulichem oder dem Gegenteil wirklichberührt werden. Wenigstens möchte man nach dem,was wir eben bemerkt haben, annehmen, daß, gesetztselbst es gelangte irgend etwas derartiges, es sei nunetwas Gutes oder das Gegenteil, bis an sie heran, esdoch entweder an sich oder mit Bezug auf sie immernur von schwacher und geringfügiger Wirkung blei-ben wird, und wenn das nicht, daß es doch keinenfallseine solche Größe und Beschaffenheit besitzen wird,um entweder diejenigen, die es nicht sind, glücklichmachen, oder denjenigen, die es sind, ihren Glückszu-stand entreißen zu können. Es ist also wohl anzuneh-men, daß das günstige Schicksal der ihnen naheste-henden Menschen ebensowohl wie das Mißgeschickderselben die Abgeschiedenen zwar irgendwie berüh-ren, aber sie doch nur in der Weise und mit der Be-deutung berühren wird, daß sie weder aus glücklichennicht-glückliche zu machen, noch sonst eine ähnlicheWirkung zu üben imstande sind.

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Nachdem wir diesen Gegenstand erledigt haben,wollen wir die Frage ins Auge fassen, ob die Eudämo-nie in die Reihe der bloß schätzbaren Dinge oder viel-mehr in die der Dinge von unbedingtem Werte zustellen ist. Zunächst, das eine ist klar, daß sie keinZustand bloßen Vermögens ist; zugleich aber leuchtetein, daß alles bloß Schätzbare deshalb geschätzt wird,weil es gewisse Eigenschaften hat und zu anderem ingewissen Beziehungen steht. So schätzt man den Ge-rechten, den Mutigen, überhaupt den Tüchtigen unddie entsprechende Beschaffenheit wegen der vonihnen ausgehenden Wirkungsweisen und Leistungen;wir schätzen den Starken, den Behenden und so auchjeden sonst deshalb, weil er eine gewisse Eigenschaftvon Natur besitzt und dadurch zu guten und wertvol-len Leistungen irgendwie geeignet ist. Man ersiehtdas schon aus den Lobpreisungen, die den Götterndargebracht werden. Hier erscheint es lächerlich,wenn man sie auf unser Niveau herunterziehen wollte;und das kommt daher, weil Lobpreisungen, wie wirgezeigt haben, ihre Begründung in der Wirksamkeitfür etwas anderes finden. Begründet sich aber dieLobpreisung auf solche Leistung, so ist offenbar, daßdas was dem Herrlichsten gebührt, nicht eine Lobes-erhebung von dieser Art, sondern etwas Größeres undErhabeneres ist, und das wird ihm denn auch wirklicherwiesen. Denn die Götter preisen wir selig und

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glücklich, und unter den Menschen ebenso diejenigen,die am meisten gottähnlich sind. Das gleiche gilt inBezug auf die Güter. Die Seligkeit schätzt man nichtwie etwa das Gerechte, sondern man preist sie alsetwas Gottähnlicheres und Erhabeneres.

In diesem Sinne ist auch Eudoxos, wie man wohlsagen darf, als geschickter Anwalt für die Lustemp-findung als des höchsten Preises wert eingetreten.Denn daß sie so wenig mit Lobeserhebungen bedachtwird, während sie doch zu den Gütern gehört, das,meinte er, zeige gerade an, daß sie etwas besseres seials das, was sich Lob gewinnt. Von solcher Art nunsei Gott und das Gute, und nach diesem werde auchalles andere beurteilt. Denn Lobpreisung kommthohen Vorzügen zu; durch diese wird man in denStand gesetzt, edle Handlungen zu vollbringen; dieLobeserhebungen aber gelten den Leistungen, ebenso-wohl denen des Leibes wie denen der Seele.

Indessen, darüber in genauere Einzelheiten einzu-gehen, ist wohl mehr die Sache derjenigen, die sichfachmäßig mit der Ausarbeitung von Lobreden abge-ben. Uns wird aus dem Ausgeführten klar gewordensein, daß die Eudämonie zu den Dingen gehört, dieunbedingten und uneingeschränkten Wert haben. Daßsie dazu gehört, wird schon dadurch wahrscheinlich,daß sie Prinzip des Handelns ist; denn sie ist es, diejedermann in allem seinem Handeln als Ziel im Auge

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hat. Was aber Prinzip und Grund der Güter ist, dasgilt uns als etwas unbedingt Wertvolles und Göttli-ches.

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I. TeilDie sittliche Anforderung

1. Kennzeichen der sittlichen Beschaffenheitund ihrer Betätigung

1. Die Trefflichkeit eines Menschen

Die Eudämonie ist die innerer Trefflichkeit entspre-chende geistige Wirksamkeit. Wir haben also zu-nächst diese innere Trefflichkeit zu betrachten; da-durch werden wir dann auch wohl das Wesen der Eu-dämonie besser verstehen lernen. Auch der Staats-mann, der es im wahren Sinne ist, hat sich von je umsie vielleicht mehr als um alles andere bekümmert;denn seine Absicht ist gerade die, in den Staatsange-hörigen Tüchtigkeit und Gehorsam gegen die Gesetzegroß zu ziehen. Ein Muster dafür haben wir an denGesetzgebern der Kreter und Lakedämonier und andenen, die etwa sonst das gleiche Ziel verfolgt haben.Wenn aber dieser Gesichtspunkt dem Gebiete derWissenschaft vom Staate angehört, so entspricht of-fenbar die Erörterung, zu der wir nun übergehen, dem,was wir von Anfang an als unser Vorhaben bezeich-net haben.

Es ist klar, daß was wir zu betrachten haben, die

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innere Trefflichkeit als die eines Menschen ist; habenwir doch auch das Gute als das für den MenschenGute und die Eudämonie als die dem Menschen zu-kommende zu ermitteln gesucht. Unter der Trefflich-keit eines Menschen aber verstehen wir nicht eine Be-schaffenheit des Leibes, sondern des Geistes, und sofassen wir auch die Eudämonie als eine geistige Betä-tigung. Ist dem aber so, so muß der Staatsmann offen-bar bis zu einem gewissen Grade eine Kenntnis vonder Natur des Geistes besitzen, gerade wie der Arzt,der die Augen kurieren will, auch den ganzen Leibkennen muß; ja, das Bedürfnis solchen Wissens istbei jenem in demselben Verhältnis noch dringlicher,als die Staatskunst an innerem Wert und Bedeutungdie Heilkunst überragt. Wissenschaftlich gebildeteÄrzte geben sich in der Tat um die Kenntnis des Lei-bes die erdenklichste Mühe. So muß denn auch derStaatsmann das Wesen des Geistes erwägen, undzwar muß er solche Erwägung anstellen um der ihmgestellten Aufgabe willen und soweit als es für daswas er anstrebt, hinreichend ist. Denn in die Einzel-heiten noch genauer einzugehen, würde doch wohlgrößere Mühe in Anspruch nehmen als die Aufgabeerfordert. Darüber findet man auch in der geläufigenLiteratur mancherlei ausreichend behandelt, und manwird gut tun, davon Gebrauch zu machen. Da heißt esunter anderm, daß in der Seele der eine Teil ohne

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Denkvermögen, der andere mit Denkvermögen ausge-stattet ist. Die Frage aber, ob diese beiden von einan-der getrennt sind wie die leiblichen Organe und allessonstige was nach Teilen gesondert ist, oder ob es nurder Auffassung nach zweierlei, seiner Natur nach aberebenso untrennbar beisammen ist wie am Kreisbogendas Konvexe und das Konkave, das braucht uns beiunserem jetzigen Vorhaben nicht weiter zu beschäfti-gen.

Der nicht mit Denkvermögen ausgestattete Seelen-teil gleicht teils dem, was uns mit den Pflanzen ge-mein ist / dahin gehört das, was der Ernährung unddem Wachstum zugrunde liegt; denn ein solches seeli-sches Vermögen muß man doch wohl allen Wesen zu-schreiben, die Nahrung aufnehmen, auch dem Em-bryo, und ganz ebenso den ausgewachsenen Geschöp-fen; jedenfalls hat solche Annahme mehr für sich, alsdaß es ein anderes sein sollte. Die angemessene Be-schaffenheit dieses Seelenteils ist, wie sich daraus er-gibt, dem Menschen mit anderen Wesen gemeinsamund nicht spezifisch menschlich. Dieser Seelenteilund dieses Vermögen übt augenscheinlich seineWirksamkeit am meisten im Zustande des Schlafes;wer aber gut oder schlecht ist, das zeigt sich im Schlafam wenigsten. Daher der Ausspruch, daß der Be-glückte vom Elenden sich während der einen Hälftedes Lebens gar nicht unterscheidet; ein ganz

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natürliches Ergebnis. Denn der Schlaf ist ein Zustandder Untätigkeit der Seele gerade in der Beziehung,wonach sie tüchtig oder untüchtig genannt wird, aller-dings mit der Einschränkung, daß in geringen Spurenimmerhin manche Regungen bis an die Seele gelan-gen, so daß infolgedessen auch die Traumvorstellun-gen edelgesinnter Menschen lauterer sind als die be-liebiger Persönlichkeiten. Doch genug davon. Von dervegetativen Seite dürfen wir absehen, da sie ihrerNatur nach an dem, was an der wertvollen Beschaf-fenheit das spezifisch Menschliche ausmacht, nichtbeteiligt ist.

Nun gibt es aber noch eine andere Seite der Seele,die den Eindruck macht ohne Denkvermögen zu sein,während sie zu demselben doch irgendwie in Bezie-hung steht. An einem enthaltsamen und einem unent-haltsamen Menschen ist es das Denkvermögen undder damit begabte Seelenteil, was wir schätzen: denndieser liefert den Antrieb im rechten Sinne und in derRichtung auf das Edelste. Dann aber ist offenbar beijenen beiden in ihrer Natur außerdem Denkvermögennoch etwas anderes wirksam, was diesem Vermögenwiderstreitet und sich ihm entgegenstellt. Denn wiegelähmte leibliche Glieder, wenn die Absicht ist, sienach rechts zu bewegen, sich ungeschickterweise ge-rade entgegengesetzt nach links wenden, so geht esauch in der Seele zu: die Antriebe gehen bei den

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Unenthaltsamen in die dem Gedanken entgegenge-setzte Richtung. Nur nehmen wir beim Leibe die Ab-lenkung äußerlich wahr, bei der Seele nicht. So wirddenn auch wohl in der Seele nicht minder als dortaußer dem Denkvermögen noch etwas anderes anzu-nehmen sein, was sich ihm entgegenstellt und ihm wi-derstrebt. In welchem Sinne dies Element ein anderesist, das geht uns hier nichts an. Doch steht offenbarauch dieses, wie oben bemerkt, zum Denkvermögenirgendwie in Beziehung. Beim Enthaltsamen wenig-stens gehorcht es der Herrschaft der Vernunft, undvielleicht ist es bei einem besonnenen und einem wil-lensstarken Menschen derselben noch willfähriger.Denn hier steht es mit dem Denkvermögen in vollemEinklang.

Offenbar ist nun auch dieses Nicht-denkende in derSeele ein gedoppeltes. Denn das vegetative Elementhat mit dem Denkvermögen keinerlei Gemeinschaft;dagegen steht das Begehrungs- und überhaupt dasWillensvermögen zu demselben insofern in Bezie-hung, als es ihm unterwürfig und gehorsam zu seinvermag. So sagen wir ja auch, daß man zu seinemVater und zu befreundeten Personen ein gedanken-mäßiges »rationelles« Verhältnis innehält, das Wortnatürlich nicht in dem Sinne genommen, wie es in derMathematik gebraucht wird. Daß der nicht-denkendeSeelenteil irgendwie von dem Denkvermögen sich

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überreden läßt, das zeigt schon der Gebrauch, denman von der Ermahnung wie von allen Arten des Ta-dels und der Anfeuerung macht. Gilt aber die Aussa-ge, daß auch dieser Seelenteil ein Denkvermögen hat,dann ergibt sich, daß auch der denkende Seelenteil eingedoppelter ist, denkend teils eigentlich und an undfür sich, teils in dem Sinne wie ein Vermögen seinemVater zu gehorchen ein denkendes Vermögen ist.

Darin liegt nun auch der Einteilungsgrund für dieBeschaffenheiten eines Menschen, die seine Trefflich-keit ausmachen. Wir weisen sie teils dem Intellekt,teils dem Willen zu, jene als dianoëtische, diese alsethische: Wissenschaft, Verstand und Einsicht alsdianoëtische, Edelmut und Besonnenheit als ethischeBeschaffenheiten. Sprechen wir vom ethischen Cha-rakter, so sagen wir nicht, daß jemand wissenschaft-lich gebildet oder verständig, sondern etwa, daß ersanftmütig oder besonnen ist. Aber unsere Hochach-tung gewähren wir auch dem wissenschaftlich Gebil-deten auf Grund dieser seiner geistigen Verfassung;diejenigen Arten geistiger Verfassung aber, die derHochachtung würdig sind, bezeichnen wir als Treff-lichkeiten und Vorzüge.

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2. Gewöhnung und Erziehung

Von den beiden Arten der inneren Trefflichkeit desMenschen, der intellektuellen und der ethischen, ver-dankt jene, die intellektuelle, Ursprung und Wachs-tum am meisten der Belehrung; sie bedarf deshalb derErfahrung und der Zeit. Die rechte ethische Beschaf-fenheit dagegen wird durch Gewöhnung erlangt undhat davon auch ihren Namen (Ethos mit langem e) er-halten, der sich von dem Ausdruck für Gewöhnung(Ethos mit kurzem e) nur ganz leise unterscheidet.

Es ergibt sich daraus auch dies, daß keine der ethi-schen Eigenschaften uns durch die Naturanlage zuteilwird. Denn kein Naturwesen wird durch Gewöhnungumgebildet. Ein Stein hat von Natur die Richtungnach unten; keine Gewöhnung könnte je bewirken,daß er ein Streben nach oben annähme, und wenn ihnauch einer mit der Absicht ihn umzugewöhnen unzäh-ligemal in die Höhe würfe. Ebensowenig läßt sich dasFeuer zur Richtung nach unten umgewöhnen, und dasgleiche gilt von allem übrigen; von den Erzeugnissender Natur läßt sich kein einziges umgewöhnen. Alsowerden uns die sittlichen Beschaffenheiten ebensowe-nig durch die Natur wie wider die Natur zuteil; wirhaben von Natur nur die Fähigkeit sie zu gewinnen,und durch Gewöhnung kommen sie in uns zur

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Entwicklung.Alles was in uns als natürliche Mitgabe ist, besit-

zen wir zuerst als bloße Anlage und bringen es erstnachher zur Verwirklichung. Man sieht das schon ander sinnlichen Wahrnehmung. Das Vermögen derWahrnehmung haben wir nicht etwa durch häufigesSehen oder Hören erworben, sondern umgekehrt: weilwir das Wahrnehmungsvermögen schon hatten, habenwir von ihm Gebrauch gemacht; wir haben es nichterst durch den Gebrauch erlangt. Unsere inneren Ei-genschaften dagegen gewinnen wir auf Grund vorher-gehender Tätigkeiten. Es ist damit, wie mit den übri-gen technischen Fertigkeiten auch. Was wir erst ler-nen müssen, um es auszuüben, das erlernen wir,indem wir es ausüben. So wird man ein Baumeisterdadurch daß man baut und ein Zitherspieler dadurchdaß man die Zither spielt. So nun wird man auch ge-recht dadurch daß man gerecht handelt, besonnen da-durch daß man besonnen handelt, und tapfer dadurchdaß man sich tapfer benimmt.

Dafür zeugt denn auch die Erscheinung, wie sie unsim Staatsleben begegnet. Der Gesetzgeber macht dieStaatsangehörigen tüchtig durch Gewöhnung; das istdie eigentliche Absicht jedes Gesetzgebers, und werdas nicht in rechtem Sinne vollbringt, der handelt feh-lerhaft. Und so liegt denn gerade hier der Punkt, wosich eine wohleingerichtete Staatsverfassung von

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einer schlecht eingerichteten unterscheidet.Zweitens, jede Art von preisenswerter Beschaffen-

heit, geradeso wie jede technische Fertigkeit, geht ausdenselben Gründen und vermittels derselben Gründe,durch die sie erworben wird, auch wieder verloren.Durch die Tätigkeit des Zitherspielens wird manebenso zum guten wie zum schlechten Zitherspieler;und dieselbe Erscheinung kehrt ebenso beim Baumei-ster und bei allen übrigen wieder. Man wird ein ge-schickter Baumeister durch kunstgerechtes und einschlechter durch kunstwidriges Bauen. Wäre demnicht so, so bedürfte es nicht des Lehrers, sondern eswürden alle gleich von vornherein als tüchtig oder un-tüchtig geboren. Gerade so nun verhält es sich auchmit den sittlichen Vortrefflichkeiten. Je nachdem siein dem geschäftlichen Verkehr mit den Menschen sichbewegen, werden die einen gerecht, die anderen unge-recht, und je nachdem sie sich in gefährlichen Lagenbenehmen und an furchtsames oder kühnes Vorgehensich gewöhnen, werden die einen entschlossen, die an-deren zaghaft. Ganz so verhält es sich nun auch inBezug auf Begierden und Affekte. Die einen werdenbesonnen und sanftmütig, die anderen zügellos undjähzornig, jene dadurch daß sie in dieser, diese da-durch daß sie in jener Weise ihren Wandel einrichten.Mit einemWorte also: die befestigten Beschaffenhei-ten kommen zustande durch die entsprechenden

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Handlungsweisen. Darum gilt es unseren Handlungs-weisen eine bestimmte Richtung zu erteilen; dennihren unterschiedenen Formen entsprechend bildensich die befestigten Beschaffenheiten. Es macht alsokeineswegs einen geringen Unterschied, ob wir vonJugend auf in der einen oder in der anderen Richtunggewöhnt werden; vielmehr darauf kommt sehr viel, jaalles an.

Da nun die Untersuchung, die uns hier beschäftigt,nicht wie die anderen sonst zu rein theoretischemZweck angestellt wird / denn nicht um bloß zu wis-sen, was sittliche Trefflichkeit ist, behandeln wir denGegenstand, sondern in der Absicht dadurch zurTüchtigkeit zu gelangen, da wir uns sonst durch sienicht gefördert fühlen würden /, so ist es geboten dieFrage nach der Art und Weise des Handelns ins Augezu fassen und zu sehen wie man diese einzurichtenhat. Denn wie wir dargelegt haben, übt sie eine ent-scheidende Wirkung auch darauf, welcher Art die be-festigten Beschaffenheiten werden, die wir uns aneig-nen.

Daß die Handlungsweise im Sinne des richtigenDenkens einzurichten ist, das ist die allgemeine An-sicht, und das sei auch hier vorläufig zugrunde gelegt.Später soll dann die Rede davon sein, was unter rich-tigem Denken zu verstehen ist und wie es sich zu denübrigen Seiten der sittlichen Charakterbildung

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verhält. Hier sei nur soviel zum voraus bemerkt, daßüberhaupt für jede Darlegung, die die Frage des han-delnden Lebens betrifft, nur eine Behandlung imUmriß und nicht in begrifflicher Strenge gefordertwerden darf. Wir haben sogleich im Eingang bemerkt,daß man die Anforderung an die Behandlung jedes-mal nach der Eigentümlichkeit des Gegenstandes be-messen muß. Die Erscheinungen des praktischen Le-bens und die Frage nach dem Nützlichen lassen eben-sowenig eine ein für allemal gültige Bestimmung zu,wie die Frage nach dem was gesund ist. Gilt dies vonder Behandlung der allgemeinen Fragen, so schließtdie Behandlung der Einzelfälle in noch entschiedene-rer Weise begriffliche Genauigkeit aus. Sie fällt wederunter den Begriff der Kunstlehre noch unter den einerherkömmlichen Überlieferung; der Handelnde selbervielmehr muß jedesmal das der augenblicklichen LageEntsprechende herausfinden, geradeso wie es auch beider Tätigkeit des Arztes und des Steuermanns der Fallist. Aber gleichwohl, wenn dies auch den Charakterder Untersuchung, die uns hier beschäftigt, bezeich-net, so müssen wir doch zusehen, wie wir uns dabeizu behelfen haben.

Das erste nun, was es gilt sich klar zu machen, istdies, daß es die Natur der diesem Gebiete angehöri-gen Erscheinungen bezeichnet, an dem Zuwenig undan dem Zuviel die Art und Weise ihrer Verletzung zu

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haben. Wie es immer zweckdienlich ist, zur Erklärungder nicht sinnlichen Erscheinungen sinnliche Gleich-nisse heranzuziehen, so dürfen wir uns hier auf dasje-nige berufen, was man in Bezug auf Körperkraft undGesundheit beobachtet. Übungen, die übermäßig an-strengend, ebenso wie die, die es zu wenig sind, schä-digen die Stärke, und ebenso zerstören Speise undTrank, wenn man sie im Übermaß oder in zu gerin-gem Maße zu sich nimmt, die Gesundheit, währenddas richtig Bemessene dagegen sie erzeugt, sie fördertund bewahrt. Gerade so nun verhält es sich auch beider Besonnenheit, der Tapferkeit und den übrigenVorzügen. Wer alles meldet und scheut und nirgendsstandhält, wird feige: wer sich schlechterdings vornichts fürchtet, sondern auf alles geradeaus losgeht,der wird tollkühn. Ebenso wird, wer sich jeden Genußgestattet und sich keinen versagt, ausgelassen, undwer jeden meidet wie die, die an nicht sein Interessehaben, wird für jeden Eindruck abgestumpft. Alsowird Besonnenheit und Tapferkeit durch das Zuvielund das Zuwenig geschädigt, dagegen durch das rech-te Mittelmaß gefördert. Doch nicht bloß Entstehung,Wachstum und Untergang ergeben sich aus denselbenQuellen und denselben Ursachen, sondern auch fürdie Betätigungen gelten dieselben Bedingungen. Auchbei den anderen mehr vor Augen liegenden Erschei-nungen läßt sich das gleiche Verhältnis beobachten,

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so bei der Körperstärke. Diese wird dadurch erwor-ben, daß man reichlich Nahrung zu sich nimmt undsich große Anstrengungen auferlegt; andererseits istder Starke wiederum am ehesten imstande dergleichenzu leisten. Geradeso nun verhält es sich auch bei densittlichen Vorzügen. Man gewinnt Macht über sich,indem man sich sinnliche Genüsse versagt, und wennman Macht über sich gewonnen hat, so ist man amehesten befähigt, solche Enthaltsamkeit zu üben. Dasgleiche zeigt sich bei der Mannhaftigkeit. Indem mansich daran gewöhnt, die Gefahr zu verachten und siezu bestehen, erlangt man Mannhaftigkeit, und hatman sie erlangt, so wird man Gefahren zu bestehenam ehesten imstande sein.

Als Kennzeichen der befestigten Gemütsbeschaf-fenheit muß man die Gefühle der Lust und Unlust be-trachten, die sich an die Handlungen knüpfen. Wersich sinnliche Genüsse versagt und eben an diesemVersagen seine Freude hat, der ist Herr über seine Be-gierden; wem es dagegen sauer wird, der ist noch einKnecht derselben. Wer sich in schlimmen Lagen be-währt und sie mit Freudigkeit oder doch ohne Unwil-len auf sich nimmt, der ist mutig; wer es dagegen mitWiderstreben tut, der ist mutlos. Denn um die Gefüh-le von Lust und Unlust dreht sich die sittliche Be-schaffenheit. Um sinnlicher Befriedigung willen tutman was niedrig ist, und um der Unannehmlichkeit

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willen unterläßt man, was edel ist. Deshalb muß man,wie Plato sagt, eigentlich von Kindesbeinen an dazuangeleitet werden, Freude und Leid über das zu emp-finden, worüber man beides vernünftigerweise emp-finden soll, und eben darin besteht die richtige Erzie-hung. Ferner, wenn die sittliche Beschaffenheit sichum Handlungs- und um Empfindungsweisen dreht, anjede Empfindungs- und Handlungsweise aber sichLust und Unlust anschließt, so würde schon aus die-sem Grunde die sittliche Beschaffenheit sich mit denGefühlen von Lust und Unlust nahe berühren. Daszeigen auch die Zuchtmittel an, die mit Rücksicht aufsie zur Anwendung kommen. Sie sind eine Art vonHeilverfahren; ein Heilverfahren aber hat von Naturdie Art, auf das Übel vermittels dessen zu wirken,was zu ihm im Gegensätze steht. Und sodann, wie wirschon oben bemerkt haben, jede dauernde geistige Be-schaffenheit empfängt ihre Bestimmtheit von ebendem und bezieht sich auf eben das, wodurch sich zumBesseren oder zum Schlimmeren zu entwickeln inihrer Natur liegt. Motive der Lust und Unlust sind es,welche die Menschen herunterbringen, dadurch daßdie Menschen solchen nachjagen und solche meiden,denen sie vernünftigerweise nicht nachjagen oder diesie nicht meiden sollten, oder daß sie es tun zu derZeit wo, und in der Weise wie es nicht geschehensollte, oder wider das was sonst die gesunde Vernunft

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an Vorschriften in dieser Beziehung erteilt. Aus die-sem Grunde bestimmt man dann auch wohl die sittli-chen Beschaffenheiten als Freiheit von gewissen Erre-gungen und als Seelenruhe, freilich insofern nicht mitRecht, als man das unbedingt hinstellt und nicht auchhinzufügt, wie und wann es geboten oder nicht gebo-ten ist und was sonst an näheren Bestimmungen dahingehört.

Die Grundlage also bildet für uns der Satz, daß diewertvolle Beschaffenheit im ethischen Sinne diejenigeist, die gegenüber der Lust und Unlust das richtigsteVerhalten tätig innezuhalten vermag, während dieverwerfliche Beschaffenheit sich entgegengesetzt ver-hält. Zu demselben Ergebnis vermag uns auch die fol-gende Betrachtung zu führen. Wie es drei Gründe gibtfür das Streben nach den Dingen, und drei für dasMeiden derselben: das Wertvolle, das Nützliche unddas Angenehme, und deren Gegensätze: das Niedrige,das Schädliche und das Unangenehme, so ist derwohlgesinnte Mann derjenige, der sich in Beziehungauf alles dies richtig benimmt, und der schlechtge-sinnte derjenige, der sich dazu unrichtig verhält. Ammeisten gilt das vom Verhalten der sinnlichen Lustgegenüber. Denn diese ist allen lebenden Wesen ge-meinsam und knüpft sich an alles, was Gegenstandeiner Wahl ist. Denn Lust bereitet augenscheinlichauch das sittlich Wertvolle und das Nützliche.

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Außerdem ist sie mit uns allen von Kindesbeinen anaufs innigste verwachsen. Darum ist es auch soschwer, diese im Verlauf des Lebens so tief einge-drungene Färbung wieder wegzuwischen. Und in derTat, wir regeln unsere Handlungsweise, die einenmehr, die anderen weniger, nach dem Motiv von Lustund Unlust. Daraus erhellt die Notwendigkeit, unsereganze Untersuchung sich um diesen Punkt drehen zulassen. Denn für das tätige Leben ist es keineswegsvon geringer Bedeutung, ob man Lust oder Unlust imrechten oder im falschen Sinne empfindet. Zudem, esist, wie schon Heraklit sagt, eine schwierigere Aufga-be, gegen das Streben nach Lust, als gegen den Zornanzukämpfen: alle Kunstfertigkeit aber und alle Tüch-tigkeit zeigt sich jedesmal der größeren Schwierigkeitgegenüber, und hier ist das richtige Benehmen auchverdienstlicher. Daher beschäftigt sich schon aus die-sem Grunde die ganze Untersuchung sowohl was denWert des einzelnen wie was das staatliche Leben be-trifft mit der Frage von Lust und Unlust. Denn, wersich diesen gegenüber in rechter Weise verhält, der istein tüchtiger, und wer sich verkehrt dazu stellt, der istein verkehrter Mensch.

Damit mag soviel ausgemacht sein, erstens, daßsittliche Tüchtigkeit es mit Lust und Unlust zu tunhat, zweitens, daß sie durch eben die Übung, durchdie man sie erlangt, auch zunimmt und wieder

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verloren geht, wenn man nicht stetig in gleicherWeise dabei bleibt, und drittens, daß sie sich auf ebendem Gebiete wirksam bewährt, auf dem sie ihren Ur-sprung genommen hat.

Nun kann es wohl Bedenken erregen, in welchemSinne wir behaupten, man müsse gerecht werden da-durch, daß man gerecht, und besonnen dadurch, daßman besonnen handelt. Gehört doch dazu, daß einergerechte und besonnene Handlungen vollzieht, daß erschon gerecht und besonnen sei, gerade wie derjenige,der in korrekter Weise spricht oder musiziert, schonim Besitze der Sprachrichtigkeit und der Tonkunstsich befindet. Indessen, ist das vielleicht auch in dentechnischen Fertigkeiten nicht der Fall? Ist es dochganz wohl möglich, daß einer sich im Reden undSchreiben korrekt benimmt, durch bloßen Zufall oderunter fremder Anleitung; er wird also ein sprachkun-diger Mann erst dann sein, wenn er zugleich sprach-lich korrekt und wie ein sprachkundiger Mann ver-fährt, und dies letztere bedeutet, daß es vermöge derin ihm lebenden Sprachkunde geschieht.

Aber die Analogie zwischen den technischen Ver-mögen und den sittlichen Beschaffenheiten läßt sichauch sonst nicht durchführen. Denn wo es sich umtechnische Fertigkeiten handelt, da hat das zustandegekommene Werk seine Angemessenheit in sich, undes genügt also, daß es so zustande kommt, daß es

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diese Eigenschaft irgendwie an sich trägt. Dagegenwo es sich um sittliche Betätigung handelt, da wirddas Vollbrachte nicht schon dann etwa im Sinne derGerechtigkeit oder der Besonnenheit vollbracht, wennes diese Eigenschaften irgendwie an sich trägt, son-dern es gehört dazu auch dies, daß der Handelnde aufGrund einer gewissen Form seiner Innerlichkeittätig werde, und zwar zunächst, daß er mit Wissen,sodann daß er mit Vorsatz und zwar aus sachlichemGrunde, endlich drittens, daß er auch auf Grund einerzuverlässigen und unerschütterlichen Gesinnungseine Handlung vollziehe. Von alledem wird bei denanderen, den technischen Fertigkeiten nichts mit inRechnung gestellt, ausgenommen das Wissen selber.Für die sittlichen Betätigungsweisen dagegen bedeu-tet das bloße Wissen wenig oder nichts, während diebeiden übrigen Bedingungen hier nicht ein geringes,sondern geradezu alles bedeuten, und diese gelangenin unsere Gewalt eben durch das häufige Vollbringengerechter und besonnener Handlungen. Handlungenwerden also als gerecht und besonnen bezeichnet,wenn sie so vollbracht werden, wie ein gerechteroder besonnener Mann sie vollbringen würde. Undgerecht und besonnen ist nicht schon, wer solcheHandlungen vollbringt, sondern erst, wer sie sovollbringt, wie Männer von gerechtem und besonne-nem Charakter sie vollbringen. Und so sagt man

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denn mit Recht, daß man gerecht wird durch Voll-bringen gerechter und besonnen durch Vollbringenbesonnener Handlungen. Dagegen auf Grund dessen,daß man solche Handlungen nicht vollbringt, würdekein Mensch auch nur eine Aussicht haben, ein guterMensch zu werden. Allein die Menschen im allgemei-nen ziehen es vor, sich lieber nicht in solchen Hand-lungen zu üben; indem sie zu moralisierender Erörte-rung flüchten, meinen sie zu philosophieren und aufdiesem Wege zur Charaktertüchtigkeit zu gelangen.Sie machen es wie die Patienten, die zwar genau auf-passen, was der Arzt sagt, aber nichts von dem befol-gen, was er verordnet. Geradeso wenig nun wie solchePatienten durch diese Art sich kurieren zu lassen zuleiblichem Wohlbefinden gelangen, erreichen jenedurch diese Weise zu philosophieren eine angemesse-ne geistige Verfassung.

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3. Verstandesbildung und Fertigkeit

Die Frage ist nunmehr: was ist denn sittliche Wil-lensbeschaffenheit? Da, was uns an Begehrungsvor-gängen in der Seele begegnet, von dreierlei Art ist:vorübergehende Affekte, Neigungen und befestigteEigenschaften, so wird die sittliche Beschaffenheitwohl zu einer dieser Klassen gehören müssen. UnterAffekten verstehe ich Begehren, Zorn, Furcht, Mut,Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mit-leid, überhaupt solches, was von Gefühlen der Lustoder Unlust begleitet ist; unter Neigungen das wo-durch wir für solche Affekte empfänglich, also z.B.geneigt heißen, in Zorn, Unlust, Mitleid zu geraten;unter befestigten Willensrichtungen endlich die Ei-genschaft, vermöge deren wir uns den Affekten gegen-über richtig oder falsch verhalten; z.B. der Erregungzum Zorn gegenüber ist das Verhalten falsch, wenn esübergroße Heftigkeit oder Schlaffheit zeigt, und recht,wenn es die Mitte innehält, und ebenso den anderenAffekten gegenüber. Nun darf man weder die löbli-chen noch die verwerflichen Beschaffenheiten zu denAffekten zählen; denn nicht auf Grund seiner Affektenennt man einen tüchtig oder untüchtig, wohl aber aufGrund seiner sittlichen und seiner unsittlichen Hal-tung, und Lob oder Tadel wird uns nicht auf Grund

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unserer Affekte zuteil. Man lobt nicht einen der sichfürchtet, und nicht einen der zornig ist, und man tadeltauch nicht ohne weiteres einen der zornig ist, sondernnur den, der es in gewisser Weise ist. Dagegen lobtoder tadelt man uns auf Grund unserer sittlichen undunsittlichen Haltung. Ferner, in Zorn und Furcht gera-ten wir unvorsätzlich; sittliche Beschaffenheiten abertragen den Charakter der Vorsätzlichkeit oder sinddoch nicht ohne dieselbe. Außerdem, in bezug auf dieAffekte spricht man von Erregung; dagegen wo essich um sittliche oder unsittliche Beschaffenheitenhandelt, da spricht man nicht von Erregung, sondernvon dauernder Gesinnung. Eben deswegen sind sieaber auch keine bloßen Neigungen. Denn man nenntuns brav oder schlecht, man lobt oder tadelt uns nichtohne weiteres, weil wir für gewisse Affekte empfäng-lich sind. Und endlich, die Neigung haben wir durchNaturanlage, aber gut oder schlecht sind wir nicht vonNatur. Darüber haben wir schon oben gehandelt. Sindnun die sittlichen Beschaffenheiten weder Affektenoch Neigungen, so bleibt nur übrig, daß sie befestig-te Willensrichtungen sind.

Damit wäre denn bezeichnet, was die sittliche Wil-lensbeschaffenheit ihrer Gattung nach ist. Es gilt abernicht bloß zu sagen, daß sie eine befestigte Willens-richtung ist, sondern auch was für eine sie ist. Da istnun zu sagen, daß jegliche wertvolle Beschaffenheit

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das Wesen selbst dessen Beschaffenheit sie ist als inrechter Verfassung befindlich darstellt und auch seineBetätigung als die rechte bezeichnet. So besteht dieTüchtigkeit des Auges darin, das Auge selbst wertvollzu machen und ebenso seine Leistung; denn wenn wirgut sehen, so geschieht es durch die Tüchtigkeit desAuges. Ebenso macht die Tüchtigkeit des Pferdes dasPferd zu einem brauchbaren, so daß es wacker läuft,den Reiter trägt und den Feinden standhält. Verhältsich das nun so bei allen Dingen, so wird insbesonde-re die Tüchtigkeit eines Menschen diejenige befestigteWillensrichtung sein, vermittels deren er ein guterMensch wird und seine Betätigung in rechter Weisevollzieht. Worin nun dies besteht, haben wir bereitsdargelegt; es läßt sich aber auch so zeigen, daß wirnäher ins Auge fassen, was die eigentliche Natur die-ser Willensrichtung ausmacht.

Bei jedem ausgedehnten und teilbaren Dinge kannman ein Zuviel oder Zuwenig und ein rechtes Maß un-terscheiden, und dies entweder in Hinsicht der Sacheselbst oder in der Beziehung auf uns. Das rechte Maßliegt in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig.Unter der Mitte eines Gegenstandes verstehe ich das,was von jedem der beiden Enden gleichen Abstandhat, und das gilt für alle Gegenstände als eines unddasselbe. In bezug auf uns aber bedeutet die rechteMitte das, was weder zuviel noch zuwenig ist: das

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aber ist keineswegs bei allen eines und auch nichtdasselbe. So, wenn zehn viel, zwei aber wenig ist, sonimmt man in Hinsicht auf die Sache als die Mittesechs an, weil es um ebensoviel das eine übertrifft,wie es vom anderen übertroffen wird; das aber bedeu-tet die Mitte im Sinne der arithmetischen Proportion.Dagegen darf man es nicht so fassen, wo es sich umdie Beziehung auf uns handelt. Wenn für jemand zehnPfund zu essen zuviel, zwei aber zuwenig sind, sowird ihm der Leiter in der Ringschule nicht geradesechs Pfund vorschreiben; denn möglicherweise istauch dies noch für denjenigen, der es bekommen soll,zuviel oder zuwenig. Für einen Milo wäre es zuwenig,für einen, der mit den Übungen erst beginnt, aber zu-viel. Ebenso ist es mit Lauf und Ringkampf. Und someidet denn jeder vernünftige Mensch das Zuviel unddas Zuwenig und sucht dagegen die Mitte herauszu-finden, und für diese entscheidet er sich; die Mitteaber, das heißt hier nicht die der Sache, sondern dasMittlere in bezug auf uns.

Bedenkt man also, daß alle vernünftige Einsicht indieser Weise ihre Aufgabe zur Befriedigung vollzieht,indem sie sich nach der Mitte umtut und ihre Tätig-keiten auf sie einrichtet, / weshalb man auch wohl-vollzogenen Leistungen das Prädikat erteilt, mandürfe weder etwas davon wegnehmen, noch etwashinzufügen, weil sowohl das Zuviel als das Zuwenig

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das rechte Maß verletzt, die glückliche Mitte aber esinnehält; / bedenkt man ferner, daß tüchtige Werkleu-te, wie wir behaupten, ihre Arbeit so verrichten, daßsie eben darauf ihr Augenmerk haben; bedenkt manendlich, daß sittliche Tüchtigkeit, ebenso wie auch dieNatur, noch peinlicher und sorgfältiger zuwege gehtals jede Art von technischer Leistung: so wird es dierechte Mitte sein, worauf die sittliche Tüchtigkeit alsauf ihr Ziel gerichtet ist.

Was ich dabei im Auge habe, ist die Tüchtigkeit insittlicher Beziehung: denn bei dieser handelt es sichum Affekte und um Handlungsweisen, und da gibt esein Zuviel, ein Zuwenig und eine rechte Mitte. So gibtes bei der Furcht und bei der Kühnheit, beim Begeh-ren und Fliehen, beim Zürnen und Sicherbarmen, undganz allgemein bei allen Gefühlen der Lust und Un-lust ein Zuviel und ein Zuwenig, und das beides nichtals das Rechte. Dagegen solche Gefühle zu hegen zuder Zeit, aus dem Grunde, der Person gegenüber, zudem Zwecke und in der Weise, wie es geboten ist, dasist die rechte Mitte, das ist das Beste, und es ist ebendies als charakteristisch für die sittliche Beschaffen-heit. Und ebenso gibt es ein Zuviel und Zuwenig undeine rechte Mitte auch für die Handlungen, Um Affek-te und Handlungen aber dreht sich das sittlicheLeben, wo das Zuviel ein Fehler, das Zuwenig einVorwurf ist, die rechte Mitte dagegen sich Lob erringt

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und das Angemessene bedeutet. Dies beides aber istbezeichnend für sittliche Tüchtigkeit. Mithin ist sittli-che Tüchtigkeit ein Innehalten der rechten Mitte, unddie rechte Mitte hat sie zum Ziele. Das Verfehlen fer-ner ist vielgestaltig; denn das Böse hat die Natur desGrenzenlosen, wie schon die Pythagoreer meinten, dasGute dagegen die Natur des Begrenzten. Das Recht-handeln dagegen ist eingestaltig. Darum ist jenesleicht, dieses aber schwer. Leicht ist es, das Ziel zuverfehlen, schwer, es zu treffen. Darum ist das Zuvielund das Zuwenig für die unsittliche, die rechte Mittedagegen für die sittliche Haltung bezeichnend.

»Redliche sind einfach, Schlechte vonmancherlei Art«.

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4. Fertigkeit und rechtes Maß

Somit ist denn sittliche Willensbeschaffenheit diezur Fertigkeit der Selbstentscheidung gewordeneGesinnung, die jedesmal für das Subjekt angemesse-ne Mitte innezuhalten, wie sie gedankenmäßig be-stimmt ist und wie der Mann von vollkommener Ein-sicht sie bestimmen würde.

Mitte ist sie als zwischen zwei Irrwegen liegend,von denen der eine ein Überschreiten, der andere einZurückbleiben hinter dem Maß bedeutet; sie ist esauch dadurch, daß das Verfehlen das eine Mal einNichterreichen, das andere Mal ein Hinausgehen überdas Pflichtgemäße in Affekten wie in Handlungen be-deutet, die Sittlichkeit aber die rechte Mitte findet undinnehält. Ihrem Wesen und Begriffe nach, der dasbleibende gestaltende Prinzip bezeichnet, ist also Sitt-lichkeit das Innehalten der Mitte. Fragt man dagegennach dem Werte und dem Guten überhaupt, so be-zeichnet sie darin ein Äußerstes.

Nicht jede Handlung freilich und nicht jeder Affektläßt ein Mittleres zu. Bei manchen deutet schon gleichder Name auf Verwerflichkeit hin; so bei Schaden-freude, Schamlosigkeit, Neid, und von den Handlun-gen bei Ehebruch, Diebstahl, Mord. Alles dieses unddem Ähnliches tadelt man, weil es an sich verwerflich

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ist, und nicht erst das Übermaß darin oder das Min-dermaß, und hier gibt es denn auch niemals ein richti-ges Handeln, sondern immer nur ein Verfehlen. Beidergleichen handelt es sich auch nicht um die Fragedes richtigen oder falschen Verhaltens, etwa mit wem,zu welcher Zeit und in welcher Weise man Ehebruchtreiben soll, sondern irgend etwas dahin Gehörigestun bedeutet schon ohne weiteres eine Verfehlung. Esist ganz ebenso, wenn man nach einer rechten Mitte,nach einer Überschreitung des Maßes und einem Zu-rückbleiben hinter demselben sich umsehen wollte inder Gewalttat, in der Feigheit, in der Zuchtlosigkeit.Denn damit würde es eine rechte Mitte beim Übermaßund beim Zurückbleiben, ein Übermaß beim Über-maß, und ein Zurückbleiben beim Zurückbleibengeben. Aber wie die Besonnenheit und Mannhaftig-keit nicht ein Übermaß noch eine Mangelhaftigkeitzuläßt, weil die Mitte hier im Grunde ein Äußerstesist, so gibt es auch für jene Verhaltungsweisen wedereine rechte Mitte noch ein Überschreiten oder ein Zu-rückbleiben hinter dem Maße; sondern wie auch ge-handelt wird, es ist immer ein Verfehlen. Denn inÜbermaß und Mangelhaftigkeit gibt es überhauptkeine rechte Mitte und ebensowenig in der rechtenMitte ein Übermaß und eine Mangelhaftigkeit.

Indessen, es gilt nicht bloß diese allgemeinen Be-stimmungen anzugeben, es gilt auch sie an den

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einzelnen Erscheinungen durchzuführen. Denn wo essich um die Fragen des tätigen Lebens handelt, da er-weisen sich die allgemeinen Grundsätze als verhält-nismäßig leer und die besonderen Anwendungen alsdas Inhaltsvollere. Denn alle Tätigkeit bewegt sich inden Einzelheiten der Erscheinung, und die Aufgabeist, sich mit diesen in Einklang zu halten. Dazu nunsoll die hier vorgenommene Aufstellung die Anleitunggeben.

Für Furchtsamkeit und Kühnheit bildet dieMann-haftigkeit die rechte Mitte. Was hier die Überschrei-tung des Maßes anbetrifft, so gibt es für den, der anFurcht zuwenig hegt, wie in vielen anderen Fällensonst, keinen besonderen Ausdruck; dagegen werkühn ist im Übermaß heißt verwegen, und wer anFurcht zuviel, an Kühnheit zuwenig hat, der heißtfeige.

Wo es sich um Genuß und Schmerz handelt, frei-lich nicht um jede Art davon, und insbesondere nichtum jede Art von Schmerz, da bildet die rechte Mittedie Besonnenheit, und das Überschreiten des Maßesheißt Ausgelassenheit. Solche, die in der Genußsuchthinter dem Maß zurückbleiben, werden nicht ebenhäufig gefunden. Man hat deshalb auch für sie keinenAusdruck geprägt; vielleicht darf man sie unempfäng-lich, stumpf nennen.

In Geldangelegenheiten beim Geben und Nehmen

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bildet die rechte Mitte die Vornehmheit, das Über-schreiten des Maßes und das Zuwenigtun Verschwen-dungssucht und Knickerei. Beide zeigen ein Über-maß und einen Mangel, nur beides in entgegengesetz-ter Richtung. Der Verschwender geht zu weit beimAusgeben und nicht weit genug beim Erwerb; derKnickrige geht zu weit beim Erwerb und nicht weitgenug beim Ausgeben. Für jetzt bezeichnen wir dasalles nur im Umriß und ganz im allgemeinen und las-sen es daran genug sein; an späterer Stelle werden wirdarüber genauere Bestimmungen geben. Es kommenaber dem Gelde gegenüber noch andere Verhaltungs-formen in Betracht, als rechte Mitte die Hochherzig-keit; zwischen dem Hochherzigen und dem Vorneh-men besteht der Unterschied, daß es sich bei jenemum große, bei diesem um kleinere Summen handelt;das Überschreiten des Maßes aber heißt Protzentumund Plebejertum, das Zurückbleiben hinter dem MaßeUnanständigkeit. Ein Unterschied besteht auch zwi-schen diesen Eigenschaften und denen, die die vor-nehme Gesinnung bezeichnen; welches dieser Unter-schied ist, soll später dargelegt werden.

Für das Verhalten zu Ansehen und Geringschät-zung bildet die rechte Mitte die Hochgesinntheit, dasÜberschreiten des Maßes etwa das, was man Groß-tuerei nennt, und das Zurückbleiben hinter dem MaßNiedrigkeit. Wir haben vorher das Verhältnis der

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Vornehmheit zur Hochherzigkeit dadurch bezeichnet,daß es sich bei jener um kleine Summen handelt; sosteht auch der Hochgesinntheit, die auf hohe Ehrengerichtet ist, eine Gesinnung gegenüber, die sich aufgeringere Ehren richtet. Denn es kann ebensowohlvorkommen, daß man nach Ansehen strebt so wie esrecht ist, wie daß man mehr oder weniger als recht istdanach strebt. Wer in seinem Streben danach dasMaß überschreitet, heißt ehrsüchtig; wer dahinter zu-rückbleibt, heißt gleichgültig; für den, der die rechteMitte innehält, fehlt es an einem Ausdruck. Und eben-so auch für die betreffenden Verhaltungsarten, abge-sehen von dem was den Ehrsüchtigen bezeichnet, alsovon der Ehrsucht. Daher nehmen beide Extreme denPlatz in der Mitte für sich in Anspruch, und auch wirnennen wohl das eine Mal den der die rechte Mitte in-nehält einen Ehrgeizigen und das andere Mal einenGleichgültigen, und das eine Mal loben wir den Ehr-geizigen und das andere Mal den Gleichgültigen.Woher das kommt, soll später dargelegt werden. Jetztwollen wir von dem, was noch übrig bleibt, in dem-selben Sinne wie bisher zu handeln fortfahren.

Auch im Zornigsein gibt es ein Überschreiten desMaßes, ein Zurückbleiben hinter demselben und einerechte Mitte. Da aber dafür eigentlich keine besonde-ren Ausdrücke existieren, so wollen wir die rechteMitte Gelassenheit und den, der sie innehält,

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gelassen nennen, und von den Extremen soll, wer zuweit geht, jähzornig, und sein Fehler Jähzorn, wernicht weit genug geht, etwa unempfindlich und seineEigenschaft Unempfindlichkeit heißen.

Es gibt noch weitere drei Fälle der rechten Mitte,die miteinander eine Art von Verwandtschaft haben,aber doch auch wieder voneinander verschieden sind.Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich sämtlich auf denUmgang mit Menschen in Wort und Tat beziehen;verschieden sind sie dadurch, daß der eine sich auf dieWahrhaftigkeit im Umgang, die beiden anderen aufdie Gefälligkeit, und zwar der eine im Scherz, der an-dere in jederlei ernsten Angelegenheiten des Lebensbezieht. Auch von diesen muß die Rede sein, damitman um so besser sehen kann, daß die rechte Mittebei ihnen allen das ist, was Lob verdient, während dieExtreme weder das Rechte, noch das Löbliche, son-dern das Tadelnswerte sind. Allerdings gibt es auchfür die Mehrzahl von diesen keine besonderen Aus-drücke; wir müssen also wie bei den anderen versu-chen, Namen für sie selbst zu prägen zum Zwecke derDeutlichkeit und Verständlichkeit.

Wer in bezug auf die Wahrhaftigkeit die rechteMitte innehält, soll etwa wahrheitsliebend und dierechte Mitte selberWahrheitsliebe heißen, dagegendie Neigung zum Erdichten, wenn sie auf Übertrei-bung ausgeht, Prahlerei, und wer sie betreibt

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prahlsüchtig, wenn sie auf Abschwächung geht, Iro-nie, und der Mensch ironisch heißen.

Handelt es sich um das Gefällige und zwar im hei-teren geselligen Verkehr, so soll der, der die rechteMitte hält, ein guter Gesellschafter, und seine Eigen-schaft Unterhaltsamkeit, die Übertreibung Albernheitund der sie betreibt ein Possenreißer, wer zu wenigdavon hat ein Unbeholfener und seine EigenschaftGrobheit heißen. Das Gefällige betreffend, was nunnoch übrig ist, in bezug auf den täglichen Umgang, soheißt der, der im rechten Maß gefällig ist, freundlich,und die rechte Mitte Freundlichkeit; wer es in zuhohem Grade ist, wenn ohne Nebenabsicht, liebedie-nerisch, wenn aber um seines eigenen Vorteils willen,kriechend. Wer es an dem rechten Maße fehlen läßtund in allen Dingen sich ungeberdig zeigt, mag etwaungeschliffen und widerborstig heißen.

Nun gibt es aber auch eine rechte Mitte in denEmpfindungen und in dem was mit ihnen zusammen-hängt. Schamhaftigkeif ist keine Willensbeschaffen-heit, aber sie erwirbt sich Lob, und ebenso derSchamhafte; denn auch dabei redet man von einerrechten Mitte, vom Zuviel und Zuwenig. Wer darin zuweit geht, der Blöde, ist der, der sich vor allem ge-niert; wer nicht weit genug geht und sich überhauptvor nichts geniert, heißt unverschämt, dagegen werdie rechte Mitte hält, schamhaft.

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Gerechtigkeitsgefühl bildet die Mitte zwischen Neidund Schadenfreude; diese sind die Empfindungen vonSchmerz und Freude über das, was dem Nächsten be-gegnet. Den Mann von Gerechtigkeitsgefühl verdrießtdas Glück des Unwürdigen; den Neidischen, der wei-ter geht als dieser, verdrießt fremdes Glück über-haupt. Den Mann von Gerechtigkeitsgefühl betrübtunverdientes Leid anderer; der Schadenfrohe aberbleibt so weit hinter solcher Betrübnis zurück, daß ergeradezu Freude darüber empfindet.

Indessen davon zu handeln, wird sich die Gelegen-heit noch anderswo bieten. Dagegen von der Gerech-tigkeit werden wir, da das Wort nicht bloß in einerBedeutung gebraucht wird, später so handeln, daß wirdie beiden Arten unterscheiden und dann von beidenaufzeigen, inwiefern dabei der Begriff der rechtenMitte Platz hat; und ebenso werden wir dann auch denIntellekt auf seine Bedeutung für die Sittlichkeit un-tersuchen.

Es gibt also drei Arten des Verhaltens; zwei davon,die eine, die ein Zuviel, und die andere, die ein Zuwe-nig bedeutet, sind fehlerhaft; die dritte, das Innehaltender rechten Mitte, ist das Richtige. Alle drei stehenzueinander eigentlich im Verhältnis des Gegensatzes.Die beiden ersteren sind der rechten Mitte und sindeinander entgegengesetzt, und ebenso die Mitte denExtremen. Wie das was einem dritten gleich ist, im

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Verhältnis zum Kleineren das Größere, im Verhältniszum Größeren das Kleinere ist, so bedeuten die Ver-haltungsweisen, die die rechte Mitte innehalten, imVerhältnis zum Zuwenig ein Mehr und im Verhältniszum Zuviel ein Weniger, und das ebensowohl beimAffiziertwerden wie beim Sichbetätigen. Der Mann-hafte erscheint dem Feigen gegenüber verwegen, demVerwegenen gegenüber feige; ebenso erscheint wersich in der Gewalt hat dem gegenüber den nichts auf-regt ausgelassen und dem Ausgelassenen gegenübergefühllos, der Freigebige dem Knickrigen gegenüberverschwenderisch, dem Verschwender gegenüberknickrig. So lehnen denn die auf der extremen SeiteStehenden den der sich in der Mitte hält jeder vonsich ab und weisen ihn dem anderen Extrem zu; denMannhaften nennt der Feige verwegen, der Verwe-gene feige, und das gleiche Verhältnis zeigt sich auchin den übrigen Fällen.

Während nun so diese zu einander im Gegensatzstehen, so ist doch der Gegensatz der Extreme unter-einander der stärkste und stärker als der zur rechtenMitte. Denn die Entfernung zwischen jenen ist größerals die zwischen ihnen und der Mitte, geradeso wiedas Große vom Kleinen und das Kleine vom Großenweiter absteht als beide vom Gleichen. Indessen gibtes gleichwohl Fälle, wo sich zwischen den Extremenund der rechten Mitte eine gewisse Verwandtschaft

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zeigt, so zwischen der Verwegenheit und der Mann-haftigkeit, zwischen der Verschwendung und der Frei-gebigkeit, während die Extreme untereinander am we-nigsten verwandt sind. Was von einander am weite-sten absteht, das bestimmt man begrifflich als daskonträr Entgegengesetzte, und darum bedeutet auchweiterer Abstand schrofferen Gegensatz. Der Gegen-satz zur rechten Mitte aber ist größer bald bei demwas ein Zuwenig, bald bei dem was ein Zuviel bedeu-tet. So bildet zur Mannhaftigkeit den schärferen Ge-gensatz nicht die Verwegenheit, die ein Zuviel, son-dern die Feigheit, die ein Zuwenig bedeutet; dagegenzur Selbstbeherrschung wieder nicht die Unempfäng-lichkeit, die ein Zuwenig, sondern die Ausgelassen-heit, die ein Zuviel bedeutet. Das stammt aus einemdoppelten Grunde. Der Grund liegt einmal in derSache selbst. Weil das eine der beiden Extreme derrechten Mitte näher liegt und verwandter ist, darumstellen wir jenem nicht diese, sondern das andere Ex-trem gegenüber. So z.B. bei der Mannhaftigkeit. Weildie Verwegenheit ihr näher und verwandter, die Feig-heit minder verwandt erscheint, stellt man diese letz-tere in den Gegensatz zu ihr. Denn was von der Mitteweiter absteht, das, nimmt man an, bildet auch denschärferen Gegensatz zu ihr. Ist dies nun der eineGrund, der der Sache selbst entnommene, so liegt derandere in uns selbst. Wozu wir selber von Natur

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irgendwie die stärkere Hinneigung verspüren, dasstellt sich uns in schärferem Gegensatz zur Mitte dar.So fühlen wir uns von Natur mehr zu dem hingezogenwas uns Vergnügen macht, und es liegt uns die Aus-gelassenheit näher als die Wohlanständigkeit. Wir be-zeichnen also das als den schärferen Gegensatz, wozuwir uns mit stärkerer Kraft hingezogen fühlen, unddeshalb ist der Gegensatz, in dem die Ausgelassen-heit, die ein Zuviel besagt, zur Selbstbeherrschungsteht, der schärfere.

Darüber also, daß sittliche Tüchtigkeit das Innehal-ten der rechten Mitte und in welchem Sinne sie diesbedeutet, ferner daß das wo zwischen sie die rechteMitte innehält die beiden fehlerhaften Abweichungen,das Zuviel und Zuwenig sind, und daß sie diese Be-schaffenheit hat, weil sie im Affiziertwerden wie imSichbetätigen die rechte Mitte sich zum Ziele zu set-zen bestimmt ist, haben wir damit ausreichend gehan-delt. Da liegt nun auch der Grund, weshalb es eine soschwierige Aufgabe ist, sittlich tüchtig zu sein. Dennin jedem einzelnen Falle die rechte Mitte zu treffen istsehr schwer. So ist das Zentrum eines Kreises zu fin-den eine Aufgabe nicht für jedermann, sondern nur fürden Kundigen. So ist es wohl jedermanns Sache undleicht, sich zu erzürnen oder sein Geld auszugebenund zu vertun; dagegen ist es nicht jedermanns Sacheund nicht leicht, zu entscheiden, wem, wieviel, wann,

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zu welchem Zweck und in welcher Weise man gebensoll. Das Richtige ist deshalb etwas Seltenes, etwasPreiswürdiges und Edles.

Wer nach der rechten Mitte zielt, muß darum zu-nächst das lassen, was dazu im schärferen Gegensätzesteht; so mahnt auch Kallypso:

Abseits hier von dem Gischt und der Brandunglenke das Fahrzeug!

Denn das eine der Extreme ist das mehr, das anderedas weniger Fehlerhafte. Da nun die rechte Mitte zutreffen äußerst schwierig ist, so heißt es im Sprich-wort, man müsse, wenn man die Fahrt zum zweitenMale macht, das kleinere Übel wählen, und das wirdam ehesten in der bezeichneten Weise geschehen.Man muß sehen, in welche Richtung uns die eigeneNeigung lenkt; denn den einen treibt seine Natur nachder, den anderen nach jener Richtung. Das aber läßtsich aus den Gefühlen der Lust und Unlust entneh-men, die in uns rege werden; und dann müssen wiruns in die entgegengesetzte Richtung wenden. Wennwir uns von dem was fehlerhaft ist recht weit entfer-nen, dann werden wir zur rechten Mitte gelangen, ge-rade wie man es macht, wenn man krummes Holz ge-rade biegen will. Überall aber muß man am meistenvor dem auf der Hut sein was uns zusagt und vor der

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Lust daran; denn dabei ist unser Urteil nicht unbesto-chen. Wie die Volksältesten der Helena gegenüberempfanden, so müssen auch wir uns unserer Neigunggegenüber verhalten und uns durchweg ihren Aus-spruch zum Wahlspruch machen. Denn wenn wir dieNeigung in gleicher Weise heimschicken, werden wirminder irre gehen.

Indem wir so verfahren, werden wir im ganzen undgroßen am ehesten imstande sein, die rechte Mitte zutreffen. Gewiß ist das schwierig, und am schwierig-sten den Einzelfällen des Lebens gegenüber. Es istnicht leicht genau anzugeben, in welcher Weise, wemgegenüber, bei welchem Anlaß und wie lange Zeitman sich dem Zorne überlassen soll. So rühmen auchwir zuweilen diejenigen die darin zu wenig tun undnennen sie sanftmütig, während wir ein anderesmalden schwer Zürnenden charaktervoll nennen. Wervom Richtigen nur wenig abweicht, sei es nach derSeite des Zuviel oder des Zuwenig, der erfährt keinenTadel, dagegen wohl der, der stärker abweicht; denndieser entgeht nicht der Beobachtung. Aber bei wel-cher Grenze, bei welchem Quantum das Tadelnswerteanfängt, das läßt sich nicht so leicht begrifflich genaufeststellen, wie es ja auch sonst bei Gegenständen derErfahrung der Fall ist. Dergleichen gehört zu den Ein-zelfällen des Lebens, und das Urteil darüber ist Sachedes unmittelbaren Gefühles. So viel also ist klar, daß

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überall das Innehalten der rechten Mitte Beifall ver-dient, daß aber wo eine Abweichung nötig wird, siebald nach der Seite des Zuviel, bald nach der des Zu-wenig stattzufinden hat. Denn auf diese Weise wirdman am ehesten dazu gelangen, die Mitte und dasRichtige zu treffen.

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II. Das freie und das unfreie Handeln

1. Zwang und Irrtum

Da der sittliche Charakter sich in dem Verhaltengegenüber den Eindrücken der Gegenstände und inder tätigen Einwirkung auf die Gegenstände zeigt; daferner frei gewollte Handlungen zu Lob oder Tadel,nicht frei gewollte Handlungen zur Nachsicht, biswei-len sogar zum Mitleid Anlaß geben: so ist es für denForscher über die Fragen des sittlichen Lebens eineunumgängliche Aufgabe, die frei gewellten und dienicht frei gewellten Handlungen gegeneinander abzu-grenzen; zugleich aber ist es eine Hilfeleistung fürden Gesetzgeber, schon in Hinsicht auf die Zuerken-nung von Ehrenerweisungen und Strafen.

Als nicht frei gewollt gilt das, wozu jemand durchZwang oder durch Irrtum veranlaßt wird. DurchZwang bewirkt ist eine Handlung, deren bewegendeUrsache außerhalb des Handelnden liegt. Dahin gehö-ren zunächst solche Handlungen, bei denen derjenige,der etwas bewirkt oder erleidet. Überhaupt nicht mit-tätig ist; z.B. wenn jemanden ein Luftstoß fortträgt,oder auch wenn Menschen, die ihm zu befehlenhaben, ihn zu etwas drängen. Wenn dagegen etwasgetan wird aus Furcht vor einem größeren Übel oder

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aus Liebe zu einem wertvollen Gute / z.B. ein Macht-haber, der über jemandes Eltern und Kinder Gewalthat, befiehlt ihm etwas Schändliches zu tun, mit derBestimmung, daß sie am Leben bleiben, falls er ge-horcht, und den Tod erleiden müssen, falls er nichtgehorcht, / da kann man im Zweifel sein, ob dieHandlung frei gewollt ist oder nicht. Ähnlich liegt derFall, wo im Sturm Güter über Bord geworfen werden.Denn ohne weiteres wirft niemand sein Hab und Gutins Meer; zur eigenen Rettung dagegen wie zu der deranderen tut es jeder Verständige. Solche Handlungentragen somit gemischten Charakter, sie stehen aberden frei gewellten näher. Denn, wo man dergleichentut, da geschieht es mit Vorsatz; die Absicht dabeiaber ist allerdings durch den äußeren Anlaß auferlegt.

Die Bezeichnung als frei gewollt oder nicht frei ge-wollt kommt der Handlung also zu je nach der Situa-tion, in der sie geschieht. Man handelt dabei frei;denn der Antrieb für die Bewegung der Glieder die alsWerkzeuge dienen liegt bei derartigen Handlungen imhandelnden Subjekt. Wo aber der Antrieb im Han-delnden liegt, da steht es auch bei ihm, die Tat zuvollziehen oder nicht zu vollziehen, und so ist denndergleichen gewollt, allerdings schlechthin und ei-gentlich nicht gewollt. Denn an und für sich würdeniemand dergleichen zu tun sich vorsetzen. Für Hand-lungen von dieser Art erlangt man bisweilen sogar

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Beifall, wenn man etwas Widerwärtiges undSchmerzliches um eines bedeutsamen und hohen Zie-les wegen auf sich nimmt, und man erfährt Tadel imumgekehrten Falle. Denn der müßte schon ein er-bärmlicher Mensch sein, der das Schimpflichste aufsich nähme, ohne daß es durch ein hohes oder auchnur angemessenes Ziel gerechtfertigt würde.

Dann gibt es weiter Fälle, wo man, wenn auch keinbeifälliges, so doch ein nachsichtiges Urteil erlangt,wenn nämlich bei einer sonst pflichtwidrigen Hand-lung das Motiv das ist, solchem zu entgehen, wasüber menschliche Kraft hinausgeht und was nichtleicht jemand auf sich nimmt. Es gibt allerdings auchsolches, wozu sich zwingen zu lassen verwerflich ist,und wo es geboten ist eher zu sterben und das Furcht-barste zu erdulden. Denn solche Gründe, wie sie fürAlkmäon beim Euripides den Zwang enthalten sollenzum Muttermörder zu werden, erscheinen geradezulächerlich.

Zuweilen ist es schwer zu entscheiden, welcheHandlungsweise einer einzuschlagen hat, und ob dasZiel sie rechtfertigt, oder was einer über sich ergehenlassen soll, und ob der Preis es wert ist; noch schwie-riger aber ist es, nachdem man darüber ins klare ge-kommen ist, es nun auch durchzuführen. Denn in derRegel ist, was man zu erwarten hat, schmerzlich, undwas zu tun die Not gebietet, abstoßend, und so wird

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einem denn Beifall oder Vorwurf zuteil, das eine Mal,wenn man dem Zwange nachgibt, und das andereMal, wenn man ihm widersteht.

Was sind es also für Handlungen, die man aufeinen Zwang zurückführen darf? Doch wohl ohneweiteres jede, bei der die Ursache draußen liegt undder Handelnde gar nicht mit tätig ist. Solche Handlun-gen dagegen, die an und für sich nicht frei gewolltsind, zu denen man sich aber in einer gegebenen Si-tuation und um eines bestimmten Zieles willen ent-schließt, so daß der bewegende Antrieb für sie dochim Handelnden liegt, / diese sind an und für sich nichtfrei gewollt, aber doch im gegebenen Augenblick undum jenes Zieles willen frei gewollt: sie zeigen dahereine größere Verwandtschaft mit den frei gewolltenHandlungen. Denn alles Handeln geschieht unter ganzsingulären Umständen, und mit Rücksicht auf diesesind jene Handlungen gewollt. Dagegen eine Regeldarüber, wie beschaffen das Ziel sein muß, um diesebestimmte Handlungsweise rechtfertigen zu können,läßt sich nicht leicht geben; denn jede einzelne Situa-tion ist von jeder anderen gründlich verschieden.Wollte dagegen jemand dem, was Lust bereitet oderdem sittlich Angemessenen zwingende Macht zu-schreiben, / denn sie übten als Äußeres eine Nöti-gung, / dann allerdings wären alle Handlungen er-zwungen. Denn die genannten sind die allgemeinen

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Motive des Handelns für alle. Eine Handlung, dieeiner gezwungen und wider Willen tut, die ist ihmauch schmerzlich; dagegen was man um der Annehm-lichkeit und um der sittlichen Angemessenheit willentut, das ist dem Handelnden erfreulich. Es ist also tö-richt, die äußeren Umstände, und nicht vielmehr sichselber deshalb anzuklagen, weil man schwach genugist, sich durch dergleichen verlocken zu lassen. Eben-so töricht aber ist es auch, das sittlich Löbliche sichselber zuzuschreiben, das Verwerfliche dagegen aufdie verführerischen Umstände zu schieben. Und so er-gibt sich denn, daß aus Zwang das geschieht, was sei-nen Grund und Anstoß in einem Äußeren hat, ohnedaß der dem Zwange Unterliegende dabei mit tätigwird.

Wir kommen zu den Handlungen, die aus Irrtumgeschehen. Sie sind sämtlich nicht frei gewollt; aberwirklich unfreiwillig ist nur die Handlung, die Bedau-ern und Selbstanklage zur Folge hat. Wer irgendetwas auf Grund eines Irrtums getan hat, aber überseine Handlung kein Bedauern empfindet, der hat al-lerdings, was er im Irrtum getan hat, ohne freien Wil-len, aber doch auch wieder nicht ohne seinen Willengetan; sonst würde es ihm leid tun. Also als unfreiwil-liger Täter gilt, wer über das im Irrtum Getane Be-trübnis empfindet; wer es nicht bedauert, der mag, dasein Verhalten doch ein anderes ist, statt unfreiwillig

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nicht-frei-wollend heißen. Denn da in der Sache einUnterschied vorliegt, so ist es besser, dafür aucheinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen.

Es ist ferner etwas anderes, auf Grund eines Irr-tums und im Irrtum handeln. Wer in der Trunkenheitoder im Zorne handelt, von dem nimmt man nicht an,daß er auf Grund eines Irrtums, sondern daß er aufGrund eines der bezeichneten Zustände, aber dochnicht mit Bewußtsein, sondern ohne Wissen handle.Daß er kein Wissen hat von dem was man zu tun undzu unterlassen verpflichtet ist, das gilt von jedemschlechten Menschen; eben infolge einer derartigenMangelhaftigkeit wird einer zum ungerechten undüberhaupt zum schlechten Menschen. Unfreiwillighandeln aber, der Ausdruck soll nicht den Fall be-zeichnen, wo einer nicht weiß was Pflicht ist. Ein Irr-tum in dem was man sich zu tun ausdrücklich vor-setzt, hat zur Wirkung nicht daß man unfreiwillig,sondern daß man schlecht handelt. Was vielmehr denIrrtum ausmacht, das ist nicht die Unkenntnis der all-gemeinen Regeln des Verhaltens, / denn solche Un-kenntnis begründet einen Vorwurf, / sondern die Un-kenntnis der Umstände des einzelnen Falles, unterdenen und um derentwillen die Handlung vorgenom-men wird, und dafür wird einem denn auch Mitleidund Nachsicht gewährt. Denn wer über solche beson-deren Umstände sich in Unkenntnis befindet, der

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handelt ohne frei zu wollen.Es wird an diesem Punkte nicht übel angebracht

sein, die Umstände die dabei in Frage kommen nochgenauer zu bestimmen. Ein Irrtum also kann stattfin-den betreffs der Sache, ihrer Art und Bedeutung, be-treffs der Person und ihrer Handlung nach Gegenstandund Material, bisweilen auch betreffs des Mittels,z.B. eines Werkzeugs, oder betreffs des Zweckes, z.B.ob etwas der Selbsterhaltung wegen geschah, und be-treffs der Art und Weise, also ob sanft oder heftig.Daß einer über alle diese Umstände zugleich sich imIrrtum befindet, das könnte doch nur im Zustande derGeisteskrankheit vorkommen; so nicht über das han-delnde Subjekt; denn wie könnte jemand über seineeigene Person sich täuschen? Dagegen kann man sichwohl täuschen über das, was man tut; so wenn einersagt, er sei im Reden entgleist, weil er nicht ganz beisich gewesen, oder er habe nicht gewußt, daß etwasauszuplaudern verboten sei, wie es Äschylus mit denMysterien erging; oder das Geschütz sei losgegangen,während man es bloß vorführen wollte, wie der Mannmit der Katapulte. Es kann jemand auch in den Irrtumgeraten, daß sein Sohn ihm feindlich gesinnt sei, wiees bei Merope der Fall war, oder daß ein Wurfspieß,der in Wirklichkeit eine Spitze hat, vorn mit einemKnopfe versehen, oder daß der Stein Bimstein sei;man kann einen töten, dem man in guter Absicht

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einen Liebestrank reicht, und jemanden verletzen, denman nur, wie es Ringer im Spiel tun, leise berührenwill. Ein Irrtum kann betreffs aller dieser Umständestattfinden, unter denen das Handeln sich vollzieht;und von demjenigen, der über eines davon im Irrtumgewesen ist, nimmt man an, daß er unfreiwillig ge-handelt habe. Besonders aber ist dies der Fall, wennder Irrtum die wesentlichsten Umstände betraf, undfür das Wesentlichste gilt das, was den eigentlichenGegenstand und den Zweck der Handlung ausmacht.Es gehört dann aber auch dazu, daß demjenigen, des-sen Handlung wegen eines derartigen Irrtums als un-freiwillig bezeichnet wird, seine Handlung leid tutund daß sie ihm Bedauern verursacht.

Wenn nun was durch Zwang oder aus Irrtum ge-schieht unfreiwillig ist, so darf dem gegenüber für freigewollt dasjenige gelten, was seinen Ursprung ineinem Täter hat, der mit der eigentümlichen Beschaf-fenheit der Lage bekannt ist, in der die Handlung vorsich geht. Es würde also nicht zutreffend sein, wennman als unfreiwillig das bezeichnen wollte, was imAffekt und infolge einer Begierde geschieht. Denn zu-nächst: bei irgendeinem der anderen lebenden Wesenkönnte dann von frei gewolltem Handeln gar nicht dieRede sein, auch nicht bei den Kindern. Sodann ist dieFrage: tun wir überhaupt nichts mit freiem Willen,was wir auf Antrieb einer Begierde oder im Affekt

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tun? oder sind nur die guten Taten frei gewollt, dieschlechten Taten nicht? Wäre es nicht töricht, so zufragen, da doch die Versuchung beide Male die glei-che ist? Und urteilslos wäre es doch auch, als nichtfrei gewollt Handlungen zu bezeichnen, die aus einempflichtmäßigen Streben entspringen; es ist aberPflicht, über gewisse Dinge sich zu erregen, undPflicht, gewisse Dinge zu begehren, wie Gesundheitund Geistesbildung. Und ferner: es ist Tatsache, daßwas nicht frei gewollt ist Verdruß macht; was die Be-gierde befriedigt aber gewährt Genuß. Sodann, woliegt der Unterschied zwischen dem Fehltritt der mitÜberlegung, und dem der im Affekt begangen ist, wasdie Unfreiwilligkeit anbetrifft? Denn zu meiden istdoch alles beides, und als menschlich gelten ebenso-sehr die nicht vom Gedanken geleiteten Affekte undsomit auch die aus Affekt und aus Begierde entsprin-genden Handlungen. Mithin hat es auch keinen Sinn,diese als nicht frei gewollt zu bezeichnen.

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2. Vorsatz und Überlegung

Als nächste Aufgabe, nachdem wir frei gewollteund nicht frei gewollte Handlungen gegeneinander ab-gegrenzt haben, stellt sich die dar, den Begriff desVorsätzlichen zu erörtern. Denn dieses gilt für das ei-gentümlichste Merkmal des sittlichen Willens und fürein noch bedeutsameres Kennzeichen des Charaktersals es die Handlungen selber sind. Was vorsätzlichist, das ist nun offenbar auch frei gewollt; aber diebeiden Begriffe fallen doch nicht zusammen, sonderndas frei Gewollte ist der umfassendere Begriff. Dasfrei Gewollte kommt auch bei den Kindern und denTieren vor, die Vorsätzlichkeit nicht, und die raschenHandlungen des Augenblicks nennen wir zwar frei ge-wollt, aber den Charakter der Vorsätzlichkeit schrei-ben wir ihnen nicht zu.

Man ist schwerlich auf dem rechten Wege, wennman die Vorsätzlichkeit als ein Begehren, einen Ge-mütszustand, einenWunsch oder eine Ansicht be-zeichnet. Denn bei Wesen, die nicht mit Vernunft be-gabt sind, kommt vorsätzliches Handeln nicht vor,wohl aber kommen Begierden und Gemütsstimmun-gen vor. Wer sich nicht zu beherrschen vermag, han-delt aus einem Begehren heraus, aber nicht auf Grundeines Vorsatzes, und umgekehrt, wer seiner Herr ist,

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handelt vorsätzlich, aber nicht aus einem Begehrenheraus. Vorsatz und Begierde stehen zueinander imGegensatz, aber nicht Begierde und Begierde. Die Be-gierde ist auf das Angenehme und das Schmerzliche,der Vorsatz weder auf das Schmerzliche noch auf dasAngenehme gerichtet.

Noch weniger hat der Vorsatz mit der Gemütsstim-mung zu tun: was aus einer Stimmung entspringt, er-scheint am wenigsten einem Vorsatz gemäß. Aber dasgilt auch vomWunsch, so nahe er sich auch mit demVorsatz verbunden zeigt. Ein Vorsatz richtet sichnicht auf das was unmöglich ist, und wenn einersagen sollte, er habe sich dergleichen vorgesetzt, sowürde man ihn einfach für geistesschwach halten. EinWunsch dagegen kann sich ganz wohl auch auf Un-mögliches richten, z.B. darauf, vom Sterben befreit zubleiben. Der Wunsch ferner hat zum Inhalt auch sol-ches, was man selber niemals herbeizuführen vermag,wie etwa, daß ein Schauspieler oder ein Athlet denPreis gewinne. Zum Vorsatz dagegen macht sich der-gleichen kein Mensch, sondern immer nur solches,wovon er glaubt, daß es durch ihn verwirklicht wer-den kann. Endlich geht der Wunsch mehr auf dasEndziel, der Vorsatz mehr auf die Mittel zum Ziel.Man wünscht z.B. gesund zu werden; aber mannimmt sich vor, das zu tun, wodurch man gesund wer-den kann. Wir wünschen uns glücklich zu sein und

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sprechen den Wunsch auch aus; aber wollten wirsagen, wir setzen es uns vor, so würde das nicht stim-men. Überhaupt, Inhalt eines Vorsatzes darf mansagen ist das, was in unserer Macht steht.

Also kann ein Vorsatz auch keine bloße Ansichtsein. Denn eine Ansicht kann man sich augenschein-lich über alles bilden, ebensowohl über die ewigenund über die unmöglichen Dinge wie über das was inunserer Macht steht. Eine Ansicht wird danach beur-teilt ob sie wahr oder falsch und nicht danach, ob siegut oder böse ist; ein Vorsatz aber wird gerade andem letzteren Unterschied gemessen. Überhaupt alsowird niemand beides für dasselbe halten noch es alsdasselbe bezeichnen, auch einen Vorsatz nicht alsidentisch mit irgendeiner Ansicht nehmen. Unseresittliche Beschaffenheit bestimmt sich danach, obwir uns das Gute oder das Böse zum Vorsatz ma-chen, nicht danach was für Ansichten wir hegen.Wir bilden den Vorsatz uns einen Gegenstand vondieser oder jener Art anzueignen, ihn zu meiden odersonst dergleichen; eine Ansicht dagegen bilden wiruns über das Wesen des Gegenstandes, über seinenWert, und wem oder wie er sich nützlich erweist: da-gegen ihn zu erwerben oder zu meiden, das ist ganzund gar nicht der Inhalt einer Ansicht. Ein Vorsatzfindet Billigung eher deshalb weil er sich auf das rich-tet was pflichtmäßig, als deshalb weil er richtig

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gebildet ist, eine Ansicht dagegen gerade deshalb,weil sie der Wahrheit entspricht. Einen Vorsatz bil-den wir betreffs dessen, wovon wir ganz sicher wis-sen, daß es etwas Gutes ist: eine Ansicht haben wirüber das, was wir nicht genau wissen. Es sind auchnicht dieselben Menschen, die die besten Vorsätzeund die die besten Ansichten haben; manche habenwohl die bessere Ansicht, bilden aber infolge ihresschlechten Charakters Vorsätze, wie man sie nichtbilden soll. Ob aber eine Ansicht dem Vorsätze vor-angeht oder nachfolgt, kommt hier nicht in Betracht.Denn das ist nicht die Frage, die wir behandeln, son-dern, ob ein Vorsatz dasselbe ist wie eine Ansicht diejemand hegt.

Was ist nun der Vorsatz, oder was ist sein unter-scheidendes Merkmal, wenn er doch keines von demBezeichneten ist? Offenbar ist er ein frei Gewolltes,aber nicht alles frei Gewollte ist auch ein Vorsätzli-ches. Ist er also das Prämeditierte, das Ergebnis vor-hergehender Überlegung? Wirklich ist ein Vorsatz ge-dankenmäßig und überlegt. Schon das Wort deutetaugenscheinlich darauf hin, daß er auf einer Auswahldes einen vor anderem beruht.

Hat nun solches Überlegen jedes Beliebige zum In-halt und kann alles Beliebige den Gegenstand einerÜberlegung bilden? oder gibt es auch solches wor-über eine Überlegung nicht stattfindet? Als einen

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Gegenstand der Überlegung darf man schwerlich dasgelten lassen, worauf ein geistesschwacher oder einvon Sinnen gekommener, sondern nur das, worauf einvernünftiger Mensch seine Überlegung richtet. KeinMensch ferner überlegt sich das was ewig ist, z.B.den Weltenbau oder die Inkommensurabilität zwi-schen der Seite des Quadrats und der Diagonale, undebensowenig das was zwar in Bewegung ist, dessenBewegung aber sich in immer gleicherweise vollzieht,sei es, daß solche Wirkung durch äußere kausale Not-wendigkeit, sei es, daß sie durch innere Anlage oderdurch irgendeinen anderen Grund hervorgebrachtwerde, z.B. die Sonnenwenden und Sonnenaufgänge.Andererseits überlegt man sich auch nicht, was sichjetzt so, jetzt anders zuträgt, wie Dürre und Regen-güsse, oder was Sache bloßen Zufalls ist, wie das Fin-den eines Schatzes, aber auch nicht einmal allemenschlichen Verhältnisse.

Welche Staatsverfassung für die Skythen die geeig-netste ist, das überlegt sich kein Mensch, der in Lake-dämon zu Hause ist; denn unsere Macht reicht nichtbis dahin. Wir überlegen uns vielmehr das was in un-serer Macht steht und sich von uns herstellen läßt; dasallein bleibt noch übrig.

Als Ursachen der Ereignisse gelten innere Anlage,äußere Notwendigkeit und Zufall; dazu tritt dann dieVernunft und alle menschliche Einwirkung. Für jede

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Klasse von Menschen nun ist Gegenstand der Überle-gung das, was man selbst zu bewerkstelligen vermag.Kenntnisse, die völlig klar und gesichert sind, über-legt man sich nicht erst, z.B. nicht die Schriftzeichen;denn darüber, wie man zu schreiben hat, gibt es keinezwei verschiedenen Meinungen. Nur was sich durchuns vollziehen läßt, aber nicht immer in derselbenWeise, das überlegen wir uns, z.B. Fragen der Heil-kunde und des Gelderwerbes oder Fragen der Steuer-mannskunst, und zwar diese letzteren noch eher alsdie der leiblichen Übungen, sofern auf jenem Gebietedas Verfahren in geringerem Grade festgelegt ist.Ähnlich verhält es sich durchgängig. Technische Ver-fahrungsweisen sind Gegenstand der Überlegung inhöherem Grade als wissenschaftliche; denn über jenegehen die Meinungen weiter auseinander. Man über-legt sich Dinge, die nur in der Regel vorkommen undderen Verlauf unsicher ist, Dinge, bei denen es unbe-stimmt ist, wie man sich zu benehmen hat. Wo es sichum wichtige Dinge handelt, da nimmt man überdiesnoch fremden Rat in Anspruch, weil man sich selbernicht recht zutraut, daß man zu einem richtigen Urteilgenügend befähigt sei.

Gegenstand der Überlegung sind aber nicht dieZiele, sondern die Wege zum Ziel. Ein Arzt überlegtsich nicht, ob er heilen, und ein Redner nicht, ob erüberreden soll, ein Staatsmann nicht, ob er

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vernünftige Einrichtungen im Staate treffen soll; undso gilt es allgemein: niemand überlegt sich denZweck, den er anstrebt, sondern während der Zweckfestgestellt ist, ist die Frage die nach der Art undWeise und nach den Mitteln ihn zu erreichen. Wennes dabei offenbar verschiedene Wege gibt, so fragtman: welcher Weg ist der gangbarste und fährt am si-chersten zum Ziele. Läßt sich das Ziel aber nur aufeinem Wege erreichen, so fragt man, wie es auf die-sem zu bewerkstelligen ist und durch welche Mittelman zu ihm gelangt. So geht es weiter, bis man beider obersten Ursache haltmacht. Diese ist dann beider Mühe des Suchens das letzte was man erreicht.Denn wer sich etwas überlegt, der gleicht einem deretwas sucht; es ist ganz ähnlich der Weise, wie manbei der Lösung einer geometrischen Aufgabe verfährt.Und zwar ist augenscheinlich nicht jedes Suchen einÜberlegen, wie es in der Mathematik der Fall ist, aberwohl ist jedes Überlegen ein Suchen. Das was dann inder Lösung des Problems das letzte ist, ist in der Tä-tigkeit der Verwirklichung das erste. Stößt man dabeiauf etwas Unausführbares, so steht man von demPlane ab, z.B. wenn man zur Ausführung Geld bedarfund nicht imstande ist es sich zu verschaffen. Scheintes dagegen möglich, so geht man an die Ausführung.Möglich aber ist, was sich durch uns zustande brin-gen läßt, und dabei gilt das was wir durch unsere

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Freunde leisten, gerade so als ob wir's selber leisteten,sofern wir den Anstoß dazu gegeben haben. Zuweilensucht man nach den Werkzeugen, zuweilen nach ihrerAnwendung. Ebenso fragt man sich auch sonst, daseine Mal, durch wen, das andere Mal, in welcherWeise oder womit die Sache sich machen läßt.

Nun ist es wie gesagt augenscheinlich ein Mensch,der die Handlung ins Werk setzt. Seine Überlegungbetrifft also das, was durch ihn ausführbar ist; dasZiel für sein tätiges Vorgehen aber ist etwas anderes.Denn Gegenstand der Überlegung ist nicht der Zweck,sondern die Mittel zum Zweck, und auch wieder nichtdas ganz Singuläre, z.B. ob dieser Gegenstand einBrot oder ob es gehörig gebacken ist; das ist vielmehrSache der Erfahrung.

Wenn man aber immer und immer weiter überlegenwill, so gerät man damit in den unendlichen Progreß.Dasselbe was man sich zu überlegen hat, ist auch das,worüber man eine Entschließung zu fassen hat; nurdaß der Beschluß schon eine Entscheidung bedeutet.Ein Beschluß nämlich ist das, wofür man sich aufGrund der Überlegung entschieden hat. Jedermannhört mit dem Suchen, wie er zu Werke gehen soll, auf,wenn er den Ausgangspunkt der Ausführung bis aufsich selbst und in sich auf das oberste leitende Ver-mögen zurückgeführt hat; denn dieses ist es, das dieEntscheidung fällt. Ein Gleichnis dafür erblickt man

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auch an den ursprünglichen Formen des Staatslebens,wie sie Homer darstellt. Hier zeigen die Könige demVolke einfach das an, wozu sie sich entschlossenhaben. Da aber das was man beschließt, überlegt, er-strebt, etwas ist, was in unserer Macht steht, so istauch vorsätzliches Handeln ein mit Überlegung ver-bundenes Streben nach solchem was in unserer Machtsteht. Das Ergebnis der Überlegung gibt uns die Ent-scheidung an die Hand, und so richten wir denn unserStreben gemäß unserer Überlegung ein.

Damit mag der Begriff der Vorsätzlichkeit in denGrundzügen bezeichnet sein, ebenso wie das woraufsie gerichtet ist, nämlich die Mittel und Wege, die zuden Zwecken führen.

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3. Der Willensinhalt

Wir haben dargelegt, daß ein Wollen auf einenZweck geht. Dieser ist nach den einen ein Gutes, nachden anderen ein solches, was als gut erscheint. Be-zeichnet man das Gewollte als das Gute, so kommtman zu dem Ergebnis, daß dasjenige, was einer aufGrund einer unrichtigen Wahl will gar kein wirklichGewolltes ist; denn wäre es gewollt, so würde es jaauch etwas Gutes sein; es kann aber vorkommen, daßes geradezu etwas Schlechtes ist. Denen dagegen, diedas Gewollte als ein anscheinend Gutes bezeichnen,stellt sich die Sache so dar, daß etwas nicht durchseine eigene Natur zum Willensinhalt wird, sonderndaß es für jeden jedesmal das ist, was ihm gefällt.Nun gefällt aber dem einen dies, dem andern jenes,und es kann vorkommen, daß dies gerade Entgegen-gesetztes ist. Wenn nun eine solche Ansicht keines-wegs befriedigt, so wird man sich dabei beruhigendürfen, daß zwar schlechthin und in Wahrheit das Ge-wollte das Gute, daß es aber für das einzelne Subjektdas ihm als gut Erscheinende ist. Für den sittlich ge-bildeten Menschen wäre es dann das wahrhaft Gute,für den unedel Gesinnten aber jedes Beliebige, und eswäre damit gerade so wie da, wo es sich um leiblicheDinge handelt. Denn dem der sich in der rechten

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Verfassung befindet, bekömmt dasjenige, was inWahrheit gesund ist, dem Kranken dagegen anderes,und mit dem Bitteren, dem Süßen, dem Warmen, demSchweren wie mit allem anderen steht es ebenso. Dersittlich Gebildete hat über alles ein richtiges Urteil,und im einzelnen Falle ist das, was ihm gut erscheint,das wahrhaft Gute. Denn von der eigentümlichen Be-schaffenheit eines jeden hängt es ab, ob gerade ihmdieses Bestimmte wertvoll und erfreulich ist, und viel-leicht ist es des sittlich Gebildeten größte Auszeich-nung, daß er in allem Einzelnen das herauserkennt,was wahrhaft gut ist, so daß er dafür gleichsam alsRichtschnur und Maßstab dienen kann. Als die Quelleder Täuschung aber für die Masse der Menschen darfman das Motiv der Lust ansehen; denn diese erscheintihnen als das Gute, während sie doch nicht wirklichdas Gute ist. Wenigstens entscheiden sich die Men-schen für das, was Lust bereitet, als wäre es das Gute,und meiden das, was Unlust bereitet, als wäre es dasSchlechte.

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4. Das freie Wollen

Da den eigentlichen Inhalt des Wollens der Zweckbildet, das was man beschließt und im Vorsatz erfaßtaber die Mittel zum Zweck betrifft, so ergibt sich, daßdie daraus entspringenden Handlungen einem Vorsatzentsprechen und mithin frei gewollt sind. Gerade sol-che Handlungen nun bilden das Gebiet der Sittlich-keit. Das Sittliche liegt demnach ebenso wie das Un-sittliche in unserer Macht. Denn da wo das Handelnbei uns steht, steht bei uns auch das Unterlassen, undumgekehrt, wo das Unterlassen, da steht auch dasHandeln bei uns. Liegt es also in unserer Gewalt zutun was edel ist, so liegt es auch in unserer Gewalt zuunterlassen was verwerflich ist, und steht es bei unszu unterlassen was edel ist, so steht es auch bei unszu tun was niedrig ist Haben wir aber die Gewalt, dasEdle und das Verwerfliche zu tun und ebenso es zuunterlassen, / und das hieß doch so viel wie gut oderschlecht zu sein, / so steht es also auch in unserer Ge-walt, edel und niedrig gesinntzusein. Wenn es alsoheißt:

»Mit Willen schlecht ist keiner, noch ungernbeglückt,«

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so darf man das erste als falsch, und nur das zweiteals wahr bezeichnen. Denn glücklich ist in der Tatniemand wider seinen Willen; aber Schlechtigkeitstammt aus dem freien Wollen. Sonst müßte man daseben Erörterte in Zweifel ziehen und dürfte nichtsagen, daß der Mensch der Ursprung und Urheber sei-ner Handlungen ist, wie er der Erzeuger seiner Kinderist. Ist das nun ausgemacht, und geht es nicht an, un-sere Handlungen auf andere Ursachen zurückzuführenals die in uns liegenden, so wird das, dessen Ursachenin uns liegen, auch selbst in unserer Macht stehen undSache des freien Wollens sein.

Dafür, scheint es, zeugt denn auch die eigene Er-fahrung eines jeden einzelnen wie das Verfahren derGesetzgeber. Diejenigen die Böses tun straft undzüchtigt man, sofern sie nicht durch Zwang oder Irr-tum unverschuldet auf Abwege geraten; dagegen ehrtund belohnt man diejenigen, die recht handeln, beidesdoch in der Absicht, die einen anzufeuern, die anderenabzuschrecken. Und doch feuert man niemand an, daszu tun, was nicht in unserer Macht noch in unseremfreien Willen steht, offenbar weil es zu nichts dienenwürde jemanden zu überreden, er möchte dochWärme, Frost, Hunger oder sonst etwas dergleichennicht empfinden: denn solche Empfindungen würde erdarum doch nicht weniger haben. Selbst für einen Irr-tum erleidet einer Strafe, wenn sein Irrtum verschuldet

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erscheint; so setzt man auch wohl für Handlungen, diein der Trunkenheit begangen worden sind, die Strafedoppelt so hoch an, weil der Täter die Schuld an derTrunkenheit selbst trägt. Denn er wäre Herr genug ge-wesen, die Trunkenheit zu vermeiden; diese aber istdann zur Ursache seines Irrtums geworden. So be-straft man auch die Unkenntnis gesetzlicher Bestim-mungen, die einer kennen muß und deren Kenntnisohne Schwierigkeit zu erlangen war. Das gleiche ge-schieht auch sonst da, wo die Unkenntnis durch Fahr-lässigkeit verschuldet ist, sofern es in der Macht derMenschen stand die Unkenntnis zu meiden; denn siewaren Herren darüber sich sorgfältig danach umzu-tun.

Nun sagt man ja vielleicht: es hat aber einer nuneinmal die Natur, daß er keine Sorgfalt darauf ver-wendet. Dann aber ist er eben schuld daran, daß erdurch sorgloses In-den-Tag-hinein-leben diese Naturangenommen hat. Wenn die Menschen ungerecht oderausschweifend geworden sind, so haben sie es selbstverschuldet, die einen dadurch, daß sie fremdes Rechtverletzten, die anderen dadurch, daß sie ihre Tage mitTrinkgelagen und ähnlichen Vergnügungen verbrach-ten. Denn wie der Mensch sich im einzelnen Fall be-nimmt, danach gestaltet sich sein Charakter. Dafürdienen als Zeugnis diejenigen, die sich für einenWettkampf oder sonst ein Geschäft einüben; solche

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Leute bleiben unausgesetzt bei derselben Tätigkeit.Nur ein völlig einsichtsloser Mensch kann die Tatsa-che verkennen, daß Fertigkeit sich in jedem Fache nurals Frucht der Übung ergibt.

Ebenso hat es keinen Sinn, daß wer ungerecht han-delt nicht den Willen ungerecht zu sein, und wer Aus-schweifungen begeht, nicht den Willen ausschweifendzu sein haben soll. Ist es aber so, daß einer die Hand-lungen, durch die er ein ungerechter Mensch wird,nicht ohne sein Bewußtsein vollbringt, so ist es dochwohl auch Sache seines freien Willens, daß er ein un-gerechter Mensch ist; andererseits wird er nicht gleichsobald er es nur will imstande sein seine Ungerechtig-keit abzulegen und dafür die Eigenschaft der Gerech-tigkeit anzunehmen. Es ist damit wie bei einem Kran-ken. Der Kranke wird auch nicht flugs gesund, wenner es will, auch wenn er, was ganz wohl der Fall seinkann, durch seinen freien Willen, durch ein unenthalt-sames Leben und durch Ungehorsam gegen den Arztsich die Krankheit zugezogen hat. Damals also hättees noch bei ihm gestanden, nicht krank zu werden;später, als er seine Gesundheit schon vergeudet hatte,nicht mehr; geradeso wenig wie es demjenigen, dereinen Stein geschleudert hat, möglich ist ihn wiederzurückzuholen. Und doch stand es bei ihm, den Steinzu schleudern oder ihn ruhen zu lassen; denn der Ur-sprung der Bewegung lag in ihm. Geradeso stand es

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auch dem Ungerechten und dem Ausschweifenden ur-sprünglich frei diese Eigenschaften nicht anzuneh-men, und darum sind sie was sie sind durch ihren frei-en Willen; nachdem sie aber einmal so gewordensind, steht es ihnen nicht mehr frei, nicht so zu sein.

Es sind aber nicht bloß die Fehler geistiger Art, dieaus dem freien Wollen stammen; es kommt auch beileiblichen Uebeln vor, und dann machen wir sie in derTat den Menschen zum Vorwurf. Entstellungen, diedie Natur verursacht, wirft man niemand vor, wohlaber solche, die aus der Unterlassung körperlicherÜbung und aus Vernachlässigung stammen; und dasgleiche gilt von Krankheit und Gebrechen. Niemandwird einem seine Blindheit vorhalten, wenn sie durchdie Natur veranlaßt ist, etwa als Folge einer Krank-heit oder einer Verwundung; in solchem Falle gewährtman vielmehr sein Bedauern. Hat sich dagegen einerdie Blindheit durch Trunksucht oder durch sonstigeAusschweifungen zugezogen, so rechnet es ihm jeder-mann zum Vorwurf an. Also auch was körperlicheGebrechen anbetrifft, hält man uns diejenigen vor, andenen wir schuld sind, aber nicht diejenigen, an denenwir keine Schuld tragen. Ist dem aber so, so wird auchsonst die Umkehrung gelten, daß diejenigen Fehler,die man uns zum Vorwurf macht, von uns verschuldetsind.

Nun könnte wohl eingewandt werden: gewiß,

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jedermann strebt nach dem, was ihm gut scheint: aberman hat eben keine Macht darüber, was einem als guterscheint; sondern jedem stellt sich das Ziel dar jenach der Beschaffenheit, die er nun einmal hat. Dar-auf ist zu erwidern: Ist jeder der Urheber der gesamtengeistigen Haltung, die er angenommen hat, so ist ereben auch der Urheber der Vorstellungen, die in ihmleben. Oder nehmen wir einmal an, es wäre nicht so,und es trüge keiner die Schuld an seinen schlechtenHandlungen sondern wenn er dergleichen begeht, sogeschähe es, weiter über den Zweck eine falsche Vor-stellung hegte; er lebte eben in dem Glauben, daß ihmdadurch der schönste Preis zuteil werden würde; dasZiel des Strebens aber wäre nicht frei gewählt, son-dern angeboren, wie der Gesichtssinn es ist, durch denman zum richtigen Urteil und zur Wahl des wahrhaftGuten befähigt ist; es wäre also die günstige Natur-ausstattung, durch die jemand diese Gabe erlangte;denn das Größte und Herrlichste, das was man vonkeinem empfangen noch lernen kann, das könnte mandann nur so besitzen, wie man es von Natur bekom-men hat, und daß einem dies von Natur in hervorra-gender Trefflichkeit zuteil geworden wäre, darin be-stände die vollkommene und wahrhafte Gunst der Na-turausstattung. Also angenommen es verhielte sich inWahrheit so: wie könnte dann die Sittlichkeit irgendin höherem Grade Sache des freien Wollens sein als

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die Unsittlichkeit? Steht doch beiden, dem Guten wiedem Schlechten, gleichmäßig das Ziel von Natur odersonst auf irgendeine Weise fest und ist ihm gegeben,und man handelt so oder anders, indem man das übri-ge danach einrichtet. Ganz gleich also, ob sich einemdas Ziel nicht von Natur in irgendwelcher bestimmtenBeschaffenheit darstellt, sondern zum Teil in desMenschen Wollen liegt, oder ob es wirklich vonNatur gegeben und sittliches Handeln nur insofernSache des freien Willens ist, als der sittlich Gebildetedas übrige frei wollend tut: in beiden Fällen wird einschlechter Charakter genau ebenso aus dem freienWollen stammen wie ein sittlicher Charakter. Dennder Schlechte hat genau ebenso die Gewalt, in seinenHandlungen sich selbst zu entscheiden, auch wenn ersolche Gewalt in bezug auf das Ziel nicht besitzt. Istnun, wie man doch annimmt, die Sittlichkeit Sachedes freien Wollens, / denn von der befestigten Be-schaffenheit, die wir besitzen, sind wir selber in ge-wissem Sinne die Miturheber, und weil wir diese be-stimmte Beschaffenheit haben, darum setzen wir unsdieses so beschaffene Ziel, / so würde also auch dieUnsittlichkeit Sache des freien Wollens sein; denn dasVerhältnis ist beide Male ganz das gleiche.

Indessen, ganz dieselbe ist bei unseren Handlungendie Macht der freien Willensentscheidung doch nichtwie bei unseren Willensrichtungen. Denn über unsere

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Handlungen sind wir Herren vom Anfang bis zumEnde, sofern wir nur die Einzelheiten der Situationkennen; über unsere Willensrichtungen aber sind wires nur im Anfang, während die weitere Fortbildungsich durch unsere einzelnen Handlungen ganz un-merklich vollzieht, ganz ähnlich wie es bei Erkran-kungen der Fall ist. Nur sofern es an unserer Machtstand so oder nicht so zu verfahren, sind aus diesemGrunde auch sie Sache des freien Wollens.

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III. Die einzelnen Arten der sittlichen Betätigung

Wir haben von den sittlichen Willensbeschaffen-heiten ganz im allgemeinen gehandelt und ihren Gat-tungscharakter in aller Kürze dahin bezeichnet, daßsie die Mitte zwischen Extremen innehalten und festgewordene Willensrichtungen sind. Wir haben fernerdargelegt, woraus sie entstehen, sowie daß sie ihremWesen nach in eben dem Kreise von Handlungen sichtätig bewähren, durch die sie sich bilden, ferner daßsie in unserer Macht stehen und Sache unseres freienWollens sind, und daß sie dem entsprechen, was einrichtig urteilendes Denken gebietet.

Wir nehmen jetzt den Gegenstand wieder vonvorne an auf und wollen nunmehr über jede einzelneder Willensbeschaffenheiten handeln, über ihr Wesen,über die Art ihrer Gegenstände und über die Weiseihrer Betätigung. Dabei wird zugleich auch ihre An-zahl klar hervortreten.

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1. Willensstärke gegenüber dem Trieb

A. Mannhaftigkeit und tapferer Mut

a) Das Wesen

Zunächst also handeln wir von derMannhaftigkeit,der Eigenschaft des mutigen Mannes. Daß sie das In-nehalten der rechten Mitte zwischen Furchtsamkeitund Verwegenheit bedeutet, das ist von uns bereitsausgemacht worden. Wir fürchten uns offenbar vordem, was bedrohlich ist, und das ist kurz gesagt wasuns Leid und Schaden bringt. Darum definiert mandenn auch die Furcht als die Erwartung einer bevor-stehenden Schädigung. Wir fürchten uns demnach vorallem was ein Übel ist: so vor Schande, Armut,Krankheit, Verlassenheit, Tod indessen mannhafterSinn zeigt sich doch wohl nicht dem allen gegenüber.Es gibt Dinge, wovor sich zu fürchten pflichtmäßigund löblich, sich nicht zu fürchten verwerflich ist, wiez.B. die Schande. Da ist der, der sich fürchtet ein eh-renwerter und ehrenhafter, und wer sich nicht fürchtet,ein ehrloser Mensch. In übertragenem Sinne sprechenmanche wohl auch dabei von Mannhaftigkeit, und inder Tat ist eine gewisse Verwandtschaft mit derMannhaftigkeit vorhanden; denn auch der Mannhafte

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ist frei von Furcht. Auch vor Armut oder Krankheitsich zu fürchten ist nicht geboten, überhaupt vornichts von alledem, was nicht aus einer schlechtenGesinnung stammt und was nicht verschuldet ist. In-dessen, wer diesen Dingen gegenüber frei von Furchtist, ist darum noch nicht mannhaft: nur der Analogienach erteilt man ihm dies Prädikat. Es gibt Leute, diesich der Gefahr gegenüber, wie sie der Krieg mit sichbringt, mutlos verhalten und doch eine vornehme Ge-sinnung haben und bei Vermögensverlusten sich ge-faßt zeigen. Auch wer sich vor Gewalttaten, die sei-nem Kinde oder seinem Weibe widerfahren könnten,oder vor Neid und dergleichen fürchtet, ist deshalbnoch kein Feigling. Andererseits wieder ist der nichtmannhaft, der unerschrocken bleibt, wenn ihm Geiße-lung bevorsteht. / Welches sind denn nun dieSchrecknisse, denen gegenüber sich einer mannhaftzeigt? Sind es die Übel, die durch Größe hervorra-gen? Ist doch niemand fähiger als der Mannhafte dasSchreckliche zu erdulden; das größte Schrecknis aberist der Tod. Er ist das Ende, und für den Verstorbenennimmt man an gibt es weder Gutes noch Übles mehr.Aber auch dem Tode gegenüber zeigt sich doch ei-gentlich nicht in jeder seiner Formen ein Menschmannhaft, z.B. nicht bei Todesgefahr zur See oder inKrankheit. In welchen Fällen also? Nicht in denen,die die ruhmvollsten sind? Das sind aber diejenigen,

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die im Gefolge des Krieges auftreten. Hier ist die Ge-fahr zugleich die bedrohlichste, aber auch die ruhm-vollste. Dem entsprechen denn auch die Ehrenerwei-sungen, wie sie Republiken und Monarchien gleich-mäßig zuerkennen. Im eigentlichen Sinne wird alsoderjenige mannhaft heißen dürfen, der sich vor demTode auf dem Felde der Ehre nicht fürchtet und nichtvor dem, was in unmittelbarer Nähe den Tod droht,wie derartiges am ehesten im Kriege vorkommt. In-dessen, der Mannhafte ist allerdings furchtlos auchzur See und in der Krankheit, wenn auch nicht indemselben Sinne wie die Seeleute. Denn jener hat dieHoffnung auf Rettung schon zu einer Zeit aufgegebenund wird durch die Gefahr eines solchen Todes tief er-schüttert, wo diese auf Grund ihrer Gewöhnung nochvoll guter Hoffnung sind. Andererseits, dazu daß mansich mannhaft benimmt, gehört eine Lage, in der eseine Abwehr gibt oder der Tod rühmlich ist; in dengenannten Fällen der Todesgefahr aber ist keines vonbeiden der Fall.

Nicht für alle Menschen zwar gibt ein und dasselbeAnlaß zur Beunruhigung; manches aber bezeichnetman als menschliche Kraft übersteigend, und diesesist dann ein Gegenstand der Furcht für jeden vernünf-tigen Menschen. Die Übel dagegen, die den Men-schen zuzustoßen pflegen, sind selbst wieder nachihrer Größe verschieden und zeigen ein Mehr oder

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Minder, und dasselbe gilt nun auch von dem, wasman dreist auf sich nehmen darf. Wer mannhaft ist,der ist unerschrocken in dem Sinne, wie es sich füreinen Menschen ziemt. Er wird also auch Dinge vonder bezeichneten Art fürchten; aber er wird, wie esPflicht und Vernunft gebietet, sich ihnen unterzie-hen, wo es ein sittliches Gut zu wahren gilt; denndas ist das eigentliche Ziel, das sittliche Gesinnungim Auge hat. Solche Furcht kann stärker und schwä-cher sein; man kann ferner auch das nicht Bedrohlichefürchten, als wäre es bedrohlich. Die möglichen Abir-rungen vom rechten Wege sind dabei die, daß mandas fürchtet, was man nicht fürchten sollte, oder daßman es nicht in der Weise fürchtet, wie, oder nicht zuder Zeit, wo man es sollte, oder sonst etwas ähnliches.Das gleiche gilt von dem, was man dreist auf sichnimmt. Wer dem Übel so standhält und wer es sofürchtet, wie das eine oder das andere geboten ist, imHinblick auf den rechten Zweck, in der rechten Weiseund zu der rechten Zeit, und wer im gleichen Sinnesich mutvoll zeigt, der ist der Mannhafte. Denn derMannhafte benimmt sich im Leiden wie im Tun, sowie Pflicht und Vernunft gebieten. Das Ziel der Betä-tigung ist jedesmal das, was der befestigten Willens-richtung entspricht, auch bei mannhafter Gesinnung.Solche Gesinnung ist edel, edel ist also auch ihr Ziel.Denn das Ziel ist es, was jedem Tun seinen

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Charakter verleiht. So ist es denn der sittlicheZweck, um dessentwillen der Mannhafte standhältund sich in seinem Handeln benimmt, wie es einemmannhaften Charakter entspricht.

Was nun auf diesem Gebiete die Verfehlung imSinne eines Zuweitgehens betrifft, so gibt es keinWort, um ein Übermaß in der Unbesorgtheit zu be-zeichnen, / wir haben schon vorher bemerkt, daß esfür eine Menge von Begriffen kein Wort gibt; / mandarf aber den, der sich, wie man es den Kelten nach-sagt, vor nichts, auch nicht vor einem Erdbeben odervor einem Seesturm fürchtet, als wahnwitzig oderstumpfsinnig bezeichnen. Wer dagegen in der Kühn-heit der Gefahr gegenüber zu weit geht, der heißt toll-kühn. Der Tollkühne zeigt sich auch wohl als einPrahler und als einer, der nur mit der Miene desMannhaften großtut. Wie der Mannhafte sich zur Ge-fahr wirklich verhält, so will ein solcher wenigstenssich zu verhalten scheinen und ahmt jenen nach, wo eres vermag. Deshalb sind solche Leute denn auch mei-stens in aller Kühnheit feige, und während sie in derbezeichneten Weise kühn tun, halten sie in ernsterGefahr nicht stand.

Wer in der Furchtsamkeit zu weit geht, ist feige. Erfürchtet was er nicht und wie er nicht fürchten sollte;alles was dahin gehört, trifft auf ihn zu; auch vonKühnheit aber hat er zu wenig. Doch noch sicherer

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erkennbar ist er daran, daß er dem Schmerze zu weitnachgibt. Der Feige ist demnach von schwacher Zu-versicht, weil er sich vor allem fürchtet, ganz im Ge-gensätze zum Mannhaften; denn Kühnheit ist ein Zei-chen fester Zuversicht. Die Lagen, in denen der Feige,der Kühne und der Mannhafte ihre Art entfalten, sindalso dieselben; aber ihr Verhalten ist ein verschiede-nes. Die anderen gehen zu weit oder bleiben zurück;der Mannhafte aber hält die rechte Mitte inne, und dasim Sinne der Pflicht. Der Verwegene ist vor dem Ein-tritt der Gefahr schnell fertig und voll Entschieden-heit; in der Gefahr zieht er sich scheu zurück. DerMannhafte dagegen ist gerade mitten in der Abwehrvoll Energie, während er vorher behutsam war.

Wie wir gesehen haben ist also die Mannhaftigkeitdie rechte Mitte in den bezeichneten Lagen, wo essich um dreistes Wagnis oder bange Furcht handelt:sie nimmt das Übel auf sich und unterzieht sich ihmdeshalb, weil so zu handeln sittlich geboten, nicht sozu handeln verwerflich ist. Selbstmord aber, um derArmut, dem Liebesgram oder sonst einem Kummer zuentgehen, ist nicht ein Zeichen mannhafter, sonderneher feiger Sinnesart. Denn Verweichlichung ist es,dem Schmerzlichen auf diese Weise zu entrinnen.Man nimmt den Tod auf sich, nicht weil es sittlich ge-boten wäre, sondern weil man sich einem Schmerzeentziehen will.

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b) Abarten

Dies also ist das eigentliche Wesen der Mannhaf-tigkeit. Indessen gebraucht man das Wort auch nochfür anderes, und zwar in fünf verschiedenen Bedeu-tungen. Voran steht hier dieMannhaftigkeit desStaatsbürgers als diejenige, die mit dem oben Cha-rakterisierten die nächste Verwandtschaft hat. DieStaatsbürger unterziehen sich den Gefahren im Hin-blick auf die vom Gesetze bestimmten Strafen, aufSchande und auf Ehrenerweisungen. Deswegen geltendiejenigen als die mannhaftesten, bei denen die Feig-linge ehrlos, die Tapferen hochgeehrt sind. So in derSchilderung Homers, z.B. von Diomedes und Hektor.Da heißt es:

Schimpf wird allen voran auf mich Pulydamashäufen;

und wiederum:

Hektor wird dereinst im Kreise der Troer sichrühmen:

Vor mir ist der Tydide geflohn.

Die Ähnlichkeit zwischen dieser Art der

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Mannhaftigkeit und der oben erwähnten ist deshalbdie größte, weil auch sie aus edler Gesinnung ent-springt, aus dem Ehrgefühl, dem Streben nach einemwirklich Wertvollen, nämlich nach Ehre, und aus derScheu vor der Schande, die wirklich etwas Häßlichesist. Eben dahin darf man denn auch das Benehmenderjenigen rechnen, die von ihren Befehlshabern zumStandhalten genötigt werden; nur verdienen sie inso-fern ein minder günstiges Urteil, als sie zwar das glei-che wie jene leisten, aber nicht aus Ehrgefühl, son-dern aus Furcht, und als ferner das was sie scheuennicht sowohl das Unwürdige der Handlung, als dieschmerzlichen Folgen sind. Die Anführer nämlichüben Zwang in der Weise wie Hektor:

Wen ich fern vom Gefilde der Schlacht sichduckend erblicke,

Dem bleibt's nimmer erspart, ein Fraß der Hundezu werden.

Und wenn die Befehlshaber die Weichenden schla-gen, und ebenso wenn sie den Leuten ihren Posten voreinem Graben oder in einer ähnlichen Stellung anwei-sen, so ist es ganz dasselbe Verfahren; alles das istgeübter Zwang. Mannhaft sein aber soll man nichtaus Zwang, sondern weil es sittlich geboten ist.

Der Mannhaftigkeit stellt man weiter auch die

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Haltung auf Grund der Erfahrung gleich, die man aufden einzelnen Gebieten erworben hat, und Sokrateswar deshalb geradezu der Meinung, Mannhaftigkeitsei ein Wissen. Erfahrung haben nun verschiedene inverschiedenen Dingen; die Kriegsknechte haben sie indem was der Krieg mit sich bringt. Manche Gefahrdie einem im Kriege begegnet ist bloß eingebildet,und damit wissen die Kriegsleute am besten Be-scheid; sie machen dann den Eindruck die Mannhaf-ten zu sein, weil die anderen die wirkliche Beschaf-fenheit der Lage nicht so wie sie durchschauen. Jenesind durch ihre Erfahrung auch dazu am besten in denStand gesetzt, Hiebe auszuteilen und keine zu erlei-den, da sie ihre Waffen zu gebrauchen gelernt habenund eine Ausrüstung von der geeigneten Beschaffen-heit besitzen, um zu treffen und abzuwehren. So ste-hen sie denn im Streite wie Bewaffnete Waffenlosenund wie Fechter des Fechtens Unkundigen gegenüber.Wo es sich um einen Wettstreit von dieser Art han-delt, sind die am besten für den Kampf geeignetennicht die tapfersten, sondern die kräftigsten Leute mitder besten körperlichen Ausbildung. Aber die Kriegs-knechte werden mutlos, wenn die Gefahr übergroßwird und sie an Zahl und Ausrüstung zurückstehen;dann sind sie die ersten zu fliehen, wo Bürgerheeresich noch auf ihrem Posten erschlagen lassen, wie esbeim Tempel des Hermes der Fall war. Denn für diese

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ist Flucht eine schimpfliche Tat und der Tod willkom-mener als eine um diesen Preis erkaufte Rettung. Jenehaben sich im Anfang in dem Glauben an ihre Überle-genheit in die Gefahr gestürzt; nachher, wenn sieeines besseren belehrt sind, geben sie Fersengeld,weil sie den Tod mehr fürchten als ein unwürdigesLeben. Da ist die Art des Mannhaften allerdings eineandere.

Man sieht ferner einen Zusammenhang mit derMannhaftigkeit auch in der Heftigkeit. Mannhaft zusein scheinen auch die von Leidenschaft Getriebenen,die den Tieren gleich auf ihre Angreifer losstürmen,wie denn der Mannhafte in der Tat auch leidenschaft-licher Gemütsart ist. Gefahren entgegenzutreten bietetdie Leidenschaft den stärksten Anreiz. Daher dasWort des Homer: »Er [Apollo] flößte dem innerenKraft ein« oder »er weckte ihm Kraft und Zorn«; oder»er schnaubte scharfen Zorn«; oder »sein Blut siede-te«, lauter Ausdrücke für das Erwachen und Fortstür-men der Leidenschaft. Der Mannhafte nun wird tätigum des sittlichen Zieles willen, und die Leidenschaftwirkt dabei nur mit; bei einem Tiere dagegen bildetden Antrieb der Schmerz, etwa weil es verwundetworden ist oder sich davor fürchtet, während es nichtvorgeht, wenn es sich in einem Gebüsch oder Sumpfebefindet. Das Tier nun ist deshalb noch nicht mutig,weil es von Schmerz oder von Leidenschaft getrieben

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gegen die Gefahr anstürmt, da es ja nichts von demwas ihm droht vorhersieht; denn so wäre ja auch einEsel mutig, der Hunger hat und sich auch durchSchläge nicht vom Fressen abhalten läßt. Ebenso ver-üben auch die Unzüchtigen in ihrer leidenschaftlichenBegierde die verwegensten Streiche. Überhaupt darfman ein Wesen nicht mutvoll nennen, das durchSchmerz oder durch Leidenschaft dazu getrieben wirdder Gefahr zu trotzen. Der Antrieb der Leidenschaftstammt am meisten aus dem Naturell; erst wenn Vor-satz und bewußte Absicht hinzukommt, darf es fürrechten Mannesmut gelten. Der Mensch ist im Zornevon schmerzlichen Gefühlen bewegt; läßt er seinenZorn aus, so hat er ein Gefühl der Befriedigung. Weraus solchen Motiven sich in den Streit stürzt, ist zwarstreitlustig; aber mannhaft ist er deshalb noch nicht,weil er nicht zu sittlichem Zwecke noch nach vernünf-tiger Überlegung, sondern in der Leidenschaft vor-geht. Allerdings, eine gewisse Ähnlichkeit ist immer-hin vorhanden.

Mannhaft sind weiter auch die Zuversichtlichennicht. Sie zeigen sich in Gefahren kühn, weil sie viel-mals und über viele den Sieg davongetragen haben,und sind den Mannhaften insofern ähnlich, als beideKühnheit zeigen. Aber das Motiv ist bei den Mann-haften das oben aufgezeigte, bei diesen ist es das Ver-trauen auf ihre Überlegenheit und auf ihre Sicherheit

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gegen üble Erfahrungen: dergleichen aber findet sichauch bei Betrunkenen, die ja auch zuversichtlich sind.Kommt es nun anders als sie dachten, so ergreifen siedie Flucht. Dagegen war das Merkmal mannhaftenSinnes das, dem gegenüber, was einem Menschen be-drohlich ist und bedrohlich erscheint, aus dem Gründestandzuhalten, weil es sittlich geboten und nichtstandzuhalten verwerflich ist. Darum möchte es auchin höherem Grade von mannhafter Gesinnung zeugen,wenn man bei plötzlich eintretenden, als wenn manbei vorauszusehenden Schrecknissen sich furchtlosund unerschüttert zeigt; denn jenes stammt in höhe-rem Grade aus befestigter Willensbeschaffenheit undkommt weit weniger daher, daß man vorbereitet ist.Bei dem was vorausgesehen werden kann, kann sicheiner auch auf Grund der Berechnung und Überlegungseinen Vorsatz bilden; bei dem plötzlich Eintretendendagegen benimmt man sich seiner befestigten Sinnes-art gemäß.

Endlich erregen den Anschein der Mannhaftigkeitauch solche, die sich im Irrtum über die Lage befin-den. Sie unterscheiden sich nicht viel von den Zuver-sichtlichen, stehen aber darin gegen diese zurück, daßsie die Selbstwürdigung nicht haben wie jene. Jenehalten deshalb eine Weile stand; diese dagegen, wennsie sich getäuscht sehen und die Lage anders findenoder auch nur vermuten, als sie sich vorgestellt hatten,

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ergreifen die Flucht. So erging es den Argivern als siemeinten, es gehe gegen Sikyonier, und fanden, daß siees mit Lakedämoniern zu tun hatten.

Damit wäre denn das Wesen der mannhaften Ge-sinnung ebenso bezeichnet wie die Arten der Gesin-nung, die nur scheinbar eine mannhafte ist.

c) Rechter Mut von vollkommener Art

Wenn die Mannhaftigkeit ein Verhältnis zu Zuver-sicht einerseits und zu Befürchtung andererseits be-deutet, so ist das Verhältnis doch nicht zu beiden vongleichem Range; das Verhalten dem gegenüber wasFurcht erregt, ist dabei von überwiegender Bedeu-tung. Denn mannhaft ist eher der, der sich dem zuFürchtenden gegenüber unerschrocken zeigt und sichhier auf die rechte Weise verhält, als wer sich dem ge-genüber recht benimmt, was zur Zuversicht Anlaßgibt. Mannhaft wird man, wie wir gezeigt haben, des-halb genannt, weil man schlimmen Lagen gegenüberstandhält. Darum wird denn auch die Mannhaftigkeitzum Anlaß, viele Schmerzen auf sich zu nehmen, undso erntet sie berechtigten Beifall. Denn es ist schwererSchmerzliches zu ertragen als sich das was Vergnü-gen macht zu versagen.

Indessen könnte man meinen: das Ziel, das die

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Mannhaftigkeit ins Auge faßt, sei doch erfreulich; estrete nur dies Erfreuliche hinter dem zurück, was sichringsum herandrängt. So ist es ja auch bei den gymna-stischen Wettkämpfen der Fall. Denn der Ausgang,den der Faustkämpfer im Auge hat, sein Ziel, istetwas Erfreuliches, Kranz und Ehrenerweise; aller-dings die Schläge, die er empfängt, tun weh, beson-ders wenn die Kämpfer wohlbeleibt sind, und dieganze Sache macht Beschwerde wie jede Anstren-gung. Weil nun dergleichen Unannehmlichkeiten inMenge vorhanden sind, der Zweck aber sich dagegengeringfügig genug ausnimmt, so scheint kein beson-deres Vergnügen dabei zu sein. Wenn es nun mit demwas die Mannhaftigkeit mit sich bringt, ebenso steht,so werden Tod und Wunden dem mannhaft Gesinntenschmerzlich sein, und er wird sie nur mit Widerstre-ben über sich ergehen lassen; er wird sie aber auf sichnehmen, weil es sittlich geboten und das Gegenteilverwerflich ist. Ja, je mehr er jede sittliche Eigen-schaft besitzt und je glückseliger er ist, desto mehrwird er sich über den Tod betrüben. Denn für einensolchen Mann hat das Leben den größten Wert; er istsich klar bewußt, daß er der größten Güter verlustiggehen wird, und das ist etwas tief Schmerzliches.Aber trotzdem, ja eher deshalb nur noch desto mehr,ist er mannhaft, weil er das in kriegerischem Tun zuerwerbende Verdienst höher stellt als alle jene Dinge.

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Also ist es doch nicht richtig, daß jede Art von sittli-cher Betätigung Lust mit sich bringt, oder doch nursofern ein erreichtes hohes Ziel Quelle der Freudewird. Vielleicht hindert deshalb nichts die Annahme,daß Männer von der oben bezeichneten Beschaffen-heit nicht gerade die besten Kriegsknechte abgeben,sondern daß man zu diesem Zwecke besser solcheLeute verwendet, die zwar minder mutvoll sind, dieaber sonst nichts zu verlieren haben. Denn solcheLeute bieten sich bereitwillig den Gefahren dar undtragen für geringen Lohn ihre Knochen zu Markte.

So viel über die Mannhaftigkeit. Nach dem was wirdargelegt haben, wird es nicht schwer sein, ihr Wesenin den Hauptzügen zu erfassen.

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B. Besonnenheit

a) Lust und Schmerz

Nach ihr soll nun die Besonnenheit, die Erhaben-heit über den niederen Trieb, an die Reihe kommen.Diese beiden scheinen nämlich die Formen zu sein, indenen die nicht vom Gedanken geleiteten menschli-chen Vermögen sittlichen Wert erlangen. Daß die Be-sonnenheit die rechte Mitte bezeichnet im Genuß des-sen was Gefühle der Lust bereitet, haben wir bereitsdargelegt. Die Beziehung auf das, was Schmerz berei-tet, ist dagegen eine weniger enge und hat nicht diegleiche Bedeutung. Denselben Gegenständen gegen-über tritt nun auch die Ausgelassenheit in die Er-scheinung. Welches die Genüsse sind, um die es sichdabei handelt, das gilt es uns nunmehr zu bestimmen.Dabei sollen zunächst die geistigen Genüsse von denleiblichen unterschieden werden, solche wie Lust ander Ehre, Lust am Lernen. Da hat beide Male jederseine Lust an dem, wozu ihn seine Neigung zieht, undnicht der Leib ist es, sondern vielmehr das Gemüt,das des Genusses teilhaftig wird. Diejenigen, die sichder Freude an dergleichen ergeben, nennt man wederbesonnen noch ausgelassen, und ebensowenig diejeni-gen, die an anderen Genüssen sich ergötzen, die auch

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nicht leibliche Genüsse sind. Leute die Geschichtengern hören oder sie gern erzählen und ihre Tage sonstmit beliebigem Zeitvertreib verbringen, nennt man ge-dankenlos, aber ausgelassen nennt man sie nicht, undebenso diejenigen, die sich dem Arger über Geldange-legenheiten oder gute Bekannte hingeben. Die Beson-nenheit zeigt sich vielmehr leiblichen Genüssen, dochauch diesen nicht allen gegenüber. Wer sich an sol-chem freut, was dem Gesichtssinn erfreulich ist, wieFarben, Gestalten, Malereien, heißt weder besonnennoch ausgelassen. Und doch möchte man annehmen,daß es auch an diesen Dingen eine Freude gibt im ge-botenen Maße, und auch eine solche im Übermaßeund in zu geringem Maße. Das gleiche gilt von denGenüssen des Gehörssinnes. Wer an Musik oderSchauspiel eine übermäßige Freude hat, den wird nie-mand ausgelassen nennen, noch wird man dem, dersich daran im rechten Maße freut, Besonnenheit zu-schreiben; ebenso ist es bei den Freuden des Geruchs-sinnes, es sei denn, daß begleitende Umstände das Ur-teil beeinflussen. Wer den Duft von Äpfeln, Rosenoder Räucherwerk gern hat, den nennt man nicht aus-gelassen; eher könnte man den so nennen, der denDuft von Salben oder von Speisen liebt. Denn an der-gleichen haben allerdings genußsüchtige Menschenihre Freude, weil es ihnen die Erinnerung an die Ge-genstände ihres Gelüstens wachruft. Indessen auch

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andere Leute, wenn sie Hunger haben, kann man amGeruch von Speisen sich weiden sehen. Genüsse die-ser Art eifrig zu suchen ist ein Zeichen von Genuß-sucht; denn um solche Gelüste zu haben, muß manein Mensch von der genannten Beschaffenheit sein.Bei den Tieren wird durch diese Empfindungen keinLustgefühl vermittelt, es sei denn infolge begleitenderUmstände. Der Hund hat seine Lust nicht am Geruchdes Hasenfleisches, sondern am Fressen desselben,und der Geruch hat ihm dabei nur auf die Spur gehol-fen. Ebenso bereitet dem Löwen nicht die Stimme desRindes, sondern die gute Speise Vergnügen; an derStimme merkte er nur, daß die Beute in der Nähe war,und insofern gereichte sie ihm zur Lust; ebenso hat erauch seine Freude nicht an dem Anblick des Hirschesoder der wilden Ziege, sondern daran, daß er an ihnenseine Nahrung haben wird.

In dem Verhalten zu solchen Genüssen also, dieuns mit den Tieren gemeinsam sind, zeigt sich beson-nenes Maßhalten und Ausschweifung; darum habensie etwas an sich, was an die Art von Sklaven undTieren erinnert. Dahin zählen insbesondere die Ge-nüsse, die dem Tastsinn und dem Geschmackssinnangehören. Der Geschmack kommt dabei allerdingsnur wenig oder überhaupt kaum in Betracht. Der Ge-schmack hat die Bestimmung, über Flüssiges sein Ur-teil abzugeben; so nutzen ihn diejenigen, die die

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Weinsorten zu prüfen und die Speisen zuzubereitenhaben. Aber der eigentliche Grund des Genusses istdoch nicht der Geschmack, oder er ist es wenigstensnicht für den Lüstling, sondern das Wohlgefühl, unddas beruht bei Speisen, bei Getränken wie bei der ge-schlechtlichen Lust ganz auf dem Tastsinn. EinLeckermaul wünschte sich deshalb einmal einenSchlund zu haben, der länger sei als der eines Kra-nichs, nur um das Vergnügen des Tastsinns dann län-ger genießen zu können. Dieser Sinn ist demnach der-jenige, der am allgemeinsten unter allen den Anlaß zuAusschweifungen bietet, und so scheint er mit Rechtder verächtlichste zu sein, weil er uns nicht zukommtsofern wir Menschen sind, sondern sofern wir mit denTieren Ähnlichkeit haben. Daran seine Freude zuhaben und sich am meisten daran genügen zu lassen,hat auch wirklich etwas Tierisches. Denn die edelstenunter den Genüssen, die der Tastsinn vermittelt, sinddabei gerade ausgeschlossen; so diejenigen, die nachdem Ringkampfe durch Reiben und Erwärmen hervor-gebracht werden. Worauf es dem Lüstling ankommt,das ist nicht das Wohlgefühl, das den Leib als Ganzesangeht, als vielmehr das bestimmter einzelner Stellendes Leibes.

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b) Begehren und Vernunft

Von den Begierden gilt, daß sie teils gemeinsam,teils individuell verschieden und Ergebnis einer Ange-wöhnung sind. So ist die Begierde nach Nahrung inder Natur begründet; im Zustande des Mangels be-gehrt jeder trockene oder flüssige Nahrung, bisweilenauch beides zusammen, und ein junger kräftigerMensch, sagt Homer, begehrt des ehelichen Lagers.Dagegen begehrt nicht jeder diese oder jene bestimm-te Frau und nicht alle dieselbe. Offenbar also, daß dasfür unsere Eigenart bezeichnend ist. Indessen hat auchdas seinen natürlichen Grund. Der eine hat für dies,der andere für jenes eine Vorliebe, und es gibt für je-dermann solches, was ihm mehr zusagt als das, wasihm irgend sonst begegnen mag.

In bezug auf die natürlichen Begierden versehen eswenige und auch dann nur in der einen Richtung aufdas Zuviel. Essen und trinken was man erreichen kannbis man übervoll ist, heißt über das natürliche Be-dürfnis hinausgehen durch ein Zuviel; denn die natür-liche Begierde geht nur auf Beseitigung des Mangels.Man nennt solche Leute Knechte des Bauches, weilsie sich den Bauch über Gebühr vollstopfen, und essind nur die ganz niedrig gesinnten Naturen, die zusolcher Stufe herabsinken. Durch die individuell

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verschiedenen Begierden dagegen werden viele und invielfacher Weise auf Abwege gelockt. Die Leute,denen man solche Gelüste zuschreibt, sündigen zumTeil dadurch, daß sie nicht an den rechten Dingen ihreFreude haben, oder daß ihre Freude größer ist als beiden gewöhnlichen Menschen oder sonst irgendwieeine Form annimmt, die nicht die rechte ist, und dieAusschweifenden hauen in allen diesen Stücken überdie Schnur. Sie erfreuen sich an Dingen, die sich nichtschicken, die man sich vielmehr fern halten sollte, undwenn es Dinge sind, an denen man sich erfreuen darf,so übertreiben sie den Genuß über das rechte Maßund über das beim Durchschnitt der Menschen Ge-wöhnliche. Daß nun übermäßige Lust an sinnlichenGenüssen Zügellosigkeit und als solche tadelnswertist, ist offenbar. Was aber den Schmerz anbetrifft, soheißt einer besonnen nicht deshalb, weil er demSchmerz standhält, wie es zur Mannhaftigkeit gehört,oder ausgelassen wegen des Gegenteils, sondern aus-gelassen heißt einer davon, daß er dem Schmerze dar-über, daß ihm eine Annehmlichkeit entgeht, mehrnachhängt als er sollte / es ist also entgangene Lust,was ihm den Schmerz verursacht /, und besonnendavon, daß ihm das Ausbleiben und die Entbehrungeiner Annehmlichkeit keinen Verdruß verursacht.

Ein ausgelassener Mensch begehrt alles was Lustbereitet oder das was es im höchsten Grade tut, und

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läßt sich von seiner Begierde verleiten, dies allem an-deren vorzuziehen; ihm macht also Pein ebensowohl,daß er das Begehrte nicht erlangt, wie daß er es be-gehrt. Denn Begehren bringt Pein; es macht aber denEindruck völliger Verkehrtheit, um der Lust willensich zu betrüben. Solche Leute, die im Verhalten zuden sinnlichen Lüsten hinter dem rechten Maß zu-rückbleiben und sich daran weniger erfreuen als siesollten, begegnen einem nicht gerade häufig; ein sol-cher Mangel an Empfänglichkeit liegt nicht in derMenschen Art. Einen Unterschied zwischen den Spei-sen machen auch die Tiere und erfreuen sich an deneinen, an den anderen nicht. Kennt aber einer nichtswozu er sich hingezogen fühlt und ist ihm allesgleich, so ist ein solcher weit von menschlicher Artentfernt. Für solche hat man denn auch keinen Namengeprägt, eben weil sie nicht oft vorkommen. Ein be-sonnener Mensch nun hält in bezug auf diese Dingedie rechte Mitte inne. Er findet kein Vergnügen anden Dingen, woran es der Ausschweifende am mei-sten findet, sondern diese widerstehen ihm eher; über-haupt findet er kein Vergnügen an Dingen, woranman es nicht finden sollte, und an keinem derartigenin höherem Maße. Hat er's nicht, so betrübt er sichnicht und begehrt es nicht, oder er begehrt es doch nurmäßig, nicht mehr als recht ist, noch zur Zeit wo esnicht recht ist, oder sonst in irgendeiner Weise, die

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nicht recht ist. Dagegen was die Gesundheit und dasWohlbefinden fördert und zugleich angenehm emp-funden wird, danach wird er mit Maß und in der rech-ten Weise streben, und ebenso nach dem übrigen wasangenehm und jenen Dingen wenigstens nicht hinder-lich ist oder nicht wider das sittlich Gebotene anläuftoder nicht seine Mittel übersteigt. Denn wer sich injener Weise verhält, der findet sein Genüge mehr andergleichen Genüssen als an seinem persönlichenWerte. Nicht so der Besonnene; er folgt dem Geboteder gesunden Vernunft.

Ausgelassenheit macht den Eindruck des Freige-wollten in höherem Grade als Feigheit. Jene findet inder Lust, diese im Schmerz ihren Grund; jene in demwas zu begehren, diese in dem was zu meiden ist. DerSchmerz übt auf die Natur des Menschen eine verwir-rende und zerrüttende Wirkung, während die Lusteine solche Wirkung nicht hat. Sie ist also in höheremGrade frei gewollt und begründet einen strengerenVorwurf; denn man gewöhnt sich auch leichter an sie.Es kommt so vieles derartige im Laufe des Lebensvor, und die Gewöhnung daran bringt keine Gefahr;das alles verhält sich bei dem was zu fürchten ist ge-rade umgekehrt. Übrigens möchte man glauben, daßdie Mutlosigkeit als Gemütsart in höherem Maßeetwas frei Gewolltes ist als ihre Betätigung im einzel-nen Falle. Denn jene Gemütsart steht nicht unter der

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Macht des Schmerzes; im einzelnen Falle aber bedeu-tet sie ein Außersichgeraten durch die Angst, so sehrdaß man selbst die Waffen fortwirft und auch sonstalle Haltung verliert, und man darf sie darum einemgeübten Zwange gleich achten. Bei dem Ausschwei-fenden sind umgekehrt die einzelnen Handlungen freigewollt, aus einem Begehren und Streben heraus;seine ganze Stimmung ist es weniger: denn niemandbegehrt ein ausschweifender Mensch zu sein.

Das Wort Ausgelassenheit, Ungezogenheit, ge-brauchen wir auch von den Unarten der Kinder; in derTat ist darin eine gewisse Gleichartigkeit mit jenerHaltung nicht zu verkennen. Welches der ursprüngli-che, welches der abgeleitete Gebrauch des Wortes ist,das ist für unsere gegenwärtige Untersuchung gleich-gültig; offenbar aber ist das was für die späteren Le-bensjahre das Bezeichnende ist, von dem für die frü-heren Lebensjahre Gültigen hergenommen, und mandarf sagen, es ist eine glückliche Übertragung. Wosich Lust an verwerflichen Dingen und schnelle Zu-nahme in dieser Richtung findet, da muß Zucht einge-treten sein, und dahin gehört in erster Linie die Be-gierde und das Kindesalter. Kinder leben ihrer Begier-de nach, und die Lust am Angenehmen ist bei ihnendas stärkste Motiv. Ist ein Kind nun nicht gehorsamund dem, der ihm zu befehlen hat, nicht untertänig, sowird es darin immer weiter gehen. Denn die Lust am

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Angenehmen ist unersättlich und wird bei mangelnderÜberlegung von allen Seiten her immer neu erweckt;die Betätigung des Begehrens verstärkt dann die ur-sprüngliche Anlage, und ist die Begierde stark undheftig, so verdrängt sie die Überlegung völlig. DieBegierden sollen darum mäßig an Stärke und geringan Zahl sein und dürfen zur Überlegung nicht im Ge-gensatz stehen: ein Kind das so beschaffen ist, dasnennt man gehorsam und wohlerzogen. Wie nun dasKind nach den Anordnungen des Erziehers leben soll,so der begehrliche Teil der Seele nach der Anordnungder Vernunft. Bei dem Besonnenen soll demnach derbegehrliche Teil mit der Vernunft zusammenstimmen.Das Ziel für diese beiden ist das sittlich Gebotene; derBesonnene nun begehrt was man begehren soll, sowie es zu begehren, und zu der Zeit, zu welcher es zubegehren recht ist, und so gebietet auch die Vernunft.

So viel über die Besonnenheit.

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2. Das Verhalten zu den äußeren Gütern

A. Verhalten zu Geld und Geldeswert

a) Die vornehme Gesinnung und ihre Gegensätze

Im Anschluß an das vorige wollen wir jetzt von dervornehmen Gesinnung handeln, wie sie sich in derBehandlung von Geldangelegenheiten zeigt, undzwar so zeigt, daß sie darin die rechte Mitte innehält.Auch der der in diesem Punkte die richtige Haltungbewahrt, gewinnt sich Hochachtung, aber nicht aufGrund kriegerischer Aktionen, noch einer Handlungs-weise, wie sie den Mann bezeichnet, der seiner TriebeHerr ist, und auch wieder nicht auf Grund treffenderUrteile: sondern man gewinnt sie sich da, wo es sichum das Geben und Nehmen von Geld, hauptsächlichaber da, wo es sich um das Geben handelt. Unter Geldverstehen wir dabei alles das, dessen Wert in Geldausdrückbar ist. Auf demselben Gebiete, dem der Be-handlung von Geldangelegenheiten, bewegt sich auchdie Verschwendung und der Geiz, jene als Über-schreiten des rechten Maßes, dieser als Zurückbleibenhinter demselben. Eine niedrige Gesinnung schreibtman immer nur demjenigen zu, der sich eifriger alsrecht ist um Gelderwerb bemüht; in dem Vorwürfe

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der Verschwendung dagegen faßt man bisweilen meh-rere Fehler zusammen. Verschwender nennt man dieUnenthaltsamen, die Leute, die geneigt sind Aufwandzu treiben im Dienste ihrer zügellosen Begierde, unddiese gelten dann auch als die schlimmsten von allen;denn sie tragen eine Menge von Untugenden zugleichan sich. Wenn man sie also Verschwender nennt, soist das keine eigentliche Bezeichnung; denn dieserName ist eigentlich für den geprägt, der den einen be-stimmten Fehler hat, sein Vermögen zu vergeuden.Ein Verschwender (eigentlich ein »Heilloser«, asôtos)ist, wer sich selbst zugrunde richtet; denn als solchesSich-selbst-zugrunde-richten gilt auch die Vergeu-dung des Vermögens, da das Leben doch mit durchdas Vermögen bedingt wird. In diesem Sinne wollendenn auch wir die Verschwendung auffassen.

Was einen Gebrauch zuläßt, kann man richtig undunrichtig gebrauchen, und zu dem was man gebrau-chen kann, gehört auch der Reichtum. Am richtigstengebraucht jedes Ding, wer die gerade für die Behand-lung dieses Gebietes angemessene Eigenschaft be-sitzt; so wird denn auch den Reichtum am besten der-jenige gebrauchen, der die für die Behandlung vonGeldangelegenheiten angemessene Sinnesart besitzt,und dies ist eben der in Geldsachen vornehm Gesinn-te. Als Verwendung des Geldes hat man anzusehendas Ausgeben und das Abgeben; das Einnehmen und

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Festhalten gehört mehr dem Erwerbe an. VornehmeGesinnung zeigt sich also mehr darin, daß man vomSeinigen dem abgibt, dem man geben soll, als darin,daß man von dem nimmt, von dem man nehmen, undnicht nimmt, von dem man nicht nehmen soll. Dennder sittliche Charakter zeigt sich in höherem Gradedarin, daß man sich im rechten Sinne tätig, alsdarin, daß man sich in rechter Weise passiv verhält,und mehr darin, daß man das sittlich Gebotene tut,als darin, daß man das sittlich Verwerfliche unter-läßt. Es ist aber nicht schwer einzusehen, daß Gebenrichtig handeln und sittlich verfahren, Annehmen da-gegen im rechten Sinne passiv sein oder sich des Un-sittlichen enthalten bedeutet. Dank fällt denn auchdem zu der gibt, nicht dem der nicht nimmt, und dieHochachtung ebenso jenem in höherem Maße. Es istauch leichter, nicht anzunehmen als zu geben. Es wirdeinem viel saurer, was ihm gehört hinzugeben, alsnicht zu nehmen, was einem andern gehört. So nenntman denn freigebig den der gibt. Dagegen wer vomandern nicht annimmt, der gewinnt sich Hochachtungnicht im Sinne der Freigebigkeit, sondern mindestensebensosehr im Sinne der Gerechtigkeit; wer aber vomandern nimmt, erwirbt sich damit kein besonderesVerdienst. Keine andere Art von sittlicher Haltungaber gewinnt sich so viele Sympathie, wie die vor-nehme Behandlung von Geldangelegenheiten. Denn

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solche Menschen sind anderen hilfreich, und zwar da-durch daß sie von dem ihrigen Opfer bringen.Handlungen aus sittlicher Gesinnung entsprechen

der sittlichen Anforderung und werden um dieserAnforderung willen vollbracht. Auch der Freigebigewird also aus sittlichem Motive und nach rechter Ver-nunft geben; er wird den rechten Leuten, soviel undzu der Zeit geben wie es recht ist, und alles übrige so,wie es zum vernünftigen Geben gehört; und das wirder mit Freuden tun und ohne Verdruß. Denn sittlichesHandeln geschieht freudig und ohne Bedauern; amweitesten entfernt bleibt alle Verdrießlichkeit.Wernun gibt, wo er nicht geben sollte, oder wer nicht umder sittlichen Anforderung willen, sondern aus irgend-einem anderen Motive gibt, den darf man nicht freige-big heißen, sondern den muß man anders benennen.Das gleiche gilt von einem verdrießlichen Geber.Denn ein solcher hat eigentlich das Geld lieber als diesittliche Handlung; so aber denkt kein vornehm ge-sinnter Mensch. Ein solcher wird auch nicht da etwasannehmen, wo es nicht recht ist zu nehmen. Denn werdas Geld nicht so hoch stellt, zu dem paßt ein solchesNehmen nicht. Auch sich an andere mit Bitten zuwenden ist er nicht besonders geneigt. Denn es liegtnicht in der Art dessen der gern Wohltaten erweist,gern Wohltaten entgegenzunehmen. Er wird nehmenvon dort, wo es recht ist zu nehmen; so von seinem

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Privatvermögen, nicht als sei es eine edle, sonderneine notwendige Tat, um etwas zum Fortgeben zuhaben. So wird er auch mit dem Seinigen nicht leicht-sinnig umgehen, da er vermittels desselben manchemanderen hilfreich zu werden beabsichtigt. Er wird sichvorsehen und nicht jedem Beliebigen geben, damit ersoviel behalte, um in seinem Geben die rechten Perso-nen, und sie zu der Zeit und an dem Orte zu beden-ken, wo es sittlich geboten ist. Vornehmer Gesinnungliegt es sehr nahe, im Geben überschwänglich zu seinund für sich selber weniger übrig zu behalten; dennnicht an sich selbst zu denken ist ein Zeichen vorneh-mer Gesinnung. Von Freigebigkeit spricht man fernermit Rücksicht auf das Vermögen das einer hat. Frei-gebigkeit besteht nicht in der Menge dessen was mangibt, sondern in der Gesinnung des Gebers, und diesebemißt das Geben nach der Größe des Vermögens. Eshindert also nichts, daß der der Freigebigere sei, derweniger gibt, weil er von einem kleineren Vermögengibt.

Man darf annehmen, daß diejenigen die ihr Vermö-gen nicht selbst erworben, sondern die es überkom-men haben, die Freigebigeren sind. Sie haben erstensdie Erfahrung der Dürftigkeit nicht gemacht, undzweitens hat jedermann mehr Freude an dem was erselbst erzeugt hat, so die Eltern und die Dichter. Nichtleicht ist es, daß ein freigebiger Mann reich werde, da

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er weder auf das Erraffen noch auf das Zusammenhal-ten erpicht ist, sondern gerne fortgibt, weil er dasGeld nicht um seiner selbst willen sondern als Mittelzum Geben schätzt. Man schilt wohl das Glück, weildiejenigen am wenigsten reich sind, die es am meistenzu sein verdienten. Indessen ist das ganz verständlich.Man kann nicht ein Vermögen erwerben, wenn mansich nicht darum bemüht es zusammenzuhalten, gera-deso wie es bei anderen Dingen auch der Fall ist.

Der Freigebige wird sich also hüten, an Leute, oderzu einer Zeit zu geben, wo es nicht recht ist, odersonst eine der dahin gehörigen Bestimmungen zu ver-letzen. Denn so würde er nicht mehr der freigebigenGesinnung entsprechend handeln, und wenn er seineMittel so verwendet, so behält er zu richtiger Verwen-dung nichts mehr übrig. Denn wie gesagt, freigebigist, wer nach Vermögen und zu den richtigenZwecken ausgibt; wer darin das rechte Maß über-schreitet, der ist ein Verschwender. Darum nennt mandie Staatshäupter nicht verschwenderisch, denn beiihnen scheint es nicht leicht, daß die Gaben die sieausteilen und der Aufwand den sie treiben für dieHöhe ihrer Mittel zu groß werde.

Da eine vornehme Gesinnung in Geldsachen beimFortgeben wie beim Annehmen von Geld die rechteMitte innehält, so wird solch ein vornehm Gesinnterseine Gaben und seinen Aufwand für die rechten

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Gegenstände vorbehalten und die rechte Große dafürwahren, ganz gleich ob es sich um große oder umkleine Summen handelt, und er wird das mit Freudig-keit tun. Ebenso wird er annehmen, wo zu nehmenrecht ist und soviel wie recht ist. Denn da sittlicheGesinnung die rechte Mitte in beiden Beziehungenbedeutet, so wird er sich in beiden pflichtmäßig ver-halten. Zu einer verständig bemessenen Art zu gebengehört auch eine ebensolche Art zu nehmen, und eineandere wäre ihr zuwider. Diejenigen Eigenschaften,die zusammengehören, finden sich auch in derselbenPerson beisammen, die einander widersprechenden of-fenbar nicht. Begegnet es aber dem recht Gesinnteneinmal, daß er sein Geld auf eine Weise verwendet,die dem Pflichtmäßigen und sittlich Gebotenen wider-streitet, so wird er es bedauern, doch auch das immermit Maß und in den rechten Grenzen. Denn zu rech-ter sittlicher Gesinnung gehört auch das, daß manFreude und Betrübnis empfindet aus dem rechtenGrunde und in dem rechten Maße.

Der vornehm Gesinnte ist auch der Mann, mit demman in Geldangelegenheiten gern zu tun hat. Er istimstande, eine Übervorteilung hinzunehmen, weil ersich aus Geld nicht zu viel macht und es ihn weitmehr betrübt, wenn er eine Ausgabe nicht gemachthat, die er hätte machen sollen, als er es bedauert,wenn er Geld ausgegeben hat, wo er es nicht hätte

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ausgeben sollen. Eine Denkungsart wie die des Simo-nides flößt ihm wenig Gefallen ein. Der Verschwen-der dagegen geht auch darin falsche Wege. SeineFreude wie seine Betrübnis hat weder den rechtenGrund noch hält sie die rechte Weise inne. Das wirdim weiteren Fortgang noch klarer hervortreten.

Wir haben dargelegt, daß Verschwendung undSchäbigkeit ein Zuweitgehen oder ein Nichtweitge-nuggehen bedeuten, und dies in beiden Beziehungen,im Fortgeben wie im Entgegennehmen; dabei rechnenwir die Ausgabe zum Fortgeben. Die Verschwendungnun überschreitet das rechte Maß beim Fortgeben undNichtannehmen und bleibt hinter demselben zurückim Annehmen. Dagegen bleibt eine schäbige Gesin-nung hinter dem rechten Maß zurück im Fortgebenund überschreitet es im Entgegennehmen, nur daß essich dabei immer um geringe Summen handelt.

Die Äußerungen der Verschwendungssucht tretennicht häufig in beiden Richtungen zugleich auf; dennes läßt sich nicht leicht vereinigen, von keiner SeiteMittel entgegenzunehmen, und nach allen Seiten hinwelche auszuteilen. Privatleuten, / und um diese han-delt es sich, wenn von Verschwendung die Rede ist, /muß das Vermögen schnell ausgehen, wenn sie immernur fortgeben. Und doch darf man von einem solchenurteilen, daß er bei alledem immer noch beträchtlichwertvoller ist als ein Mensch von schäbiger Art. Denn

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sein Übel läßt eine Heilung zu, sei es durch zuneh-mendes Alter, sei es durch den Mangel an Mitteln,und er ist dann noch imstande in die rechte Mitte ein-zulenken; trägt er doch die Merkmale vornehmer Ge-sinnung in seinem Wesen. Er gibt, und weist dasNehmen zurück, wenn auch beides nicht in der rech-ten, sittlich gebotenen Weise. Würde man ihn also anletzteres gewöhnen, oder veränderte er sich sonst ir-gendwie in diesem Sinne, so könnte er wohl zu jenervornehmen Gesinnung gelangen, geben wem zu gebenrecht ist, und das Nehmen unterlassen, wo zu nehmennicht recht ist. Darum gilt er auch nicht für einenMenschen von schlechtem Charakter. Denn im Gebenund im Ablehnen des Nehmens das rechte Maß zuüberschreiten, beweist keinen niedrigen und unedlen,nur einen arglosen Sinn. Derjenige der im bezeichne-ten Sinne ein Verschwender ist, scheint viel wertvol-ler als der Mann von schäbiger Gesinnung, teils ausden bezeichneten Gründen, teils weil er vielen sichhilfreich erweist, während jener niemandem etwasGutes gönnt, nicht einmal sich selbst.

Allerdings, die verschwenderisch Gesinnten scheu-en sich wie gesagt der Mehrzahl nach nicht, da zunehmen wo es nicht recht ist; sie sind in dieser Bezie-hung also nicht eben vornehm gesinnt. Ihre Neigungzu nehmen stammt daher, daß sie gern viel ausgebenmöchten, aber nicht imstande sind es mit Leichtigkeit

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zu tun; denn ihr Vermögen läßt sie bald im Stich, undso sehen sie sich denn gezwungen, sich anderweitigdie Mittel zu verschaffen. Zugleich ist der Grunddafür, daß sie rücksichtslos nehmen was sie erlangenkönnen, der, daß ihre Sorge nicht die um das sittlichGebotene ist. Denn fortzugeben ist ihre Neigung; da-gegen machen sie sich nichts aus dem Wie und demWoher. Darum beweisen denn ihre Gaben auch keineedle Gesinnung; sie entsprechen nicht sittlichemEmpfinden; sie stammen nicht daraus und sind auchnicht der Pflicht gemäß. Zuweilen machen sie Leutereich, denen es besser wäre in Armut zu leben, undLeuten von rechtlichem Charakter versagen sie sich;dagegen überhäufen sie mit ihren Gaben Schmeichleroder solche, die ihnen sonst Vergnügen bereiten. Diemeisten von ihnen sind darum auch zu Ausschweifun-gen geneigt. Da sie zum Ausgeben eine leichte Handhaben, so neigen sie zu Aufwendungen für ihre zügel-losen Begierden, und da sie ihr Leben nicht im Hin-blick auf das sittlich Gebotene führen, so Überlassensie sich dem Hange zu sinnlichen Lüsten.

Auf solche Abwege gerät der Mensch mit ver-schwenderischen Neigungen, wenn ihm keine rechteAnleitung zuteil wird. Wird solche Sorgfalt auf ihnverwandt, so könnte er wohl auf den rechten Weg ge-langen, um die rechte Mitte innezuhalten. Dagegengibt es keine Heilung für niedrige, schäbige

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Gesinnung. Hohes Alter und jede Art von Unzuläng-lichkeit pflegt solche niedere Gesinnung zu begünsti-gen. Sie ist in der Tat mit der Natur der Menschenenger verwachsen als die Neigung zur Verschwen-dung; denn die große Mehrzahl ist eher habsüchtig alsgebelustig. Dieses Verhalten hat denn auch weiteAusdehnung und ist sehr vielgestaltig, und man darfbei solch niederer Gesinnung geradezu von einemFormenreichtum sprechen. Da sie in zweierlei besteht,in dem Zuwenigtun beim Fortgeben und in dem Zu-vieltun beim Erraffen, gelangt sie nicht bei allen zuvollständiger Erscheinung. Zuweilen kommen die bei-den Seiten auch getrennt vor, und wie es Leute gibt,die im Erraffen zu weit gehen, so gibt es andere, dieim Fortgeben hinter dem rechten Maß zurückbleiben.Leute, die man mit solchen Bezeichnungen wieKnicker, Knauser, Filze bezeichnet, tun sämtlich zuwenig, wo es sich um das Fortgeben handelt, ohnedaß sie doch nach fremdem Gute strebten und es ansich zu reißen begehrten, die einen aus einer Art vonRechtlichkeit und aus Behutsamkeit, ja nicht etwasVerwerfliches zu tun; denn manche scheinen das Ihri-ge nur deshalb zusammenzuhalten, / oder sie sagendoch wenigstens so, / damit sie niemals in dieZwangslage geraten, etwas sittlich Unerlaubtes tun zumüssen. Dahin gehört denn auch der Pfennigfuchserund was ihm sonst gleicht; seinen Namen hat er

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davon, daß er die Neigung nichts wegzugeben aufshöchste ausgebildet hat. Andere wieder enthalten sichdes Nehmens von fremdem Gut aus Furcht: sie den-ken, daß es sich nicht leicht vermeiden lasse, wenneiner anderen das Ihre nimmt, daß diese dann wiederihm das Seine nehmen, und so begnügen sie sichdamit, daß sie weder nehmen noch geben. Eine zweiteKlasse geht dagegen im Ansichnehmen zu weit; sieraffen von allen Seiten und alles mögliche an sich; sodie Leute, die schimpfliche Geschäfte betreiben, wiedie Dirnenhalter und die Betreiber ähnlicher Gewerbe,die Wucherer, die kleine Summen zu hohem Zinsfußausleihen. Alle diese schöpfen ihren Erwerb aus ver-werflicher Quelle und in verwerflicher Größe. Als dasGemeinsame tritt bei ihnen das Streben nach schimpf-lichem Gewinn entgegen; denn sie alle bedenken sichnicht, um des Gewinnes, auch um eines kleinen Ge-winnes willen, die Schande auf sich zu nehmen. Den-jenigen, die auf unlauterem Wege pflichtwidrig sol-ches an sich reißen was Größe verleiht, wirft man nie-dere Gesinnung nicht vor; so den Gewaltherrschern,die Städte verwüsten und Heiligtümer ausplündern;sondern diese nennt man eher Bösewichter, man schiltsie gottlos und ungerecht. Dagegen gehören dieFalschspieler, die Beutelschneider und Straßenräuberzu den Leuten von niedriger Gesinnung, die nachschimpflichem Gewinn trachten. Gewinn ist das Ziel

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für beide Arten von Menschen, und um seinetwillenbeladen sie sich mit Schande. Die einen setzen sichum zu erraffen den größten Gefahren aus, die anderenbereichern sich an ihren Angehörigen, denen sie viel-mehr noch abgeben sollten. Beide sind auf schimpfli-che Weise gewinnsüchtig, da sie Gewinn aus einerQuelle begehren, aus der man ihn nicht begehren darf.Alles solches Aneignen aber zeugt von niederer Ge-sinnung. Mit Recht bezeichnet man die niedere Gesin-nung als den geraden Gegensatz zur vornehmen Ge-sinnung. Sie bedeutet eine schlimmere Verirrung alsverschwenderische Neigungen: Vergehungen in dieserRichtung begegnen auch häufiger als die im Sinne derVerschwendung, von der vorher die Rede war.

So viel über die vornehme Haltung in Geldsachenwie über die zu ihr im Gegensatz stehenden verkehr-ten Verhaltungsweisen.

b) Die hochherzige Gesinnung und ihre Gegensätze

Daran schließt sich wohl am nächsten eine Ausfüh-rung an über die Hochherzigkeit in Geldsachen; dennauch diese stellt sich als eine in Geldfragen zur Er-scheinung kommende löbliche Eigenschaft dar. Indes-sen erstreckt sie sich nicht wie das was wir eben alsvornehme Gesinnung behandelt haben, auf alle

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Betätigungen in Geldangelegenheiten, sondern nur aufdiejenigen, bei denen es sich um einen beträchtlichenAufwand handelt und in diesen überragt sie die bloßeFreigebigkeit durch die Größe der Opfer, die siebringt. Wie schon der Name (megaloprepeia, Groß-artigkeit im Tun des Geziemenden) andeutet, so ist sieein Aufwand in großem Maßstab, den man geziemen-derweise macht; Größe aber ist etwas Relatives. DerAufwand ist nicht derselbe für einen der ein Kriegs-schiff und für einen der eine Festgesandtschaft ausrü-stet. Was geziemend ist, das richtet sich nach der Per-son, nach dem Gegenstande und nach dem Zwecke.Wer in kleinen Dingen oder in Dingen von mäßigerBedeutung seinen Aufwand nach seiner Stellung be-mißt, den nennt man nicht großherzig, wie etwa denMann, der (bei Homer) sagt: »Oft hab' ich dem Bett-ler gegeben,« sondern nur den der in großen Dingenso verfährt. Dem Hochherzigen eignet vornehme Ge-sinnung: aber deshalb bedeutet Vornehmgesinntseinnoch keineswegs Hochherzigkeit. Die Gesinnung, diein dieser Art von Leistungen unter dem rechten Maßezurückzubleiben pflegt, nennt man Engherzigkeit,diejenige die zu Übertreibungen neigt, Protzentum,ungebildetes Wesen, und was es sonst an derartigenEigenschaften gibt, wo nicht sowohl der Größe nachüber das Pflichtmäßige hinausgegangen wird, sondernwo man hervorglänzen möchte bei ungeeigneten

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Anlässen und in ungeeigneter Art und Weise. Wirwerden später darauf zurückkommen.

Der Hochherzige macht den Eindruck zugleich desverständnisvollen Mannes. Denn er vermag zu ermes-sen, was das Geziemende ist, und große Mittel mitrichtigem Urteil zu verwenden. Wie wir gleich im An-fang bemerkt haben, befestigte Gesinnung erlangtihren bestimmten Charakter durch die Tätigkeiten, dieman gepflegt hat, und die Gegenstände, auf die siesich beziehen. Die Opfer nun, die der Hochherzigebringt, sind groß und geziemend zugleich; das istdenn auch die Beschaffenheit der Gegenstände; dennso wird das große Opfer durch seinen Gegenstand zueinem geziemenden Opfer. Der Gegenstand muß alsodes Opfers und das Opfer des Gegenstandes würdigsein oder noch darüber hinausgehen. Solche Opferwird ein hochherziger Mann darbringen um des edlenZweckes willen, denn das ist bei allen sittlichen Ei-genschaften das Gemeinsame; und er wird sie oben-drein freudig und mit einem gewissen Luxus darbrin-gen, denn genaues Rechnen wäre engherzig. Er wirdmehr darauf bedacht sein, wie sich die Sache am herr-lichsten und glänzendsten, als mit welchen Kostenund wie sie sich am billigsten herstellen läßt. DerHochherzige muß also notwendig eine vornehme Ge-sinnung haben; denn ein vornehm gesinnter Mannverwendet gleichfalls seine Mittel für die rechten

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Zwecke und in der rechten Weise. Darin besteht nunbeim Hochherzigen das Große, d.h. in der Größe desOpfers, während Freigebigkeit sich in denselben Din-gen erweist, und auch wenn der Aufwand der gleicheist, wird er damit eine besonders glänzende Ausstat-tung des Gegenstandes erzielen. Denn der eigentümli-che Vorzug eines Vermögensstückes ist nicht derselbewie der eines solchen zu errichtenden Werkes. EinVermögensstück ist am wertvollsten, wenn es denhöchsten Marktpreis hat, z.B. das Gold; ein solchesWerk aber wird wertvoll durch Größe und Schönheit.Denn dann erweckt es die Bewunderung des Betrach-ters, und solche Bewunderung zu erwecken ist dasGroßartige bestimmt. In der Größe also besteht das,was den Vorzug eines solchen Werkes, seine Großar-tigkeit ausmacht.

Zu den Aufwendungen, denen man ein besonderesVerdienst zuschreibt, zählen diejenigen zu Ehren derGötter: Weihgeschenke, Tempelbauten und Opfer,ebenso alles was einem religiösen Zweck dient undwas in edlem Wetteifer für das Gemeinwesen darge-bracht wird; so wenn man einen Chor glänzend aus-zustatten, ein Kriegsschiff auszurüsten oder auch denMitbürgern eine Bewirtung darzubringen auf sichnimmt. In alledem kommt wie gesagt die Person desLeistenden, wer er ist und welches seine Umständesind. In Betracht; zu diesen muß die Leistung im

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rechten Verhältnis stehen und nicht bloß dem Gegen-stande, sondern auch der Person des Ausrichtendenangemessen sein. Ein armer Mann kann sich aus demGrunde nicht hochherzig erweisen, weil er das Ver-mögen nicht hat, das dazu gehört, um eine große Aus-gabe in angemessener Weise leisten zu können; undunternähme er es dennoch, so würde er etwas Ver-kehrtes tun. Es wäre weder seiner Stellung noch sei-ner Pflicht entsprechend; sittlich aber ist nur das wasmit vernünftigem Urteil getan wird. Dagegen sind zusolchen Aufwendungen diejenigen berufen, die selberoder deren Vorfahren oder Angehörige dergleichenschon früher dargebracht haben, Leute von edler Ab-kunft, hoher Stellung und ähnlichen Vorzügen. Dennalles das verleiht Bedeutung und Würde.

Dies also vor allem bezeichnet den hochherzigenGeber und von dieser Art sind die Aufwendungen, indenen, wie wir gezeigt haben, die Hochherzigkeit zurErscheinung kommt. Sie sind die größten und sindauch die verdienstlichsten. Von den Aufwendungenim Privatleben gehören dahin die einmal vorkommen-den, wie bei einer Hochzeit und dergleichen: fernerdiejenigen, wo die ganze Staatsgemeinde oder dochdie Leute in hoher Stellung miteinander wetteifern, inder Aufnahme fremder Gäste und Beschenkungderselben bei ihrer Entlassung, bei Geschenken undErwiderung von Geschenken. Denn der hochherzige

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Mann treibt Aufwand nicht für seine Person, sondernfür das Gemeinwesen, und seine Gaben haben eineVerwandtschaft mit Weihgeschenken. Im Charakterdes im Ausgeben Hochherzigen liegt auch das, daß ersein Haus in einer seinem Reichtum angemessenenWeise ausstattet, / denn auch hier ist Raum für beson-dere Auszeichnung, / daß er Aufwand macht mehr fürDinge, die lange fortzudauern bestimmt sind, / denndiese sind die würdigsten, / und daß er überhaupt inallen Dingen das Angemessene trifft. Denn es paßtnicht dasselbe für Götter wie für Menschen, nichtdasselbe für einen Tempel wie für ein Grabmal. Undda die Größe jeder Aufwendung sich je nach der Gat-tung des Gegenstandes bemißt, so ist das schlechthinGroßartigste ein großer Aufwand für einen großenZweck, sonst aber jedesmal das, was in diesem beson-deren Falle das Große ist. Und so ist denn das, wasder Bedeutung der Sache nach groß ist, verschiedenvon dem, was dem Aufwande nach groß ist. Ein Ball,sei er auch noch so schön, oder eine Salbenflasche,mag eine gewisse Großartigkeit als Geschenk füreinen Knaben besitzen: aber die Bedeutung ist gering,und von Freigebigkeit dabei nicht die Rede. Der inGeldangelegenheiten hochherzig Gesinnte zeigt sichalso darin, daß er je nach der Art von Zwecken die erbefriedigen will eine gewisse Großartigkeit anstrebt. /denn darin ist es nicht leicht zuweit zu gehen, und daß

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die Ausgabe zugleich seiner Habe und seiner Stellunggemäß bemessen ist.

So also verfährt der hochherzige Geber. Wer derSache zuviel tut, der Protzenhafte, überschreitet wiegesagt das Maß dadurch, daß er einen in der Sachenicht gerechtfertigten Aufwand macht. Er verwendetgroße Mittel da, wo der Ort für geringen Aufwandwäre, und treibt Prunk im Widerspruch mit dem gutenGeschmack. So bewirtet er Vereinsbrüder, als gälte eseine Hochzeit auszurichten, und soll er in der Komö-die einen Chor ausrüsten, so läßt er ihn gleich beimersten Auftreten in Purpurgewändern erscheinen, wiees die Leute in Megara machen. Bei alledem läßt ersich auch nicht von der Rücksicht auf das sittlich Ge-botene leiten, sondern will nur seinen Reichtum zurSchau tragen und meint, er werde dadurch die Augenauf sich lenken. Wo es geboten wäre viel aufzuwen-den, wendet er wenig auf, und wo wenig gebotenwäre, viel. Demgegenüber wird der engherzig Gesinn-te in allen Beziehungen hinter dem rechten Maße zu-rückbleiben. Wo er den größten Aufwand macht, dawird er den Wert der Sache dadurch vernichten, daßer an einer Kleinigkeit zu knausern sucht. Was erauch macht, er muß sich alles erst mühsam abringen,und sein einziger Gedanke ist immer, wie er den Auf-wand möglichst verringern kann; bei alledem klagt erund meint immer, er tue mehr als man irgend von ihm

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verlangen könne. Beide Arten von Gesinnung sind ge-radezu unsittlich, wenn sie auch nicht gerade Schandeeintragen, weil sie dem Nächsten keinen Schadenbringen und auch nicht allzu widerwärtig in dieAugen fallen.

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B. Verhalten zu Ehre und Wirkungskreis

a) Die hochstrebende Gesinnung und ihre Gegensätze

Wir gehen weiter zur Betrachtung der hochstreben-den Gesinnung. Sie erweist sich in der Höhe derZiele, die man sich steckt, wie es schon aus demNamen hervorgeht; welche Art von Zielen das aberist, das wollen wir nun zuerst erwägen. Es ist dafürganz gleichgültig, ob wir die Gesinnung selbst oderden Träger der Gesinnung ins Auge fassen. Als einhochstrebender Mann gilt, wer sich selbst zu hohenDingen berufen glaubt und dazu auch wirklich dieAusrüstung besitzt. Wer sich so einschätzt, ohnewirklich berufen zu sein, der ist eingebildet; einMann von sittlicher Gesinnung aber ist niemals wedereingebildet noch unverständig. Hochstrebend ist alsoein Mann von der bezeichneten Art. Wem nur kleinereZiele angemessen sind, und wer sich richtig so ein-schätzt, der ist vernünftig, aber hochgesinnt ist ernicht. Denn auf der Höhe der Ziele beruht die Hoch-gesinntheit, wie die Schönheit auf einer hohen Figur;Menschen von kleiner Statur können wohl fein undzierlich, aber sie können nicht schön sein. Wer sichhohe Dinge zutraut, ohne die nötigen Eigenschaftenzu haben, der ist aufgeblasen. Wer sich dagegen

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Größeres zutraut als wozu seine Kräfte ausreichen,darf nicht in jedem Sinne für aufgeblasen gelten. Wersich weniger zutraut, als er zu leisten vermöchte, derist kleinmütig, sei es nun, daß ihm hohe oder mäßighohe oder daß ihm nur geringe Ziele angemessen sind,vorausgesetzt nur, daß er sich weniger zutraut, alswozu er wohl das Zeug hätte. Am meisten allerdingsgilt es von dem, der großer Leistungen fähig wäre;denn wie niedrig würde ein solcher sich erst einschät-zen, wenn seiner Natur so hohe Ziele nicht angemes-sen wären!

Der hochstrebende Mann bezeichnet also der Höheseines Strebens nach ein Äußerstes, im Sinne derPflichtmäßigkeit dagegen bezeichnet er die rechteMitte; denn er schätzt sich ein, wie es ihm gebührt,während die anderen ein zu hohes oder ein zu niedri-ges Selbstbewußtsein haben. Hält er sich nun hoherDinge, ja der höchsten für wert, und hat er darin recht,so wird dabei eines am meisten in Betracht kommen.Von Wert spricht man mit Bezug auf die äußerenGüter. Als das höchste von diesen aber betrachten wirdoch wohl das, was wir den Göttern darbringen, daswonach die Menschen von hohem Verdienst am mei-sten trachten und was den Kampfpreis bildet für dieherrlichsten Taten: das aber ist der Ruhm; er ist mit-hin das höchste der äußeren Güter. Zu Ehrenerweisund Fehlen desselben also verhält sich der

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Hochstrebende wie man sich dazu verhalten soll. Daßdas Ziel der Hochstrebenden der Ruhm ist, bedarf kei-ner weiteren Ausführung; denn der Ruhm ist das, wassie am meisten beanspruchen, aber ein Ruhm, wie erihrem Verdienste entspricht. Der Kleinmütige bleibtdarin hinter dem rechten Maße zurück, sowohl in demwas er für sich beansprucht als in der Würdigung, dieer dem Hochgesinnten erweist. Dagegen geht der Auf-geblasene in seinen Ansprüchen über das rechte Maßhinaus, nicht aber in der Würdigung des Hochgesinn-ten. Demnach wird der Hochgesinnte, sofern er denhöchsten Anspruch erheben darf, auch der Vorzüg-lichste sein; denn der höhere Preis gebührt immer demTüchtigeren, und der höchste kommt dem Allertüch-tigsten zu. So muß denn der wahrhaft Hochgesinntewohl ein vorzüglich hervorragender Mann sein, undman darf sagen, er besitzt das, was in jeder Art vonTrefflichkeit das Große bezeichnet.

Zu seinem Wesen stimmt es also schlechterdingsnicht, schimpflich sich aus dem Staube zu machenoder irgend jemand Unrecht zu tun. Welcher Beweg-grund könnte auch einen Mann bestimmen, eineschimpfliche Tat zu begehen, dem kein Ziel zu hochist? Und geht man alles einzelne durch, so wäre eseine lächerliche Vorstellung: ein hochgesinnter Mann,der kein guter Mann wäre. Auch des Ruhmes wäre ernicht wert, wenn er innerlich nichts laugte; denn der

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Ruhm ist der Kampfpreis der Tugend, und den Tüch-tigen fällt er zu. So scheint denn die Art des Hochge-sinnten gleichsam das Juwel zu sein unter den Tugen-den. Sie erhöht dieselben und existiert nicht ohne sie.Darum ist es schwer ein in Wahrheit hochgesinnterMann zu sein; denn es wäre nicht möglich ohne einesittlich durchgebildete Persönlichkeit.

Um hohe Ehrenstellung also und um das Entbehrenderselben dreht sich das Streben des Hochgesinnten.Wird ihm hohe Ehre, und wird sie ihm von würdigenLeuten erwiesen, so wird ersieh dessen in rechtemMaße erfreuen, weil er meint zu erlangen was ihm zu-kommt oder auch weniger als ihm zukommt; denn einRuhm, der dem vollkommenen Verdienst entspräche,findet sich überhaupt nicht. Indessen wird er sichauch das gern gefallen lassen, weil man gar nicht im-stande ist ihm noch Größeres zu erweisen. Dagegenwird er sich aus Ehre, die ihm beliebige Leute und ausgeringfügigem Anlaß erweisen, gar nichts machen;denn das sind nicht die Ehren, die ihm gebühren. Dasgleiche gilt von Ehrenkränkungen; denn diese habenmit ihm gerechterweise gar nichts zu schaffen.

Dem Hochgesinnten schwebt also wie gesagt alsZiel am meisten Ruhm und Ehrenstellung vor; indes-sen wird er sich doch auch zu Reichtum, Machtstel-lung und überhaupt zu jeder Art von äußerem Glückund Unglück ein gemäßigtes Verhalten wahren, wie

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es sich auch fügen möge. Er wird im Glück nichtübermäßig jubeln noch im Unglück vom Schmerzsich niederdrücken lassen; nicht einmal zum Ruhmewird er sich so stellen, der doch am höchsten steht.Denn Machtstellung und Reichtum sind begehrens-wert um der Auszeichnung willen, die sie eintragen;wenigstens wünschen diejenigen, die sie besitzen,durch sie Auszeichnung zu erlangen. Wem aber derRuhm sogar etwas Geringes ist, dem ist auch das an-dere gering. Solche Leute sieht man darum wohl alshochmütig an.

In der Regel wird hochstrebende Gesinnung durcheine äußere Glückslage gefördert. So hält man Leutevon edler Abstammung und ebenso Machthaber undreiche Leute besonderer Ehre für würdig. Sie ragennämlich vor den anderen hervor, und alles was inetwas Gutem hervorragt, das genießt höhere Ehre.Dergleichen nährt deshalb auch hochstrebenden Sinn,schon weil manche Leute ihnen deshalb Ehre erwei-sen. In Wahrheit allerdings ist allein der Mensch mitsittlichen Vorzügen der Ehre wert; wer nun beides zu-gleich besitzt, der wird der Ehre noch mehr für wertgehalten. Diejenigen dagegen, die ohne sittliche Vor-züge die Güter von der bezeichneten Art besitzen,haben weder gerechten Grund, für sich selber großeAnsprüche zu erheben, noch werden sie mit Rechthochgesinnt genannt. Denn das kommt niemandem zu

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ohne eine durchgebildete sittliche Persönlichkeit. Da-gegen werden solche Leute, die diese Güter besitzen,auch hochfahrend und gewalttätig; denn wo kein sitt-licher Charakter ist, da ist es nicht leicht, eine glän-zende äußere Glückslage mit Verstand zu ertragen.Da sie sie aber nicht so zu ertragen vermögen unddoch die anderen zu überragen meinen, so sehen sieauf diese von oben herunter und folgen selber ihrenbeliebigen Gelüsten. Sie möchten es dem hochgesinn-ten Manne nachtun, ohne doch ihm wirklich Ähnlichzu sein, und nehmen, seine Manieren an, wo sie esnur immer können. Sie tun nicht was der sittlichenPflicht entspricht, und sehen doch auf andere Men-schen von oben herab. Der hochgesinnte Mann hat einRecht, so auf andere herabzusehen; denn er beurteiltsich und die anderen richtig; die Mehrzahl aber tut es,ohne eine Berechtigung dazu zu haben.

Der hochgesinnte Manne ist nicht um geringenPreis waghalsig, noch liebt er das Wagnis; denn esgibt wenige Dinge, die er der Mühe für wert hält. Da-gegen wo es hohe Zwecke gilt, da stürzt er sich in dasWagnis, und wenn er in der Gefahr ist, schont er seinLeben nicht, weil er denkt, das Leben habe keinen sohohen Wert, daß es um jeden Preis festgehalten zuwerden verdiente. Er ist der rechte Mann, um Wohlta-ten zu erweisen; Wohltaten zu empfangen dagegenbeschämt ihn. Denn jenes ist das Kennzeichen des

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Höherstehenden, dieses das des Abhängigen. Empfan-gene Wohltat erwidert er mit größerer; denn so bleibtihm der verpflichtet, der sie ihm zuerst erwiesen hat,und dieser ist nunmehr selbst der mit Huld Behandel-te. Hochgesinnte Menschen pflegen sich mehr dessenzu erinnern, was sie an Wohltat erwiesen, als derer,von denen sie Dienste empfangen haben; denn derje-nige, der Dienste empfangen hat, ist abhängig vondem, der sie erwiesen hat; er aber liebt es, der Höher-stehende zu sein. So will er auch gern in jenem Sinnebekannt sein und nur mit Verdruß in diesem. So er-klärt es sich auch, daß Thetis dem Zeus nicht dieDienste vorhält, die sie ihm erwiesen, und ebenso dieLakonier nicht den Athenern, dagegen aber wohl dieGunst, die sie erfahren haben. Ein Zug im Charakterdes Hochgesinnten ist auch der, daß er niemals oderdoch nur widerstrebend andere um etwas bittet, dage-gen bereitwillig Dienste erweist, und daß er sich Leu-ten von hoher Stellung oder in glänzender Lage stolz,Leuten in mittlerer Lage dagegen leutselig erweist.Denn jenen gegenüber sich als den Überlegenen zugebärden, ist schwierig und brav, diesen gegenüber istes leicht; und vor jenen sich stolz zu erweisen istnicht unedel, es bei Niedrigstehenden zu tun ist unge-bildet: es ist damit gerade so als wollte einer seineKraft an den Schwachen auslassen. Er hat ferner nichtdie Art, sich in Ehrenstellungen oder da wo andere die

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erste Rolle spielen, einzudrängen; hier zeigt er sichunbeweglich und zurückhaltend, sofern es sich nichtum hohe Ehrenstellung und große Aufgaben handelt.Er unternimmt nur weniges, aber dann Großes undRuhmvolles. Selbstverständlich zeigt er auch offenseinen Haß wie seine Liebe; denn nur wer Furcht hatist hinterhaltig und versäumt eher die Sorge für dieWahrheit als die für seinen Ruf. Er spricht und han-delt offen; denn er ist freimütig, weil er die anderenÜbersicht, und ein Wahrheitsfreund, soweit er sichnicht mit ironischer Verkleinerung äußert; solcher Iro-nie aber bedienter sich gegenüber dem großen Hau-fen. Er vermag nicht nach dem Sinne eines anderen zuleben als höchstens nach dem eines Freundes; dennjenes wäre Sklavenart. Deshalb sind die Schmeichlersämtlich Knechte, und gemeine Naturen sindSchmeichler. Auch zur Bewunderung ist er wenig ge-neigt, / denn in seinen Augen ist nichts groß, /undwenig zur Rachsucht; denn einem Hochgesinnten liegtes fremd nachzutragen, besonders erlittenes Unrecht;lieber sieht er darüber hinweg. Er spricht nicht gernvon den Menschen; weder von sich noch von einemanderen erzählt er Geschichten; denn es liegt ihmnichts daran Beifall zu finden, und er liebt es auchnicht, daß von anderen geringschätzig gesprochenwerde. Dagegen ist es wiederum auch nicht seine Art,andere zu rühmen, und darum auch nicht, sie schlecht

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zu machen, nicht einmal seine Feinde, es sei denn,daß man ihn dreist herausfordere. Am wenigsten läßter sich herab, bei solchem was unausweichlich odersolchem was unbedeutend ist zu jammern oder zu fle-hen; denn das wäre das Benehmen eines Menschen,den dergleichen Dinge tiefer bewegen. Seine Neigungzieht ihn, lieber das Edle, das keinen praktischen Nut-zen hat, als das Nützliche und Einträgliche zu erwer-ben; denn das ist die Gesinnung dessen, der sichselbst genügt. Die Bewegungen des Hochgesinntensind langsam, seine Stimme tief, seine Sprache getra-gen. Denn wem wenige Dinge sehr am Herzen liegen,der hat keine Eile, und wer nichts für groß hält, dererhebt nicht den Ton. Raschheit der Bewegung undErheben der Stimme haben aber gerade in jenen Din-gen ihren Grund.

Das wäre das Bild des Hochgesinnten. Wer hinterdem Maß darin zurückbleibt, ist blöde, und wer esüberschreitet, aufgeblasen. Auch diese Leute geltenkeineswegs für schlechte Menschen, / denn sie tunkeinem etwas zuleide, / aber doch für Menschen auffalschen Wegen. Denn ein blöder Mensch, der wohlzu Großem berufen wäre, beraubt sich selber dessenwas ihm nach Fug und Recht zukommt, und manmöchte meinen, er hätte doch irgendwie einen Scha-den an sich, weil er sich selbst des Guten nicht fürwürdig hält, und zugleich, er verkannte sich selbst.

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Denn sonst würde er nach dem streben, zu dem er be-rufen ist, da es sich doch um wertvolle Dinge handelt.Indessen muß man solchen Leuten nicht sowohl Man-gel an Verstand, als Schwäche des Willens zuschrei-ben; eine solche Selbstbeurteilung aber zieht aller-dings die Menschen mit der Zeit auch wohl innerlichherab. Denn jeder strebt nach dem was ihm zukommt;sie aber stehen auch von edlen Taten und Bestrebun-gen ab, weil sie sich dazu für untauglich halten, undverzichten damit gleichermaßen auch auf die äußerenGüter. Dem gegenüber fehlt es den aufgeblasenenMenschen wirklich an Verstand und Selbsterkenntnis,und sie tragen das auch ausdrücklich zur Schau. Siedrängen sich, ohne doch die Fähigkeit zu besitzen, zuden Ehrenstellen, um dann ihrer Unzulänglichkeitüberführt zu werden. Sie treten auf in schönen Klei-dern, in stolzer Haltung und behängt mit sonstigenÄußerlichkeiten; sie möchten, daß ihre glücklichen,äußeren Verhältnisse allgemein bekannt werden, undlassen davon ein großes Gerede machen, um darauf-hin zu Ansehen zu gelangen. Den eigentlichen Gegen-satz aber zu hochstrebender Gesinnung bildet docheher die Blödigkeit als die Selbstüberschätzung. Siekommt häufiger vor und ist das schlimmere Übel.

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b) Die bescheidene Gesinnung

Die hochstrebende Gesinnung also hat, wie wirdargelegt haben, hohe Ehren zum Ziele. Das gleicheZiel nun darf man als noch für eine andere Art vonsittlicher Gesinnung geltend bezeichnen, wie wirgleich im Anfang bemerkt haben, die zur hochstreben-den Gesinnung in einem ähnlichen Verhältnis stehenmöchte, wie die vornehme Gesinnung in Geldsachenzur Großherzigkeit steht. Jene vornehme Gesinnungund die, die wir jetzt im Auge haben, verzichten beideauf das Große und setzen, uns dafür zum mäßig Gro-ßen und zum Geringen in das rechte und geziemendeVerhältnis. Wie es aber im Abgeben und Entgegen-nehmen von Geldwerten eine rechte Mitte, ein Zuvielund ein Zuwenig gibt, so gibt es auch im Strebennach Ruhm, dem was recht ist gegenüber, ein Mehrund ein Weniger, und das in bezug sowohl auf dieMittel wodurch, als auf die Art und Weise wie manRuhm erstreben soll. Den Ehrgeizigen tadelt man,weil er mehr als recht ist und mit unrechten Mittelnnach Ruhm strebt, denMann ohne Ehrgeiz, weil erauch nicht durch edle Taten Ehre zu erwerben sichzum Ziele setzt. Es kommt vor, daß man dem Ehrgei-zigen seine Achtung gewährt als einem mannhaft ge-sinnten und für das Edle begeisterten, und dem Mann

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ohne Ehrgeiz als einem gemäßigten und besonnenenMann, wie wir schon oben bemerkt haben. Offenbarhat das Wort Ehrgeiz (philotimon), da wir das Wort,das in der Zusammensetzung die Neigung zu etwasausdrückt, in verschiedenem Sinne gebrauchen, auchnicht immer die gleiche Bedeutung; wir billigen ihn,wenn wir dabei an ein höheres Streben als das derMehrzahl, und tadeln ihn, wenn wir an ein eifrigeresStreben als das sittlich angemessene denken. Da aberfür die Bezeichnung der rechten Mitte ein besondererAusdruck nicht geprägt ist, so macht es den Eindruck,als stritten sich die beiden Extreme um den dadurchleer gelassenen Platz. Wo es aber ein Zuviel und einZuwenig gibt, da gibt es auch eine rechte Mitte. Manstrebt nach Ruhm mehr oder weniger als recht ist;also gibt es auch ein Streben im rechten Maß. Dieseletztere Haltung als festgewordene Gesinnung ist es,die sich Hochachtung erwirbt; es ist die rechte Mittein dem Streben nach Ruhm, für die es ein eigenesWort nicht gibt. Dem Ehrgeiz gegenüber nimmt siesich aus als Gleichgültigkeit gegen die Ehre, solcherGleichgültigkeit gegenüber als Ehrgeiz, und beidengegenüber als wäre sie das eine und das andere. Sonun verhält es sich eigentlich auch bei den anderenArten von sittlicher Gesinnung; nur daß hier die bei-den Extreme allein den Gegensatz zu bilden scheinen,weil es für die rechte Mitte an einem eigenen

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Ausdruck fehlt.

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3. Verhalten zu den anderen Menschen imUmgang

a) Gelassenheit

Mit Gelassenheit pflegt man ein mittleres Verhal-ten da zu bezeichnen, wo es sich um zornige Erregunghandelt, und zwar teilt man, weil es für die rechteMitte und eigentlich auch für die beiden Extreme kei-nen eigenen Ausdruck gibt, die Bedeutung der rechtenMitte, die unbenannt ist, der Gelassenheit zu, wäh-rend letztere eigentlich nach der Seite des Zuwenighinneigt. Das Zuviel darf man als Hang zu zornigerErregung bezeichnen. Der innere Zustand ist derZorn; die Ursachen, die ihn erregen, sind zahlreichund von der verschiedensten Art. Wer da zürnt, woder Anlaß und die Personen den Zorn rechtfertigen,wer in der rechten Weise, zur rechten Zeit und dierechte Zeitdauer hindurch zürnt, dessen Verhalten fin-det Billigung; man kann einen solchen gelassen nen-nen, vorausgesetzt, daß Gelassenheit das billigens-werte Verhalten bedeutet. Gelassen, das bedeutet, daßman sich nicht aufregen, von der Leidenschaft sichnicht hinreißen läßt, sondern in der Weise seinemZorn Raum gibt, wie rechte Vernunft es gebietet, beidem gegebenen Anlaß und die rechte Zeitdauer

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hindurch. Wo der Gelassene sich dagegen vergeht, damöchte es eher in der Richtung auf das Zuwenig ge-schehen. Denn dem Gelassenen liegt vermöge seinerNeigung nicht die Vergeltung, sondern mehr dieNachgibigkeit nahe. Das Zurückbleiben hinter derrechten Mitte aber, sei es aus einer Art von Tempera-mentlosigkeit, sei es aus irgendeinem anderen Grun-de, ist Gegenstand der Mißbilligung. Leute, die danicht in zornige Aufwallung geraten, wo es gebotenwäre, erscheinen als verkehrte Menschen, gerade wiediejenigen, die nicht in der rechten Weise, nicht zurrechten Zeit, noch aus dem rechten Anlaß zürnen.Jener macht den Eindruck, als habe er keine Empfin-dung und mache es ihm keinen Schmerz, und da ernicht zürnt, als sei er auch nicht imstande sich zuwehren, während es doch Sklavensinn verrät, still zuhalten, wenn man beschimpft wird, oder seine Ange-hörigen preiszugeben. Dagegen, daß man zu weitgeht, das kommt in allen Beziehungen vor; man zürntden Personen und aus Anlässen, wo es nicht recht ist;man zürnt heftiger, schneller und längere Zeit hin-durch, als recht ist. Indessen das kommt nicht alleszusammen bei einem und demselben Menschen vor;das wäre auch nicht wohl möglich. Denn das Bösezerstört sich selbst, und tritt es in vollständigerForm rein hervor, so wird es existenzunfähig. Einjähzorniger Mensch gerät in Zorn, schnell, Personen

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gegenüber und aus Anlässen, wo es nicht recht ist,und in übermäßigem Grade; aber er beruhigt sichauch schnell, und das ist noch das Beste an ihm. Jenesbegegnet ihm, weil er seine Aufwallung nicht inSchränken hält, sondern mit der Offenheit, die seineHeftigkeit ihm eingibt, wiederschilt und sich dann be-ruhigt. Dagegen im Übermaß aufgeregt ist der Zank-süchtige; er zankt über alles und aus jedem Anlaß:daher der Name. Verbittert ist der schwer zu Versöh-nende, der lange den Zorn festhält; er verschließt dieErregung in seinem Innern und hört damit erst auf,wenn er Vergeltung geübt hat. Denn geübte Vergel-tung beschwichtigt die Erregung, indem sie das Ge-fühl des Schmerzes durch ein Gefühl der Befriedigungersetzt. Geschieht das nicht, so wirkt der Druck wei-ter. Denn da die Erregung nicht offen heraustritt, sokann einem solchen auch keiner gut zureden; innerlichaber die Erregung zu verarbeiten, dazu braucht es derZeit. Diese Art von Menschen ist sich selbst und denvertrautesten Freunden die schwerste Last. Von denje-nigen dagegen, die aus Anlässen sich aufregen, wo esnicht der Fall sein sollte, oder heftiger und längereZeit aufgebracht sind als recht ist, und die sich ohneVergeltung und Rache zu üben nicht versöhnen las-sen, von diesen sagt man, sie seien schwer zu behan-delnde Leute. Als den Gegensatz der Gelassenheit be-trachtet man mehr das Übermaß als das Zuwenig.

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Jenes kommt häufiger vor, und es liegt auch dermenschlichen Natur näher, Vergeltung zu üben. Fürdas Zusammenleben sind diese schwer zu behandeln-den Menschen die schlimmeren, wie früher bemerktund wie das Ausgeführte bestätigt.

Die Entscheidung darüber, auf welche Weise, wel-chen Personen, aus welchem Anlaß, wie lange Zeitman zürnen soll, und wo die Grenze liegt zwischendem richtigen und dem falschen Verhalten, läßt sichnicht leicht treffen. Wer nur wenig vom rechten Wegeabweicht, sei es in der Richtung auf das Zuviel oderauf das Zuwenig, unterliegt keinem Tadel. Bisweilenlobt man diejenigen, die nicht weit genug gehen, undnennt sie sanftmütig, die aber, die heftig zürnen, cha-raktervoll, als Leute, die zu leitender Stellung befä-higt seien. Wie weit nun und in welcher Weise je-mand vom rechten Wege abweichen muß, um Tadelzu verdienen, das läßt sich nicht leicht in bestimmtenSätzen formulieren; denn die Entscheidung liegt jenach der Natur des Einzelfalles bei der unmittelbarenEmpfindung, indessen ist doch so viel offenbar, daßdie Charaktereigenschaft, die Mitte einzuhalten, dergemäß man denjenigen Personen, aus denjenigen An-lässen und in der Weise, wie es sittlich geboten ist,zürnt und allen anderen dahin gehörenden Bestim-mungen genügt, volle Billigung, daß dagegen das Zu-weitgehen und das nicht Weitgenuggehen Tadel

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verdient und zwar nur leichten, wenn die Abwei-chunggering, stärkeren, wenn sie größer, und ganzschweren, wenn sie sehr groß ist. Soviel geht aus alle-dem mit Sicherheit hervor, daß die Charaktereigen-schaft, die Mitte innezuhalten, diejenige ist, nach derman zu streben hat.

Damit mag erledigt sein, was über die Charakterei-genschaften zu sagen ist, die sich auf den Affekt desZornes beziehen.

b) Freundlichkeit

Im gesellschaftlichen Verkehr, im Umgang und inder Vereinigung zu Unterhaltung und Geschäft geltendie einen als Allerweltsfreunde; das sind die, die an-deren zuliebe alles für gut befinden, in keinem PunkteEinsprache erheben, sondern meinen, sie müßten den-jenigen, mit denen sie zusammentreffen, jede peinli-che Empfindung ersparen. Diejenigen, die im geradenGegensätze zu ihnen in jedem Punkte Widerspruch er-heben und sich nicht im mindesten darum kümmern,ob sie anderen auch keinen Verdruß bereiten, nenntman übellaunig und bärbeißig. Daß nun beide be-zeichneten Verhaltungsweisen tadelnswert sind, dar-über ist kein Zweifel, und ebensowenig darüber, daßdie Mitte dazwischen das Gebotene wäre, wonach

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man dasjenige billigt, was zu billigen Pflicht ist, undin der Weise wie es Pflicht ist, und in gleichem Sinneverfährt, wo man etwas mißbilligt. Einen besonderenAusdruck hat man für diese Mitte nicht; nächst ver-wandt ist sie der Freundlichkeit. Denn wer diese mitt-lere Linie einzuhalten die Fertigkeit besitzt, das istder, den wir als den ehrlich gesinnten Freund bezeich-nen, indem wir nur noch hinzunehmen, daß er uns inseinem Innern freundlich gesinnt ist. Von der Freun-desgesinnung unterscheidet sich seine Art darin, daßbei ihm der Gefühlsaufwand und die liebevolle Zunei-gung für die Genossen keine Rolle spielt. Denn nichtaus Zuneigung oder Abneigung verhält er sich zuallen Einzelheiten in der gebührenden Weise, sondernauf Grund seiner Charakterbestimmtheit. Er wirdganz das gleiche Verfahren Unbekannten wie Bekann-ten, Vertrauten wie Fremden gegenüber innehalten,und nur in jedem einzelnen Falle sich danach richten,wie es sachlich angemessen ist. Denn allerdings istdie Verpflichtung, Rücksichten zu nehmen und nie-mand Verdruß zu bereiten, fremden Menschen gegen-über nicht ganz dieselbe wie eng vertrauten Menschengegenüber.

Wir haben im allgemeinen bemerkt, daß ein so ge-sinnter Mann im Umgang sich benehmen wird wieman sich benehmen soll, und daß er, indem er immerdas sittlich Gebotene und das Ersprießliche im Auge

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behält, darauf abzielen wird, keine peinlichen, son-dern vielmehr erfreuliche Empfindungen wachzurufen.Denn im Grunde handelt es sich dabei immer um dieangenehmen und verdrießlichen Empfindungen, wiesie im geselligen Umgang sich ergeben. Wenn sichihm das Streben, einen angenehmen Eindruck hervor-zurufen, als unsittlich oder schädlich erweist, so wirder es unterdrücken und sich nicht scheuen, auch unan-genehme Empfindungen ausdrücklich zu erregen. Undso wird er die Handlung eines anderen, die Bedenken,und nicht geringes Bedenken, erregt oder gar Schadeneinträgt, während der eingelegte Widerspruch dochnur eine geringe Verdrießlichkeit hervorruft, nicht bil-ligen, sondern seiner Mißbilligung offenen Ausdruckverleihen. Im Umgang wird er zwischen hochgestell-ten und gewöhnlichen Leuten, zwischen näheren undentfernteren Bekannten wohl zu unterscheiden wissenund ebenso die sonstigen Verschiedenheiten beachten.Er wird jeder Klasse von Menschen das erweisen, wasihr gebührt, und während er es an sich vorziehenmöchte, mit den anderen sich mitzufreuen, und sichlieber davor hüten möchte Verdruß zu erregen, wirder doch die Folgen, wenn sie irgend schwerer ins Ge-wicht fallen, ins Auge fassen, / ich denke dabei an dassittlich Gebotene und das Ersprießliche, / und umeiner erfreulichen Folge willen, die sich weiterhin alseine beträchtliche erweisen möchte, wird er eine

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kleine Verdrießlichkeit zu erregen kein Bedenken tra-gen.

So benimmt sich der, der die rechte Mitte innehält;einen Ausdruck um ihn zu bezeichnen gibt es nicht.Von denen, die sich nur immer beliebt machen wol-len, heißt derjenige, der nur darauf zielt sich ange-nehm zu erweisen, ohne daß ihn ein fremdartigesMotiv triebe, ein gefälligerMensch; wer es tut umeinen Vorteil zu erlangen wie Geld und Geldeswert,ein Schmeichler; dagegen wem nichts recht zu ma-chen ist und wer alles übel nimmt, den haben wirschon als den übellaunigen und bärbeißigen Men-schen bezeichnet. Da es aber für das mittlere Verhal-ten keinen eigenen Ausdruck gibt, so stellt sich derGegensatz als der zwischen den beiden Extremen dar.

c) Wahrhaftigkeit

Auf beinahe dieselben Gegenstände nun beziehtsich auch das mittlere Verhalten zwischen ruhmredi-ger Vergrößerungssucht und ironischem Verkleine-rungsstreben. Auch für dieses gibt es kein eigenesWort. Es kann aber nicht schaden, auch diese Dingenäher ins Auge zu fassen; denn wir lernen dadurch diesittliche Forderung besser verstehen, indem wir daseinzelne durchgehen, und befestigen uns in der

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Gewißheit, daß das rechte sittliche Verhalten ein In-nehalten der rechten Mitte bedeutet, wenn wir sehen,daß es für alle Verhältnisse gleichmäßig gilt.

Davon, wie im geselligen Umgang angenehme undverdrießliche Empfindungen erregt werden, ist dieRede gewesen; wir wollen jetzt von derWahrhaftig-keit und Unwahrhaftigkeit sprechen, wie sie gleich-mäßig im Reden, im Handeln und in der Miene, dieman annimmt, hervortritt.

Wer ruhmredig übertreibt, der hat die Absicht, denSchein zu erwecken, als hätte er Eigenschaften, dieeinem zur Ehre gereichen, während er sie gar nichtoder nur in geringerem Maße hat; wer ironisch redet,sucht umgekehrt die Eigenschaften, die er hat, zu ver-leugnen oder zu verringern; dagegen der, der in derMitte zwischen beiden steht, gibt sich wie er ist derWahrheit gemäß im Leben und in der Rede, indem ersich zu dem bekennt was er wirklich an sich hat, undes weder größer noch kleiner darstellt als es ist. Jededieser Verhaltungsweisen kann man mit bestimmterAbsicht oder ohne solche Absichtlichkeit innehalten.Wo man sich nicht von einer bestimmten Absicht lei-ten läßt, da redet und handelt und lebt man so wieman innerlich beschaffen ist. Unwahrhaftigkeit ist nunan und für sich etwas Niedriges und Tadelnswertes,dagegen Wahrhaftigkeit edel und löblich. So ist dennauch der, der die Wahrheit sagt, als der, der die Mitte

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innehält, des Lobes wert; im Gegensätze zu ihm sinddiejenigen, die die Unwahrheit sagen, beide tadelns-wert, allerdings in höherem Grade der, der es nach Arteines Ruhmredigen tut.

Wir wollen nunmehr von beiden handeln, zuvör-derst jedoch von demjenigen, der bei der Wahrheitbleibt. Es ist hier nicht davon die Rede, daß einer beigeschäftlichen Verhandlungen sich wahrhaftig zeigt,noch von einem Verhalten, das unter den Gesichts-punkt der Ungerechtigkeit oder der Gerechtigkeit fällt;/ denn das würde eine andere Gattung von sittlichenEigenschaften betreffen; / sondern von der Wahrhaf-tigkeit in Wort und Lebensführung in den Fällen, wokein besonderes Interesse zu wahren ist und wo einernur seine befestigte Gesinnung bewährt. Ein solcherMann darf als ein Mann von ehrenwertem Charaktergelten. Denn der Wahrheitsfreund, der auch da wahr-haftig ist, wo keinerlei Interesse ins Spiel kommt,wird da, wo etwas darauf ankommt, erst recht bei derWahrheit bleiben. Er wird sich vor der Abweichungvon der Wahrheit als vor etwas Verwerflichem hüten,wie er sich schon auf Grund seiner Natur davor be-wahrte. Ein solcher Mann ist alles Preises wert. Woer von der Wahrheit abweicht, da neigt er sich eherdazu, in seiner Aussage hinter dem wirklichen Be-stande zurückzubleiben; denn das scheint ihm besserangebracht, weil Übertreibung lästig ist. Wer ohne

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bestimmtes Interesse den Schein erregen will, daß erhöheren Wert habe als er wirklich hat, hat zwar einenahe Verwandtschaft mit niedriger Gesinnung, / dennsonst würde er nicht Freude an der Unwahrhaftigkeithaben, doch erscheint er mehr eitel als schlecht. Tuter's aus Interesse, so ist der nicht übermäßig tadelns-wert, der es wie der Renommist des Ruhmes oder derEhre wegen tut; wer es um Geldes oder um Geldes-wertes willen tut, zeigt eine minder anständige Gesin-nung. Das großtuerische Wesen beruht nicht auf einerbesonderen Anlage, sondern auf ausdrücklichem Vor-satz; denn großtuerisch ist einer vermöge seiner dau-ernd bewiesenen Haltung, dadurch daß er diesen Cha-rakter angenommen hat, gerade wie auch wer die Un-wahrheit sagt, entweder an der Unwahrhaftigkeit sel-ber seine Freude hat oder dabei nach Ansehen oderGewinn strebt. Diejenigen, die sich großtuerisch be-nehmen um des Ansehens willen, nehmen den Scheinvon Eigenschaften an, um deren willen man jemandachtet und glücklich preist: die es des Gewinneswegen tun, suchen sich den Schein von solchen Ei-genschaften beizumessen, von denen auch die Neben-menschen einen Genuß haben, und deren Nichtvor-handensein sich verbergen läßt, wie die eines kundi-gen Sehers, eines Weisen oder Arztes. Das ist dennauch meistens der Grund, aus dem die Leute denSchein derartiger Eigenschaften annehmen und damit

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großtun, und die bezeichneten Motive sind es, die siedabei leiten. Ihnen gegenüber erscheint der Ironische,der das was er hat in seiner Aussage verkleinert, alsein Mann von gebildeterem Charakter. Denn die An-nahme, daß er des Gewinnes halber so spreche, istnicht gestattet; er will nur das vermeiden, was auf-dringlich erschiene. Am meisten lehnen solche Leutedas von sich ab, was Ruhm verleiht; so pflegte es jaauch Sokrates zu machen. Leute, die geringfügige undganz geläufige Eigenschaften zu besitzen vorgeben,nennt man Hans in allen Gassen; ihnen wird am ehe-sten Geringschätzung zuteil. Bisweilen erscheint esals Großtuerei, z.B. wenn einer sich allzueinfach nachArt der Lakedämonier kleidet. Denn wie in der Über-treibung, so kann man auch in allzuweitem Zurück-bleiben sich als großtuerisch erweisen. Wer die Ironiemit verständigem Maße verwendet und sich in bezugauf solches ironisch äußert, was nicht zu klar und of-fenkundig vor den Füßen liegt, der erscheint als einfeiner und witziger Mensch. Den eigentlichen Gegen-satz zum Wahrhaftigen bildet aber augenscheinlichder Ruhmredige; denn er ist der Verkehrtere.

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d) Heiterkeit

Weiter aber darf man auch für die Zeiten des Aus-ruhens und der heiteren Erholung in denselben eineArt des geselligen Benehmens als die angemessenebezeichnen, diejenige die im Sprechen wie im Zuhö-ren den rechten Inhalt und die rechte Form zu wahrenversteht. Dabei ist ein Unterschied zwischen den Äu-ßerungen, die man in diesem Verhältnis selbst macht,und dem Anhören der Äußerungen, die andere ma-chen.

Daß es auch hier ein Hinausgehen über die rechteMitte und ein Zurückbleiben hinter derselben gibt,liegt klar zutage. Diejenigen, die sich in scherzhaftemTun zu weit gehen lassen, dürfen als Spaßmacher undungebildete Menschen gelten. Sie streben überall nurimmer das an, was Lachen hervorruft, und zielenmehr darauf andere zum Lachen zu bringen als mitihren Äußerungen sich in den Grenzen des Anstandeszu halten und demjenigen, dem der Spott gilt, nichtweh zu tun. Wer dagegen selbst nie einen Scherzmacht und den Scherz, den ein anderer macht, un-freundlich aufnimmt, darf als übellaunig und sauer-töpfisch gelten. Leute, die sinnig zu scherzen verste-hen, nennt man geistreich und gewandt; letzteresWort bedeutet soviel wie reich an Wendungen. Man

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darf dergleichen als Bewegungen des inneren Lebensansehen und, wie man den Leib nach seiner Beweg-lichkeit beurteilt, so auch das innere Leben danachbeurteilen. Da nun der Scherz Vergnügen bereitet unddie meisten Menschen an heiteren Wendungen undam Spott größere Freude haben als eigentlich rechtist, so nennt man wohl auch die Spaßmacher geist-reich als angenehme Gesellschafter. Daß hier aber einUnterschied, und kein geringer, zu machen ist, gehtaus dem oben Gesagten hervor. Der Gemütsart, diedie rechte Mitte innehält, ist auch der sichere Takt ei-gentümlich. Den taktvollen Menschen bezeichnet es,daß er sagt und anhört, was einem ehrenwerten undvornehmen Sinne wohl ansteht. Es gibt solches, wasein so gesinnter Mann in scherzhafter Absicht wohlgeziemenderweise sagen und was er auch anhörendarf; doch bleibt ein Unterschied zwischen demScherz, den ein vornehmer, feinsinniger Mann, unddem, den ein Sklave macht, zwischen dem des Gebil-deten und des Ungebildeten. Das kann man schon ander alten und an der neuen Komödie ersehen. In jenerbestand das Komische in groben Zoten, in diesermehr in versteckter Anspielung; und das macht dochfür den äußeren Anstand keinen geringen Unterschied.

Wie soll man nun denjenigen bezeichnen, derScherz in der rechten Weise treibt? danach, daß ersagt, was für einen feingebildeten Mann nicht

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ungeziemend ist? oder danach, daß er den Zuhörernicht verstimmt oder ihn geradezu amüsiert? oder läßtsich auch darüber gar keine genaue Bestimmunggeben? ist doch dem einen dies, dem andern jenes ver-drießlich oder erfreulich, und danach wird es sichauch richten, wie einer die Sache als Zuhörer auf-nimmt. Denn was er gern anhört, das wird er dochwohl auch selbst vorbringen. Er wird sich also nichtjegliches gestatten. Denn über etwas spotten heißtdoch es herunterziehen. Wenn die Gesetzgeber verbie-ten gewisse Dinge herabzureißen, so hätten sie ingleicher Weise auch den Spott verbieten sollen. Derfeingebildete Mann von vornehmer Haltung wird seinVerhalten in diesem Sinne regeln, gleichsam indemer sich selbst das Gesetz ist.

Das nun ist die Art desjenigen, der die rechte Mitteeinhält, wie man ihn auch nennen mag, taktvoll odergeistreich. Der Spaßmacher dagegen unterliegt derVersuchung, Lachen zu erregen um jeden Preis, undschont weder sich selbst noch die anderen, wenn ernur Lachen erregen kann, er sagt Dinge, wie sie einfeinfühlender Mann nicht in den Mund nehmen, zu-weilen nicht einmal anhören möchte. Der Ungeschlif-fene andererseits ist für solche heitere Geselligkeitüberhaupt nicht zu brauchen; denn er steuert nichtsdazu bei und nimmt alles gleich unfreundlich auf.Und doch darf man die Erholung und den Scherz als

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ein notwendiges Moment des menschlichen Lebensbezeichnen.

So hätten wir denn drei Verhaltungsweisen aufge-zeigt, die als Innehalten der rechten Mitte gelten dür-fen; sie beziehen sich sämtlich auf die Äußerungen inWort und Rede und auf die Betätigung im gesell-schaftlichen Zusammenleben mit anderen. Sie unter-scheiden sich dadurch, daß die eine sich um dieWahrhaftigkeit, die beiden anderen sich um das dasGefühl anmutend Berührende drehen. Von denen, diedas letztere betreffen, hat die eine in Scherz und Spiel,die andere in den sonstigen gesellschaftlichen Bezie-hungen das Gebiet ihrer Bewährung.

e) Schamhaftigkeit

Die Schamhaftigkeit kommt eigentlich da nicht inBetracht, wo von den Arten sittlicher Willensrichtungdie Rede ist; denn sie trägt mehr den Charakter einerEmpfindungsweise als den einer fest gewordenen Ge-sinnung. Man bezeichnet sie begrifflich als Furcht vorMinderung der persönlichen Ehre, und in der Tat, wosie in voller Form auftritt, zeigt sie Erscheinungen,die der Furcht vor etwas Schmerzlichem nahe ver-wandt sind; man wird rot vor Scham, wie man blaßwird aus Todesfurcht. Beides stellt sich als leibliche

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Affektion dar, und das deutet doch mehr auf eine Ge-fühlsstimmung als auf eine Art von Gesinnung hin.Als Gefühlsstimmung nun ist sie nicht jedem Lebens-alter gleich angemessen. Sie ziemt zumeist dem ju-gendlichen Alter; von den Jungen glauben wir Scham-haftigkeit fordern zu müssen, weil sie, indem sie nochihrem Gefühle nachleben, vielfach auf Abwege gera-ten, durch die Scham aber zurückgehalten werden. Sogewähren wir denn schamhaften jungen Leuten unserLob; einen älteren Mann wird niemand wegen seinesschämigen Wesens loben wollen; denn wir meinen, erdürfe überhaupt nichts tun, was Anlaß bietet sich zuschämen. Scham ist kein Gefühl des bewährten Man-nes; sie hat ihren Grund in niedrigen Dingen, und sol-che soll man sich eben nicht zuschulden kommen las-sen. Wenn es aber solches gibt was in Wirklichkeit,und solches was nur der Konvention nach verwerflichist, so macht das hierfür keinen Unterschied. Man darfsich keines von beiden erlauben; dann erspart man essich, daß man sich schämen muß. Es ist schon ein Be-weis unziemlicher Gesinnung, wenn man überhauptimstande ist etwas zu tun, dessen man sich zu schä-men hat. Darum hat es auch keinen Sinn, wenn einerdie Haltung annimmt, daß er sich schämen würde,falls er dergleichen beginge, und nun meint, er seideshalb ein ehrenwerter Mann. Denn Grund zurScham bieten frei gewollte Handlungen, ein

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ehrenwerter Mann wird aber mit seinem Willen nie-mals etwas tun was unziemlich ist. So ist denn dasSchamgefühl nur bedingterweise etwas Sittliches.Denn falls man dergleichen begangen hat, so schämtman sich; solche Bedingtheit aber ist etwas, was sichvon keiner Art sittlicher Willensrichtung sagen läßt.Wenn aber die Schamlosigkeit, das Fehlen der Scheu,um keinen Preis etwas Verwerfliches zu tun, vonniedriger Beschaffenheit zeugt, so ist es doch deshalbnoch nicht der Beweis einer sittlichen Gesinnung,wenn einer der dergleichen Handlungen begeht, dar-über nachträglich Scham empfindet. Ist doch nichteinmal die Enthaltsamkeit ohne weiteres eine Eigen-schaft von sittlichem Charakter, sondern von ge-mischter Art. Doch darüber soll später gesprochenwerden; zunächst wollen wir jetzt von der Gerechtig-keit handeln.

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4. Verhalten im Verkehr der Güter, Gerechtigkeit

1. Subjektive Gerechtigkeit

a) Gerechte und ungerechte Gesinnung

Bei der Frage nach dem Begriff der Gerechtigkeitund der Ungerechtigkeit gilt es zu untersuchen, aufwelchem Gebiete diese Handlungsweisen sich bewe-gen, in welchem Sinne die Gerechtigkeit eine Mittebezeichnet, und welches die Abweichungen sind, zwi-schen denen das Gerechte in der Mitte liegt. Der Gangunserer Untersuchung wird derselbe sein wie in denvorhergehenden Ausführungen. Wir sehen tatsächlich,daß jedermann als Gerechtigkeit diejenige Charakter-eigenschaft zu bezeichnen gesonnen ist, infolge derenman sich zur Ausübung dessen was gerecht ist eignet,im Handeln Gerechtigkeit übt und einen auf das Ge-rechte gerichteten Willen hat. Das Gleich gilt von derUngerechtigkeit; durch sie geschieht es, daß man un-gerecht handelt und daß der Wille auf das Ungerechtegerichtet ist. Das soll denn auch für unsere Untersu-chung, zunächst als ungefähre Andeutung, die Grund-lage bilden.

Es hat mit wissenschaftlichen Erkenntnissen undgeistigen Vermögen nicht dieselbe Bewandtnis wie

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mit fest gewordenen Gesinnungen. Von dem Vermö-gen wie von der Wissenschaft gilt der Satz, daß siebeide Glieder des Gegensatzes zugleich betreffen; dastut die befestigte Beschaffenheit nicht. Indem sie daseine Glied des Gegensatzes festhält, ist ihr das Ge-genteil fremd. So bewirkt die Gesundheit nicht wasihr entgegengesetzt, sondern nur das was gesund ist.Man nennt ein Gehen gesund, wenn einer geht wie einGesunder. Die eine von zwei entgegengesetzten Be-schaffenheiten kann wohl bisweilen vermittels ihresGegensatzes erkannt werden; bisweilen werden dieBeschaffenheiten aber auch aus dem erkannt, wasihrem Begriffe untergeordnet ist. Ist es klar, was einegute Körperkonstitution ist, so wird daraus auch klar,was eine schlechte Körperkonstitution ist, und ebensoerkennt man die gute Körperkonstitution auch ausdem was zu ihr gehört, und umgekehrt das letztere ausjener. Wenn eine gute Konstitution Straffheit derMuskulatur bedeutet, so wird notwendig Schlaffheitder Muskulatur eine schlechte Konstitution bedeuten,und das was eine gute Konstitution bewirken soll,muß die Eigenschaft haben, die Straffheit der Mus-keln zu fördern. In der Regel folgt dann auch, daß je-desmal wenn das eine Glied des Gegensatzes in meh-reren Bedeutungen ausgesagt wird, ebenso auch dasandere Glied mehrere Bedeutungen hat; hat z.B. »ge-recht« mehrere Bedeutungen, so gilt dasselbe auch

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von »ungerecht« und »Ungerechtigkeit«.Nun steht es wirklich so, daß Gerechtigkeit und

Ungerechtigkeit mehrere Bedeutungen hat; nur, weildie verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes ein-ander nahe verwandt sind, verbirgt sich die Vieldeu-tigkeit und liegt nicht so offen auf der Hand, wie dawo die Bedeutungen weiter voneinander entlernt sind.Ein starker Unterschied ist einer, der schon in der äu-ßeren Gestalt hervortritt; so ist es wenn das Wort»Schlüssel« gleichmäßig gebraucht wird vom Schlüs-selbein am Halsansatz der Tiere wie von dem Mittel,mit dem man eine Tür verschließt.

Nun sei es ausgemacht, in wie vielen Bedeutungendas Wort »ungerecht« gebraucht wird: als ungerechtgilt 1. wer das Gesetz verletzt, ferner 2. wer für sichbegehrt was zu viel ist, und somit ein Feind derGleichheit ist. Dann ergibt sich daraus, daß gerechtheißen wird der der das Gesetz beobachtet und der derdie Gleichheit wahrt. Demnach ist das Gerechte dasdem Gesetze und das der Gleichheit Entsprechende,das Ungerechte das dem Gesetze und das der Gleich-heit Zuwiderlaufende. Da nun der Ungerechte für sichzu viel begehrt, so wird es sich dabei um die Güterhandeln, nicht um alle, sondern um die, von denen dasäußere Glück und Unglück der Menschen abhängt,um Güter also, die an und für sich immer Güter sind,wenn sie es auch nicht immer sind für die bestimmte

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Person. Das nun sind die Dinge, die die Menschensich wünschen und denen sie nachjagen. So sollte esallerdings nicht sein.Man sollte wünschen, daß daswas an und für sich ein Gut ist auch für uns ein Gutwäre, und in diesem Sinne anstreben was für uns einGut ist.

Nicht immer allerdings ist es das größere Teil, wasder ungerechte Mensch für sich begehrt; sondern beidem was an und für sich ein Übel ist, nimmt er daskleinere Teil für sich in Anspruch. Indessen, da dasgeringere Übel in gewissem Sinne gleichfalls als einGutes erscheint, das selbstsüchtige Streben aber dasGute begehrt, so stellt er sich eben darin als einer dar,der zu viel für sich beansprucht. Und so ist er einGegner der Gleichheit, / denn das ist der umfassen-dere und allgemeine Begriff, [und ein Gesetzesveräch-ter: denn dies, sich gegen das Gesetz und gegen dieGleichheit vergehen, umfaßt alle Ungerechtigkeit undist in aller Ungerechtigkeit das Gemeinsame].

Da nun der Ungesetzliche ein Ungerechter und derGesetzestreue ein Gerechter war, so ergibt sich, daßalles was gesetzlich ist, in gewissem Sinne auch ge-recht ist. Die von der Gesetzgebung getroffenen Be-stimmungen sind gesetzliche Bestimmungen, und jedeeinzelne derselben nennt man gerecht. Die Gesetzegeben nun ihre Bestimmungen über alle möglichenAngelegenheiten und zielen damit entweder auf das

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Gemeinwohl für alle oder bloß für die Aristokratenoder für die Machthaber, sei es mit Rücksicht auf ihrepersönlichen Vorzüge oder sonst aus anderen derarti-gen Rücksichten. So nennt man denn gerecht in einemSinne dasjenige was in der staatlichen Gemeinschaftdie Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringtund erhält. Das Gesetz gebietet aber auch, das Beneh-men eines tapferen Mannes innezuhalten, z.B. seinenPosten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht dieWaffen fortzuwerfen, und ebenso das Benehmen deswohlgesitteten Mannes zu wahren, wie nicht Unzuchtund nicht Gewalt zu üben, oder das Benehmen desMannes von gesetztem Charakter, wie andere nicht zuschlagen noch zu beleidigen, und das gleiche gilt inbezug auf die anderen Formen der Sittlichkeit und derUnsittlichkeit. Das eine gebietet, das andere verbietetdas Gesetz, und zwar sofern es richtig verfährt in rich-tiger, sofern es mit weniger Verständnis abgefaßt ist,in minder angemessener Weise.

Die Gerechtigkeit nun so aufgefaßt ist vollendeteSittlichkeit überhaupt, allerdings nicht Sittlichkeitschlechthin, sondern Sittlichkeit wie sie sich in demVerkehr mit anderen Menschen erweist. Aus diesemGrunde gilt denn auch die Gerechtigkeit manchmalfür die wichtigste aller Formen des sittlichen Lebensund weder Abendstern noch Morgenstern für so be-wundernswürdig wie sie. Im Sprichwort heißt es: »In

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der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten.« Sieist die am meisten vollkommene Form der Sittlichkeit,weil sie die Äußerung vollkommen sittlicher Willens-richtung ist. Vollkommen aber ist sie, weil wer sie be-sitzt, auch den anderen gegenüber und nicht bloß inbezug auf sich selbst seinen sittlichen Charakter zubewähren vermag. Denn es gibt viele Menschen, dieihre sittliche Gesinnung wohl in der Behandlung ihrerpersönlichen Angelegenheiten zu erweisen vermögen,dagegen es nicht vermögen in ihren Beziehungen zuanderen Menschen. Darum ist das Wort des Bias sotreffend: »Gib einem ein Amt; so wird sich zeigen,was an dem Manne ist.« Denn wer ein Amt verwaltet,der tut es eben in bezug auf andere und in dermenschlichen Gemeinschaft. Aus eben demselbenGründe meint man, daß die Gerechtigkeit allein unterallen Formen der Sittlichkeit ein Vorteil für andereist, weil sie in bezug auf andere geübt wird; denn sietut, was anderen zugute kommt, sei es dem Herrscheroder den Mitbürgern. Der Verwerflichste nun ist der,der ebenso im Verhältnis zu sich selbst wie in dem zuden Freunden unsittlich verfährt; der Beste aber istnicht der, der eine sittliche Haltung sich selbst, son-dern der sie anderen gegenüber bewahrt; denn hierliegt die Schwierigkeit der Aufgabe. Die Gerechtig-keit in diesem Sinne ist nicht ein Bestandteil der Sitt-lichkeit, sondern die ganze Sittlichkeit, recht tun

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überhaupt, und die Ungerechtigkeit als ihr Gegensatzist nicht ein Bestandteil der Unsittlichkeit, sonderndie ganze Unsittlichkeit. Welcher Unterschied aberzwischen der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit in die-sem Sinne noch bestehen bleibt, das läßt sich aus demoben Bemerkten ersehen. Sie ist mit ihr identisch,aber die Beziehung in der sie aufgefaßt wird ist nichtdieselbe. Sittlichkeit, sofern sie in bezug auf anderegeübt wird, ist Gerechtigkeit; sofern sie befestigte Ge-sinnung mit diesem Inhalt ist, ist sie Sittlichkeit ohneweiteren Zusatz.

b) Gerechtigkeit in weiterem und engerem Sinne

Was wir indessen hier im Auge haben, ist die Ge-rechtigkeit als ein Bestandteil der Sittlichkeit; denneine solche gibt es, wie wir behaupten, und ebensogibt es eine Ungerechtigkeit als Bestandteil der Un-sittlichkeit. Der Beweis dafür ist der: Wer eine Hand-lung begeht im Sinne der anderen Arten von Unsitt-lichkeit, läßt sich zwar Ungerechtigkeit zuschuldenkommen, aber er maßt sich dabei nicht etwas auffremde Kosten an; so z.B. wer seinen Schild aus Feig-heit wegwirft oder wer im Verdruß jemanden belei-digt oder aus Geiz jemand eine Unterstützung versagt.Wenn einer aber sich übermäßig bedenkt, so liegt sein

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Verstoß oftmals in keiner einzigen dieser Beziehun-gen, aber auch nicht in allen zusammen, und dochhandelt er unsittlich, / denn wir mißachten ihn des-halb, / und zwar handelt er ungerecht. Also gibt esnoch eine andere Art von Ungerechtigkeit, die einebesondere Art der Ungerechtigkeit im weiteren Sinnebildet, und es gibt ein Ungerechtes im speziellenSinne gegenüber dem Ungerechten im umfassenderenSinne, wo es das Gesetzwidrige überhaupt bedeutet.Sodann, wenn der eine Unzucht treibt um des Gewin-nes willen und dafür Bezahlung nimmt, ein anderer esaus Leidenschaft tut und dafür noch Geld ausgibt undOpfer bringt, so darf man den letzteren eher für aus-schweifend als für selbstsüchtig, jenen dagegen darfman für ungerecht, aber man darf ihn nicht für aus-schweifend halten, und der Grund ist offenbar der,weil jener es des Gewinnes halber tut. Außerdem, beiallen anderen Arten gesetzwidriger Handlungen läßtsich immer die Zurückführung auf irgendeine unsittli-che Charaktereigenschaft vornehmen, z.B. bei der Un-zucht auf ausschweifende Sinnlichkeit, bei der Fluchtaus Reih und Glied auf Feigheit, bei körperlicherMißhandlung auf Jähzorn; hat einer aber um des Ge-winnes willen gehandelt, so ist der Charakterfehler,der vorliegt, kein andrer als eben die Ungerechtigkeit.Offenbar also gibt es neben der Ungerechtigkeit imweitesten Sinne noch eine andere im speziellen Sinne,

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die durch dasselbe Wort bezeichnet wird, weil sieihrem Begriffe nach zu derselben Gattung gehört.Denn das Gebiet für beide bildet das Verhalten ande-ren Menschen gegenüber; nur daß es sich bei dereinen um Ehre, Geld, Selbsterhaltung handelt, oderwenn wir einen Ausdruck dafür hätten, um das, wasdieses alles in sich befaßt, und daß ihre Quelle dieLust am Gewinne ist, während es sich bei der anderenum alles dasjenige handelt, was einen sittlichen Cha-rakter beansprucht.

Soviel also ist klar, daß Gerechtigkeit mehrere Be-deutungen hat, und daß es neben der Gerechtigkeit,die den Inbegriff aller Sittlichkeit bedeutet, noch eineandere gibt. Was das Wesen und die Beschaffenheitdieser letzteren ist, das bleibt zu untersuchen. DasUngerechte haben wir bestimmt als das, was widerdas Gesetz und was wider die Gleichheit anläuft, dasGerechte dagegen als das, was dem Gesetz und derGleichheit entspricht. Nun hatte die Ungerechtigkeit,von der vorher die Rede war, die Bedeutung des Ge-setzwidrigen. Da aber das was wider die Gleichheitist nicht dasselbe ist wie das was wider das Gesetzist, sondern ein anderes, so wie der Teil dem Ganzengegenüber steht, / denn was wider die Gleichheit ist,ist zwar alles auch wider das Gesetz, aber nicht alleswas wider das Gesetz ist, ist auch wider die Gleich-heit, / so ist auch das Ungerechte und die

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Ungerechtigkeit nicht in beiden Bedeutungen dassel-be, sondern beides ist verschieden, das eine als dasGanze, das andere als ein Teil. Denn Ungerechtigkeitin diesem Sinne ist ein Teil der Ungerechtigkeit über-haupt, und ebenso Gerechtigkeit in diesem Sinne einTeil der Gerechtigkeit überhaupt. Wir haben daherüber die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit im en-geren Sinne und über das Gerechte und Ungerechte imgleichen Sinne zu handeln.

Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sofern sie sichauf den Inbegriff alles Sittlichen beziehen, die eine alsdie Betätigung des sittlichen, die andere als Betäti-gung des unsittlichen Charakters in seiner Totalität indem Verhältnis zu den andern Menschen, mögendamit als erledigt gelten. Auch wie das Gerechte undUngerechte in diesem Sinne zu bestimmen ist, leuch-tet ein. Denn so ziemlich die ganze Masse der demGesetze entsprechenden Handlungen macht das ausder Sittlichkeit in ihrem Totalbegriffe entspringendeHandeln aus. Gebietet doch das Gesetz ein Leben imSinne jeder Art von sittlicher Willensrichtung undverbietet ein Leben im Sinne jeder Art von Unsittlich-keit. Die Sittlichkeit in diesem vollen Sinne hervorzu-bringen ist die Aufgabe derjenigen gesetzlichen Be-stimmungen, die die Erziehung für den Dienst der öf-fentlichen Interessen ordnen. Was dagegen die Erzie-hung des einzelnen zu einer sittlich wertvollen

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Persönlichkeit ohne weiteren Zusatz anbetrifft, so sollspäter entschieden werden, ob säe eine Aufgabe derStaatstätigkeit oder einer anderen Instanz bildet. Dennein sittlich wertvoller Mensch und ein guter Bürger inirgendeinem Staate zu sein, ist doch entschieden nichtdasselbe.

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2. Das objektiv Gerechte

a) Das Gerechte im Austeilen

Die eine Form der Gerechtigkeit im engeren Sinneund ebenso des Gerechten ist diejenige, die beim Zu-erteilen von Ehre, von Geld oder sonstigen Güternzur Erscheinung kommt, an denen die Staatsangehöri-gen teilzuhaben berechtigt sind; denn darin kann esgeschehen, daß der eine das Gleiche wie der andere,oder daß er Ungleiches empfängt. Eine zweite ist die,die sich als wiederherstellende im geschäftlichenVerkehr unter den Menschen betätigt. Von dieser letz-terengibt es wieder zwei Arten. Die geschäftlichenBeziehungen zwischen den Menschen beruhen teilsauf freiem Wollen, teils sind sie nicht frei gewollte.Frei gewollt sind Geschäfte wie Kauf und Verkauf,Zinsdarlehen und Pfand, Leihe, Hinterlegung undMiete; man nennt sie freigewollt, weil diese Geschäfteihren Ursprung in freier Willensentscheidung haben.Zu den nicht frei gewollten gehören einerseits diejeni-gen, die aus heimlichen Vergehungen, wie Diebstahl,Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Verführung vonSklaven, Meuchelmord, falschem Zeugnis, anderer-seits diejenigen, die aus gewaltsamen Vergehungen,wie Mißhandlung, Freiheitsberaubung, Totschlag,

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Raub, Verstümmelung, Verleumdung und Beleidi-gung entspringen.

Der ungerechte Mensch verstößt wider das Prinzipder Gleichheit, und das Ungerechte besteht eben indiesem Verstoß. Also gibt es offenbar auch gegenüberdieser Abweichung eine rechte Mitte, und diese be-steht in der Befolgung des Prinzips der Gleichheit, injeder Handlungsweise, in welcher für ein Zuviel undein Zuwenig Platz ist, kann auch das vorkommen,was ein Gleiches ist. Ist nun das Ungerechte die Ab-weichung vom Gleichen, so ist das Gerechte die Inne-haltung des Gleichen. Das ist die allgemeine Empfin-dung schon vor aller Überlegung. Bezeichnet nun dasGleiche ein Mittleres, so wird das Gerechte ein sol-ches Mittleres sein. Die mindeste Anzahl von Glie-dern, in denen das Gleiche vorkommen kann, ist zwei.Das Gerechte muß demnach als ein Mittleres und einGleiches bezüglich einer Sache und für Personen sein,und sofern es ein Mittleres ist, muß es zwischen ande-ren, nämlich dem Zuviel und dem Zuwenig, liegen;sofern es aber ein Gleiches ist, muß es für zwei Glie-der, und sofern es ein Gerechtes ist, für gewisse Per-sonen gleich sein. Also ist die Mindestzahl, bei dervom Gerechten die Rede sein kann, die Vierzahl. Esmüssen zwei Personen sein, denen das Gerechte zuteilwird, und zwei Sachen, an denen das Gerechte zur Er-scheinung kommt. Das Prinzip der Gleichheit gilt

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aber als eines und dasselbe sowohl für die Personenals für die Sachen. Wie sich jene, die Sachen, zuein-ander verhalten, an denen die Gleichheit stattfindet, soverhalten sich auch die Personen. Sind diese nichtgleich, so erhalten sie auch nicht das Gleiche; sondernStreit und Anschuldigungen entspringen eben daraus,wenn entweder solche, die gleich sind, nicht Gleiches,oder solche, die nicht gleich sind, Gleiches erlangenund genießen. Dies wird ferner auch verständlich nachdem Prinzip der Angemessenheit an die Würdigkeitder Person. Denn darüber herrscht allgemeine Über-einstimmung, daß bei der Verteilung die Würdigkeitden Maßstab bilden müsse; nur daß unter der Wür-digkeit nicht alle dasselbe verstehen, sondern die de-mokratisch Gesinnten die bloße persönliche Freiheit,die oligarchisch Gesinnten den Reichtum, mancheauch die edle Geburt, die aristokratisch Gesinnten da-gegen den Adel des Charakters zum Maßstab nehmen.

Das Gerechte besteht also in einer Proportion.Denn die Proportion ist nicht bloß der unbenanntenZahl eigen, sondern der Zahl überhaupt. Proportionbedeutet Gleichheit der Verhältnisse, und so gehörendazu wenigstens vier Glieder. Daß die unstetige Pro-portion vier Glieder erfordert, liegt auf der Hand; esgilt aber auch von der stetigen; nur daß hier ein Gliedzwei vertritt und zweimal vorkommt: z.B. es verhältsich a : b wie b : c, wo b zweimal steht und infolge

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dessen die Zahl der Glieder doch wieder vier ist. Sosind es denn auch mindestens vier Glieder, die für dasGerechte in Betracht kommen. Der Exponent ist der-selbe für beide Verhältnisse; die Personen und die Sa-chen werden durch denselben Exponenten gemessen.Wie das Glied a zu b, so verhält sich c zu d, und ver-tauscht man die Stellen, so verhält sich b : d wie a : cund daher auch die Summe der Glieder des einen Ver-hältnisses zu der Summe der Glieder des anderen Ver-hältnisses wie ein Glied des einen zum entsprechen-den Gliede des anderen. Wenn die Austeilung dieGlieder so paart und so zusammensetzt, dann ist dasVerfahren ein gerechtes.

Das Gerechte in der Zuerteilung besteht also in derVerbindung des Gliedes a mit c und des Gliedes b mitd, und dieses Gerechte bedeutet ein Mittleres, das Un-gerechte dagegen etwas, was gegen die Proportionverstößt. Denn das Proportionale ist ein Mittleres, dasGerechte aber ist ein Proportionales. Die Mathemati-ker nennen es eine geometrische Proportion; denn inder geometrischen Proportion verhält sich die eineSumme zur anderen Summe wie das eine Glied zumanderen Gliede. Diese Proportion hier ist nicht stetig;denn aus der Person, der etwas zuerteilt wird, und ausder Sache, die ihr zuerteilt wird, kann nie ein einzigesund identisches Glied werden. Das also ist das Ge-rechte, das Proportionale, und das Ungerechte ist das,

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was gegen das Proportionale verstößt; dies aber ergibtdas eine Mal ein Zuviel, das andere Mal ein Zuwenig.So tritt es uns denn auch in der Wirklichkeit entge-gen. Wer ungerecht handelt, nimmt vom Gute zu viel,wer ungerecht behandelt wird, bekommt zu wenig;und umgekehrt ist es mit den Lasten. Denn das gerin-gere Übel wird im Verhältnis zum größeren Übelunter den Begriff des Guten einbezogen. Das gerin-gere Übel ist dem größeren vorzuziehen; was abervorzuziehen ist, ist ein Gut, und ein größeres Gut istdas, was in höherem Maße vorzuziehen ist.

b) Das Gerechte im Wiederherstellen

Dies also ist die eine Art des Gerechten; die andere,die noch bleibt, ist die wiederherstellende, wie sie inden geschäftlichen Beziehungen, den frei gewolltenund den nicht frei gewollten, zur Erscheinung kommt.Das Gerechte in diesem Sinne trägt einen ganz ande-ren Charakter als das vorher Behandelte. Denn dasGerechte in der Austeilung dessen was vielen zu-kommt besteht immer in einem Verfahren, das dievorher charakterisierte Proportion innehält. Wenneine Geldsumme, an die mehrere einen Anspruchhaben, verteilt werden soll, so wird es nach demsel-ben Verhältnis geschehen, in welchem die Beiträge

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zueinander stehen die jeder geliefert hat; und das Un-gerechte, das den Gegensatz zum Gerechten in dieserBedeutung bildet, ist das was gegen die Proportionverstößt. Das Gerechte dagegen, wie es in den ge-schäftlichen Beziehungen vorkommt, bedeutet wohleine Gleichheit, und das Ungerechte eine Verletzungder Gleichheit, aber nicht im Sinne jener Art von Pro-portion, sondern im Sinne der arithmetischen Propor-tion. Denn hier macht es keinen Unterschied, ob esein ehrenwerter Mann ist der einen schlechten, oderumgekehrt ob es ein schlechter Mann ist der einenrechtschaffenen um das seinige gebracht, noch ob einrechtschaffener oder ein schlechter Mensch den Ehe-bruch begangen hat; sondern das Gesetz achtet bloßauf den Unterschied in der Größe des Unrechts unddes zugefügten Schadens und behandelt die Personenals gleich; es fragt nur, ob der eine Unrecht tut, derandere Unrecht leidet, der eine schädigt, der anderegeschädigt worden ist, und darum versucht der Rich-ter aus dem Ungerechten in dieser Bedeutung, wel-ches wider die Gleichheit verstößt, die Gleichheitwiederherzustellen. Hat der eine Wunden empfangen,der andere Wunden ausgeteilt, hat der eine getötet,der andere den Tod erlitten, so ist zwischen dem derdie Tat erlitten und dem der sie verübt hat, ein Ver-hältnis ungleicher Teilung eingetreten, und der Rich-ter versucht vermittels der Strafe die Gleichheit

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herzustellen, indem er auf der Seite wo der Überschußan Gewinn ist einen Abzug macht. Denn man sprichtaus solchem Anlaß unbedenklich von einem Gewinn,auch wenn das Wort in manchen Fällen eigentlichnicht paßt; z.B. man spricht von Gewinn bei dem, derWunden ausgeteilt, und von Verlust bei dem, der sieerlitten hat. Aber wenn was einem widerfahren istdem Maß unterworfen wird, so faßt man das eine alsVerlust auf, das andere als Gewinn. Und so ist dennauch hier zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig dasGleiche das Mittlere. Gewinn und Verlust sind einan-der entgegengesetzt, jener als das Zuviel, dieser alsdas Zuwenig; das eine als zuviel des Guten und zuwe-nig des Übels ist Gewinn, das Entgegengesetzte Ver-lust, dazwischen als das Mittlere das Gleiche und daswas wir als das Gerechte bezeichnen. Das wiederher-stellende Gerechte wäre demnach das Mittlere zwi-schen Gewinn und Verlust. Darum nimmt man, wennman in einen Streit geraten ist, seine Zuflucht zumRichter; zum Richter gehen aber heißt sich an das Ge-rechte wenden. Denn des Richters Bedeutung istgleichsam die, das Gerechte in Person zu sein. Mansucht den Richter, wie man das Mittlere sucht; man-che Leute nennen ihn geradezu den Mittelsmann, inder Überzeugung, daß einer das Gerechte erlangt,wenn ihm das Mittlere zuteil wird. Das Gerechte istdemnach ein Mittleres, wenn dies doch auch vom

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Richter gilt. Der Richter stellt Gleichheit her, und wiebei einer in ungleiche Abschnitte geteilten Linienimmt er vom größeren Abschnitt das Stück hinweg,um das er über die Mitte hinausreicht, und fügt eszum kleineren Abschnitt hinzu. Wenn aber ein Gan-zes unter zwei geteilt wird, so sagt man, man habedann bekommen was einem gebührt, wenn man dasGleiche erhält wie der andere; das Gleiche aber ist dasnach arithmetischer Proportion Mittlere zwischen demZugroßen und dem Zukleinen. Eben daraus erklärtsich der Ausdruck für das Gerechte (dikaion) er be-deutet die Zweiteilung (dicha) er müßte also eigent-lich dichaion, und das Wort für Richter dikastês, ei-gentlich dichastês lauten. Wenn man nämlich beizwei gleichen Größen von der einen ein Stück fort-nimmt und es der anderen hinzufügt, so ist die letztereum das Zweifache dieses Stückes größer geworden alsdie andere. Nähme man nur das Stück von der einenfort, ohne es zur anderen hinzuzufügen, so würde dieeine Größe die andere nur um dieses Stück übertref-fen; so aber ist die vermehrte Größe um dieses eineStück größer als die Hälfte und die Hälfte wieder umdasselbe Stück größer als der kleinere Teil. Darausalso ersieht man, wie viel man dem der zuviel hat ab-nehmen und wieviel man dem der zuwenig hat zuwei-sen muß. Das Stück, um das die Hälfte größer ist alsder Anteil dessen der zuwenig hat, muß man diesem

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zulegen, und das Stück, um das die Hälfte von demgrößten Anteil übertroffen wird, muß man von diesemfortnehmen. Gegeben seien drei gleiche Linien:

AB, CD und EF; schneidet man von AB ein StückGB ab, fügt man dann zu EF das Stück FJ = GBhinzu, so ist die ganze Linie EJ um das Stück HF +FJ = 2 GB größer als AG, und um das Stück FJ grö-ßer als CD.

Diese Ausdrücke: Gewinn und Verlust, sind vondem freiwilligen Austausch der Güter hergenommen.Gewinn nennt man den Zuwachs an den Gütern, dieeiner besitzt; Verlust erleiden heißt weniger haben,als man ursprünglich hatte. So ist es bei Kauf undVerkauf und bei den anderen Geschäften, bei denendas Gesetz dem Privatwillen seine Genehmigung ge-währt hat. Erlangt man dabei weder einen Überschußnoch eine Minderung, sondern nur eben das was manhingegeben hat, so sagt man, man behalte was manhat und erfahre weder Verlust noch Gewinn. Das Ge-rechte ist daher in den nicht auf Freiwilligkeit beru-henden geschäftlichen Beziehungen ein Mittleres zwi-schen Gewinn und Verlust, also dies, daß man nach-her das gleiche hat wie vorher.

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c) Vergeltung, Austausch

Manche sind der Ansicht, auch die Wiedervergel-tung, Gleiches für Gleiches, sei ohne weiteres ein Ge-rechtes. So lehrten die Pythagoreer; sie bestimmtenden Begriff des Gerechten schlechthin als die Vergel-tung für das einem anderen Zugefügte. Dieser Begriffder Vergeltung paßt aber weder auf das austeilende,noch auf das wiederherstellende Gerechte; obwohlman gemeinhin auch das Gerechte im Sinne des Rha-damanthys mit diesem Begriffe bezeichnen möchte:

Wem widerfährt, was er tat, dem wird das grade,was recht ist.

Beides geht indessen oftmals weit auseinander. Sowenn jemand, der ein Amt führt, einen schlägt, dannist diesem nicht gestattet wieder zu schlagen, undwenn jemand einen der ein Amt hat geschlagen hat, somuß er nicht bloß Schläge wieder erhalten, sondernauch noch sonstige Strafe erleiden. Einen großen Un-terschied macht es ferner, ob die Handlung freiwilligoder unfreiwillig war. Aber in dem auf Austausch ge-richteten Verkehr ist das, was den Verkehr aufrechterhält, das Gerechte in dieser Form, die Vergeltungnach Proportion, und nicht die nach einfacher

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Gleichheit. Vergeltung nach Proportion ist die Bedin-gung für den Bestand der Staatsgemeinschaft. DennVergeltung wird entweder für Übeltat begehrt, undfiele sie hier fort, so wäre es der Zustand der Knecht-schaft, falls es keine Vergeltung gibt, oder für Wohl-tat, und unterbleibt sie hier, so hört jede Art von Hin-gebung auf; durch solche Hingebung aber erhält sichdas Gemeinschaftsleben. Darum stellt man auch denMenschen ein Heiligtum der Huldgöttinnen in denWeg, um den Dank für erfahrene Huld einzuschärfen.Denn das ist des Dankes eigenstes Wesen; wer Hulderwiesen hat, dem muß man wieder dienen und ihmgegenüber selbst wieder mit Hulderweisung vonvorne beginnen.

Es ist wie ein Entsprechen nach Art der Diagonaleneines Parallelogramms, die sich kreuzen, was dieWiedervergeltung nach Proportion ausmacht. Mannehme einen Baumeister A, einen Schuhmacher B, einHaus C und Schuhzeug D. Der Baumeister bedarfdessen was der Schuhmacher produziert, und mußdiesem dafür abtreten was er selbst produziert. Ist nunzunächst das nach Proportion Gleiche festgestellt undfindet danach der Entgelt statt, so ist dieser Vorgangder von uns bezeichnete. Mangelt es daran, so findetkeine Gleichheit statt, und der Austausch läßt sichnicht aufrecht erhalten; denn da hindert nichts, daßdas Erzeugnis des einen das des anderen an Wert

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übertreffe. Es muß also Gleichheit zwischen beidenausdrücklich hergestellt werden. Dasselbe findet auchauf den anderen Gebieten der Produktion statt. Siewürde unmöglich gemacht, wenn nicht das was derProduzent nach Quantität und Qualität herstellt, vonden Konsumenten in gleicher Quantität und Qualitätzurückerstattet würde.

Ein Arzt und noch ein Arzt ergeben keine Gemein-schaft des Austausches, aber wohl ein Arzt und einLandwirt, und überhaupt zwei Personen, die nichtgleich sind; aber zwischen diesen muß dann eine Aus-gleichung stattfinden. Darum muß alles, was ausge-tauscht werden soll, irgendwie vergleichbar sein.Dazu nun ist das Geld in die Welt gekommen, und sowird es zu einer Art von Vermittler; denn an ihm wirdalles gemessen, also auch das Zuviel und Zuwenig:etwa welches Quantum von Schuhzeug einem Hauseoder einem Quantum von Lebensmitteln gleich zu set-zen ist. Es muß also der Unterschied zwischen demSchuhzeug und dem Hause oder den Lebensmittelnebensogroß sein, wie der Unterschied zwischen demBaumeister und dem Schuhmacher oder dem Land-wirt. Findet diese Gleichheit nicht statt, so gibt es kei-nen Austausch und keinen Verkehr, und diese Gleich-heit kann nicht stattfinden, wenn es kein Mittel gibt,das Gleiche zu bestimmen. Es bedarf also eines einzi-gen allgemeinen Wertmessers, wie vorher gezeigt

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worden ist. Es ist aber in Wirklichkeit das Bedürfnis,das alles zusammenhält. Gäbe es keine Bedürfnisseoder gäbe es darin kein Gleich wider Gleich, so gäbees keinen Austausch oder doch keinen von der gege-benen Art. So hat man denn durch Übereinkunft dasGeld eingeführt gleichsam als Unterlage für den Aus-tausch der Gegenstände des Bedürfnisses, und denNamen nomisma hat das Geld davon erhalten, daß esnicht der Natur, sondern dem Gesetz (nomos) seineExistenz verdankt und es in unserer Macht steht, esumzuändern und es außer Kurs zu setzen.

Es wird demnach ein Entgelt hergestellt werden,wenn Gleichheit hergestellt ist, so daß der Unter-schied, der zwischen dem Landwirt und dem Schuh-macher vorhanden ist, ebenso als Unterschied zwi-schen dem Produkt des Schuhmachers und dem desLandwirts wiederkehrt. Indessen darf man sie nichterst dann, wenn sie den Austausch schon vollzogenhaben, auf das Schema der Proportion zurückführenwollen, beobachtet man das nicht, so erhält das einevon den beiden äußeren Gliedern die beiden über dieMitte überschießenden Stücke, sondern solange sienoch im Besitze ihrer Erzeugnisse sind. In dieserWeise sind sie gleich, und sie stehen in Verkehrsge-meinschaft, weil diese Gleichheit durch sie hergestelltwerden kann. Der Landwirt sei A, das Getreide C, derSchuhmacher B; dann wird sein Produkt D dem

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Getreide gleichwertig gemacht. Gäbe es keine Mög-lichkeit, diese Gleichwertigkeit des Entgelts herzu-stellen, so gäbe es keine Gemeinschaft des Verkehrs.Daß aber das Bedürfnis es ist, was sie zusammenhältwie ein einiges Ganzes, das zeigt sich darin, daß es zukeinem Austausch kommt, wenn sie beide gegensei-tig, oder der eine von ihnen, was der andere hat, nichtbedürfen; ebensowenig wie es bei freigegebener Ge-treideausfuhr dazu kommt, wenn der Produzent desGetreides Wein bedarf und der andere keinen hat.

Es muß also darin eine Gleichheit hergestellt wer-den. Zum Zwecke des künftigen Austausches, wenngegenwärtig kein Bedarf vorhanden ist, d.h. alsodamit der Austausch dann stattfinden kann, wenn derBedarf eintritt, dient uns das Geld gewissermaßen alsBürge. Denn man muß was man braucht erlangenkönnen, indem man Geld dafür zahlt. Allerdings er-fährt das Geld denselben Wandel in der Nachfrageund vermag auch nicht immer den gleichen Wert zubewahren; indessen, darin liegt seine Bedeutung, daßsein Wert weniger schwankt. Es muß darum alles sei-nen bestimmten Preis haben; denn nur unter dieserBedingung wird es immer einen Austausch geben,und wenn diesen, auch eine Gemeinschaft des Ver-kehrs. Das also ist die Funktion, die das Geld übt; esist ein Maß, das alle Güter kommensurabel macht undso die Gleichheit herzustellen ermöglicht. Ohne

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Austausch kein Verkehr, ohne Gleichheit kein Aus-tausch, ohne gemeinsames Maß keine Gleichheit, inWirklichkeit nun ist es allerdings nicht möglich, daßdas was so verschieden ist, kommensurabel werde;aber wohl läßt es sich in einer für das Bedürfnis aus-reichenden Weise herstellen. Dazu also muß es eineinheitliches Maß geben und zwar durch Überein-kunft, und deshalb heißt es Geld, nomisma, »wasnach Satzung gilt«. Das Geld macht alle Dinge kom-mensurabel; denn durch Geld werden alle Dinge ge-messen. Das Haus sei A, 10 Minen B, das Bett C;dann ist, wenn das Haus 5 Minen wert, mit anderenWorten = 5 Minen ist, A die Hälfte von B. Das BettC aber sei 1/10 von B: dann ergibt sich daraus, wieviel Betten einem Hause gleich kommen, nämlich 5.Man begreift, daß bevor das Geld existierte der Aus-tausch sich in der letzteren Weise vollzog, denn derSache nach ist es eines und dasselbe, ob man für einHaus 5 Betten oder den Preis von 5 Betten hergibt.

Damit hätten wir denn den Begriff dessen was ge-recht und was ungerecht ist, bezeichnet. Auf Grundder gegebenen Bestimmungen ergibt sich, daß die ge-rechte Handlungsweise die Mitte bezeichnet zwischendem Unrechttun und dem Unrechtleiden. Das ersterebedeutet, für sich zuviel nehmen, das letztere zuwenigbekommen. So ist denn die Gerechtigkeit als Charak-tereigenschaft das innehalten der Mitte; aber sie ist es

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nicht in demselben Sinne wie die anderen Arten dersittlichen Gesinnung, sondern in dem Sinne, daß siedie Mitte des Gegenstandes trifft, während die Unge-rechtigkeit die jenseits und diesseits der Mitte liegen-den Quanta des Gegenstandes anstrebt. Gerechtigkeitnun ist die Gesinnung, vermöge deren der Gerechteein solcher Mann heißen darf, der Gerechtes mit be-wußtem Vorsatz tut und, wo es sich um das Zuertei-len handelt, für sich im Verhältnis zum anderen, undfür den anderen im Verhältnis zum dritten, nicht soverfährt, daß er von dem was begehrenswert ist sichselbst zuviel und dem Nächsten zuwenig zuwendet,und bei dem was eine Schädigung bedeutet es in um-gekehrter Weise macht, sondern so daß er das nachProportion Gleiche innehält für sich und ebenso fürden anderen im Verhältnis zu einem dritten. Die Un-gerechtigkeit aber ist die dieser entgegengesetzte Ge-sinnung des ungerechten Mannes, und das bedeutetim Gegensatze zur Forderung der Proportionalität dieRichtung auf das Zuviel und das Zuwenig in Vorteilund Nachteil. Daher ist die Ungerechtigkeit selbst einZuviel und ein Zuwenig, weil sie auf das Zuviel undZuwenig gerichtet ist, auf das Zuviel von dem, wasohne weiteres einen Vorteil, und auf das Zuwenig vondem, was einen Nachteil bedeutet, wo es die eigenePerson gilt, und ebenso in der Behandlung der ande-ren, wo es im ganzen auf dasselbe hinausläuft,

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gleichviel ob die Verletzung der Proportionalität inder einen oder der anderen Richtung geschieht. Woein ungerechtes Verfahren vorliegt, da gibt es ein Un-rechtleiden, wenn man zuwenig empfängt, und einUnrechttun, wenn man für sich zuviel nimmt.

Damit darf die Frage nach dem Wesen der Gerech-tigkeit einerseits, der Ungerechtigkeit andererseits,und ebenso die nach dem Wesen des Gerechten undUngerechten überhaupt als erledigt gelten.

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3. Das Rechtsgesetz

a) Das Recht im Staat und in der Familie

Nun kann es aber ganz wohl vorkommen, daß einerungerecht handelt, ohne doch ein ungerechter Menschzu sein. Es ist also die Frage: was sind das für unge-rechte Handlungen in jeder Art von ungerechterHandlungsweise, die den der sie begeht, als einenMenschen von ungerechtem Charakter, etwa einenDieb, einen Ehebrecher, einen Räuber kennzeichnen?Oder sollte der Unterschied gar nicht in der Art derHandlungen liegen? Es könnte einer mit einem WeibeUmgang haben bei vollem Wissen, wer sie ist, unddoch wäre es möglich, daß nicht bewußter Vorsatz,sondern heftige Leidenschaft dazu den Antrieb bildet.Dann tut er also unrecht und ist dennoch kein unge-rechter Mensch, ebensowenig wie einer jedesmal einDieb ist, der doch gestohlen hat, oder der ein Ehebre-cher ist, der die Ehe gebrochen hat, und was sonstdahin gehört.

Im Vorhergehenden haben wir erörtert, wie sich dieVergeltung zum Gerechten verhält. Wir dürfen aberdabei nicht vergessen, daß es sich in unserer Untersu-chung um zweierlei verschiedene Dinge handelt, umdas Gerechte, was gerecht ist ohne weiteres, und um

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das Recht, das im Staate gilt. Das letztere hat seineStelle da, wo eine Anzahl Personen sich zu einer Le-bensgemeinschaft zusammengeschlossen haben, umein sich selbst genügendes Ganzes zu bilden als Freieund Gleiche, sei nun die Gleichheit eine Gleichheitder Proportion oder eine einfach zahlenmäßige. In denVereinigungen von Menschen dagegen, wo diese Be-dingungen nicht zutreffen, da gilt für die gegenseiti-gen Beziehungen nicht das staatliche Recht; aber einGerechtes gilt doch auch hier, und zwar eines in ver-wandtem Sinne. Denn wo unter Menschen ein Gesetzfür ihre gegenseitigen Beziehungen besteht, da gibt esauch ein Gerechtes, ein Gesetz aber gibt es, wo esunter Menschen die Möglichkeit des Unrechts gibt.Denn das Recht setzt die Scheidung dessen was ge-recht und dessen was ungerecht ist. Menschen nunvon ungerechter Gesinnung verüben auch ungerechteHandlungen; aber nicht alle Menschen, die ungerechteHandlungen verüben, haben auch eine ungerechte Ge-sinnung. Diese Handlungsweise aber besteht darin,daß man von dem was an und für sich ein Gut ist sichselbst zuviel und von dem was an und für sich einÜbel ist sich selbst zuwenig zuwendet. Darum über-läßt man denn auch die Herrschaft nicht einem Men-schen, sondern dem Gesetz, weil ein Mensch dieHerrschaft leicht in seinem persönlichen Interesse ge-braucht und so zum Gewaltherrscher wird. Der

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Herrscher aber ist der Bewahrer des Gerechten, undweil des Gerechten, damit auch des Gleichen. Da eraber für sich kein Zuviel begehrt, wenn er doch eingerechter Mann ist, denn er beansprucht für sich vondem was an und für sich ein Gut ist nicht ein Mehr,wenn es ihm nicht der Proportionalität nach zukommt,und seine Mühewaltung geschieht insofern im Diensteder anderen; daher denn auch das Wort: die Gerech-tigkeit des einen sei ein Vorteil für den anderen, daswir schon oben erwähnt haben, so muß man ihm alsoeinen Lohn gewähren, und dieser besteht in Ehre undVorrang; diejenigen aber, denen das nicht genügt,werden zu Gewaltherrschern. Das Recht des Herrnaber über den Sklaven und das des Vaters über dieKinder ist mit dem eben bezeichneten nicht dasselbe,sondern ihm nur verwandt. Denn gegen diejenigen,die schlechthin zu unserer Person gehören, kann mankein Unrecht üben; der Sklave aber und das Kind, so-lange bis es das Alter erreicht hat um selbständig zuwerden, ist wie ein Teil des Hausherrn; niemand aberhat den Vorsatz sich selbst zu schädigen. Darum alsokann man diesen kein Unrecht zufügen. Mithin gibt esin diesem Verhältnis auch kein Unrecht und keinRecht wie das, das in der Staatsgemeinschaft gilt.Denn dieses war dem Gesetze gemäß und galt fürMenschen, für die es der Natur der Sache nach einGesetz gibt; das waren aber Menschen, zwischen

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denen Gleichheit herrschte sowohl was das Herrschenals was das Beherrschtwerden anbetrifft. Daher gibtes auch ein Gerechtes noch eher im Verhältnis zu derFrau als zu den Kindern und Sklaven. Denn dieses istdas Gerechte, wie es im häuslichen Leben herrscht;allerdings aber ist auch dieses von anderer Art als dasRecht, das im Staatswesen gilt.

b) Formelles und Materielles Recht

Das im Staate geltende Recht ist teils von Natur,materielles Recht, teils durch Gesetz gegeben, positi-ves Recht. Von Natur gegeben ist das, was allerortendie gleiche Bedeutung hat und sie nicht erst dadurcherlangt, daß es den Menschen so beliebt oder nichtbeliebt; durch Gesetz gegeben dagegen ist das, wasursprünglich ebensogut so oder auch anders bestimmtsein könnte, was aber, wenn eine Bestimmung einmalgetroffen ist, so und nicht anders zu behandeln ist,z.B. der Satz, daß das Lösegeld für den Kriegsgefan-genen eine Mine betragen soll, oder daß man eineZiege und nicht zwei Schafe zu opfern hat, und wassonst an gesetzlichen Bestimmungen für die speziel-len Beziehungen getroffen wird, wie das Gebot, demBrasidas zu opfern, oder solches was die Manier vonVolksbeschlüssen an sich trägt.

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Manche nun sind der Meinung, alles Recht sei vondieser Art, also positives Recht, weil das was vonNatur gilt unveränderlich sei und überall seine Gel-tung behaupte, wie das Feuer ebensogut hierzulandewie in Persien brennt, während doch das geltendeRecht erfahrungsgemäß veränderlich ist. Indessen, soliegt die Sache doch nicht; oder doch nur mit Ein-schränkung darf man so sagen. Bei den Göttern frei-lich ist sicher die Veränderlichkeit ausgeschlossen;bei uns Menschen dagegen gibt es wohl auch solches,was von Natur ist, aber veränderlich ist gleichwohlalles: und trotzdem ist das eine von Natur, das anderenicht von Natur. Welche Kennzeichen nun unter demwas auch anders sein könnte dasjenige hat, was vonNatur gilt, welche dasjenige, was nicht von Natur gilt,sondern nur durch Gesetz und Konvention besteht,während doch beides gleichmäßig der Veränderungunterliegt, darüber ist es gar nicht so schwer sich zuverständigen. Paßt doch die gleiche Unterscheidungauch auf ganz andere Fälle. So ist von Natur die rech-te Hand die stärkere; das schließt aber gleichwohl dieMöglichkeit nicht aus, daß alle Menschen beideHände gleich gut gebrauchen könnten.

Mit den positivrechtlichen Bestimmungen also, dieauf Satzung beruhen und die das Zweckmäßige imAuge haben, verhält es sich ganz ähnlich wie mit denMaßen. Denn auch die Maße wie die für Wein oder

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Getreide sind nicht überall dieselben; sie sind größer,wo man im großen einkauft, und kleiner, wo man imkleinen verkauft. Ganz ähnlich sind auch die nichtvon Natur geltenden, sondern von Menschen getroffe-nen rechtlichen Bestimmungen nicht überall diesel-ben; auch nicht einmal die Verfassungen, währenddoch, wenn es nach der Natur ginge, bloß eine überalldie beste sein müßte.

Jede einzelne rechtliche und gesetzliche Bestim-mung hat gegenüber den einzelnen Fällen die Bedeu-tung des Allgemeinen. Denn die wirklich vorkommen-den Fälle sind mannigfach, jede solche Bestimmungaber ist eine und gilt allgemein. Daraus ergibt sich derUnterschied, der zwischen einer unrechtlichen Hand-lung und dem Unrecht, zwischen einer rechtlichenHandlung und dem Gerechten besteht. Unrecht istetwas entweder von Natur oder durch Satzung; eben-dasselbe ist, wenn es vollbracht worden ist, eine wi-derrechtliche Handlung; ehe es vollbracht worden ist,ist es das noch nicht, sondern da ist es bloßes Un-recht. Eben dasselbe gilt von der Rechtsübung. Indes-sen ist es besser, unter der »rechtlichen Handlung«das Rechtliche überhaupt, und unter »Rechtsübung«die Aufhebung eines geschehenen Unrechts insbeson-dere zu verstehen. Das einzelne darüber, Beschaffen-heit und Anzahl ihrer Arten, die Gegenstände, mitdenen sie es zu tun haben, das wollen wir gleich im

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folgenden untersuchen.

c) Das Unrecht

Ist nun der Begriff des Rechtlichen und des Wider-rechtlichen der bezeichnete, so vollzieht man eine un-rechtliche oder eine rechtliche Handlung nur so, daßman es mit freiem Willen tut; wenn ohne freien Wil-len, so ist es so wenig eine unrechtliche wie einerechtliche Handlung, oder doch beides nur zufälliger-weise; denn da tut man was zufällig mit dem Rechtzusammentrifft oder ihm widerspricht. Der Charaktereiner unrechtlichen wie der einer rechtlichen Hand-lung bestimmt sich also danach, ob sie mit freiemWillen oder ohne freien Willen getan ist, ist eineHandlung frei gewollt, so erregt sie Mißfallen, unddann ist sie zugleich auch eine unrechtliche Hand-lung. Es gibt also solches was wider das Recht ver-stößt und was doch keine unrechtliche, keine schuld-volle Handlung ausmacht, und zwar dann wenn esnicht auch ein frei Gewelltes ist. Frei gewollt abernenne ich, wie schon früher dargelegt worden ist, das-jenige was einer, als in seiner Macht stehend, mitWissen tut und frei von Irrtum über die Person, diedie Handlung betrifft, über das Werkzeug, womit sievollbracht wird, und über den Zweck, zu dem sie

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geschieht: so daß er z.B. weiß, wer es ist, den erschlägt, welches das Werkzeug und welches derZweck, und daß bei dem allen ebenso der bloße Zufallwie der äußere Zwang ausgeschlossen ist. Ein Zwangvon der Art wie wenn ein anderer seine Hand nähmeund jemanden damit schlüge, höbe den Willen auf;denn dann läge es nicht in seiner Macht. Der Geschla-gene kann andererseits sein Vater sein, jener aberzwar wissen, daß es ein Mensch und einer der Anwe-senden ist, und doch nicht wissen, daß es sein Vaterist. Entsprechende Bestimmungen dürfen auch für denZweck wie für alle Umstände gelten, unter denen dieHandlung geschieht.

Was nun auf Grund eines Irrtums geschieht, oderzwar nicht auf Grund eines Irrtums, aber doch so daßes nicht in der Gewalt des Handelnden stand, oderwas infolge eines Zwanges geschieht, das ist nicht freigewollt. Denn wir tun und leiden mancherlei, auch dawo es sich um solches handelt was die Natur mit sichbringt, wovon sich weder sagen läßt, daß es frei ge-wollt noch daß es nicht frei gewollt ist, wie z.B. daßwir altern und sterben. Bei dem unrechtlichen und beidem rechtlichen Handeln nun steht es, auch was dieZufälligkeit anbetrifft, ebenso. Es kann einer ein De-positum ohne seinen Willen und aus Furcht zurücker-statten, von einem solchen dürfte man weder sagen,daß er rechtlich handle noch daß er die rechtliche

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Anforderung erfülle, oder doch nur daß es durch blo-ßen Zufall so sei. Ebenso muß man von dem, derunter der Macht des Zwanges und wider seinen Wil-len die Zurückerstattung eines Depositums unterläßt,sagen, es sei nur durch Zufall, daß er unrechtlichhandle und tue was wider das Recht ist.

Von unseren freigewollten Handlungen vollziehenwir die einen mit Vorsatz, die anderen ohne Vorsatz;mit Vorsatz diejenigen, die aus vorhergehender Über-legung entspringen, ohne Vorsatz diejenigen, deneneine Überlegung nicht vorhergeht. In dem Verkehr derMenschen untereinander kann also die Schädigungdes einen durch den anderen in drei Formen erfolgen.Die eine ist ein Versehen infolge eines Irrtums; dahandelte jemand ohne daß er wußte, welche Personnoch welche Sache seine Handlung betraf, noch mitwelchen Hilfsmitteln oder zu welchem Zwecke er sievollbrachte. Es meinte etwa einer, er werfe nicht, odernicht mit diesem Werkzeug, oder nicht diese Person,oder nicht in dieser Absicht; der Erfolg aber war nichtder, um dessen willen er zu handeln dachte; z.B. erhandelte nicht um jemand zu verwunden, sondernbloß um ihn zu necken, oder nicht diese Person odernicht mit diesem Werkzeug. Geschieht nun der Ein-griff in fremdes Recht wider das was man vorausse-hen konnte, so ist es ein bloßer Unfall. Geschieht sienicht wider solche mögliche Voraussicht, aber doch

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ohne rechtswidrige Gesinnung, so ist es Fahrlässig-keit; denn ein fahrlässiges Vergehen liegt vor, wo derAnstoß zum Kausalverlauf vom Täter, ein Unfall, woer von einem Äußeren stammt. Hat er mit Bewußt-sein, aber ohne Vorbedacht gehandelt, so ist es einUnrecht von der Art, wie man es im Zorne und in son-stigen Affekten begeht, die einen Menschen mit Not-wendigkeit oder doch der menschlichen Natur gemäßbefallen. Wenn man in dieser Weise andere schädigtund sich vergeht, so tut man zwar unrecht und begehteinen Eingriff in fremdes Recht; aber man ist deshalbnoch kein Mensch von widerrechtlicher und auchnicht von niedriger Gesinnung; denn die Schädigungist nicht aus niedriger Gesinnung hervorgegangen.Geschieht sie dagegen mit Vorbedacht, dann zeigt derTäter eine widerrechtliche und niedrige Gesinnung.Mit Recht beurteilt man darum Handlungen im Affektnicht als vorbedachte; denn der schuldige Teil ist hiernicht eigentlich der der im Affekte handelt, sondernder den Affekt hervorgerufen hat. Dabei wird nun fer-ner auch nicht über den Tatbestand gestritten, sondernüber die Frage, ob der Täter recht getan hat. Denn inZorn gerät man über eine vermeintlich erfahrene Ver-letzung. Da streiten nicht, wie bei Rechtsgeschäften,die Parteien, von denen die eine, falls sie nicht ausreiner Vergeßlichkeit handeln, notwendig schlecht-gläubig ist, über den Tatbestand; sondern während

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man über die Sachlage gleicher Meinung ist, streitetman darüber, auf welcher Seite das Recht liegt. Woeiner auf Schädigung des anderen ausgeht, ist Irrtumausgeschlossen; dort aber glaubt der eine in seinemRechte geschädigt zu sein, während der andere es be-streitet. Wenn einer vorsätzlich den andern schädigt,dann handelt er unrechtlich, und solchen unrechtli-chen Handlungen zufolge ist derjenige der sie begehtein unrechtlich gesinnter Mann, sofern er in seinerHandlungsweise gegen die Gleichheit nach Proportionoder gegen die einfache Gleichheit verstößt; undebenso ist einer ein rechtlich gesinnter Mann, wennsein Vorsatz ausdrücklich darauf gerichtet ist, dasRecht innezuhalten. Dagegen dazu daß er das Rechtinnehält gehört nur dies, daß er frei wollend handelt.

Unter den nicht frei gewollten Handlungen sindsolche, denen man eine nachsichtige Beurteilung ge-währt, andere, denen man sie versagt. Die Verstößegegen das Recht, die nicht bloß im Irrtum, sondernauf Grund des Irrtunis begangen werden, verdienensolche Nachsicht; diejenigen, die man nicht auf Grunddes Irrtums, sondern zwar im Irrtum, aber auf Grundeines Affektes begeht, der weder naturgemäß nocheinem Menschen zuzutrauen ist, erlangen solche nach-sichtige Beurteilung nicht.

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d) Unrecht gegen den Einwilligenden

Eine Schwierigkeit könnte man darin finden, ob dieBegriffe Unrecht erleiden und Unrecht tun hinlänglichgenau bestimmt worden sind, und zunächst ob einFall denkbar ist, wie Euripides ihn schildert, der sichseltsam genug so ausdrückt:

Die eigne Mutter tötet' ich, ein kurzes Wort!Wollend gleich ihr? nicht wollend die nicht

wollende?

Denn ist es wirklich möglich, mit seinem Willenschuldvolles Unrecht zu leiden? Oder geschieht esnicht vielmehr immer wider Willen, gerade wie ande-rerseits das schuldvolle unrechtliche Handeln immermit Willen geschieht? Und sollte es sich damit immerauf diese oder jene Weise verhalten, so daß es immergewollt oder nicht gewollt wäre, wie das unrechtlicheHandeln immer frei gewollt ist? oder ist es bald freigewollt, bald nicht? Die gleiche Frage erhebt sichdann auch in dem Fall, wo einem sein Recht wird.Denn alle Erfüllung des Rechts geschieht frei wol-lend, und es liegt deshalb die Annahme nahe, daß derGegensatz auf beiden Seiten der gleiche sei und daßungerecht behandelt werden und sein Recht erhalten

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beides entweder frei gewollt oder nicht gewollt sei.Indessen scheint es undenkbar, auch da wo einem seinRecht wird, daß es einem immer mit seinem Willengeschehe; denn es kommt vor, daß einem sein Rechtwird, ohne daß er es will.

Weiter kann man auch die Frage aufwerten, objedem das Unrecht, das ihm widerfahren ist, durcheine unrechtliche Handlung widerfahren ist, oder obes mit dem Erleiden eines Unrechtes ebenso ist wiemit dem Zufügen. Denn in beiden Fällen, ob einemUnrecht widerfährt oder ob einer es anderen zufügt:die Möglichkeit ist immer gegeben, daß man dasRecht nur zufällig treffe oder erlange, und offenbar istes beim Unrecht ganz ähnlich. Bedeutet doch in sei-nem Handeln das Recht verletzen nicht dasselbe, wieunrechtlich handeln, und Unrecht erfahren nicht das-selbe wie eine unrechtliche Handlung erleiden. Dasgleiche gilt wo die Rechtsvorschrift erfüllt wird undwo einer sein Recht erlangt. Denn es ist unmöglich,daß einer eine unrechtliche Handlung erleide, wonicht einer ist, der unrechtlich handelt, oder daß einerrechtlich behandelt werde, wo nicht einer da ist, derrechtlich verfährt. Bedeutet aber unrechtlich handelnohne weiteres, frei wollend einen anderen an seinemRechte kränken, und bedeutet dies frei wollend tun soviel wie es mit Kenntnis der Person, des Werkzeugsund der Art und Weise tun; schädigt ferner wer sich

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nicht zu beherrschen weiß sich selbst mit freiem Wol-len: so würde dieser mit Willen Unrecht leiden, undmithin wäre es möglich, daß einer sich selbst Unrechttue. Es ist aber auch dies eine der aufgeworfenenschwierigen Fragen, ob einer sich selbst Unrecht zu-zufügen vermag, und andererseits könnte auch derFall vorkommen, daß einer der sich nicht in der Ge-walt hat, mit seinem Willen von einem anderen mitdessen Willen geschädigt wird, und so wäre es wiedermöglich, mit Willen Unrecht zu leiden. Oder sollteetwa die Begriffsbestimmung des wissentlichen Un-rechts nicht zutreffend sein, sondern sollte es noch desZusatzes bedürfen, daß wenn einer mit Kenntnis derPerson des Werkzeugs und der Art und Weise den an-dern schädigt, es auch noch gegen den Willen des an-deren geschehen muß? Es kommt nun wohl vor, daßjemand mit Willen an seinem Recht geschädigt wirdund Unrecht erleidet; aber niemand erleidet mit Wil-len eine unrechtliche Handlung. Denn niemand, auchnicht der Mensch ohne Selbstbeherrschung, hat denWillen, Unrechtliches zu erdulden; er handelt nurgegen seinen eigenen Willen. Denn niemand willetwas, dem er nicht einen Wert beilegt, und auch derUnenthaltsame tut bloß nicht, was er zu tun für gebo-ten hält. Wer aber das Seinige weggibt, wie Homererzählt daß Glaukos es dem Diomedes gegenübergetan habe, »Gold für Erz, was hundert an Wert, für

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solches was neun wert«, dem widerfährt kein Unrecht.Denn wohl steht es bei ihm fortzugeben; aber eine un-rechtliche Behandlung zu erfahren, das steht nicht beiihm; sondern dazu gehört, daß einer da sei, der eineunrechtliche Handlung begeht.

c) Rechtliche Gesinnung

Was also das Unrechtleiden anbetrifft, so leuchtetein, daß man Unrecht nicht mit Willen leidet. Nunbleiben aber von dem was wir uns vorgesetzt haben,noch zwei Punkte zu erörtern. Handelt derjenige un-rechtlich, der dem anderen mehr zuerteilt als ihm zu-kommt? oder der andere, der es empfängt? Und zwei-tens, ist es möglich, sich selbst Unrecht zu tun? Wennnämlich möglich ist, was wir vorher bezeichnethaben, und wenn derjenige unrechtlich handelt, derdem anderen zuviel zuerteilt, und nicht derjenige, deres empfängt, so tut einer sich selbst Unrecht, wenn ermit Wissen und Wollen dem anderen von dem Seini-gen zuviel zuerteilt. So aber verfahren, sollte mandenken, gerade rechtlich gesinnte Leute; denn ein bil-lig denkender Mann hat eher die Neigung, für sich zuwenig zu beanspruchen. Oder läßt sich auch das nichtso schlechthin sagen? Ein solcher Mann nimmt jadafür von einem anderen Gute wo möglich mehr in

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Anspruch, etwa Ehre oder sonst ein an und für sichwertvolles Gut. Die Lösung liegt in dem was über denBegriff der unrechtlichen Handlung gesagt worden ist.Denn es widerfährt einem nichts wider den eigenenWillen; es ist also kein Unrecht was er deshalb erlei-det, sondern wenn irgend etwas, dann doch immer nureine Schädigung. Offenbar aber ist es jedesmal derZuerteilende, der Unrecht tut, und nicht der zuvielEmpfangende; denn nicht derjenige handelt unrecht-lich, bei dem das was wider das Recht ist sich findet,sondern derjenige, bei dem sich der Wille findet, dasWiderrechtliche zu tun; dies aber findet sich bei dem,dem die Urheberschaft der Handlung zukommt, unddiese kommt dem Zuerteilenden zu und nicht demEmpfangenden.

Ferner spricht man von einem Tun in mehrfachemSinne. Man sagt von unbeseelten Dingen, daß sietöten; man sagt es von der Hand; man sagt es auchvon dem Sklaven, der tut, was ihm sein Herr befohlenhat. Da begeht also einer, während er tut was widerdas Recht ist, doch keine unrechtliche Handlung.Wenn ferner jemand im Irrtum über die Einzelheitendes Falles ein Urteil fällt, so vergeht er sich nichtgegen das gesetzliche Recht und sein Urteil ist nichtunrechtlich, es sieht nur aus wie ein unrechtliches Ur-teil. Denn das eine ist das gesetzliche, das positiveRecht, und das andere das natürliche, das materielle

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Recht. Hat einer dagegen einen ungerechten Spruchwissentlich gefällt, so ist es auch bei diesem einselbstsüchtiges Streben was ihn leitet, Gunst bei dereinen oder Rache an der anderen Partei; also hat der-jenige, der aus solchen Gründen einen ungerechtenSpruch fällt, ganz so als ob er vom ungerechten Guteinen Teil an sich gebracht hätte, ein Zuviel für sichgenommen. Hat doch auch einer, der in solchem Sinneüber das Eigentum an einem Acker entschieden hat,nicht den Acker bekommen, sondern Geld.

Die Menschen nun meinen, es stehe in ihrer Gewaltsich gegen das Recht zu vergehen; darum sei es auchleicht, rechtlich zu verfahren. Indessen, so liegt dieSache doch nicht. Allerdings, mit der Frau des Nach-barn Umgang zu haben, seinen Nächsten zu schlagen,jemandem Bestechung in die Hand zu drücken, istleicht und steht in der Menschen Gewalt; aber derglei-chen zu tun wenn man eine feste Charakterbeschaffen-heit hat, ist weder leicht noch steht es in der Men-schen Gewalt. Ebenso meint man, es sei keine beson-dere Wissenschaft, zu wissen was Recht und was Un-recht ist, weil es nicht schwierig sei zu verstehen, wasdie Gesetze bestimmen. Allein darin besteht nicht dasRecht, oder es bestellt darin doch nicht hauptsächlich.Sondern wie man handeln und wie man sich beim Zu-erteilen verhalten muß, damit eine dem Recht gemäßeHandlung zustande komme, das ist die Aufgabe und

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noch schwieriger als zu wissen was der Gesundheitzuträglich ist. Auch hier ist es leicht zu wissen, wasHonig, was Wein, was Nieswurz, was Brennen undSchneiden ist; aber wie man das zum Zwecke der Ge-sundheit anzuwenden hat, bei welcher Person, zu wel-cher Zeit, das ist eine so schwere Aufgabe, daß mandazu ein gelernter Arzt sein muß. Aus eben demsel-ben Grunde meint man wohl, es stehe in eines recht-schaffenen Mannes Vermögen, eben sowohl auch wi-derrechtlich zu handeln; ein rechtschaffener Mannhabe nicht desto weniger, sondern eher noch destomehr, das Vermögen, alle derartigen Handlungen zubegehen, auch mit dem Weibe eines andern zu lebenund einen anderen zu schlagen; ein tapferer Mannkönne ebensogut den Schild wegwerfen, den Rückenkehren und beliebig wohin davon laufen. Indessen einfeiger Mensch sein, oder widerrechtlich leben, das be-deutet doch nicht solche Handlungen begehen, oderbedeutet es doch nur als beiläufige Folge; sondern esbedeutet so handeln auf Grund einer bestimmten Ge-sinnung, wie auch Arzt sein und gesund machen nichtheißt schneiden oder nicht schneiden, Arzenei verord-nen oder nicht verordnen, sondern diese bestimmteBeschaffenheit haben.

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f) Das Rechtssubjekt

Recht gibt es für solche Wesen, die an den Dingenteilhaben, die an und für sich Güter bedeuten, und diedavon zuviel oder zuwenig haben können. Denn esgibt Wesen, bei denen ein Zuviel nicht denkbar ist,wie es doch sicherlich bei den Göttern der Fall ist,und andere, denen auch der kleinste Teil davon nichtzuträglich, sondern denen alles schädlich ist, wie denunheilbar Bösen, und wieder andere, denen es bis zueinem gewissen Maße frommt. Unter Menschen alsogilt deshalb das Recht.

g) Billigkeit

Das Erörterte fordert seine Ergänzung in einer Aus-führung über den Begriff der Billigkeit und des Billi-gen und über das Verhältnis der Billigkeit zur Ge-rechtigkeit und des Billigen zum Gerechten. GenauereErwägung zeigt, daß das Billige weder schlechthindasselbe ist wie das Gerechte, noch der Gattung nachdavon verschieden ist. Zuweilen gewinnt das Billigeund der billig gesinnte Mann unsere Zustimmung, sodaß wir den Begriff mit unserem Beifall auch auf an-dere Gebiete übertragen und es als das Gute

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überhaupt fassen und das in höherem Grade der Bil-ligkeit Entsprechende als das Bessere anerkennen. Zu-weilen aber erscheint es, indem man sich streng andas Wort hält, unstatthaft, daß das Billige Zustim-mung verdienen soll, wenn es doch wider das Gerech-te ist. Entweder sei das Gerechte nichts wert, oder dasBillige sei nicht gerecht, wenn es ein anderes ist alsdas Gerechte; oder wenn beide wertvoll seien, soseien sie dasselbe. Das etwa sind die Erwägungen,aus denen sich die Bedenken, die das Billige erregt,ergeben. Indessen, wenngleich das alles in gewissemSinne richtig ist, es ist doch kein eigentlicher Gegen-satz zwischen beiden. Das Billige, indem es besser istals eine gewisse Art des Gerechten, ist selbst ein Ge-rechtes; es ist nicht, als gehörte es einer anderen Gat-tung an, besser als das Gerechte. Es ist also Gerechtesund Billiges dasselbe, und während beide wertvollsind, ist das Billige das Höherstehende von beiden.

Was die Schwierigkeit dabei ausmacht, ist dies,daß das Billige wohl ein Gerechtes ist, aber nicht dasGerechte im Sinne des positiven Gesetzes, sondern imSinne einer Verbesserung des nach dem Gesetze Ge-rechten. Der Grund liegt darin, daß jedes Gesetz eineallgemeine Bestimmung ist, manche Fälle aber nichtnach einer solchen allgemeinen Bestimmung richtigbehandelt werden können. In solchen Fällen nun, woman eine allgemeine Bestimmung festsetzen muß und

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eine solche doch nicht zutreffend abzugeben vermag,erfaßt das Gesetz den Durchschnitt der Fälle, wohlwissend, was darin für ein Fehler begangen wird. Unddoch verfährt es deshalb nicht weniger richtig. Dennder Fehler liegt nicht am Gesetz, auch nicht am Ge-setzgeber, sondern in der Natur der Sache. Das Mate-rial für alles praktische Verhalten ist nun einmal vondieser Beschaffenheit. Wenn also das Gesetz eine all-gemeine Bestimmung trifft, ein einzelner Fall abervorkommt, auf den die allgemeine Bestimmung nichtpaßt, dann ist es ganz angemessen, da wo der Gesetz-geber versagt und mit der allgemeinen Bestimmungdieser Art den besonderen Fall nicht getroffen hat, dasvon ihm Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch,wie ihn der Gesetzgeber selbst fallen würde, wenn erzugegen wäre, und wie er die Bestimmung getroffenhaben würde, wenn er den Fall vorausgesehen hätte.Daher ist das Billige ein Gerechtes und besser als einegewisse Art des Gerechten, nicht als das Gerechteschlechthin, sondern als das die Sache nicht Tref-fende, was in der Allgemeinheit der Bestimmung sei-nen Grund hat.

Das also ist das Wesen des Billigen, eine Ergän-zung des Gesetzes zu bilden, wo es wegen seinesCharakters als allgemeiner Bestimmung unzulänglichist. Darin liegt der Grund auch dafür, daß nicht allesdurch Gesetz festgelegt ist. Es gibt manches, was

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durch ein Gesetz zu treffen unmöglich ist, so daß eseiner Spezialbestimmung bedarf. Denn für die Be-handlung des Unbestimmten ist auch der Maßstab un-bestimmt, wie bei der auf Lesbos üblichen Bauweiseauch das Richtscheit, das von Blei ist. Wie diesessich der Form des Steines anschmiegt und nicht starrverharrt, ebenso macht es ein Spezialgesetz mit denrealen Verhältnissen.

Man sieht also, was das Wesen des Billigen ist,und daß es ein Gerechtes und besser ist als ein Ge-rechtes von gewisser Art. Daraus geht denn auch her-vor, wer ein billig gesinnter Mann ist. Billigkeit liebt,wer jenes Billige mit Vorsatz anstrebt und ausübt,wer nicht in pedantischer Strenge den Rechtssatz zumSchlimmeren auslegt, sondern ihn zu mildern geneigtist auch da wo er das Gesetz auf seiner Seite hätte.Diese Gesinnung nennt man Billigkeit. Sie ist eineArt der Gerechtigkeit, und nicht eine von dieser ver-schiedene Denkungsart.

h) Unrecht der Person wider sich selbst

Aus unseren Erörterungen ergibt sich nun auch dieAntwort auf die Frage, ob es möglich ist sich selbstUnrecht zu tun oder nicht. Was dem Gebiete des Ge-rechten angehört, wird bezeichnet durch das was das

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Gesetz in bezug auf jeden Zweig sittlicher Lebensfüh-rung anordnet, z.B. das Gesetz gebietet nicht, sichselbst zu töten, und was es nicht zu töten gebietet, daszu töten verbietet es. Ferner, wenn jemand widerrecht-lich einen anderen mit freiem Willen schädigt unddamit nicht bloß erlittene Verletzung vergilt, so tut erUnrecht; mit freiem Willen aber tut es, wer die Per-son, die er trifft, und das Werkzeug kennt. Wer nun inleidenschaftlicher Aufregung sich tötet, der tut wol-lend wider die gesunde Einsicht, was das Gesetz nichtzuläßt; also fügt er Unrecht zu. Aber wem? doch wohldem Staate, nicht sich selber. Denn er erleidet es mitseinem Willen; niemand aber erleidet mit seinem Wil-len Unrecht. Darum setzt auch der Staat eine Strafedarauf. Wer Hand an sich legt, der wird für ehrlos er-klärt als ein Mann, der sich gegen den Staat wider-rechtlich vergangen hat.

Zweitens aber, versteht man unter einem ungerech-ten Menschen einen solchen, der bloß widerrechtlichhandelt, ohne doch sonst eine widerrechtliche Gesin-nung zu haben, so ist es auch in diesem Sinne nichtmöglich sich selbst Unrecht zu tun. Hier liegt dieSache anders als vorher. Der Ungerechte ist etwa indem Sinne ein schlechter Mensch wie es der Feiglingist, nicht als hätte er alle möglichen Arten vonSchlechtigkeit an sich; also tut er auch nicht in diesemSinne sich selbst Unrecht. Denn dann müßte immer

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einem und demselben Menschen ein und dasselbe zu-gleich weggenommen und zuerteilt werden können.Das aber hat keinen Sinn; sondern wo von gerechterund ungerechter Zuerteilung die Rede sein soll, damuß sie notwendig immer unter einer Mehrheit vonPersonen stattfinden. Es muß ferner die Handlung freigewollt, vorsätzlich und ohne Herausforderung ge-schehen sein. Denn wer tätig wird aus dem Grunde,weil er Unrecht erfahren hat, und in der Absicht die-ses zu vergelten, der, meint man, tut kein Unrecht.Wer aber sich selbst Unrecht täte, würde in einer undderselben Person dasselbe Unrecht, was er zufügt,auch erleiden. Weiter aber müßte es dann auch mög-lich sein, mit Willen Unrecht zu erleiden. Außerdem,niemand fügt Unrecht zu, ohne daß seine Handlungeine besondere Art von rechtswidrigen Handlungendarstellte; es treibt aber niemand Ehebruch mit seinereigenen Frau oder bricht in sein eigenes Haus ein oderbestiehlt sich selbst. Überhaupt, auch die Frage, objemand sich selbst Unrecht tun kann, findet ihre Be-antwortung auf Grund der Entscheidung darüber, objemand mit seinem Willen Unrecht erleiden kann.

Augenscheinlich nun ist beides übel, Unrecht lei-den und Unrecht zufügen. Das eine bedeutet so vielwie weniger, das andere wie mehr empfangen als dierechte Mitte gebietet; dieser rechten Mitte entsprichtdas was in der Heilkunst der gesunde, in der

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Gymnastik der kräftige Körper bedeutet. Aber Un-recht zufügen ist doch das Schlimmere. Denn Unrechtzufügen beweist einen sittlichen Mangel und erregtMißbilligung; dieser sittliche Mangel ist entweder einvollständiger und uneingeschränkter, oder er grenztdoch daran; denn nicht alles mit Willen begangeneUnrecht deutet auf eine rechtswidrige Gesinnung. Da-gegen beweist Unrecht leiden keinen sittlichen Man-gel noch rechtswidrige Gesinnung. An und für sich istalso Unrecht leiden das geringere Übel; doch hindertnichts, daß begleitende Umstände es zum größerenÜbel machen. Indessen, das geht die wissenschaftli-che Behandlung des Gegenstandes nichts an. Dieseerklärt eine Lungenentzündung für eine schwerere Er-krankung als eine Verletzung durch einen Stoß;gleichwohl kann dieser durch zufällige Komplikationzum schlimmeren Übel werden; es kann sich etwatreffen, daß einer durch den Stoß zu Falle kommt undinfolgedessen von den Feinden gefangen genommenoder getötet wird.

Nur in übertragenem Sinne, nur im Sinne der Ana-logie kann die Rede davon sein, daß jemand gegensich selbst gerecht sei. Nicht er selber ist gerechtgegen sich selbst, er ist es vielmehr nur gegen gewisseSeiten seiner Persönlichkeit, und gerecht auch sonicht in jeder Bedeutung, sondern gerecht nur wie einHerr gegen den Sklaven oder wie ein Hausvater gegen

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seine Kinder. Bei Überlegungen von dieser Art unter-scheidet man in der Seele den vernünftigen Teil vondem vernunftlosen, und wenn man die Sache so an-sieht, dann läßt sich allerdings verstehen, wie es einUnrecht geben kann gegen die eigne Person. Denndann gibt es eine Möglichkeit, daß diese verschiede-nen Seelenteile der eine etwas von dem anderen erlei-den, was ihrem eigenen Antriebe widerspricht. Sogebe es also, sagt man, ein Gerechtes auch für diese,wie es ein Gerechtes gibt im gegenseitigen Verhältniszwischen dem Herrschenden und dem Beherrschten.

So mag denn die Frage nach der Gerechtigkeit undden anderen Formen sittlicher Willensrichtung aufdiese Weise ihre Beantwortung gefunden haben.

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II. TeilDas sittliche Subjekt

I. Verstandesbildung

1. Der Intellekt und seine Vermögen

Wir haben oben auseinandergesetzt, daß die sittli-che Aufgabe darin besteht, die rechte Mitte innezuhal-ten und ebenso das Zuviel wie das Zuwenig zu mei-den, daß aber diese Mitte zu finden Sache rechtenDenkens ist. Wir haben mithin jetzt dieses letztere ge-nauer zu bestimmen. In allen den Formen sittlicherWillensbestimmtheit, von denen die Rede gewesenist, gibt es gerade so wie auch bei anderen Eigen-schaften ein Ziel, auf das hinblickend das Subjekt ver-mittels des Vermögens der Vernunft seine Kräfte an-spannt oder nachläßt. Und so gibt es denn auch einebegriffliche Bestimmung für jeden Fall der richtigenMitte, die, wie wir gesehen haben, indem sie der rech-ten Vernunft entspricht, zwischen dem Zuviel unddem Zuwenig liegt, indessen, wenn die Fassung desSatzes auch an sich zutreffend ist, so hat sie doch kei-neswegs schon ein hinlängliches Maß von Genauig-keit. Auch auf anderen Gebieten menschlicher Tätig-keit, für die es eine wissenschaftliche Regel gibt, ist

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es ganz ebenso die gültige Wahrheit, daß man in derAnwendung seiner Kräfte wie in der Zerstreuungweder zuviel noch zuwenig tun, sondern das Mittel-maß innehalten soll, so wie es der rechten Vernunftentspricht. Wenn aber einer bloß diesen Satz innehät-te, so wäre er deshalb um nichts klüger; er wäre inderselben Lage, wie wenn einer auf die Frage, wasman seinem Leibe zugute tun müsse, die Antwort er-hielte: alles was die ärztliche Kunst und was derMann, der diese Kunst besitzt, verordnet. Es istdarum zu fordern, daß auch hier, wo es sich um diegeistigen Beschaffenheiten handelt, das was man vor-bringt nicht bloß richtig sei, sondern daß es auch be-grifflich völlig bestimmt bezeichnet werde, was dennnun die rechte Vernunft ist und was ihre begrifflicheBestimmung enthält.

Als wir von den verschiedenen Formen rechter gei-stiger Beschaffenheit handelten, da haben wir solcheunterschieden, die die Willensbeschaffenheit, und sol-che, die den Intellekt betreffen. Diejenigen, die dieWillensbeschaffenheit betreffen haben wir durchge-gangen; von den übrigen wollen wir im folgendenhandeln, aber zuvor einige Bemerkungen über dieSeele überhaupt vorausschicken.

Wir haben oben bemerkt, daß es in der Seele zweiGebiete gibt, das eine, das mit Vernunft ausgestattetist, und das andere, von dem dies nicht gilt. Jetzt

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müssen wir in gleicher Weise das mit Vernunft ausge-stattete Gebiet weiter einteilen. Als Grundlage maguns gelten, daß es in diesem vernunftbegabten Teilzwei Unterteile gibt, einen, vermittels dessen wir die-jenigen Arten der Gegenstände betrachten, deren Prin-zipien kein Anderssein zulassen, und eines, vermittelsdessen wir das erfassen was auch anders sein könnte.Das Objekt, das seiner ganzen Art nach ein anderesist, das wird auch von einem seiner Art nach anderenVermögen der Seele erfaßt werden müssen, das seinerNatur nach auf das eine der beiden Gebiete angelegtist, wenn doch Erkenntnis im Sinne einer Anglei-chung und einer Verwandtschaft zwischen beiden ver-standen wird. So mag denn das eine von diesen Ver-mögen das Erkenntnisvermögen, das andere das Re-flexionsvermögen genannt werden. Denn sich etwasüberlegen und über etwas reflektieren bedeutet dassel-be, niemand aber stellt Überlegungen an über das wasgar nicht anders sein kann. Mithin ist das Vermögenzu reflektieren der eine Bestandteil des mit Vernunftausgestatteten Seelenteils. Die Aufgabe ist demnachdie, zu bestimmen, welches die beste Verfassungeines jeden dieser beiden Seelenvermögen ist. Denndas würde seine rechte Beschaffenheit bedeuten; dierechte Beschaffenheit eines Gegenstandes aber wirdsich nach dem richten, was die eigentümliche Funkti-on und Bestimmung desselben ausmacht.

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2. Überlegung und Vorsatz

In der Seele nun gibt es drei Vermögen, die dasHandeln wie die Wahrheitserkenntnis beherrschen:die sinnliche Wahrnehmung, das Denken und dasWollen. Unter diesen dreien enthält die sinnlicheWahrnehmung kein Prinzip für irgendwelche Tätig-keit. Das sieht man schon daran, daß die Tiere wohlsinnliche Wahrnehmung, aber keinen Anteil am prak-tischen Verhalten haben.Was nun im Denken die Be-jahung und die Verneinung ist, das ist im Wollendas Begehren und das Meiden. Da also die sittlicheWillensbeschaffenheit die befestigte Richtung auf dieBildung von Vorsätzen bestimmter Art, diese befe-stigte Richtung aber ein auf denkende Überlegung be-gründetes Wollen ist, so muß eben deshalb der da-durch gewonnene Satz ein wahrer und das Wollen einrichtig gebildetes sein, falls der Vorsatz billigenswertsein soll, und das was das Urteil aussagt und daswas der Wille anstrebt muß identisch sein. Diesedenkende Reflexion und die von ihr gefundene Wahr-heit ist also von praktischer Art. Das was sich im reintheoretischen Denken, sofern es weder ein Handelnnoch ein Gestalten bezweckt, aus dem richtigen undaus dem verfehlten Verfahren ergibt, das ist dasWahre und das Falsche; denn das ist die Funktion

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alles gedanklichen Verfahrens. Wo es sich aber umein auf praktisches Verhalten gerichtetes Nachdenkenhandelt, da entspricht die Wahrheit dem richtigen Be-gehren. Der Ausgangspunkt für das Handeln nun istder Vorsatz; er ist es als Anstoß der Bewegung, nichtals Zweck. Der Ausgangspunkt für die Bildung desVorsatzes aber ist das Begehren und die durch denZweck bestimmte Überlegung. Daher gibt es keineVorsatzbildung ohne reflektierendes Denken einer-seits und ohne befestigte Richtung in sittlicher Bezie-hung andererseits; es gibt so wenig eine richtige wieeine entgegengesetzte Handlungsweise ohne diesebeiden Momente, die Reflexion und die Charakterbe-stimmtheit. Dagegen gibt die Reflexion als solchenoch keinen Grund der Bewegung ab, sondern erst diedurch den Zweck und die Beziehung auf das Handelngeleitete Reflexion. Diese nun beherrscht auch die ge-staltende Tätigkeit. Denn wer etwas gestaltet, der tutes jedesmal im Hinblick auf einen Zweck, und nichtein Zweck ohne weiteres, sondern erst der Zweck alsbezogen auf etwas Bestimmtes und als Gestaltungvon etwas Bestimmtem, liefert den Inhalt des Gestal-tens. Beim Handeln dagegen leistet es der Zweckohne weiteres. Denn das Ziel ist hier das richtigeHandeln selber, nicht die Herstellung eines Objekts,und darauf ist das Streben gerichtet. Darum ist einVorsatz entweder ein begehrendes Denken oder ein

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gedankliches Begehren, und der Urheber eines Han-delns von diesem Charakter ist der Mensch.

Was nun den Inhalt eines Vorsatzes bildet, ist nie-mals ein Vergangenes. So nimmt sich niemand vor,Ilium zerstört zu haben. Was vergangen ist, überlegtman sich nicht, sondern was zukünftig ist und wasmöglicherweise eintreten kann; denn das Vergangeneschließt die Möglichkeit aus nicht eingetreten zu sein.So sagt Agathon mit Recht:

Denn dies allein, selbst einem Gotte bleibt'sversagt;

Geschehne Dinge ungeschehn macht auch keinGott.

So ist denn die Wahrheitserkenntnis die Funktionbeider Teile des Vernunftvermögens, und die eigentli-che Vollkommenheit beider besteht in der befestigtenBeschaffenheit, vermöge deren jede derselben dieWahrheit zu treffen imstande ist.

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3. Die Formen intellektueller Betätigung

Wir setzen nunmehr bei entlegeneren Gesichts-punkten ein, um über diese Dinge aufs neue zu ver-handeln. Es mag also als ausgemacht angenommenwerden, daß es der Zahl nach diese fünf Tätigkeitsfor-men gebe, durch die der Geist sich im bejahendenoder verneinenden Urteil der Wahrheit bemächtigt:Kunstfertigkeit (technê), wissenschaftliche Erkennt-nis (epistêmê), praktische Einsicht (phronêsis), idea-le Geisteskultur (sophia) und intuitive Vernunft(nous). Denn woran man sonst noch denken könnte,bloßes Vorstellen und Meinen, läßt immer die Mög-lichkeit des Irrtums offen.

Was nun wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet,wird, wenn es doch geboten ist sich in begrifflicherStrenge zu bewegen und nicht bloßen Analogiennachzugehen, aus folgendem klar werden. Unser allergemeinsame Überzeugung ist doch dies, daß das wasGegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ist, dieMöglichkeit ausschließt, daß sich die Sache auch an-ders verhalten könnte. Von dem was sich möglicher-weise auch anders verhalten kann, läßt sich, sofernder Gegenstand nicht der unmittelbaren Beobachtunguntersteht, nicht ausmachen, ob es ist oder nicht. Wasden Inhalt eines Wissens bildet, ist also ein

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Notwendiges und mithin ein Ewiges; denn was ohneweitere Bedingung ein Notwendiges ist, das ist allesauch ein Ewiges, und vom Ewigen gibt es kein Ent-stehen und kein Vergehen. Zweitens ist es die allge-meine Meinung, daß alles wirkliche Wissen gelehrtund der Inhalt der Wissenschaft erlernt werden kann.Nun vollzieht sich alles Lernen auf Grund schon vor-handener Kenntnis, wie wir es auch in unseren Schrif-ten zur Logik nachweisen, teils auf dem Wege der In-duktion, teils in syllogistischem Verfahren. Die In-duktion also ist das Prinzip auch für das Allgemeine;das syllogistische Verfahren dagegen geht vom Allge-meinen aus. Es gibt mithin Prinzipien, aus denen derSyllogismus fließt, die nicht auf syllogistischemWege gewonnen werden; dafür also gibt es eine In-duktion. Wissenschaftliche Erkenntnis trägt demnachden Charakter eigentlicher Beweisbarkeit, und dazukommt dann weiter, was wir sonst noch alles zur Be-stimmung ihres Begriffes in unseren Schriften zurLogik beigebracht haben. Wissenschaft hat einer, so-weit er irgendwie zu voller Gewißheit gelangt ist unddie Kenntnis der Prinzipien besitzt. Denn sind ihmdiese nicht in höherem Maße bekannt als die Konklu-sion des Schlusses, so hat er ein Wissen nur von unei-gentlicher Art. Damit mag der Charakter der wissen-schaftlichen Erkenntnis gekennzeichnet sein.

Von dem nun was möglicherweise auch anders sein

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kann, ist das eine Gegenstand der gestaltenden Tätig-keit, das andere Gegenstand des Handelns. Diesesbeides, gestaltende Tätigkeit und Handeln, ist zweier-lei; was diesen Unterschied anbetrifft, dafür berufenwir uns auch auf die geläufige Literatur. Und so istdenn auch das befestigte Vermögen vernünftigenHandelns ein anderes als das Vermögen vernünftigenBildens und Gestaltens. Darum ist keines der beidenin dem anderen mitenthalten; das Handeln ist keinGestalten, das Gestalten kein Handeln. Nun gibt eseine Kunst des Baumeisters, und diese ist eine Art desmit vernünftiger Überlegung verbundenen gestalten-den Vermögens; es gibt überhaupt so wenig eine Ge-schicklichkeit, die nicht ein mit vernünftiger Überle-gung verbundenes gestaltendes Vermögen wäre, wiees ein solches Vermögen gibt, das nicht eine Ge-schicklichkeit bedeutete. Und so ist denn künstleri-sche Geschicklichkeit und das Vermögen des Gestal-tens im Bunde mit vernünftiger, die Wahrheit treffen-der Überlegung eins und dasselbe. Nun ist alle Kunstdarauf gerichtet, daß aus ihr ein Gegenstand hervor-geht; sie ist die Betätigung der Geschicklichkeit unddas Betrachten, wie wohl ein solches, was möglicher-weise sein und auch nicht sein kann, und wofür dieUrheberschaft in der gestaltenden Person, nicht in dergestalteten Sache selbst liegt, zum Dasein gelangenkann. Denn die Kunst befaßt sich nicht mit solchem

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was notwendig ist oder geschieht, und auch nicht mitsolchem was sich der Natur gemäß vollzieht; denndergleichen hat seinen Grund in sich selbst. Ist nungestaltende Tätigkeit und Handeln zweierlei, so ge-hört die Kunst notwendig der gestaltenden Tätigkeitund nicht dem Handeln an. In gewissem Sinne läuftder Zufall und die Kunst auf die Hervorbringungderselben Gegenstände hinaus. So sagt schon Aga-thon:

Kunst liebt den Zufall, und der Zufall liebt dieKunst.

Die Kunst also ist, wie wir dargelegt haben, ein be-festigtes Vermögen des Gestaltens im Bunde mit dasWahre treffender Überlegung; das Fehlen der Kunstist im Gegensatze dazu ein gestaltendes Vermögen inVerbindung mit einer im Falschen sich bewegendenÜberlegung; beide aber haben die Richtung gemein-sam auf das, was die Möglichkeit hat sich auch an-ders zu verhalten.

Was weiter die praktische Einsicht anbetrifft, sowerden wir uns darüber in der Weise verständigen,daß wir ins Auge fassen, welche Menschen man ein-sichtsvoll nennt. Als Kennzeichen des einsichtigenMannes gilt dies, daß er das Vermögen hat, über daswas für ihn gut ist und ihm frommt zutreffende

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Überlegungen anzustellen, nicht über spezielle Ge-genstände, wie z.B. über die Frage, was der Gesund-heit, oder was der Körperstärke zuträglich ist, sondernüberhaupt über das was zu einem recht geführtenLeben dient. Ein Beweis dafür ist dies, daß wir auchdiejenigen, die sich mit einem speziellen Fach be-schäftigen, einsichtig nennen, wenn sie zu einemwertvollen Zweck richtige Überlegungen da anstellen,wo es sich nicht um eine besondere Kunstfertigkeithandelt. Demnach wäre ein einsichtiger Mann über-haupt ein Mann, der richtige Überlegungen anstellt.Kein Mann aber überlegt sich solche Dinge, die sichgar nicht anders verhalten können, und ebenso wenigsolche, die zu bewerkstelligen sich ihm keinerleiMöglichkeit bietet. Ist also Wissenschaft auf Beweisgerichtet und gibt es keinen Beweis für Dinge, derenPrinzipien sich auch anders verhalten können, denndann gehören auch die daraus gefolgerten Dinge zudem, was sich auch anders verhalten kann, läßt sichferner keine Überlegung anstellen über das was not-wendig ist: so ergibt sich, daß Einsicht weder wissen-schaftliche Erkenntnis noch Kunstfertigkeit ist; jenesnicht, weil, was Gegenstand des Handelns ist, sichauch anders verhalten kann; und nicht Kunstfertigkeit,weil das Gebiet auf dem sich das Handeln bewegt einanderes ist als dasjenige, auf dem das Gestalten sichbetätigt. Es bleibt also nur übrig, daß sie die

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Fertigkeit ist, im Bunde mit vernünftigem Denkenrichtig urteilend tätig zu sein in bezug auf das, wasfür den Menschen ein Gut oder ein Übel ist. Die ge-staltende Tätigkeit hat ihr Ziel außerhalb ihrer; so istes beim Handeln nicht. Denn bei diesem ist das Zieldas richtige Handeln selber.

Unter diesem Gesichtspunkt halten wir einen Peri-kles und seinesgleichen für einsichtige Männer, weilsie das was für sie und das was für die Menschen einGut ist, im Geiste zu erfassen vermögen. Für Men-schen von solcher Art halten wir diejenigen, die sichin wirtschaftlicher und politischer Tätigkeit bewähren.Aus diesem Grunde wenden wir diesen Ausdruckauch auf die Besonnenheit (sôphrosynê) an, sofern siesich die Einsicht bewahrt (hôs sôzousan tên phronê-sin); was sie bewahrt, ist eben ein solches einsichtigesUrteil. Es wird nämlich nicht jedes Urteil durch dieRücksicht auf das was Lust oder Unlust bereitet ver-derbt oder verkehrt, z.B. nicht das Urteil, daß dieWinkelsumme im Dreieck 2 Rechten gleich oder nichtgleich sei, sondern nur solche Urteile, die für daspraktische Verhalten von Bedeutung sind. Denn dieGründe für das praktische Verhalten bilden dieZwecke, die durch das Handeln erreicht werden sol-len. Demjenigen aber, der sich durch die Rücksichtauf Lust und Unlust in den Irrtum verführen läßt,steht gleich auch die Maxime des Handelns nicht klar

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vor Augen, auch nicht der Gedanke, daß man für die-sen Zweck, und auch nicht daß man um seinetwillenalle seine Vorsätze und Handlungen einrichten soll.Die Schlechtigkeit des Charakters pflegt auch die Ma-xime des Handelns zu verfälschen. So ist es das not-wendige Ergebnis, daß die Einsicht die Fertigkeit ist,mit vernünftigem Denken richtig urteilend das was fürMenschen ein Gut ist handelnd zu verwirklichen.

Nun gibt es aber wohl eine höhere oder geringereDurchbildung bei der Kunstfertigkeit, dagegen gibt essie nicht bei der Einsicht. Ferner, wo es sich umKunstfertigkeit handelt, da steht unter denen die einenFehler begehen derjenige höher, der ihn mit Absichtbegeht: bei der Einsicht gilt das nicht so, wie es auchbei den anderen Arten von Vollkommenheiten nichtgilt. Offenbar bedeutet also die Einsicht eine Art inne-rer Vollkommenheit, und nicht eine bloße Kunstfer-tigkeit. Und da es zwei Vermögen der Seele gibt, diemit Vernunft ausgestattet sind, so wäre sie demnachdie Vollkommenheit des einen der beiden, nämlichdes Vermögens der Ansichtsbildung. Denn die An-sichtsbildung hat zum Gegenstande das, was sichauch anders verhalten kann, und die praktische Ein-sicht ebenso. Andererseits ist die Einsicht auch nichteine bloße Fertigkeit im Bunde mit dem Gedanken.Das sieht man schon daran, daß eine Fertigkeit dieserArt auch durch Vergessen abhanden kommen kann,

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die Einsicht aber nicht.Wissenschaftliche Erkenntnis sahen wir, ist ge-

dankliche Auffassung des Allgemeinen und des Not-wendigen. Für alles nun was Gegenstand eines Be-weises ist, und mithin für alle Wissenschaft, gibt esPrinzipien, aus denen es stammt; denn Wissenschaftstützt sich auf Gründe. Der letzte Grund für das wasObjekt der Wissenschaft ist, kann also weder derWissenschaft selber noch der Kunstfertigkeit noch derpraktischen Einsicht zugehören. Denn was Objekt derWissenschaft ist, das muß sich beweisen lassen; diebeiden anderen aber haben es mit dem zu tun, wassich auch anders verhalten kann. Aber auch in deridealen Geisteskultur haben jene letzten Gründe nichtihren Platz. Denn es bezeichnet gerade den hochgebil-deten Mann, daß es so manches gibt, wofür er imstan-de ist einen Beweis zu führen. Wenn es nun viererleiist, wodurch wir über das was möglicherweise sichauch anders verhalten kann oder nicht kann, dieWahrheit erlangen und niemals in Irrtum geraten:wissenschaftliche Erkenntnis, Einsicht, Geisteskulturund Vernunft, und wenn von den drei ersten darunteralso praktische Einsicht, wissenschaftliche Erkenntnisund Geisteskultur keines es leisten kann, so bleibt nurübrig, daß es die Vernunft ist, die die Prinzipien er-faßt.Ideale Geisteskultur schreiben wir im Gebiete der

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Kunstfertigkeiten denjenigen zu, die in der Ausübungderselben die vollendetsten Meister sind; so nennenwir Pheidias einen hochgebildeten Bildhauer in Steinund Polykleitos einen ebensolchen Bildner in Erz, unddamit wollen wir von solcher Geisteskultur gar nichtsanderes aussagen, als daß sie vollendete Meisterschaftin der Kunst bedeutet. Manchen aber schreiben wirGeisteskultur überhaupt und nicht bloß auf einemspeziellen Gebiete oder in irgendeiner besonderen Be-ziehung zu. So heißt es bei Homer im Margites:

Diesen machten die Götter zum Ackrer nicht,auch nicht zum Pflüger,

Oder in sonst was gebildet.

Man sieht daraus, daß Geisteskultur die vollendet-ste Form von Bildung überhaupt bedeutet. Ein geistiggebildeter Mann muß also nicht nur das wissen, wasaus den Prinzipien folgt, sondern auch betreffs derPrinzipien selber im Besitze wahrer Erkenntnis sein.Geistesbildung ist mithin intuitive Vernunft vereintmit wissenschaftlicher Erkenntnis, die auch die höch-sten Objekte gleichsam als den Gipfel alles Erkennba-ren zu eigen hat. Denn das hätte keinen Sinn, wenn je-mand die Staatskunst oder die praktische Einsichtüberhaupt für das wertvoll Höchste halten wollte; esmüßte denn der Mensch für das höchststehende

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Wesen unter allen in der Welt vorhandenen gelten.Wenn für die Menschen etwas anderes gesund undgut ist als für die Fische, das Weiße und das Geradeaber immer dasselbe ist, so werden geistige Bildungalle als immer dasselbe, praktische Einsicht aber alsimmer anderes bezeichnen. Denn einsichtsvoll wirdman es nennen, das Verständnis zu haben für dengünstigen Fortgang in den einem obliegenden Einzel-heiten, und dem Einsichtigen wird man denn auch dieSorge dafür übertragen. So nennt man ja auch mancheTiere klug, die augenscheinlich das Vermögen haben,für ihren eigenen Lebensunterhalt vorzusorgen. Damitaber ist auch das offenbar, daß Geisteskultur undStaatskunst nicht dasselbe ist. Wollte man Geistes-kultur die Kenntnis dessen nennen, was jedesmal demder sie hat frommt, so gäbe es viele Arten von Gei-steskultur. Denn es gibt nicht eine Kenntnis, die daswas allen Arten von lebenden Wesen gut ist umfaßte,sondern für jede Gattung ist es eine andere; es müßtesonst auch die Heilkunst eine einzige sein für alleswas existiert. Beruft man sich aber darauf, daß derMensch das höchststehende unter allen lebendenWesen sei, so ändert das nichts an der Sache. Denn esgibt auch dann noch andere Wesen, die von Natur vielgöttlicher sind als der Mensch, so mindestens dieWesen, die am meisten in die Augen fallen, die Him-melskörper, aus denen das Universum besteht.

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4. Praktische Einsicht

Aus dem Dargelegten geht hervor, daß Geisteskul-tur Erkenntnis und intuitives Erfassen der ihrer Naturnach höchststehenden Gegenstände ist. Darumschreibt man Männern wie Anaxagoras, Thales undihresgleichen wohl hohe Geisteskultur, aber nichtauch praktische Einsicht zu, in der Erwägung, daß sieihre persönlichen Interessen nicht wahrzunehmenwußten. Man sagt von solchen, daß ihre Kenntnisseüberschwänglich, die Gegenstände derselben bewun-dernswert, schwierig und göttlich, aber nichts fürsLeben Brauchbares seien, weil ihr Forschen nicht aufdas gerichtet ist, was der menschlichen Natur dienlichist.

Dagegen hat die praktische Einsicht die menschli-chen Dinge, dasjenige worüber sich eine Überlegunganstellen läßt, zum Gegenstande. Denn dem praktischEinsichtigen schreiben wir am allermeisten dies alsseine Leistung zu, daß er richtige Überlegungen an-stellt. Es überlegt sich aber niemand dasjenige, wassich nicht anders verhalten kann, oder was kein Zielund keinen Zweck hat; Ziel und Zweck aber ist dasdurch Handeln zu bewirkende Gute. Zu rechter Über-legung befähigt schlechthin ist also der Mann, der aufGrund vernünftigen Nachdenkens auf dasjenige als

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sein Ziel gerichtet ist, was unter dem durch Handelnzu Verwirklichenden für den Menschen das allerdien-lichste ist.

Praktische Einsicht hat zum Gegenstande nichtbloß das Allgemeine, sondern es wird von ihr gefor-dert, daß sie auch über das Einzelne Bescheid wisse.Denn sie bezieht sich auf das Praktische, alle Praxisaber bewegt sich in der Einzelheit. Daher kommt es,daß manche Leute ohne ein Wissen zu besitzen, zupraktischer Ausübung auch auf anderen Gebietendoch tüchtiger sind als andere Leute mit solchemWissen: es sind das die erfahrenen Leute. Kennt einerden Satz, daß Fleisch, wenn es leicht ist, auch leichtzu verdauen und gesund ist, weiß aber nicht, welcheArt von Fleisch leicht ist: so wird er die Gesundheitherzustellen nicht imstande sein. Der dagegen, derweiß, daß das Fleisch von Geflügel leicht und gesundist, der wird es eher bewirken können. Die Einsichtgeht aufs Praktische; sie muß also beides haben, dasWissen und die Erfahrung vom Einzelnen, ja letzteresnoch dringlicher. Aber es gibt auch innerhalb ihrereine werkmeisterliche, eine leitende Kunst.

So ist denn auch die Kunst des Staatsmanns undpraktische Einsicht eine und dieselbe Eigenschaft,ohne daß sie doch ihrem Begriffe nach zusammenfie-len. Der eine Zweig der Staatskunst ist als werkmei-sterliche, leitende Kunst die Kunst der Gesetzgebung:

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der andere, der die Einzelfälle behandelt, führt denallgemeinen Namen Politik in engerer Bedeutung.Diese ist praktische Geschicklichkeit und auf Bera-tung gegründet; denn ein einzelner Beschluß hat zumInhalt ein zu tuendes als den Schlußsatz eines Syllo-gismus. Darum sagt man allein von diesen Männern,daß sie Politik treiben; denn sie allein üben eine prak-tische Beschäftigung wie die gewöhnlichen Arbeiter.Man hält aber auch dafür, daß die Einsicht am mei-sten den Handelnden selbst und den Einzelnen insRüge faßt, und so verstanden führt sie den allgemei-nen Namen Einsicht. Dahin gehört aber auch Haus-haltung, Gesetzgebung und Politik, und diese letztereist teils beratende Tätigkeit, teils Rechtspflege. DasWissen von dem was einem selber gut ist, ist dem-nach eine Art der Einsicht; indessen es liegt dazwi-schen doch ein gewaltiger Unterschied. Wer sich aufseine eigenen Interessen versteht und sich damit be-schäftigt, gilt für einsichtig; die Politiker aber heißenvielgeschäftige und vielgeplagte Leute. So sagt Euri-pides:

Ich wäre einsichtsvoll, der fern von Müh undNot,

Zur Meng' im Heere zählend und ihrgleichgestellt,

Das gleiche könnt' erlangen [mit dem

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Weisesten?Denn nichts ward je so Glänzendes wie solch ein

Mann.]Die weit vorragen und ein Mehr von Leistung

tun,[Die ehrt man, schätzt als Häupter sie im Staat.]

Die Menschen sorgen für ihr eigenes Interesse undmeinen, das ins Werk zu setzen sei ihre Aufgabe, undaus dieser Ansicht also stammt es, daß ihnen dieseLeute als die Einsichtigen gelten. Und doch ist esschwerlich möglich das eigene Wohl zu schaffen,ohne für das Hauswesen und ohne für das Staatswe-sen mit bedacht zu sein. Überdies, wie man sein eige-nes Wohl besorgen soll, ist keineswegs an sich klarund bedarf der Untersuchung.

Ein Beweis für unsere Ausführungen liegt auchdarin, daß junge Leute wohl Geometrie lernen und ge-schickte Mathematiker werden und in dergleichen Ge-genständen sich hohe Bildung erwerben, daß aber einjunger Mensch nicht wohl einsichtsvoll werden mag.Der Grund ist der, daß praktische Einsicht auch dieEinzelfälle zum Gegenstande hat, die man durch Er-fahrung kennen lernt, ein junger Mensch aber keineErfahrung hat. Denn Erfahrung wird durch die Längeder Zeit bedingt. Weiter aber ist auch das eine Frage,weshalb ein Knabe wohl ein Mathematiker zu

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werden, aber nicht sich allgemeine Bildung oder Na-turerkenntnis zu erwerben vermag. Doch wohl weiljenes durch Abstraktion, die Prinzipien dieser letzte-ren aber durch Erfahrung zum Verständnis gelangen.Junge Leute haben davon keine selbsterworbene Ge-wißheit, sondern reden nur anderen nach, währendihnen die Grundbegriffe jener mathematischen Gegen-stände nicht unzugänglich sind.

Der Fehler sodann, den man in der Überlegung be-geht, kann entweder in dem Allgemeinen oder in derEinzelheit liegen: so z.B. in dem Satze, daß allesWasser was schwer von Gewicht ist, verdorben ist,oder darin daß dieses bestimmte Wasser schwer vonGewicht ist. Daß aber Einsicht keine wissenschaftli-che Erkenntnis ist, ist offenbar. Denn ihren Inhalt bil-det das Einzelne als die Konklusion im Schluß, wiewir gesehen haben, und was Gegenstand der Praxisist, ist von letzterer Art. So steht es im Gegensatzezum reinen Denken. Denn das reine Denken hat zumInhalt die obersten Prinzipien, für die es keinen Be-weis gibt; praktische Einsicht aber beschäftigt sichmit dem Letzten, dem Einzelnen, was nicht mehr Ge-genstand wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern derWahrnehmung ist, nicht der spezifischen Wahrneh-mung eines einzelnen Sinnes, sondern ähnlich derjeni-gen, durch welche wir gewahr werden, daß die ele-mentarste Figur unter den Objekten der Mathematik

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das Dreieck ist; denn auch da ist ein letzter Abschlußgegeben. Aber hier handelt es sich noch eher um An-schauung als um praktische Einsicht; diese ist zwarauch Anschauung, aber von anderer Art.

Etwas suchen ist nicht dasselbe wie sich etwasüberlegen; dieses letztere ist eine Art des Suchens.Auch vom Überlegen müssen wir ausmachen, was esseinem Wesen nach ist, ob es Wissenschaft, ob esbloße Meinungsbildung, ob es ein geschicktes Erratenist oder unter welche Gattung es sonst fällt. Nun ist eszunächst nicht Wissenschaft, denn man sucht nichtwas man schon weiß: richtige Überlegung aber ist einsich Beraten, und wer berät, der sucht nach etwas unddenkt darüber nach. Aber auch ein Erraten ist esnicht. Denn man errät ohne bewußte Gründe und imAugenblick; zum Überlegen dagegen bedarf es länge-rer Zeit, und so heißt es: man müsse im Ausführendessen, was man sich überlegt hat, schnell, im Über-legen aber langsam sein. Zudem, Scharfsinn ist etwasanderes als richtige Überlegung, und Scharfsinn isteine Art das Rechte zu treffen. Aber auch eine Mei-nungsbildung ist das richtige Überlegen in keinemSinne. Sofern der schlecht Überlegende irre geht, dergut Überlegende das Rechte trifft, ist die rechte Über-legung offenbar ein Treffen des Richtigen, aber desRichtigen weder in wissenschaftlicher Erkenntnisnoch in bloßer Meinung. Denn in der Wissenschaft

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gibt es kein Treffen des Richtigen, sowenig wie einVerfehlen des Richtigen; Richtigkeit der Meinungaber bedeutet soviel wie Wahrheit. Zugleich aber istder Gegenstand, über den man sich eine Meinung bil-det, immer bereits begrifflich bestimmt; rechte Über-legung aber findet nicht statt, ohne Erwägung vonGründen. Es bleibt also nur übrig, daß sie Richtigkeitder Reflexion bedeutet; denn diese ist als solche nochkein festgestellter Satz, während eine Meinung nichtmehr ein Suchen, sondern bereits ein solcher Satz ist.Wer sich aber etwas überlegt, gleichviel ob erschlecht oder richtig überlegt, der sucht noch erstetwas und denkt über etwas nach.

Ist aber die richtige Überlegung das Treffen desrechten Weges, so ist nun zuerst die Frage, was dieserrechte Weg und was seine Bedeutung ist. Richtigkeithat selbst wieder mehrere Bedeutungen, und es kannsich nicht um Richtigkeit in jedem Sinne handeln. Einwillensschwacher und ein niedrig gesinnter Menschwird durch seine Reflexion das Resultat erreichen, daser zu erreichen sich vorgesetzt hat; er wird also ganzrichtig überlegt und doch damit nur ein großes Übelergriffen haben. Recht überlegt zu haben gilt aber alsein Gutes; denn eine solche Richtigkeit im Resultatder Überlegung bedeutet rechte Überlegung, und dieseverhilft zu etwas Gutem. Zu solchem Resultat kannman aber auch durch einen falschen Schluß gelangen;

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man kann richtig treffen, was zu tun geboten ist, unddoch den rechten Weg verfehlen, der zu solchem Tref-fen führt, indem man einen falschen Mittelbegriff ver-wendet. Also wird eine rechte Überlegung noch nichtdadurch bezeichnet, daß man durch sie zum richtigenErgebnis gelangt, sofern man nicht auch auf demrechten Wege dazu gelangt. Ferner ist es möglich dasRechte zu treffen, indem man lange Zeit, aber es istauch möglich, indem man schnell überlegt; also istauch darin noch kein Merkmal der richtigen Überle-gung zu finden. Eine solche ist erst diejenige, die dasRichtige trifft als das was frommt, und zwar demZwecke nach, der Art und Weise nach und der Zeitnach. Man kann ferner eine richtige Überlegungschlechthin oder zu einem bestimmten Zwecke ange-stellt haben. Die richtige Überlegung schlechthin istdiejenige, die zu dem schlechthin gültigen Zwecke,die andere ist diejenige, die zu einem bestimmtenSonderzwecke das Rechte trifft. Ist nun richtig über-legt zu haben das Kennzeichen derjenigen, die prakti-sche Einsicht haben, so ist unter richtiger Überlegungdie Richtigkeit in dem Sinne zu verstehen, daß dasMittel zu dem Zwecke dienlich ist, den die praktischeEinsicht in richtigem Urteil erfaßt hat.Verstand ferner und Verständigkeit, d.h. die Eigen-

schaften, auf Grund deren man jemanden verständigund verständnisvoll nennt, bedeutet keineswegs

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durchaus dasselbe wie wissenschaftliche Erkenntnisoder wie eine bloße Meinung, denn dann würden alleverständig sein; aber auch nicht eine besondere Artvon Spezialwissenschaft; so wie die medizinischeWissenschaft die Wissenschaft von dem Gesundenoder die Mathematik die von den Größen ist. Dennden Gegenstand, an dem der Verstand sich Bewährt,bildet weder das was ewig und unbewegt ist, nochsonst jedes Beliebige, dem ein Werden zukommt,sondern vielmehr das was Schwierigkeiten und Be-denken macht und was zu einer Überlegung Anlaßgibt. Darum kommen hier dieselben Gegenstände inBetracht, die auch der praktischen Einsicht unterstelltsind, aber doch nicht so, daß Verstand und praktischeEinsicht dasselbe wäre. Denn die Einsicht übt dasAmt des Gebietens; was man zu tun oder zu lassenhat, das zu bestimmen ist ihr Beruf. Der Verstand da-gegen hat nur das Amt des Urteilens. So bedeutetdenn Verstand und Verständigkeit, verständig undverständnisvoll dasselbe. Der Verstand besteht wederdarin daß man praktische Klugheit besitzt, nochdarin, daß man sie erlangt, sondern wie das Lernenein Verstehen bedeutet, sofern dabei das reine Er-kenntnisvermögen zur Anwendung gelangt, so trittder Verstand in Wirksamkeit, wenn man sich eineAnsicht bildet, um ein Urteil zu gewinnen über das,was der praktischen Einsicht obliegt. Es gilt, wenn

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ein anderer redet, darüber das richtige Urteil zu fallen;denn richtiges und zutreffendes Urteil bedeutet dassel-be. Daher nun ist der Ausdruck Verstand genommen,wonach jemand als verständig bezeichnet wird, näm-lich von dem Verstehen beim Lernen. Denn häufig be-zeichnet man das Lernen als ein Verstehen.

Was man ferner wohlmeinende Gesinnung nennt,wonach wir von jemand sagen, er sei ein wohldenken-der, ein einsichtiger Mann, das bedeutet ein richtigesUrteil in Fragen der Billigkeit. Ein Beweis dafür istder, daß man wohlmeinend am ehesten den nennt, derbillig urteilt, und billig sein heißt manche Dingewohlmeinend mit Nachsicht beurteilen. Solche nach-sichtige Beurteilung ist eine mit richtigem Urteil überdas Billige verbundene Denkweise, und richtig heißtdas Urteil, das das in Wahrheit Billige trifft.

Alle diese Beschaffenheiten des Intellekts nunhaben, so darf man wohl sagen, dieselbe Bestim-mung. Man spricht von Denkweise, Verständigkeit,Einsicht, Vernünftigkeit, indem man sie von densel-ben Personen aussagt, denen man Wohlmeinung undsogar Vernünftigkeit zuschreibt, die man einsichtsvollund verständig nennt. Alle diese Vermögen haben esmit den letzten Einzelfällen des Lebens zu tun. Sofernman ein richtiges Urteil hat über die Fragen der prak-tischen Klugheit, ist man verständig und wohlmei-nend oder nachsichtig. Denn billig zu urteilen ist das

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gemeinsame Kennzeichen aller guten Menschen, woes sich um das Verhältnis zu anderen handelt. Allespraktische Verhalten aber bewegt sich um die letztenEinzelfälle. Diese muß der Einsichtige denkend erken-nen; Verstand und Wohlmeinung aber haben sie prak-tisch zu behandeln, und immer handelt es sich dabeium die Einzelfälle des Lebens als um das schlechthinEinzelne. Auch die intuitive Vernunft erfaßt das Letz-te und zwar nach beiden Richtungen, als das Obersteund das Unterste. Denn die obersten Bestimmungenund die letzte Einzelheit, beides ist Gegenstand derVernunft in unmittelbarem Ergreifen, nicht in vermit-teltem Denken. Die Vernunft erfaßt, wo es sich umdas Beweisverfahren handelt, die unveränderlichenobersten Begriffe, und andererseits wo es sich um daspraktische Verhalten handelt, die letzte Einzelheit,das was auch anders sein kann, und den Untersatz desSchlusses; denn das sind die Prinzipien für alle Ab-sichtsbildung. Aus dem Einzelnen wird das Allgemei-ne gewonnen. Dieses muß man unmittelbar wie durchWahrnehmung ergreifen, und das leistet die Vernunft.Darum gilt es auch, daß dies Naturgabe ist. Geistes-kultur hat von Natur kein Mensch, wohl aber kommtEinsicht, Wohlmeinung und Vernunft durch natürli-che Entwicklung. Der Beweis ist, daß man diese Ei-genschaften als mit dem Lebensalter zusammenhän-gend betrachtet, und dieses bestimmte Lebensalter

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Vernunft und Urteilskraft mit sich bringt; die Naturalso ist der Grund. Darum ist die Vernunft der Anfangund das Ende; denn aus dem Obersten ergeben sichdie Beweise, und um das Unterste drehen sie sich.Man muß deshalb die Aussprüche und Ansichten derErfahrenen und Älteren oder Einsichtigen schätzen,auch wenn sie ohne Beweis sind, gerade so wie Be-weise; denn weil sie ein durch Erfahrung geschärftesAuge haben, so sehen sie richtig.

Was Einsicht, was Geistesbildung ist und welchesdie Objekte jeder von beiden sind, haben wir so dar-gelegt und gesehen, daß jedes von beiden die rechteBeschaffenheit einer anderen Seite der Geistestätig-keit bedeutet.

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5. Intellektuelle Bildung und Sittlichkeit

Mancher könnte nun dabei die Frage aufwerfen,was wir denn eigentlich von alledem haben. Die idea-le Geisteskultur zunächst befaßt sich mit nichts vondem, was auf das Glück eines Menschen Bezug hat;denn nichts von dem, was bloß ein Werden ist, fällt inihren Gesichtskreis. Praktische Einsicht aber beschäf-tigt sich zwar mit dem letzteren; aber wozu bedarf esihrer, wenn die Einsicht das, was für den Menschendas Gerechte, das Edle und Gute ist, zum Gegenstan-de hat, dieses aber eben das ist, was handelnd zu be-tätigen das Kennzeichen eines guten Menschen bil-det? Werden wir doch dadurch, daß wir dieses wissenund kennen, keineswegs geeigneter, es auch praktischauszuüben, und die sittlichen Willensrichtungen sindja vielmehr befestigte Eigenschaften. Es ist damit wiemit Gesundheit oder guter Körperkonstitution, über-haupt mit allem was seinen Namen nicht davon hat,daß es selbst etwas hervorbringt, sondern vielmehrdavon, daß es aus einer bestimmten Beschaffenheitentspringt. Denn dadurch daß wir die Heilkunst oderdie Gymnastik inne haben, werden wir um nichts ge-eigneter, wirklich gesund oder kräftig zu werden.Wenn man nun annehmen muß, daß man der Einsichtnicht um dessen willen bedarf, was Folge einer

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Beschaffenheit ist, sondern vielmehr um eine be-stimmte Beschaffenheit erst zu erlangen, so würde dieEinsicht denen die bereits sittlich tüchtig sind zunichts dienlich, andererseits aber auch für die die esnicht sind, ohne Nutzen sein. Denn ob einer die Ein-sicht selbst besitzt oder ob er die Vorschriften einesanderen befolgt, der die Einsicht besitzt, das machtkeinen Unterschied; man kann sich ganz wohl amletzteren genügen lassen, wie wir es betreffs der Ge-sundheit auch wirklich machen. Denn gesund zu seinwünschen wir alle, aber wir studieren deshalb dochnicht Medizin. Überdies könnte es einem höchst son-derbar vorkommen, wenn die praktische Einsicht, diedoch an Wert der Geistesbildung nachsteht, von höhe-rer Bedeutung sein soll als diese; denn was in denEinzelheiten des Lebens das Gestaltende ist, das hatdie herrschende und gebietende Stellung. Darüberalso müssen wir nun noch handeln; denn im bisheri-gen sind nur erst die Schwierigkeiten die darin liegenaufgezeigt worden.

Zuerst also wollen wir bemerken, daß jene Eigen-schaften, weil sie die rechte Beschaffenheit, eine jedevon einem Gebiete geistiger Tätigkeit, darstellen,auch dann um ihrer selbst willen notwendig anzustre-ben sind, wenn keine von beiden irgendwelchen Nut-zen gewährt. Zweitens aber, sie gewähren in der Tatsolchen Nutzen, freilich nicht so wie die Heilkunde

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die Gesundheit bewirkt; vielmehr wie die Gesundheitleiblich, so bewirkt die Geistesbildung geistig dieGlückseligkeit. Denn indem sie ein Zweig der ganzenVollkommenheit ist, so macht sie glückselig dadurchdaß man sie besitzt und daß sie wirksam wird.

Aber weiter: damit der Mensch seine Bestimmungerfülle, ist beides nötig. Einsicht und sittliche Tüch-tigkeit. Denn sittliche Tüchtigkeit bewirkt, daß dasZiel das man sich steckt, das rechte ist, und die Ein-sicht bewirkt, daß die Mittel die man zum Ziele an-wendet, die rechten sind. Für das vierte Seelenvermö-gen, das vegetative, gibt es eine solche Vollkommen-heit nicht; denn in seiner Macht steht weder etwas zutun noch etwas zu unterlassen. Was aber das anbe-trifft, daß man durch die Einsicht keineswegs geeigne-ter werde, das Gute und Gerechte handelnd zu ver-wirklichen, so müssen wir etwas weiter ausholen undfolgendes zum Ausgangspunkte nehmen. Wie wirsagen, daß einer deshalb noch nicht gerecht sei weil ergerechte Handlungen vollbringt, wie z.B. diejenigenes tun, die die gesetzlichen Anordnungen, sei es widerihren Willen, sei es aus Irrtum oder sonst aus einemMotiv, nur nicht um ihrer selbst willen befolgen, undsie handeln doch der Pflicht gemäß und tun waseinem Ehrenmann geziemt, ebenso, scheint es, ist esmöglich daß einer auf Grund seiner Beschaffenheitjede Handlung so vollzieht, daß er ein wirklich guter

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Mensch ist; ich meine damit, daß er sie mit Vorsatzund um der Sache selbst willen vollzieht. Das nun be-wirkt die sittliche Gesinnung, daß der Vorsatz derrichtige ist; daß aber das was der Natur der Sachenach zum Behufe jenes Vorsatzes zu geschehen hat,auch das Richtige sei, das zu bewirken ist nicht dieLeistung der sittlichen Gesinnung, sondern dazu be-darf es eines anderen geistigen Vermögens.

Indessen der Gegenstand verdient es, daß wir unse-re besondere Aufmerksamkeit darauf richten und nocheingehender darüber handeln.

Es gibt ein Vermögen, das man als Geschicklich-keit bezeichnet. Ihr wesentliches Merkmal ist dies,daß sie das, was zu einem gegebenen Ziele hinführt,ins Werk zu setzen und richtig zu treffen vermag. Istnun das Ziel edel, so verdient diese GeschicklichkeitHochachtung; ist das Ziel niedrig, so heißt sie Ver-schlagenheit. Deshalb sagt man wohl von einsichtigenLeuten, sie seien geschickt, und sagt es auch von ver-schlagenen Leuten. Nun ist die Einsicht allerdingsnicht dieses Vermögen, aber sie ist nicht ohne diesesVermögen. Die befestigte Fertigkeit der Einsicht abererwächst dem Auge des Geistes nicht ohne vollendeteBildung, wie wir dargelegt haben und wie von selberklar ist. Denn die Schlüsse, die für alles tätige Han-deln das Prinzip enthalten, nehmen diesen Gang: dadieses das Ziel und das Beste ist im übrigen mag es

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sein was es will; irgendein beliebiges kann als Bei-spiel dienen, so usw. Was aber dieses ist, das stelltsich nur dem dar, der ein guter Mensch ist. Dennniedrige Gesinnung verfälscht jedem das Urteil dar-über und bewirkt, daß man die Prinzipien des tätigenVerhaltens von vornherein in falschem Lichte sieht.Offenbar also ist es unmöglich, ein Mann von prakti-scher Einsicht zu sein, wenn man nicht auch ein Mannvon gutem Charakter ist.

Wir müssen also wiederum unsere Untersuchungauch über die Anforderung an den Charakter er-strecken. Die Charakterbeschaffenheit nämlich verhältsich nahezu so wie die praktische Einsicht. Wie diesesich zur Geschicklichkeit verhält, sie ist nicht mit ihridentisch, aber ihr doch ähnlich, so verhält sich auchdie auf Naturausstattung beruhende Trefflichkeit zueigentlicher sittlicher Trefflichkeit. Jede einzelne Cha-raktereigenschaft, darf man sagen, ist bei allen irgend-wie schon von Natur angelegt. Wir sind gerecht, zurBesonnenheit geneigt, energisch, wir haben die ande-ren Eigenschaften, alles gleich von der Geburt an.Aber gleichwohl suchen wir nach etwas anderem, waserst das Gute im eigentlichen Sinne ist, und begehrendaß diese Eigenschaften noch in anderem Sinne vor-handen seien. Als natürliche Ausstattung kommendiese Eigenschaften auch den Kindern und den Tierenzu, aber ohne die denkende Vernunft erweisen sie sich

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als verderblich. Wenigstens soviel scheint die Erfah-rung zu lehren, daß wie es bei einem kräftigen Kör-per, der sich bewegt ohne Sehkraft zu haben, wohl be-gegnet, daß er hart anstößt, weil ihm die Sehkraftmangelt, das gleiche hier auch geschieht. Wenn aberdie denkende Vernunft hinzutritt, dann tun sich in derpraktischen Betätigung jene Trefflichkeiten hervor;dann wird die Eigenschaft, die mit sittlicher Tüchtig-keit bloß Ähnlichkeit besaß, zu wirklicher Sittlichkeitim eigentlichen Sinne. Wie es im Gebiete der An-sichtsbildung zwei Arten gibt, Geschicklichkeit undpraktische Einsicht, so gibt es auch auf dem Gebieteder sittlichen Charakterbildung zwei Arten, die einedie Trefflichkeit durch Naturaustattung, die andere diesittliche Trefflichkeit im eigentlichen Sinne, und vondiesen beiden bildet sich die eigentliche Trefflichkeitnicht ohne praktische Einsicht heraus. Das ist auchder Grund, weshalb manche behaupten, alle Artensittlicher Willensrichtung seien Formen der Verstan-desbildung, und Sokrates hat in dem einen Sinne wohldas Rechte getroffen, während er es im anderen Sinneverfehlte. Darin daß er meinte, alle Arten sittlicherTrefflichkeit seien Arten der Verstandesbildung, hater geirrt; dagegen hat er mit Recht gesagt, daß sienicht ohne Verstandesbildung zustande kämen. DerBeweis dafür ist der: auch die Heutigen machen sämt-lich, wenn sie sittliche Trefflichkeit begrifflich

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bestimmen wollen, den Zusatz, nachdem sie zuvor diebefestigte Willensrichtung und das Gebiet, auf das siesich bezieht, angegeben haben, sie sei die dem richti-gen Denken entsprechende Willensrichtung; richtigesDenken aber heißt das durch praktische Einsicht ge-leitete Denken. Damit machen sie sämtlich den Ein-druck, als ob ihnen irgendwie die Vermutung aufge-gangen wäre, daß eine derartige Charakterbeschaffen-heit, die praktischer Einsicht entspricht, sittlicheTrefflichkeit ist. Wir müssen aber noch einen Schrittweitergehen. Sittliche Trefflichkeit ist eine Willens-richtung, die nicht nur dem richtigen Denken ent-spricht, sondern die sich ausdrücklich mit dem richti-gen Denken verbündet; richtiges Denken über derglei-chen Dinge ist aber praktische Einsicht. Sokrates warder Meinung, die Arten sittlicher Trefflichkeit seienFormen der gedanklichen Bildung, denn sie seien ins-gesamt Erkenntnisse; wir dagegen sagen: sie stehenmit gedanklicher Bildung im Bunde.

Aus dem was wir ausgeführt haben geht hervor,daß es ebensowenig möglich ist ein sittlicher Menschim eigentlichen Sinne zu sein ohne intellektuelle Bil-dung, wie praktische Einsicht zu haben ohne sittlicheTrefflichkeit. Auf diese Weise mag sich auch der dia-lektische Einwand heben lassen, der darauf beruht,daß die einzelnen Richtungen des sittlichen Willensgetrennt vorkommen. Ein und derselbe Mensch hat

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nämlich nicht zu allen die gleiche natürliche Anlage,und so geschieht es, daß er, während er die eine sichschon angeeignet hat, die andere noch nicht besitzt.Das kann wohl der Fall sein bei den auf Naturausstat-tung beruhenden Vorzügen; aber es kann nicht statt-finden bei den Eigenschaften, um derentwillen jemandein guter Mensch ohne weiteres genannt wird. Dennmit der intellektuellen Bildung, die nur eine ist, stel-len sie sich sämtlich zugleich ein.

Aber gesetzt selbst, diese Bildung wäre für daspraktische Verhalten nicht von Bedeutung, so bedürf-te man ihrer offenbar dennoch, weil sie die rechte Be-schaffenheit des einen geistigen Vermögens ist, undweil die Bildung von Vorsätzen ebensowenig da dierichtige sein kann, wo die intellektuelle Bildung, wieda, wo die sittliche Willensrichtung fehlt. Bewirkt dieeine, daß man sich das Ziel richtig setzt, so bewirktdie andere, daß man den rechten Weg zum Ziele ein-schlägt. Aber allerdings, diese intellektuelle Bildungist nicht die Herrin über die ideale Geisteskultur nochüber das edlere Geistesvermögen, sowenig wie dieHeilkunde die Herrin ist über die Gesundheit; sie ver-wendet sie nicht in ihrem Dienste, sondern sorgt nurdafür, daß sie zustande kommt, und wenn sie ihreVorschriften macht, so macht sie sie nicht ihr, son-dern um ihretwillen. Es wäre ebenso, wenn jemandsagen wollte, die Staatskunst übe die Herrschaft über

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die Götter, weil sie betreffs alles dessen was zumStaatsleben gehört ihre Anordnungen trifft.

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II. Willensbildung

1. Sittlicher und unsittlicher Wille

Wir treten nunmehr, unter einem neuen Gesichts-punkte, in eine weitere Untersuchung ein. Es gibt, woes sich um den sittlichen Charakter handelt, dreiArten von solchem, was demselben feindlich gegen-übersteht: böser Wille, Genußsucht und tierischeRoheit. Die Gegensätze dazu liegen bei zweien vonihnen klar vor Augen: den einen nennt man edle Ge-sinnung, den anderen Selbstbeherrschung. Als denGegensatz zur tierischen Roheit würde man am pas-sendsten diejenige Hoheit des Wesens bezeichnen, dieals heroische oder göttliche über die gewöhnlichemenschliche Natur weit hinausliegt. So läßt Homerden Priamos von Hektor sagen, um seine hervorra-gende Tüchtigkeit zu bezeichnen:

Und er schien nichtWie einem sterblichen Mann, nein, wie einem

Gotte entsprossen.Wenn daher, wie die Rede geht, Menschen durch

den höchsten Grad der Trefflichkeit zu Göttern wer-den, so würde offenbar eine derartige Trefflichkeitdiejenige sein, die zu dem Zustande tierischer Ge-fühlsroheit den strikten Gegensatz bildet. Denn wie

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bei einem Tier nicht von Tugend noch von Laster dieRede sein kann, so auch nicht bei Gott. Hier findetsich was höher steht als alle Tugend, dort hatSchlechtigkeit eine andere Bedeutung. Da es aberetwas Seltenes ist, »ein göttlicher Mann« zu sein, wiedie Lakedämonier jemand zu benennen pflegen, wennsie ihn sehr hoch stellen wollen sie sagen dann »eingöttlicher Mann«, so ist auch tierische Roheit beiMenschen eine seltene Erscheinung. Am häufigstenkommt sie noch bei auswärtigen, nichthellenischenVölkern vor; doch nehmen die Menschen zuweilenauch infolge von Krankheiten und von Entartung sol-che Eigenschaften an. Mit diesem schimpflichen Aus-druck belegen wir Menschen, die durch einen beson-ders hohen Grad von Bosheit es anderen zuvortun. In-dessen, über diese Art von innerer Beschaffenheitmüssen wir nachher noch einiges bemerken: über dieniedrige Gesinnung haben wir oben gehandelt; jetztist es unsere Aufgabe, über Genußsucht, Verweichli-chung, Liederlichkeit, und andererseits über Selbstbe-herrschung und Willensstärke zu sprechen.

Diese beiden Reihen darf man nicht ohne weiteresden Gesinnungen zuzählen, die die Sittlichkeit undUnsittlichkeit ausmachen: aber man darf sie anderer-seits auch nicht als etwas betrachten, was auf ganzanderem Gebiete läge. Auch bei diesen Gegenständenhaben wir wie auch sonst dasjenige festzustellen, was

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an Auffassungen offen vorliegt, dann zunächst dieSchwierigkeiten durchzugehen die darin liegen, undauf diesem Wege möglichst über alles das, was dieLeute im allgemeinen von diesen Charakterformen ur-teilen, oder wenn nicht über alles, so doch über dasmeiste und das wichtigste davon uns Klarheit zu ver-schaffen. Denn wenn die Schwierigkeiten gehobenwerden und das bestehen bleibt, was allen einleuchtet,so darf der Gegenstand als ausreichend aufgehellt gel-ten.

Nach der allgemeinen Ansicht also gehört Selbst-beherrschung und Willensstärke zu den guten und lo-benswerten, Genußsucht und Willensschwäche dage-gen zu den schlechten und tadelnswerten Eigenschaf-ten; ebenso gilt der Charaktervolle zugleich als der-selbe, der der vernünftigen Überlegung treue Folgeleistet, ebenso wie der Genußsüchtige als der gilt, derdazu neigt, ihr abtrünnig zu werden. Der Genußsüch-tige handelt von seinem Triebe hingerissen wissent-lich schlecht; der Charaktervolle dagegen gibt sich aufgrund vernünftiger Überlegung seinen Begierdennicht hin, weil er weiß daß sie verwerflich sind. Demüber niedere Triebe erhabenen Mann schreibt manSelbstbeherrschung und Willensstärke zu, und zwarhalten die einen den der diese Eigenschaften besitztfür in allen Beziehungen über das Niedere erhaben,die anderen nicht; den zügellos Ausschweifenden

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wirft man mit dem seiner nicht Mächtigen, den seinernicht Mächtigen mit dem Zügellosen zusammen, wäh-rend andere diese beiden für verschieden halten. Vomeinsichtigen Mann behauptet man bald, es könne ihmdie Selbstbeherrschung nicht abgehen, während ande-re behaupten, es gebe manche ganz einsichtige undgescheite Leute, die doch ihren Gelüsten folgten.Mangel an Selbstbeherrschung wird auch mit Bezugauf Heftigkeit ausgesagt wie mit Bezug auf Ruhm-sucht und Gewinnsucht. Das etwa ist es, was von ge-läufigen Ansichten anzuführen wäre.

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2. Wille und Intellekt

a) Die Schwierigkeiten der Frage

Da drängt sich nun die Frage auf, wie jemand rich-tige Ansichten haben und doch der Selbstbeherr-schung ermangeln kann. Bei begrifflicher Erkenntnisbehaupten manche sei es unmöglich. Denn daß trotzdes Besitzes begrifflicher Erkenntnis etwas anderesim Menschen die Herrschaft haben und solche Er-kenntnis wie einen Sklaven hinter sich herschleppensollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches.Sokrates bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus.Solchen Mangel an Willensstärke gebe es nicht; dennwenn jemand im Handeln wider das was ihm am mei-sten fromme verstoße, so geschehe es niemals wis-sentlich, sondern immer nur aus Mißverstand. Indes-sen eine solche Ansicht widerspricht augenscheinlichden Tatsachen, und jedenfalls bedurfte es, wenn Miß-verstand der Grund sein soll, erst noch einer Untersu-chung dieses Seelenzustandes, in welchem Sinnedabei von Mißverstand gesprochen wird. Denn offen-bar hegt der seiner Begierden nicht Mächtige seinefalsche Ansicht nicht schon vorher, ehe er sich in derleidenschaftlichen Erregung befindet.

Manche nun geben dem Sokrates wohl in der einen

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Beziehung recht, in der anderen nicht. Daß nichtsgrößere Macht hat als begriffliche Erkenntnis, dasgeben sie zu; aber sie stimmen mit ihm darin nichtüberein, daß niemand wider das handle, was ihm alsdas Bessere erschienen ist, und behaupten deshalb,der Genußsüchtige werde von seinen Gelüsten ebendeshalb beherrscht, weil er keine begriffliche Einsichtbesitze, sondern eine bloße Meinung. Ist es aber einebloße Meinung und keine begriffliche Erkenntnis, undist es keine gesicherte, sondern nur eine unbefestigteMeinung, die den Gelüsten sich entgegenstellt, wiebei solchen, die noch im Zweifel hin und her schwan-ken, so ist da, wo jemand starken Begierden gegen-über seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsich-tiges Urteil wohl am Platze. Grundsätzliche Unsitt-lichkeit dagegen hat keinen Anspruch auf Nachsicht,ebenso wenig wie jede andere Art von Verwerflich-keit. Das wäre also etwa dann der Fall, wenn sie trotzdes Widerstrebens der praktischen Einsicht geübtwürde; hat diese doch die stärkste Kraft. Indessen daswäre ungereimt. Denn das hieße, daß ein und derselbeMensch zugleich einsichtig und den Lüsten ergebenwäre; kein Mensch aber wird behaupten, daß es dieArt eines einsichtigen Menschen sei, willentlich dieniedrigsten Handlungen zu begehen. Außerdem habenwir oben gezeigt, daß der Einsichtige sich auch imHandeln bewähre, denn auf das schlechthin Einzelne

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geht seine Einsicht, und daß er auch die anderen sittli-chen Vorzüge besitzt.

Ferner, wenn es ein Merkmal der Selbstbeherr-schung ist, starke Begierden, und zwar solche vonniederer Art zu empfinden, so ergibt sich, daß derüber die Begierden Erhabene nicht der sich Beherr-schende, und der sich Beherrschende nicht der überdie Begierden Erhabene sein kann. Denn das Kenn-zeichen eines Mannes von solcher Fassung ist ebendas, daß er weder heftig begehrt noch Niederes be-gehrt; und doch ist solches Begehren die Bedingungdafür, daß von Selbstbeherrschung überhaupt dieRede sein kann. Denn sind die Begierden von edlerArt, so ist diejenige Gesinnung, die es verhindert, daßman ihnen nachgibt, gerade nichts wert, und mithinwäre die Herrschaft über die Begierden keineswegsimmer etwas Rühmliches. Sind sie aber schwach,ohne von niedriger Art zu sein, so wäre daran nichts,was einem Respekt einzuflößen vermöchte. Und sindsie zwar von niedriger Art, aber zugleich schwach, sowäre wieder ihnen zu widerstehen nichts Besonderes.

Aber weiter, wenn Festigkeit des Willens bewirkt,daß man jedesmal bei seiner Meinung beharrt, so istsie in dem Falle bedenklich, wo einer auch auf einerfalschen Meinung beharrt. Wenn aber Willensschwä-che bewirkt, daß man von jeder Ansicht auch wiederabweicht, so wird es eine Willensschwäche geben, die

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zum Ruhme gereicht, wie es bei Neoptolemos in So-phokles' »Philoktet« der Fall ist. Denn daß er beidem, wozu ihn Odysseus überredet hat nicht verharrt,weil es ihm leid wird, die Unwahrheit zu sagen, dasverdient doch nur unseren Beifall.

Eine weitere Schwierigkeit bietet ein Trugschluß,der uns bei den Sophisten begegnet. Diese nämlichgefallen sich darin, Schlüsse von einer solchen Art zubilden, mit der sie die Menschen verblüffen, um sich,wenn sie ihr Ziel erreichen, als besonders gewandt zuerweisen; und so wird der Schluß wie sie ihn bildenzu einem Fangschluß. Denn der Verstand fühlt sichwie in Banden, wenn er einerseits bei dem Schlußsatznicht stehen bleiben will, weil dieser ihn nicht befrie-digt, aber auch nicht von ihm loszukommen imstandeist, weil er dem Beweisgang sich nicht zu entziehenvermag. Aus einem ihrer Beweisgänge also ergibtsich der Satz, daß Gedankenlosigkeit in Verbindungmit Willenlosigkeit eine Tugend ist. Es tut einer aufGrund seines Mangels an Selbstbeherrschung das Ge-genteil von dem was er für recht hält; was er für rechthält aber ist dies, daß das Gute schlecht und zu unter-lassen sei, und infolgedessen tut er nun das Gute undnicht das Böse.

Ferner könnte man meinen, ein Mensch, der ausÜberzeugung tut und anstrebt was Lust bereitet, unddanach seine Vorsätze einrichtet, sei mehr wert als

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einer, der nicht auf Grund seiner Denkungsart, son-dern seiner Genußsucht so verfährt; denn er ist einerHeilung eher zugänglich, weil es möglich bleibt, daßman ihm eine andere Überzeugung beibringe. Dage-gen ist ein Mensch der bloß seinen Begierden nach-lebt, ein Belag für das Sprichwort: Wenn das Wasserwürgt, was soll man nachtrinken? Wäre er von derRichtigkeit seiner Handlungsweise überzeugt, sowürde er sie, eines Besseren überzeugt, aufgeben: soaber bleibt sein Handeln, auch wenn man ihn über-zeugt, deshalb nicht weniger im Widerspruch zu sei-ner Überzeugung.

Außerdem: wenn Knechtschaft unter den Begierdenund Herrschaft über die Begierden auf allen Gebietenvorkommt, wer ist der Knecht der Begierde schlecht-hin? Kommen doch bei keinem Menschen alle Artenvon Ausschweifung zugleich vor, und dennoch nen-nen wir manche Leute ausschweifend ohne weiteres.

Das etwa sind die Schwierigkeiten die sich erge-ben. Da muß man das eine aus dem Wege räumen,das andere stehen lassen, denn die Schwierigkeitheben heißt das Positive finden.

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b) Die Art des Wissens

Die erste Frage, die wir zu beantworten haben, istdie, ob es sich um ein wissentliches Tun handelt odernicht, und was unter dem Wissen dabei zu verstehenist. Zweitens ist die Frage, auf welchen Gebieten manden suchen soll, der seinen Begierden frönt und dender sie beherrscht; das heißt ob jede Lust und jedeUnlust, oder nur gewisse genau bestimmte dabei inBetracht kommen, sowie was den Herrn über seineBegierden und den Willensstarken anbetrifft, ob bei-des dasselbe oder ob es verschiedenes bedeutet. Eben-so haben wir auch über die anderen Fragen zu han-deln, die mit dieser Untersuchung in näherem Zusam-menhange stehen.

Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet dieFrage, was den Unterschied zwischen dem Herrn sei-ner Begierde und dem Knecht derselben ausmacht, obder Gegenstand oder die Art und Weise des Verhal-tens zum Gegenstande; das will sagen: ob einer einKnecht der Begierde dadurch ist, daß er dieses Be-stimmte begehrt, oder ob er es nicht dadurch ist, son-dern durch die Art und Weise seines Begehrens, odervielleicht auch nicht allein dadurch, sondern aus bei-den Gründen zusammen. Sodann, ob Knechtschaftunter der Begierde oder Herrschaft über sie sich auf

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alles erstreckt oder nicht. Wer unenthaltsam ist ohneweiteren Zusatz, der ist es nicht allen Genüssen ge-genüber, sondern eben denen gegenüber, denen einzügelloser Mensch ergeben ist, und er ist es nicht ein-fach deshalb, weil seine Begierde darauf gerichtet ist,denn dann würde sein Verhalten soviel bedeuten wieZügellosigkeit, sondern deshalb weil er sich in be-stimmter Weise darauf richtet. Jener, der Zügellose,wird durch einen ausdrücklichen Vorsatz getrieben,weil es seine Ansicht ist, daß man jedesmal dem au-genblicklichen Genuß nachzutrachten hat; dieser hatsolche Ansicht nicht und trachtet gleichwohl danach.

Die Unterscheidung nun, daß es eine richtige Mei-nung und nicht begriffliche Erkenntnis sei, wogegenman im Dienste der Begierde verstößt, hat für unsereUntersuchung keinerlei Bedeutung. Kommt es dochvor, daß Leute in ihren Meinungen gar nicht schwan-ken, sondern sich fest einbilden, sie besäßen ein si-cheres Wissen. Wenn also Leute mit bloßen Meinun-gen, weil ihr Glaube wenig befestigt ist, in höheremGrade als die Menschen mit begrifflicher Erkenntnisin ihrem Handeln wider die Ansicht verstoßen, die sieselber hegen, so wird sich zeigen, daß begriffliche Er-kenntnis darin vor bloßer Meinung gar nichts voraushat. Denn so mancher glaubt nicht weniger fest an daswas seine Meinung ist, als andere an das was sie inbegrifflicher Form wissen. Das zeigt schon Heraklit.

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Dagegen kommt mehreres andere wohl in Betracht.Wir sprechen erstens von begrifflichem Wissen indoppelter Weise. Man schreibt ebensowohl dem einWissen zu, der von dem Wissen das er hat doch kei-nen wirklichen Gebrauch macht, wie dem der es tätiganwendet. Es wird also einen Unterschied ausmachen,ob einer zwar ganz wohl weiß was wider die Pflichtist, aber es sich nicht gegenwärtig hält, oder ob eineres weiß und es sich auch vergegenwärtigt. Denn dasletztere erscheint in der Tat ungeheuerlich; aber nichtso, wenn er sein Wissen nicht ausdrücklich gegenwär-tig hat.

Es kommt zweitens hinzu, daß es zwei Arten vonVordersätzen gibt, Obersatz und Untersatz. So hin-dert denn nichts, daß einer der beide innehat gegenseine Erkenntnis handele, indem er wohl den allge-meinen, den Obersatz, anwendet, aber nicht den parti-kularen, den Untersatz. Denn Gegenstand des Han-delns ist das Einzelne. Aber auch in dem allgemeinenSatz finden sich unterschiedene Bestimmungen ent-halten. Dies Allgemeine betrifft teils die Person, teilsdie Sache; so z.B. der Satz, daß jedem Menschen dasTrockene zuträglich ist, er selbst aber ein Mensch ist;und daß ein Ding dieser Art von trockener Beschaf-fenheit ist. Ob aber dieser bestimmte Gegenstanddiese Beschaffenheit hat, davon hat man dadurch ent-weder noch keine Kenntnis, oder diese Kenntnis wird

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doch nicht wirksam. Es wird außerordentlich viel dar-auf ankommen, welche von diesen Arten des Wissenseiner hat. So erscheint es keineswegs fremdartig, daßeiner sich im Handeln wider sein eigenes besseresWissen vergißt, wenn er ein Wissen in diesem Sinnehat; dagegen würde es höchst verwunderlich sein,wenn sein Wissen ein Wissen in der anderen Bedeu-tung wäre.

Drittens aber nimmt das begriffliche Wissen beiden Menschen noch in anderer Weise verschiedeneGestalten an, als in der, wovon bisher die Rede war.Wir sehen nämlich in Fällen, wo jemand die Erkennt-nis inne hat, sie aber nicht anwendet, daß der geistigeZustand des Innehabens hier eine ganz andere Bedeu-tung hat; es ist ein Haben, das im Grunde zugleich einNichthaben ist, wie bei einem der schläft oder der vonSinnen oder betrunken ist. Nun sind aber diejenigendie von heftigen Gefühlen aufgeregt sind in ganz ähn-licher Verfassung. Heftige Aufregung, geschlechtlicheBegierde und manches Ähnliche zieht augenschein-lich auch den Leib in Mitleidenschaft; bei manchenbringt es geradezu Geistesstörung hervor. Offenbaralso muß man sagen, daß es um diejenigen die ihrerBegierden nicht mächtig sind, ganz ähnlich steht wieum diese Leute. Daß sie die Sätze die sich aus ihrerErkenntnis ergeben, im Munde führen, beweist garnichts. Denn Leute in solcher Gefühlsaufregung

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wiederholen auch Beweisgänge und Aussprüche desEmpedokles; sieht man doch auch diejenigen dieetwas eben erst gelernt haben, wohl die Sätze hinter-einander aufsagen, ohne daß sie doch schon ein wirk-liches Wissen hätten. Denn wirkliches Wissen mußmit dem Menschen verwachsen sein; dazu aber bedarfes der Zeit. Man muß sich also vorstellen, die Redenvon solchen Leuten die sich nicht zu zügeln vermö-gen, seien ebenso aufzufassen, wie die von Schauspie-lern.

Viertens läßt sich der Grund auch unter dem Ge-sichtspunkte der Natur der Seele wohl einsehen. Daist nämlich erstens eine Meinung als allgemeinerSatz, zweitens eine Annahme die das Einzelne be-trifft, und darüber entscheidet nunmehr die sinnlicheErfahrung. Wird nun aus beiden ein Satz gewonnen,so ergibt sich für das Bewußtsein die Notwendigkeit,das eine Mal diesen Satz bloß auszusagen; aber wo essich um das handelt was zu tun ist, die Sache auchgleich zur Ausführung zu bringen. Z.B. gilt der Satz:alles was süß ist soll man genießen, und ist nun diesereinzelne Gegenstand hier süß, so ist man genötigt,wenn man das Vermögen dazu hat und kein Hindernisvorliegt, danach auch sogleich zu verfahren. Gesetztnun, man hege im Gemüte den allgemeinen Satz, derden Genuß verbietet, zugleich aber den Satz, daß allesSüße Lust bereitet, und daß dies hier süß ist, und dies

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macht den allgemeinen Satz erst wirksam; ist dann imGemüte zugleich die Begierde rege: so rät auf dereinen Seite jener Satz, sich der Sache zu enthalten,andererseits lockt und treibt die Begierde; denn sievermag jedes unserer Organe in Bewegung zu setzen.Das Ergebnis ist, daß man unenthaltsam ist auf Grundsozusagen von Vernunft und Meinung, die nicht anund für sich, sondern nur unter besonderen Umstän-den zueinander im Gegensätze stehen. Denn den wirk-lichen Gegensatz zum rechten Grundsatz bildet dieBegierde und nicht die Meinung. Schon aus diesemGrunde darf man ein Tier nicht unenthaltsam schel-ten; denn es ist nicht fähig das Allgemeine zu denken,sondern vermag nur von sinnlich Einzelnem Ein-drücke zu empfangen und festzuhalten. Wie aber dieAbweichung vom Denken sich aufhebt und der seinernicht Mächtige wieder zur rechten Vernunft zurück-kehrt, das ist derselbe Vorgang wie beim Betrunkenenund beim Schlafenden und nichts diesem Gebiete Ei-gentümliches. Darüber also muß man sich bei denBiologen befragen.

Da aber der Untersatz im Schlusse eine Meinungüber einen Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung be-deutet und diese das Handeln bestimmt, so hat ihnwer in der Gefühlserregung befangen ist entweder garnicht, oder er hat ihn in der Weise, daß solches Habenwie wir oben sagten nicht ein Wissen bedeutet,

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sondern ein bloßes Reden gleich dem eines Trunke-nen, der Aussprüche von Empedokles hersagt. Und dader Untersatz nicht allgemein ist, noch wie das Allge-meine den Charakter begrifflicher Erkenntnis an sichträgt, so macht es den Eindruck, als ob die Frage dieSokrates aufwarf, wirklich darin ihren guten Grundhabe. Denn die Gefühlserregung erwacht nicht, solan-ge dasjenige was im eigentlichen Sinne als Erkenntnisgilt in der Innerlichkeit gegenwärtig ist, und also istes auch nicht diese Erkenntnis, die durch die Gefühls-erregung mit fortgerissen wird; sondern die Erregungentsteht, wenn die Erkenntnis eine nur sinnliche ist.

Das Ausgeführte mag genügen, um die Frage zuentscheiden, ob das Handeln dessen der seiner Begier-de unterliegt, möglicherweise ein wissentliches seinkann oder nicht, und wenn ja, in welchem Sinne esdas sein kann.

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3. Der Wille im Verhältnis zu Affekten undBegierden

a) Arten von Lust und Unlust

Damit hängt die Frage zusammen, ob es einenschlechthin seines Willens nicht mächtigen Menschengibt, oder ob alle es nur in besonderer Beziehungsind, und wenn letzteres, in welcher Beziehung sie essind.

Ausgemacht ist, daß es die Lust und die Unlust ist,der gegenüber man sich enthaltsam oder willensstarkund andererseits unenthaltsam und willensschwachzeigt. Von dem nun was Lust bereitet ist das eine not-wendig, das andere an und für sich begehrenswert,aber so daß es ein Übermaß zuläßt. Notwendig istwas der Leib fordert; dahin gehört derartiges, wie daswas die Ernährung und den geschlechtlichen Trieb an-geht, und ferner solche leiblichen Genüsse, in bezugauf welche wir von Zügellosigkeit und von Erhaben-sein über dieselben gesprochen haben. Unter dem wasnicht notwendig, aber doch an und für sich begehrens-wert ist, verstehe ich solches wie Sieg, Ruhm, Reich-tum und anderes Ähnliche, was wertvoll ist und Freu-de macht. Von denen nun, die sich auf dergleichenwider die rechte Vernunft, die ihnen doch innewohnt,

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im Obermaß richten, sagen wir nicht schlechthin, daßsie ihrer Begierden nicht mächtig seien, sondern mitdem Zusatz: sie seien ihrer Geld-, Gewinn-, Ruhm-sucht oder ihrer Aufwallung nicht mächtig. Wir ge-brauchen die Bezeichnung also nicht schlechthin, weilwir meinen, sie seien doch eigentlich anders geartetund würden nur nach Analogie so benannt, etwa so,wie man einen Mann namens »Mensch« näher als»den Mensch der in Olympia gesiegt hat« bezeichnet.Hier war der Unterschied zwischen der allgemeinenBezeichnung »Mensch« und dem Namen für das Indi-viduum gering, und gleichwohl war er vorhanden. Soersieht man dort den Unterschied daraus: die Genuß-sucht unterliegt dem Tadel nicht bloß als eine Verir-rung, sondern geradezu als ein unsittliches Verhalten,entweder schlechthin oder in besonderer Beziehung;das aber gilt von keiner der oben bezeichneten Eigen-schaften.

Was das Verhältnis zu den leiblichen Genüssen an-betrifft, auf Grund dessen wir von einem darüber Er-haben- und einem ihnen zügellos Ergebensein spre-chen, so heißt der, der nicht mit ausdrücklichem Vor-satz, vielmehr seinem Vorsatz und seiner Denkweisezuwider, dem Genuß im Übermaß nachjagt und derUnlust im Übermaß widerstrebt, etwa bei Hunger,Durst, Hitze, Frost und allen Affektionen des Tast-sinns und des Geschmackssinnes: ein solcher also

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heißt willensschwach, und heißt so nicht mit einembesonderen Zusatz, in bestimmter Beziehung, wie inBeziehung etwa auf den Zorn, sondern ohne weiteres.Ein Zeichen, daß es sich dabei um eine bloße Analo-gie handelt, ist dies: auf Grund dieses letzteren Ver-haltens wird einer willensschwach genannt, aber nichtmit Bezug auf irgendeine von den oben genanntenVerhaltungsweisen. Das ist denn auch der Grund,weshalb man den Genußsüchtigen mit dem zügellosAusschweifenden unter den gleichen Gesichtspunktstellt und ebenso andererseits den der seiner mächtigist und den der über die Begierden erhaben ist, aberkeinen von denen, deren Begehren auf die vorher be-zeichneten Dinge gerichtet ist, weil es sich bei denvorher genannten Klassen von Menschen im Grundeum dieselben Arten der Lust und Unlust handelt, nurdaß, wenn auch die Gegenstände dieselben sind, dochdie Art und Weise ihres Verhaltens zu den Gegen-ständen nicht dieselbe ist. Bei den einen ist das Ver-halten ein grundsätzlich gewelltes, bei den andernnicht. Man wird also demjenigen einen höheren Gradzügelloser Gesinnung zuschreiben dürfen, der ohnevon Begierden oder doch ohne von heftigen Begierdendazu getrieben zu werden, den Lüsten im Übermaßnachtrachtet und Unlust, auch mäßige, meidet, alsdenjenigen der es auf Grund allzu heftiger Triebe tut.Denn wie würde jener sich erst benehmen, wenn ihn

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jugendliche Leidenschaft ergriffe oder heftigerSchmerz über die Entbehrung des Unentbehrlichenihn fortrisse!

Nach unserer obigen Einteilung gibt es nun auchsolche Begierden und solche Genüsse, die unter derGattung des Edlen und Wertvollen einzureihen sind.Denn das was Lust bereitet ist zum Teil auf Grundder menschlichen Natur Gegenstand des Begehrens,während anderes dazu im Gegensatz steht, wieder an-deres, wie Geld, Gewinn, Sieg und Ruhm, eine mittle-re Stelle einnimmt. Wo es sich um die erstgenannteund um die dritte, die mittlere Klasse handelt, da er-fährt man keine Mißbilligung bloß aus dem Grunde,weil man von dergleichen affiziert wird, es begehrtund liebt, sondern nur wegen der Art und Weise wieman es begehrt und wegen des Übermaßes darin. Eskann jemand einem seiner Natur nach edlen und wert-vollen Gegenstande gegenüber die Selbstbeherr-schung verlieren oder ihm nachtrachten wider dasGebot der Vernunft; er kann z.B. mehr als recht istsich dem Streben nach Ruhm hingeben oder seineKinder, seine Eltern im Übermaß lieben. Denn auchdiese zählen zu den Gütern, und wer sich um sie an-gelegentlich bemüht, gewinnt sich Beifall, und den-noch gibt es ein Übermaß auch darin, wenn z. B, je-mand wie Niobe sich mit den Göttern selbst in denWettstreit einläßt, oder wenn er es macht wie Satyros,

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der von seiner Liebe zu seinem Vater seinen Beina-men erhielt, und die Liebe zum Vater übertreibt; dennSatyros ging doch, so meinte man, darin allzuweit biszu wirklicher Torheit. In alledem nun kommt sicherniedrige Gesinnung nicht zur Erscheinung, und zwaraus dem angegebenen Grunde, weil jeder dieser Ge-genstände an und für sich genommen und seiner Naturnach zu dem gehört was ein würdiges Ziel des Stre-bens bedeutet, und nur die Übertreibung als Verirrungverwerflich und zu meiden ist. Aus dem gleichenGrunde kann man hier also auch nicht von Mangel anSelbstbeherrschung sprechen. Denn solcher Mangelist nicht nur etwas was man meiden soll: er ist gerade-zu verwerflich. Nur weil die Empfindungsweise einegewisse Verwandtschaft zeigt, spricht man hier vonMangel an Selbstbeherrschung, aber mit einem Zu-satz, der ausdrückt, daß es sich um ein bestimmteseinzelnes Gebiet des Verhaltens handelt. Es ist dasgerade so wie man einen auch einen schlechten Arztoder einen schlechten Schauspieler nennt, den mandoch nicht ohne weiteres einen schlechten Menschennennen würde. Wie wir nun hier den Ausdruckschlecht nicht im eigentlichen Sinne meinen, weil essich nicht um eine schlechte Charaktereigenschaft,sondern nur um eine Ähnlichkeit des Verhältnisseshandelt, so muß man offenbar auch dort annehmen,daß Mangel an Selbstbeherrschung und andererseits

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Willensfestigkeit in Wirklichkeit allein da zur Er-scheinung kommt, wo es sich um dieselben Gegen-stände handelt wie bei der Erhabenheit über die Lüsteund bei der sinnlichen Zügellosigkeit, daß aber da,wo es sich bloß um eine lebhafte Aufwallung handelt,das Wort nur eine Ähnlichkeit des Verhältnisses be-zeichnet. Und darum drückt man sich auch so aus,daß man hinzusetzt: Mangel an Selbstbeherrschunggegenüber der lebhaften Aufwallung wie der Ruhm-sucht und Gewinnsucht.

Es gibt also Lustempfindung, die in der Natur derempfindenden Wesen begründet ist, darunter teils sol-che die es schlechthin, teils solche die es nur für be-stimmte Arten von Tieren und von Menschen ist. Esgibt aber auch solche, die nicht natürlich, sondern nurauf Grund von krankhafter Entartung oder von Ange-wöhnung oder schlimmer Naturanlage sich herausbil-det. Auch in bezug auf jede dieser Erscheinungenkann man ein entsprechendes Verhalten beobachten.Ich denke dabei an solche nahezu bestialischen Nei-gungen, wie bei jener Megäre, die die Schwangerenaufgeschlitzt und die Kinder gefressen haben soll,oder wie bei manchen unter den verwilderten Völker-stämmen am Schwärzen Meere, die mit Vergnügenrohes Fleisch oder auch Menschenfleisch fressen, oderdie sich gegenseitig die Kinder zum Schmause schen-ken, oder an das, was man sich von Phalaris erzählt.

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Dergleichen ist tierisch brutal; es kommt aber auchvor als Folgeerscheinung von Krankheiten, zuweilenauch von Wahnsinn, wie bei dem Menschen, der seineMutter als Opfer schlachtete und aufaß, oder bei demanderen, der die Leber seines Mitsklaven verschlang.Oder es sind krankhafte oder aus Angewöhnung stam-mende Ausartungen, wie wenn man sich die Haareausrupft und an den Nägeln kaut oder Kohlen undErde verschluckt, oder auch, wie der Geschlechtsver-kehr zwischen Männern. Das sind solche Dinge, dieteils aus Naturanlage, teils aus Angewöhnung abzu-leiten sind, wie bei denen die schon in jungen Jahrengeschlechtlich mißbraucht worden sind.

Wo nun der Grund in der Naturanlage liegt, dawird niemand von mangelnder Selbstbeherrschungsprechen, so wenig wie man es den Weibern vorwirft,daß sie sich im geschlechtlichen Verkehr nicht aktivsondern passiv verhalten. Es ist nicht anders zu urtei-len, wo die krankhafte Haltung durch Angewöhnungentstanden ist. Daß einer solche einzelnen Züge ansich hat, liegt außerhalb des Gebietes, wo von Unsitt-lichkeit gesprochen wird, und ebenso auch die tieri-sche Entartung, und wenn einer sie an sich hat, so istseine Beherrschung derselben oder seine Unterwürfig-keit unter dieselbe nicht eine Sache bloßer Willens-kraft, sondern bildet zu dieser nur eine verwandte Er-scheinung, gerade so wie jemand, der lebhaften

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Aufwallungen gegenüber eine solche Heftigkeit derErregung zeigt, Mangel an Selbstbeherrschung wohlin dieser Beziehung zugeschrieben werden kann, abernicht Mangel an Selbstbeherrschung schlechthin.Denn jedes Übermaß von Gedankenlosigkeit, Feig-heit, zügelloser Sinnlichkeit, verdrießlichem Wesenberuht das eine Mal auf Roheit, das andere Mal aufKrankhaftigkeit. Wer von Natur so geartet ist, daß ersich vor allem fürchtet, auch vor dem Rascheln einerMaus, dessen Feigheit ist tierischer Art, bei einem an-deren der sich vor einer Katze fürchtete, war es krank-haft. Unter den Geistesschwachen sind die von Naturschwach Begabten und bloß in sinnlichen Empfindun-gen Lebenden tierähnlich, wie manche Stämme vonBarbaren in fernen Ländern; andere sind es infolgevon Krankheiten. So sind krankhaft die infolge vonEpilepsie oder von Wahnsinn geistesschwach Gewor-denen. Es kommt auch vor, daß einer nur zeitweisedaran leidet, ohne davon ganz beherrscht zu werden;ich denke dabei z.B. an Phalaris, wenn er die Begier-de ein Kind zu fressen oder wenn er widernatürlichenGeschlechtstrieb bemeisterte. Es kommt aber auchvor, daß einer völlig davon beherrscht wird, nichtbloß dergleichen an sich hat. Wie man nun diejenigeSchlechtigkeit, die noch menschliche Art an sichträgt, einfach als Schlechtigkeit, die andere mit einernäheren Bestimmung als tierische oder krankhafte,

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nicht als Schlechtigkeit schlechthin bezeichnet, sogibt es offenbar in demselben Sinne auch einen Man-gel an Selbstbeherrschung, der tierisch, und einen derkrankhaft ist; ein solcher Mangel schlechthin ist aberallein derjenige, der der zügellosen Sinnlichkeit wiesie bei Menschen vorkommt entspricht.

Es wird dadurch so viel klar geworden sein, daßSelbstbeherrschung und das Fehlen derselben nur davorkommt, wo es sich um eben den Inhalt handelt, aufden sich die Erhabenheit über die Begierden und diezügellose Genußsucht bezieht, und daß das Fehlender Selbstbeherrschung da wo es sich um andereshandelt, eine ganz andere Art bildet, so daß dann dasWort nur in übertragenem Sinne und nicht eigentlichgebraucht wird.

b) Leidenschaft und Lust

Daß ferner der Mangel an Selbstbeherrschung daweniger verwerflich ist, wo es sich um leidenschaftli-che Aufwallung, als wo es sich um sinnliche Lüstehandelt, das wollen wir jetzt zeigen. Man darf sagen:leidenschaftliche Aufwallung vernimmt wohl dieStimme der Vernunft, vernimmt sie aber nicht recht,gleichwie ein voreiliger Diener, der, bevor er nochden Auftrag recht vernommen hat, forteilt und dann

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den Auftrag falsch ausführt, oder gleichwie ein Hund,der anschlägt, sobald er ein Geräusch hört, bevor ernoch zusieht, ob es auch nicht ein Freund ist. Sostürmt die leidenschaftliche Aufwallung, von natürli-cher Hitze und Raschheit getrieben, zur Vergeltung,nachdem sie zwar gehört hat, aber nicht das Befohle-ne gehört hat. Verstand oder subjektiver Eindruck hateinem kundgetan, daß ihm eine Verletzung oder Be-leidigung widerfahren ist; er aber zieht nun gleichsamden Schluß, daß man dergleichen entgegentreten muß,und sogleich schreitet er zur Abwehr. Das Gelüstenandererseits stürmt fort zum Genuß, sobald nur Über-legung oder Empfindung lehrt, daß der GegenstandLust verheißt. Leidenschaftliche Aufwallung alsofolgt irgendwie der Überlegung, das Gelüsten nicht:darum ist dieses verwerflicher. Wer den Zorn nichtbemeistern kann, wird irgendwie von Überlegung be-herrscht, der andere von seinem Begehren und nichtvon seiner Überlegung.

Zweitens ist es eher verzeihlich, wenn einer den na-türlichen Regungen nachgibt, oder auch wenn einervon solchen Begierden getrieben wird, die allen Men-schen gemeinsam und sofern sie gemeinsam sind.Nun liegt Heftigkeit und Unwille mehr in der mensch-lichen Natur als die Lüste, die sich auf ein Übermaßund auf das richten was nicht zur Notdurft gehört. Sosagte jener Mensch, um sich zu entschuldigen, daß er

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seinen Vater schlage: Er hat seinen Vater auch ge-schlagen und dieser den seinigen; und auf seinen klei-nen Sohn weisend: Dieser wird wieder mich schlagen,wenn er ein Mann geworden ist; das ist einmal so inunserem Hause. Ein anderer mahnte seinen Sohn, alsdieser ihn fortschleifte, er solle ihn nicht weiter als biszur Tür schleifen; denn er selber habe seinen Vaterauch nur so weit geschleift.

Drittens wächst die Größe des Unrechts mit demGrade der Hinterhältigkeit. Wen nun leidenschaftlicheAufwallung treibt, der verfährt nicht hinterhältig, undebenso wenig sucht sich die Aufwallung zu ver-stecken, sondern geht offen vor; wohl aber gebrauchtdie Begierde List. Darum heißt Aphrodite: »die rän-kesüchtige Tochter Cyperns«, und an ihrem gesticktenGürtel besingt Homer: »Liebesgeflüster, das auch desVerständigsten Sinne betörte«. Wenn also der Mangelan Selbstbeherrschung gegenüber der Begierde alsUnrecht schwerer ins Gewicht fällt und verwerflicherist als der gleiche Mangel gegenüber der Aufwallung,so bedeutet sie den Mangel an Herrschaft über sichschlechthin und ist im eigentlichen Sinne Unsittlich-keit.

Viertens: von niemand der eine Kränkung erfahrenhat, gilt es, daß er den anderen mutwillig verletze.Wer im Zorn handelt, tut es immer auf Grund einererfahrenen Kränkung, dagegen wer mutwillig verletzt,

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auf den Antrieb böser Lust. Wenn nun dasjenige dasgrößere Unrecht ist, worüber Unwillen zu empfindenam meisten gerechtfertigt ist, so ist auch der Mangelan Selbstbeherrschung gegenüber der Begierde dasgrößere Unrecht. Denn im Zorn liegt kein Antrieb zumutwilliger Verletzung.

Was wir damit erwiesen haben ist dies, daß derMangel an Selbstbeherrschung, wenn er sich den Lü-sten gegenüber zeigt, schimpflicher ist, als wenn erder Heftigkeit gegenüber hervortritt, und daß Selbst-beherrschung und das Fehlen derselben sich geradegegenüber den Begierden und den sinnlichen Lust-empfindungen betätigt. Es gilt nunmehr, die Unter-schiede innerhalb der letzteren aufzuzeigen.

Wie wir gleich im Anfang dargelegt haben, sind sieihrer Art und Größe nach teils menschlich und natür-lich, teils tierisch brutal, teils Folge von Entartungoder Erkrankung. Was die ersten anbetrifft, so zeigtsich allein ihnen gegenüber eine über die Lüste erha-bene Gesinnung und die zügellose Hingebung an die-selben. Darum schreibt man auch den Tieren wederdie eine noch die andere Eigenschaft oder doch nur inübertragenem Sinne zu; so wenn eine Art von Tierenim allgemeinen sich vor den anderen durch Wildheit,Üppigkeit und Gefräßigkeit hervortut. Denn Tiere bil-den keine Vorsätze und stellen keine Überlegungenan; sie geraten nur aus dem regelmäßigen Geleise wie

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dem Wahnsinn verfallene Menschen. Tierische Roheitist ein geringerer Grad von Bosheit als ein böserWille, aber allerdings noch mehr zu fürchten. Es istdoch bei tierischer Roheit das Edelste nicht entartet,wie bei einem Menschen, sondern es ist gar nicht vor-handen. Ein Vergleich zwischen tierischer Roheit undbösem Willen ist ganz ähnlich, wie wenn man einenVergleich anstellen wollte zwischen einem lebendigenund einem leblosen Wesen, um zu sehen, welches vonbeiden das schlimmere ist. Denn jedesmal ist die Ver-derbnis desjenigen Wesens minder unheilvoll, dasnicht nach einer Maxime handelt; Maxime aber ist dieVernunft. Nahe verwandt damit ist es auch, wenn maneinen Vergleich zieht zwischen der Ungerechtigkeitund einem ungerechten Menschen. Jedes von beidenkann in seiner Weise das Schlimmere sein. Einschlechter Mensch vermag zehntausendmal mehrBöses zu tun als ein Tier.

c) Grade der Willensstärke

Von Lust und Unlust, von Begehren und Meidenauf Grund des Tastsinnes und des Geschmackssinnes,dem Äußerungsgebiete zügelloser Ausschweifung wiedes Erhabenseins über solche Regungen, haben wirvorher eingehend gehandelt. Man kann sich dabei so

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verhalten, daß man demjenigen unterliegt, was denmeisten nichts anhat; man kann sich aber auch dastark erweisen, wo die meisten unterliegen. So istdenn unter diesen der eine der Lust gegenüber unent-haltsam, der andere enthaltsam, der Unlust gegenüberder eine weichlich, der andere willensstark. Die Be-schaffenheit der meisten Menschen liegt in der Mittedazwischen, allerdings mit größerer Neigung nach derSeite des Schlimmeren hin. Nun sind unter den Artender Lust manche ein notwendiges Bedürfnis, anderenicht: manche sind es nur bis zu einem gewissenGrade, und nicht mehr wo sie darüber hinausgehenoder darunter bleiben. Ganz ähnlich verhält es sichauch mit dem Begehren und mit der Unlust. Wer demwas Lust bereitet im Übermaß nachjagt, nicht ausübermäßiger Begierde, sondern mit ausdrücklichemVorsatz, und dabei kein anderes Ziel als nur die Lustselbst im Auge hat, der ist ein unverbesserlicherWüstling. Denn die notwendige Folge ist, daß ein sol-cher Mensch nicht dazu gelangt Reue zu empfinden,und daß er deshalb unverbesserlich ist. Denn wokeine Reue, da auch keine Besserung. Den Gegensatzzu ihm bildet der, der hinter dem Maß zurückbleibt;der die rechte Mitte einhält, ist der über die Lüste Er-habene, ihm gleicht derjenige, der körperlichenSchmerz nicht aus Schwachheit, sondern mit überleg-tem Entschluß meidet.

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Unter denen, die ihr Verhalten nicht nach Grund-sätzen regeln, wird der eine von der Lust getrieben,der andere von der Scheu vor der aus dem Begehrenentspringenden Unlust. Man sieht, es ist ein Unter-schied zwischen dem Wüstling aus Grundsatz unddiesen letzteren. Nun urteilt jedermann, daß esschlimmer ist verwerflich zu handeln, wenn man vonBegierden gar nicht oder nur in geringem Grade ge-trieben wird, als wenn man unter dem Antrieb heftigerBegierden steht, und daß es schlimmer ist einen ande-ren zu mißhandeln wenn man gar nicht zornig ist, alswenn man es im Zorne tut. Denn was würde jener ersttun, wenn er in Zorn geriete! Mithin ist auch derWüstling schlimmer als einer der seiner Begierde un-terliegt.

Von den oben bezeichneten Verhaltungsweisen istalso die eine mehr eine Form der Willensschwäche,die andere bezeichnet den Wüstling. Zu dem seinerBegierde nicht Mächtigen bildet den Gegensatz derseine Begierden Beherrschende, zum Willensschwa-chen der Willensstarke. Willensstark sein heißt stand-halten, Herr seiner Begierde sein heißt überlegen blei-ben. Standhalten aber ist etwas ganz anderes als über-legen sein, wie nicht unterliegen etwas anderes ist alsden Sieg davontragen. Darum ist es ein höheres Ziel,Herr seiner Begierden zu sein, als ihnen bloß Wider-stand zu leisten.

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Wer da sich schwach zeigt, wo die meisten wider-stehen und sich kraftvoll bewähren, der ist weichlichund entnervt, denn auch Mangel an Nerv ist eine Artder Verweichlichung. Wer sein Gewand auf demBoden schleppen läßt bloß weil er für die Beschwerdees aufzunehmen zu bequem ist, und wer sich geberdetwie ein Leidender, der hält sich nicht für elend, undist doch einem Elenden ganz ähnlich. Mit der Herr-schaft über die Begierden und der Dienstbarkeit unterihnen ist es ebenso. Denn wenn einer starken undübergroßen Reizungen in Lust oder Unlust unterliegt,so ist es kein Wunder, und geschieht es trotz seinesWiderstrebens, so verdient es Verzeihung. Beispielesind Philoktet beim Theodektes, der unter den Folgeneines Schlangenbisses leidet, oder Kerkyon in der»Alope« des Karkinos, oder auch diejenigen, die sichdas Lachen verbeißen möchten und auf einmal inschallendes Gelächter ausbrechen, wie es dem Xeno-phantos begegnete. Ganz anders wenn einer da wo diemeisten zu widerstehen vermögen unterliegt und nichtstandzuhalten vermag, nicht weil es so in der beson-deren Natur seines Geschlechtes liegt, oder infolgeeiner Krankheit, wie bei den Königen der Skythen dieVerweichlichung ihrem ganzen Geschlechte eignet,oder wie das weibliche Geschlecht gegen das männli-che zurücksteht. Auch der immer nur auf Scherze Be-dachte macht den Eindruck eines ausgelassenen

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Menschen, er ist aber bloß ein willensschwacherMensch. Denn das Scherzen ist eine Erholung so weitals es ein Ausruhen bedeutet, zu denen aber die es biszur Übertreibung lieben, gehört der, der immer nurSpaß treibt.

Mangel an Herrschaft über die Begierde kann un-gestümes Drauflosgehen, kann aber auch einfacheSchwäche sein. Manche überlegen erst, aber die Lei-denschaft gestattet ihnen nicht, ihrem Entschluß treuzu bleiben; andere lassen sich von ihrer Leidenschafttreiben, weil sie gar nicht zum Überlegen gekommensind. Denn manche sind in der Lage desjenigen, derdem Kitzel entgeht, weil er den Kitzel vorweggenom-men hat. Weil sie zum voraus wahrgenommen, zumvoraus sich umgesehen und sich und ihre Überlegungwach gehalten haben, unterliegen sie dem erregtenGefühle nicht, ebensowenig dem angenehmen wiedem schmerzlichen. Am meisten sind es die Leute vonheftiger und hitziger Gemütsart, die in ungestümerHingerissenheit die Herrschaft über sich verlieren.Die einen lassen sich wegen des schnellen Aufflam-mens, die anderen wegen der Heftigkeit ihrer Gefühlenicht Zeit zum Überlegen, weil sie immer geneigtsind, sich den empfangenen Eindrücken hinzugeben.

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d) Böser Wille und schwacher Wille

Wir haben oben gesehen, daß ein zügelloserMensch Reue zu empfinden nicht geeignet ist; denn erbeharrt bei seinem Grundsatz. Dagegen ist der vonseinen Begierden fortgerissene immer der Reue zu-gänglich. Daher verhält es sich nicht wirklich so, wiewir oben bei der Erwägung der Schwierigkeiten ange-deutet haben; sondern der eine kann sich bessern, derandere nicht. Die Verderbtheit des Willens macht denEindruck einer Krankheit wie Wassersucht oderSchwindsucht, der Mangel an Selbstbeherrschung denvon Krämpfen. Jene ist ein chronisches, dieser einakutes Übel. Mangel an Selbstbeherrschung undböser Wille sind zwei völlig verschiedene Gattungen.Von seiner Bosheit hat man kein Bewußtsein, aberwohl von seinem Mangel an Selbstbeherrschung. Vondiesen letzteren, den Leuten ohne Selbstbeherrschung,stehen diejenigen die ganz außer sich geraten höherals diejenigen die erst überlegen und doch nicht ihrerÜberlegung gemäß handeln; denn die Erregung dersie unterliegen ist von geringerer Stärke, und sie erlie-gen nicht wie die anderen ohne zur Überlegung ge-kommen zu sein. Der Mensch ohne Selbstbeherr-schung ist ganz ähnlich solchen die schnell trunkenwerden, schon von einem geringen Maß Wein und

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von einem geringeren als die meisten anderen. Augen-scheinlich also, daß Mangel an Selbstbeherrschungnicht böser Wille ist; aber allerdings, irgendwie ist erdoch mit ihm verwandt. Der eine handelt wider seingrundsätzliches Vornehmen, der andere seinemGrundsatz gemäß; und doch, im wirklichen Handelnkommt beides auf das gleiche hinaus. Man wird anden Ausspruch des Demodokos über die Bewohnervon Milet erinnert: »Die Einwohner von Milet sindnicht unverständig; aber was sie tun sieht gerade soaus, wie das, was die Unverständigen tun.« Men-schen, die sich nicht zu beherrschen wissen, sind nichtvon Gesinnung ungerecht, aber ihre Handlungen sindungerecht. Der eine ist von der Art, daß er den über-mäßigen, den der rechten Vernunft widersprechendensinnlichen Lüsten nicht aus Grundsatz nachjagt; derandere tut es aus Grundsatz, weil es in seiner Art liegtdiesen Lüsten nachzujagen. Jenen kann man einesBesseren belehren, diesen nicht. Denn sittliche Gesin-nung hält das Prinzip aufrecht, unsittliche Gesinnungstürzt es um; im Handeln aber bildet der Zweck dasPrinzip, wie in der Mathematik die Voraussetzungen.Daher gibt es so wenig dort wie hier eine theoretischeBegründung für die Prinzipien; sondern innere Tüch-tigkeit, entstamme sie nun dem natürlichen Tempera-ment oder der Gewöhnung, hat zur Folge, daß manüber die Prinzipien richtig denkt. Wer von Charakter

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so beschaffen ist, der ist über niedere Begierden erha-ben; den Gegensatz zu ihm bildet der grundsätzlichseinen Lüsten Nachlebende. Es kommt vor, daß einerinfolge leidenschaftlicher Erregung von der richtigenEinsicht abzufallen geneigt ist; ihn überwältigt dieleidenschaftliche Erregung so weit, daß sein Handelnder rechten Einsicht widerspricht, aber doch nicht soweit, daß es bei ihm zur Charaktereigenschaft würdeund er sich zum Grundsatz machte, solchen Lüstenrücksichtslos nachzujagen. Diesem geschieht es wohl,daß er sich vergißt; aber er steht immerhin höher alsder grundsätzlich Zügellose, und er ist nicht ohneweiteres ein Mensch von schlechtem Charakter. Dennbei alledem bleibt das Wertvollste, das Prinzip, ge-wahrt. Im Gegensatze zu ihm steht der andere, der andem Prinzip festhält und sich auch durch die leiden-schaftliche Erregung nicht darin erschüttern läßt. Manersieht daraus, daß die letztere Gesinnung die sittli-che, die andere demgegenüber die niedere ist.

e) Wahre und falsche Willensstärke

Wie nun? Bedeutet Selbstbeherschung, daß man anjeder beliebigen Ansicht und jedem beliebigen Grund-satz, oder daß man an dem richtigen festhält? Und be-deutet Mangel an Selbstbeherrschung, daß man von

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irgendeinem beliebigen Grundsatz und einer beliebi-gen Ansicht abfällt, oder von einer Ansicht, die nichtfalsch, und von einem Vorsatz, der vernünftig ist?eine Frage, die wir schon oben aufgeworfen haben.Oder sollte es sich vielmehr so verhalten, daß der einenur gelegentlich auf einer beliebigen, im wesentlichenaber auf der wahren Ansicht und dem richtigenGrundsatz verharrt, und der andere nicht? Die Sacheliegt so: wenn jemand dieses Bestimmte um diesesbestimmten Zweckes willen sich vorsetzt oder er-strebt, so erstrebt er und setzt er sich eigentlich diesesletztere vor, und jenes nur abgeleiteterweise. »Eigent-lich«, damit meinen wir als solches und an und fürsich. So kann es geschehen, daß der eine einer belie-bigen Meinung treu bleibt, der andere einer beliebigenabtrünnig wird, während es sich in der Tat um Treueoder Untreue gegen die richtige Meinung handelt.

Dagegen gibt es Menschen, die stets bei ihrer Mei-nung bleiben; man nennt sie starrköpfig. Sie sindschwer zu belehren und lassen sich nicht umstimmen;sie haben eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wil-lensstarken, etwa wie ein Verschwender sie hat mitdem in Geldsachen vornehm Denkenden und der Ver-wegene mit dem Kühnen; im Grunde sind sie doch invielen Stücken ganz verschieden geartet. Denn jener,der Willensstarke, wechselt seine Haltung zwar nichtinfolge leidenschaftlicher Erregung und Begierde,

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aber er läßt sich unter Umständen wohl umstimmen;dem anderen, dem von seiner Begierde Beherrschten,haben Gründe nichts an: die Mehrzahl ist den Begier-den zugänglich und wird von ihren Lüsten getrieben.Starrköpfig sind die Eigenwilligen, die Unbelehrbarenund Ungebildeten, und zwar die Eigenwilligen unterder Macht von Lust und Unlust. Sie freuen sich ihresSieges, wenn man sie nicht umzustimmen vermag,und empfinden es schmerzlich, wenn es ihrer Ansichtergeht wie einem Volksbeschluß, der sich als null undnichtig erweist. Und so haben sie größere Ähnlichkeitmit dem, der sich nicht zu beherrschen vermag, alsmit dem der seiner Herr bleibt. Dagegen kommt esauch vor, daß jemand an seinen Ansichten nicht fest-hält und doch nicht aus Mangel an Selbstbeherr-schung. Das ist der Fall des Neoptolemos in Sopho-kles' »Philoktet«. Gewiß war das Motiv weshalb ernicht beharrte, seine Neigung, aber es war eine Nei-gung zum Edlen. Denn ihm galt es als etwas Edles,bei der Wahrheit zu bleiben, und Odysseus hatte ihnüberredet die Unwahrheit zu sagen. Nicht immer alsoist wer unter dem Antrieb der Neigung handelt, des-halb zügellos oder niedrig gesinnt oder willens-schwach, sondern nur dann wenn die Neigung,durch die er sich bestimmen läßt, eine verwerflicheist.

Nun gibt es andererseits auch Charaktere, die an

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den das leibliche Leben betreffenden Dingen geringe-res Interesse nehmen als geboten wäre, und die sichInfolgedessen den Anforderungen der Vernunft nichtfügen. Zwischen diesen und denen, die sich nicht inihrer Gewalt haben, bezeichnet der, der sich zu be-herrschen weiß, die rechte Mitte. Wenn der Unent-haltsame sich nicht an die vernünftige Vorschrift hält,so geschieht es infolge eines zu starken, bei jenen ge-schieht es infolge eines zu schwachen Triebes; derEnthaltsame dagegen hält an ihr fest und läßt sichdurch keines von beiden davon abbringen. Bedeutetnun Enthaltsamkeit eine sittliche Eigenschaft, so folgtnotwendig, daß die ihr entgegengesetzten Gesinnun-gen beide zu verwerfen sind, und in der Tat, so stellensie sich dar. Aber weil die eine von beiden bei weni-gen Menschen und in wenigen Fällen zur Erscheinungkommt, so macht es den Eindruck, als bilde, wie al-lein die Erhabenheit über die Lüste der zügellosenHingebung an die Lüste gegenübersteht, ebenso auchdie Enthaltsamkeit allein den Gegensatz zur Unent-haltsamkeit.

Wie es nun auch sonst bei vielen Ausdrücken derFall ist, daß sie verwandt werden, um einen bloß ähn-lichen Begriff zu bezeichnen, so hat sich hier derSprachgebrauch herausgebildet, daß man im Sinnesolcher Ähnlichkeit von Selbstbeherrschung auch beidem spricht, der über die Lüste erhaben ist. Der

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Enthaltsame nämlich hat gerade so wie der über dieLüste Erhabene die Eigenschaft, nichts unter dem An-trieb sinnlicher Lüste wider das Vernunftgebot zu tun;aber der eine ist niederen Begierden noch zugänglich,den anderen fechten sie gar nicht mehr an; der eine istso geartet, daß er zu einem Genüsse der wider dasVernunftgebot wäre gar keinen Trieb mehr verspürt,der andere so, daß er für solchen Trieb wohl empfäng-lich ist, sich aber nicht von ihm bestimmen läßt. Sobesteht eine Ähnlichkeit ja gewiß auch zwischen dem,dem es an Selbstbeherrschung fehlt, und dem Wüst-ling; aber sie sind doch von Wesen verschieden.Beide sind den sinnlichen Lüsten ergeben; aber dereine, weil er es grundsätzlich für das Rechte hält, derandere ohne solche grundsätzliche Gesinnung.

Die Möglichkeit ferner, daß bei einem und demsel-ben Menschen Einsicht mit Mangel an Selbstbeherr-schung verbunden sei, ist ausgeschlossen; denn wiewir oben dargelegt haben, der Mann von Einsicht istauch der Mann von sittlichem Charakter. Einsichtigist man außerdem nicht bloß durch das Wissen, dasman besitzt, sondern durch die Fähigkeit, das Wissenauch im Handeln zu betätigen; wem es aber an Selbst-beherrschung fehlt, der ist zu solcher Betätigung imHandeln nicht geschickt. Dagegen steht nichts imWege, daß ein Mann, dem bloß große Gewandtheiteignet, Mangel an Selbstbeherrschung zeige. Deshalb

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kann es wohl geschehen, daß haltlose Menschen dochden Eindruck von einsichtigen Menschen machen,weil die Gewandtheit sich in der Weise, die wir anfrüherer Stelle erörtert haben, von der Einsicht unter-scheidet, und zwar was das verständige Urteil anbe-trifft ihr nahe steht, was aber den im Handeln befolg-ten Grundsatz anbetrifft von ihr verschieden ist. Mit-hin verhält sich wer sich nicht beherrscht nicht wieein Wissender und ruhig Erwägender, sondern wie einSchlafender oder Betrunkener. Er handelt mit Willen,in gewisser Weise auch mit Wissen um das was ertut, und um den Zweck, zu dem er es tut, und dennochist er kein schlechter Mensch, denn seine grundsätzli-che Gesinnung ist anständig und ehrbar, und so ist ernur in halbschlechter Verfassung. Auch ein ungerech-ter Mensch ist er nicht; denn er will keinem übel. Esgibt darunter solche, die an wohlüberlegten Entschlie-ßungen nicht festzuhalten vermögen, während andereLeute von heftigem Temperament überhaupt nicht zueiner Überlegung gelangen. So gleicht denn einMensch ohne Selbstbeherrschung einem Staatswesen,das lauter Beschlüsse faßt wie es sich gebührt undvortreffliche Gesetze besitzt, aber sie bloß nicht inAnwendung bringt, nach des Anaxandrides spötti-scher Bemerkung:

So wollt's die Stadt, die auf Gesetze doch nichts

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gibt.

Ein schlechter Mensch gleicht dagegen einem Staats-wesen, das zwar die Gesetze in Anwendung bringt; essind aber schlechte Gesetze.

Selbstbeherrschung und Mangel daran kommt zurErscheinung in dem, was über die Gesinnungsweiseder Menge hinausragt. Der eine entwickelt größere,der andere geringere Festigkeit, als die Masse aufzu-bringen vermag. Leichter zu bessern ist der Mangelan Selbstbeherrschung bei Menschen von heftiger Ge-mütsart, als bei denen, die sich die Sache zwar überle-gen, aber nachher an ihren Entschließungen nicht fest-halten, leichter auch bei denen, die infolge übler Ge-wöhnung als bei denen die infolge natürlicher Anlagean diesem Fehler leiden. Denn es ist immer nochleichter die Gewöhnung umzubilden als die Naturan-lage; ist doch auch der Grund, weshalb die Gewöh-nung schwer zu ändern ist, eben der, daß sie zur zwei-ten Natur geworden ist. So sagt auch Euenos:

Freund, langdauernder Übung bedarf's, so sag'ich; sie wird dann

Sich als zweite Natur der Menschen schließlicherweisen.

Damit hätten wir denn die Frage nach dem Wesen

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der Selbstbeherrschung und der Dienstbarkeit unterder Begierde, der Willensstarke und der Willens-schwache, und nach dem gegenseitigen Verhältnisdieser Charaktereigenschaften beantwortet.

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III. Gefühlsbildung

Wer den Menschen im Zusammenhange des staatli-chen Lebens betrachtet, muß die Bedeutung der Lust-und Unlustgefühle zu ermessen verstehen. Denn seineAufgabe ist es, den Zweck in großen Zügen festzu-stellen, im Hinblick auf welchen man jegliches ein-zelne als ein Übel oder als ein Gut ohne weiteres be-zeichnet. Aber auch sonst gehört es zu den notwendi-gen Aufgaben, darüber ins Klare zu kommen. Dennwir haben das sittlich Gute und das sittlich Schlechteals ein Verhalten zu Lust und Unlust gekennzeichnet,und die meisten Menschen sehen die Glückseligkeitals mit Lustgefühlen eng verbunden an. Darum istauch der Ausdruck für den Glückseligen (makarios)abgeleitet von der Lustempfindung (chairein).

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1. Kritik herrschender Ansichten

Nun sind manche der Meinung, keine Art von Lust-gefühl sei ein Gut; sie sei es weder an sich noch unterbesonderen Umständen; denn ein Gut sein und Quelleder Lust sein sei nicht dasselbe. Andere meinen, esgebe zwar Lustgefühle die schätzbar seien; die mei-sten aber seien nichts wert. Eine dritte Ansicht kommtdazu, wonach, mögen auch alle Lustgefühle etwasGutes sein, die Lust gleichwohl unmöglich das höch-ste Gut sein kann.

Den Satz, daß die Lust überhaupt nicht ein Gutsein könne, beweist man damit, daß alle Lust keinSein und Bestehen hat, sondern ein bloßes Werdenist, ein Vorgang in der Empfindung, der zu einem na-turgemäßen Zustand hinführt; kein bloßes Werdenaber gehört derselben Gattung an, wie der Zweck, zudem es führt, ebensowenig wie das Bauen und dasGebäude derselben Gattung angehöre. Zweitens, einhochgesinnter Mann meidet die Lustempfindungen.Drittens, ein Mann von Einsicht strebt nach Freiheitvon Unlust, nicht nach Lust. Viertens, Lustgefühlebehindern das Denken, und das umsomehr, je intensi-ver das Gefühl ist; so beim Geschlechtsgenuß, wobeiniemand seines Gedankens mächtig sei. Fünftens, esgibt keine Kunst des Lustgefühls, während doch alles

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was wirklich ein Gut ist durch Kunst erzeugt wird.Sechstens, Kinder und Tiere jagen der Lust nach.

Der Beweis aber für die Ansicht, wonach nicht alleLust wertvoll ist, wird darin gefunden, daß es auchverwerfliche und schimpfliche Lustgefühle gibt, dieobendrein noch verderblich sind; denn manches wasLust bereitet ist geradezu gesundheitswidrig.

Die Ansicht endlich, wonach die Lust nicht dashöchste Gut ist, wird dadurch bewiesen, daß sie nichtder Zweck, sondern ein bloßes Werden, ein Vorgangsei. Das etwa ist es was man vorzubringen weiß.

Indessen, daß die Lust kein Gut oder daß sie nichtdas höchste Gut sei, wird durch die vorgebrachtenGründe nicht erwiesen. Das wird durch folgendeÜberlegungen klar werden. Zunächst, man sprichtvom Guten im doppelten Sinne. Es ist etwas gutschlechthin oder es ist für jemand gut. Der gleicheUnterschied wird sich darum auch wohl bei den inne-ren Anlagen und den Verhaltungsweisen wiederfin-den, und infolgedessen auch bei den inneren Regun-gen und Vorgängen. Diejenigen von ihnen, die sichals unwert darstellen, werden teils unwert an sich undohne weiteres sein, während sie deshalb doch nichtwertlos für einen bestimmten einzelnen zu sein brau-chen, sondern für diesen begehrenswert sein können;teils werden sie auch nicht einmal für das bestimmteIndividuum, sondern höchstens im Augenblick und

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für kurze Zeit begehrenswert sein, aber nicht begeh-renswert ohne weiteres; teils sind sie gar keine wirkli-chen, sondern nur scheinbare Lustgefühle, sofern sievon Unlust begleitet sind oder auch nur zum Zweckder Heilung dienen, wie bei den Kranken.

Zweitens muß man das Gute als Tätigkeit und alsZustand auseinanderhalten. So sind diejenigen Vor-gänge die den naturgemäßen Zustand herzustellen die-nen, beiläufig auch Quellen der Lust, und es liegt sol-che Wirksamkeit schon in den Begierden des Teils anuns, der unverkümmerte Beschaffenheit und Naturan-lage ist. So gibt es Lustgefühle, wo keinerlei Unlustund Begierde sie bedingt, wie die Tätigkeit des Den-kens, wo kein Bedürfnis der Natur der Antrieb ist. EinBeweis dafür, daß es Lustgefühle von nur begleiten-der Art gibt, liegt in der Tatsache, daß die Menschennicht an derselben Lustquelle ihre Freude haben, wäh-rend ihr natürliches Bedürfnis seine Befriedigung er-langt und nachdem es seine Befriedigung gefundenhat. Ist die Befriedigung erfolgt, so erfreuen sie sichan solchem was schlechthin Lust bereitet: soll sie ersterfolgen, so erregt ihnen auch solches Lustgefühle,was geradezu entgegengesetzter Art ist, so das Schar-fe und das Bittere, was doch keineswegs von Naturoder schlechthin Lust bereitet. Sie sind denn auchnicht Lustgefühle schlechthin. Denn der Unterschied,der zwischen den Lust bereitenden Gegenständen

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herrscht, findet sich ebenso wieder in den Lustgefüh-len, die von ihnen stammen.

Drittens, es ist nicht notwendig, daß es ein anderesgebe, was wertvoller wäre als das Lustgefühl, so wienach der Ansicht mancher das Endziel des Prozessesdem Prozesse selbst gegenüber das Wertvollere seinsoll. Denn es sind gar nicht alle Lustempfindungenein bloßes Werden ohne Sein oder von solchem Wer-den begleitet, sondern sie sind Tätigkeiten und bildenselbst das Endziel; sie ergeben sich auch nicht auseinem Werden, sondern aus einer Tätigkeit; das End-ziel ist nicht bei allen von ihnen selbst verschieden,sondern das gilt nur von denen, die ihre Bedeutung inder Wiederherstellung des normalen Zustandes haben.Darum ist es auch nicht zutreffend, wenn man sagt,das Lustgefühl sei ein von bewußter Empfindung be-gleiteter Prozeß; man sollte es vielmehr bezeichnenals die Betätigung der naturgemäßen Verfassung, undstatt »von bewußter Empfindung begleitet« sollte mansagen »ungehemmt«. Man hält sie für einen Werde-vorgang gerade weil sie im eigentlichen Sinne ein Gutist; denn man meint, Tätigkeit sei ein Werdevorgang;in Wahrheit ist sie etwas davon Verschiedenes.

Wenn man aber die Lustempfindung als etwas Nie-deres deshalb bezeichnet, weil manches was Lust be-reitet eine gesundheitswidrige Wirkung übt, so ist dasgeradeso, wie wenn man das was gesund ist deshalb

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als schlecht bezeichnen wollte, weil es für den Geld-erwerb hinderlich ist. In solcher einzelnen Beziehungmag beides schlecht sein, aber deshalb ist es nochnicht an sich schlecht; schädigt doch auch das Studie-ren zuweilen die Gesundheit. Auch wird weder dasNachdenken noch sonst irgendein geistiger Zustanddurch die Lustempfindung gehindert, die sie begleitet,sondern allein durch solche, die anderswoher kommt.Denn die Lust, die das Studieren und das Lernen ge-währt, fördert vielmehr das Studieren und Lernen.

Wenn es weiter heißt, keine Art von Lustempfin-dung sei das Erzeugnis einer Kunst, so ist das an sicheine ganz zutreffende Bemerkung, denn eine Kunstbedeutet auch sonst nicht schon tätige Wirksamkeit,sondern nur das Vermögen zu solcher Tätigkeit. In-dessen darf man doch wohl die Kunst der Wohlgerü-che und die Kochkunst als solche anführen, die derLustempfindung dienen.

Daß endlich ein über die Lüste erhabener Sinn siemeidet, der Einsichtige bloß ein von Unlust freiesLeben anstrebt, Kinder und Tiere aber der Lust nach-laufen, für alle diese erhobenen Bedenken gilt diesel-be Lösung. Wir haben bemerkt, in welchem Sinnealle Arten der Lust gut schlechthin, in welchem Sinnesie es nicht sind; Kinder und Tiere nun laufen denletzteren nach, der Einsichtige will ihnen gegenübernur Freiheit von Unlust. Es handelt sich dabei um die

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Arten der Lust, die mit Begehren und Unlust verbun-den sind, um die sinnlichen Lüste, denn diese tragensolchen Charakter, und um das Übermaß derselben,um das wodurch ein ausschweifender Mensch aus-schweifend ist. Diese sind es, die ein hoher Sinn mei-det, während es Lustgefühle ganz wohl auch für denHochgesinnten gibt.

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2. Die Gefühle und die Tätigkeit

Von der Unlust ist es jedenfalls allgemein aner-kannt, daß sie ein Übel und daß sie zu meiden ist. Sieist teils ein Übel schlechthin, oder sie bedeutet für ir-gend jemand irgendwie ein Hindernis. Was nun demwas man meiden soll, sofern es zu meiden und sofernes ein Übel ist, entgegengesetzt ist, das ist ein Gutes;also muß Lustempfindung notwendig etwas Gutessein. Was Speusipp als Erwiderung vorbringt, daßwie das Größere zugleich dem Kleineren und demGleichen, so die Lust beiden, der Unlust und der Frei-heit von Unlust gegenüberstehe, das trifft nicht dieSache. Denn er selber wird nicht behaupten wollen,daß das Lustgefühl eigentlich ein Übel sei.

Nichts hindert aber auch die Annahme, daß dashöchste Gut selbst eine Art von Lustgefühl sei, wennes gleich manche Lustgefühle von niederer Art gibtebenso wie auch eine Art von wissenschaftlicher Er-kenntnis das höchste Gut sein könnte, wenn mancheErkenntnisse von schlimmer Art wären. Vielmehr er-gibt sich geradezu mit Notwendigkeit, daß, wenn esdoch für jede Art von geistigen TätigkeitsrichtungenBetätigungen ohne Hemmung gibt, mag nun die Betä-tigung aller insgesamt oder die einer einzelnen vonihnen die Glückseligkeit ausmachen, diese

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Betätigung, falls sie frei von Hemmung ist, das Be-gehrenswerteste ist. Das Gefühl solcher ungehemmtenTätigkeit aber ist das Lustgefühl. Damit wäre dennalso eine Art des Lustgefühls das höchste Gut, unge-achtet die meisten Arten der Lust etwas Niedriges,und wenn man will etwas schlechthin Niedriges sind.

Darum ist es allgemeine Überzeugung, daß dasglückselige Leben ein Zustand der Freude sei, unddarum bringt man den Zustand der Freude in engsteVerbindung mit der Glückseligkeit, und das mitgutem Grunde. Denn keine Tätigkeit ist vollkommen,wenn sie gehemmt ist; die Glückseligkeit aber trägtden Charakter des Vollkommenen. Darum bedarf derGlückselige auch der leiblichen wie der äußeren Güterund des äußeren Glückszustandes, um in diesen Be-ziehungen nicht gehemmt zu sein. Wer aber behaup-tet, ein Mensch auf der Folter oder inmitten schwererSchicksalsschläge sei glückselig, wenn er nur eintüchtiger Mensch sei, redet mit Willen oder widerWillen sinnloses Zeug.

Weil nun die Glückseligkeit auch der äußerenGlückslage bedarf, so halten manche Äußere Glücks-lage mit der Glückseligkeit für dasselbe. Das ist sienun doch nicht. Ist sie übermäßig groß, so kann siegeradezu ein Hindernis bilden, und vielleicht ist esdann auch nicht mehr gerechtfertigt sie ein Glück zunennen; denn nur in seiner Bedeutung für die

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Glückseligkeit liegt das entscheidende Merkmal desGlücks.

Wenn ferner alles, Tier und Mensch, die Lust be-gehrt, so ist das eine Art von Beweis, daß die Lust ingewissem Sinne das Beste ist:

Nicht wird völlig zunichte das Wort, das imMunde der vielen Massen lebt....

Da aber nicht für alle dieselbe Naturbeschaffenheitnoch dieselbe geistige Haltung die beste ist oder allenals die beste erscheint, so begehren zwar nicht alledieselbe Lust, aber Lust begehren alle. Vielleicht su-chen sie nicht die Lust, die sie zu suchen meinen,noch die, die sie zu suchen bekennen würden, unddoch suchen sie alle dieselbe Lust. Denn alle Wesenhaben von Natur etwas Göttliches.Wenn die sinnli-chen Lustempfindungen den Namen der Lust als ihrbesonderes Eigentum bekommen haben, so ist derGrund der, daß die Menschen so häufig ihnen zusteu-ern und alle an ihnen teilhaben. Weil sie mithin dieeinzigen sind, die die Menschen kennen, halten sie siefür die einzigen, die existieren.

Offenbar folgt aber auch das, daß wenn Lustgefühlund Tätigkeit kein Gut ist, das Leben der Glückseli-gen nicht ein Zustand der Freude sein könnte. Dennwozu bedürfte er ihrer, wenn sie doch kein Gut ist,und es möglich ist, daß er geradezu im Zustand desSchmerzes lebte? Gilt es von der Freude, daß sie

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weder ein Übel noch ein Gut ist, so gilt es auch vomSchmerz. Warum sollte er ihn also meiden? Es wäremithin das Leben des Edelgesinnten gegenüber demdes Niedriggesinnten auch nicht das an Freuden rei-chere, wenn nicht auch seine Tätigkeiten die be-glückenderen wären.

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3. Edle und niedere Gefühle

Wenn man nun behauptet, daß es gewiß Lustgefüh-le gibt, die in hohem Grade begehrenswert sind, wieetwa die edlen, dagegen nicht die sinnlichen, nicht diemit denen sich der Ausschweifende befaßt, so hat mandamit die Aufgabe, den Wert der sinnlichen Genüssegenauer zu untersuchen. Warum sind eigentlich die zudiesen Genüssen im Gegensatz stehenden Unlustge-fühle dann etwas Schlechtes? Den Gegensatz zumSchlechten bildet doch das Gute. Oder sind die fürdas Leben nötigen Lustgefühle schon deshalb etwasGutes, weil auch das was nichts Schlechtes ist, etwasGutes ist? oder sind sie nur bis zu einer gewissenGrenze etwas Gutes? Denn bei den Beschaffenheitenund auch kein Übermaß des Lustgefühls; wo aberjenes Übertreiben möglich ist, Prozessen, bei denenes kein Hinausgehen über das Rechte gibt, gibt es daist es auch für das Lustgefühl möglich. Nun gibt esbei dem was dem Körper gut ist ein Übermaß, und dieniedrige Gesinnung besteht gerade darin, daß mandieses Übermaß und nicht bloß das Notwendige be-gehrt. Denn an Speise, Trank und Geschlechtsgenußhaben irgendwie alle ihre Lust, nur nicht alle im rech-ten Maß. Das Entgegengesetzte gilt vom Schmerz.Der niedrig Gesinnte meidet nicht das Übermaß,

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sondern den Schmerz überhaupt. Denn nicht zumÜbermaß der Lust bildet der Schmerz den Gegensatz,es sei denn für den, der eben diesem Übermaß nach-jagt.

Es ist aber nicht bloß geboten die Wahrheit hinzu-stellen, sondern auch den Grund des Irrtums aufzuzei-gen. Denn das trägt dazu bei, Überzeugung zu bewir-ken. Wenn es verständlich gemacht wird, auf wel-chem Wege das was nicht wahr ist den Schein derWahrheit erlangt, so erreicht man dadurch eher dieÜberzeugung von der Wahrheit. Wir müssen deshalbdie Gründe angeben, weswegen die sinnlichen Lust-gefühle sich als die begehrenswerteren darstellen.

Der erste Grund ist der, daß sie die Unlust austrei-ben. Wird man von Unlust im Übermaß heimgesucht,so sucht man Lustgefühle im Übermaß und sinnlicheLust überhaupt, weil man in ihr ein Heilmittel findet.Heilmittel nun müssen kräftig sein, und deshalb be-gehrt man sie, weil sie ihrem Gegenteil das Gleichge-wicht zu halten scheinen. Dies sind die beiden Grün-de, weshalb die Lust wie bemerkt als etwas nichtEdles erscheint, erstens weil manche Lustempfindun-gen Auswirkungen einer niedrig gearteten Natur sind,seien sie nun angeboren, wie bei den Tieren, oder an-genommen, wie bei niedrig gesinnten Menschen;zweitens weil andere als Heilmittel dienen, also aufeinen Mangel hindeuten, und weil in rechter

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Verfassung sich befinden besser ist als in die rechteVerfassung erst gelangen; ferner weil manche Lust-empfindungen sich einstellen, indem wir zu einem be-friedigenden Zustand zurückkehren, also wertvoll nursind unter besonderen Umständen. Es sind fernerMenschen, die sich an anderen Arten der Lustempfin-dung nicht zu erfreuen vermögen, die ihnen nachja-gen, weil sie besonders intensiv sind. So gibt es Men-schen, die sich ausdrücklich ein Gefühl von Durstnach Genüssen zu verschaffen suchen. Ist solches Ge-fühl unschädlich, so ist dabei nichts Tadelnswertes;aber verwerflich ist es, wenn es schädlich wirkt. Sol-che Leute kennen nichts anderes, was ihnen Freudemacht, und den meisten ist dem Gesetz der Naturgemäß ein solcher Zustand schmerzlich, wo sie wederLust noch Unlust empfinden. Denn was lebt ist immerin Arbeit; behaupten doch die Biologen, daß schondas bloße Sehen und Hören Mühe bereitet, nur daßwir wie sie meinen daran gewöhnt sind. Ähnlich gehtes in der Jugend zu, wo der Mensch infolge desWachstums wie im Rausche sich befindet, und jungzu sein ist an sich schon eine Quelle der Freude. Da-gegen bedürfen heftige Naturen beständig eines Heil-mittels. Ihr Leib ist infolge ihres Temperaments un-ausgesetzt im Zustande der Reizung und beständig inübergroßer Erregung. Ein Lustgefühl nun verdrängtden Schmerz, ein dem Schmerz entgegengesetzes,

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aber auch jedes andere, wenn es nur stark genug ist;infolgedessen greifen die Menschen zu Ausschweifun-gen und nehmen ein niedriges Wesen an.

Lustgefühle ohne vorangegangenen Schmerz lassenein Übermaß nicht zu; sie gehören zu dem, was vonNatur und nicht bloß unter besonderen BedingungenLust bereitet. Unter dem was nur unter besonderenBedingungen Lust bereitet verstehe ich das was alsHeilmittel gegen die Unlust dient. Dergleichen gilt alsQuelle von Lust, weil dadurch unter Mitwirkung des-sen was am Organismus gesund geblieben ist die Hei-lung eintritt. Von Natur eine Quelle der Lust ist dage-gen, was eine Tätigkeit einer solchen gesunden Natur-anlage hervorruft.

Es ist aber nicht immer eins und dasselbe, was unsFreude bereitet; denn unsere Natur ist nicht einfach,und es ist noch ein zweites in uns vorhanden, was derGrund unserer Vergänglichkeit ist. Ist also das eineElement in uns tätig, so läuft es wider die Richtungdes anderen Elements; sind sie aber beide im Gleich-gewicht, so gewährt das Ergebnis weder Lust nochUnlust. Wäre dagegen die Natur eines Wesens ein-fach, so würde diesem eine und dieselbe Betätigungewig die seligste sein. Darum besteht Gottes Seligkeitewig in einer einzigen und einfachen Freude. Denn esgibt eine Betätigung nicht nur in der Bewegung, son-dern auch in der Freiheit von Bewegung, und die

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Seligkeit liegt mehr in der Ruhe als in der Bewegung.Veränderung sagt der Dichter erfreut mehr als alles;das beruht auf einem Fehler in unserer Anlage. Wieein schlechter Mensch die Veränderung liebt, so liebtsie auch die Naturanlage, die der Veränderung bedarf;denn sie ist nicht einfach und auch nicht, wie sie seinsoll. / Wir schließen damit unsere Ausführungen überSelbstbeherrschung und Mangel derselben, über Lustund Unlust. Was jedes derselben ist, in welchemSinne das eine darunter ein Gutes, das andere einSchlechtes ist, haben wir dargelegt. Im folgendenbleibt uns noch über die Gemeinschaften der Men-schen zu handeln.

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III. TeilDie menschlichen Gemeinschaften

1. Die Bestimmung des Menschen zurGemeinschaft

An das bisher Ausgeführte wird sich passend dieBetrachtung der menschlichen Gemeinschaften an-schließen. Das Band, das die Menschen verbindet istselber etwas Sittliches oder es erscheint doch im Ge-folge der Sittlichkeit, und überdies gehört es zu denschlechthin unentbehrlichen Bedingungen desmenschlichen Lebens. Niemand möchte sich, auchwenn er alle übrigen Güter sein nennte, zu leben wün-schen ohne die liebevolle Teilnahme anderer. Ja, mandarf sagen, daß gerade für diejenigen, die Reichtum,Herrschaft und Macht besitzen, das Bedürfnis solcherliebevollen Beziehungen zu anderen sich am dring-lichsten erweist. Denn was hätten sie von ihrem gan-zen Glückszustande, wenn sie nicht vermittels dessel-ben die Möglichkeit hätten, anderen Freude zu berei-ten? Dies aber ist solchen gegenüber, zu denen man infreundschaftlichen Beziehungen steht, am meisten amPlatze und am verdienstlichsten. Oder wie ließe sichdas Glück bewahren und aufrecht erhalten ohne diewohlwollende Gesinnung anderer? Ist es doch, je

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größer es ist, auch desto mehr gefährdet. In Armutund sonstigem Mißgeschick aber hält man sich an dieFreunde als an die einzige Zuflucht. Jungen Leuten er-wächst aus der Freundschaft Bewahrung vor Verfeh-lungen, älteren Leuten Hilfe und Pflege und Ersatz fürdas, was sie aus Mangel an Kräften selbst nicht mehrzu leisten vermögen, den auf des Lebens Höhe Ste-henden Förderung bei jedem edlen Vornehmen. »Zweiauf dem Marsche vereint«, [heißt's bei Homer]; da-durch wird das Vermögen zu Rat und Tat gesteigert.

Sympathische Zuneigung findet man als natürlicheEmpfindung bei dem Erzeuger dem Erzeugten, wiebei dem Erzeugten dem Erzeuger gegenüber, und dasnicht bloß bei Menschen, sondern auch bei Tieren,wie bei den Vögeln und der Mehrzahl der Säugetiere;man begegnet ihr bei Wesen, die gleicher Abstam-mung sind, und so am meisten bei den Menschen.Darum gilt es als ein Lob, für die Menschen Sympa-thie zu hegen. Wo einer in der Fremde weilt, da kannman recht erkennen, wie jeder schon als Mensch demMenschen nahe steht und ihm empfohlen ist. DasBand welches die Sympathie stiftet, hält augenschein-lich auch die staatliche Gemeinschaft im Gange, unddie Gesetzgeber legen auf dasselbe größeren Wert alsselbst auf die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht, diezu erhalten ihr dringendstes Anliegen ist, steht zu denGefühlen der Sympathie in enger Verwandtschaft, und

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die Zwietracht, die auf Gefühlen der Abneigung be-ruht, suchen sie so weit wie möglich fern zu halten.Wo das Gefühl des Wohlwollens herrscht, da brauchtman nicht die Gerechtigkeit anzurufen; dagegen woder Sinn für das Recht vorhanden ist, da bedarf esimmer noch der wohlwollenden Gesinnung, und dieGerechtigkeit im höchsten Sinne erscheint geradezuals Frucht wohlwollender Triebe. Aber nicht bloß alsunentbehrliche Bedingung hat solches Wohlwollenseine Bedeutung; es ist auch sittlich wertvoll. Wirschätzen diejenigen hoch, die Liebe mit Liebe erwi-dern, und vielen wohlwollend gesinnt zu sein, gilt alseine der edlen Eigenschaften des Menschen. Überdiesherrscht die Überzeugung, daß eben dieselben, diesonst brave Männer sind, auch einander befreundetsind.

Es ist nun die Zahl von Fragen nicht gering, dieden hier berührten Gegenstand betreffen und zu einerVerschiedenheit der Ansichten Anlaß geben. Dieeinen führen das Gefühl der Zuneigung auf Gleichheitdes Wesens zurück und meinen, Freunde seien solche,die einander von Wesen gleichen; daher das Wort:»Gleich zu gleich«, oder »Eine Krähe zur anderenKrähe«, und was dergleichen mehr ist. Andere sagenim Gegenteil, die Menschen verhielten sich sämtlichso zueinander, wie ein Kunstgewerbler zum andern,und suchen die Erklärung dafür in allgemeineren

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Beziehungen, auch in Erscheinungen der äußerenNatur. So sagt Euripides: »Es liebt das Land denRegen«, das ausgedörrte nämlich, und »Es liebt derhehre Himmel, wenn er regenschwer, zur Erde sich zusenken« und Heraklit spricht vom »Widerstrebenden,das zusammenhält«; er meint, aus der Verschiedenheitergebe sich die schönste Harmonie, und alles erzeugesich auf dem Wege des Streites. In den Gegensatz zudiesen stellt sich mit anderen auch Empedokles, nachdem das Gleiche dem Gleichen zustrebt. Wir nunwollen diese aus der Natur entnommenen Gleichnissefür die zu lösenden Fragen lieber beiseite lassen; / siesind für das Gebiet unserer gegenwärtigen Untersu-chung doch zu wenig bezeichnend; / und richten unse-re Aufmerksamkeit vielmehr auf das, was den Men-schen angeht, was seinen Charakter und seine Ge-fühlsweise betrifft. Dahin gehört die Frage, ob Gefüh-le der Sympathie unter allen bestehen können, oder obes nicht vielmehr bei schlechten Menschen unmöglichist, daß sie für einander Zuneigung empfinden; fernerdie Frage, ob es nur eine Art von freundschaftlicherVerbindung gibt oder mehrere. Diejenigen, welchenur eine Art annehmen, aus dem Grunde, weil sie jaein Mehr oder Minder zulasse, stützen ihre Ansichtauf ein Kennzeichen, das man keineswegs als triftiganzuerkennen braucht. Denn ein Mehr oder Minderkommt auch da vor, wo sicher eine Verschiedenheit

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von Arten vorhanden ist. Wir haben darüber an ande-rer Stelle gehandelt.

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2. Arten der Verbindung zwischen denMenschen

a) Gründe der Befreundung

Die Frage kann leicht zum Austrag gebracht wer-den, wenn man sich nur erst über das klar gewordenist, was für Menschen Gegenstand der Liebe zu wer-den vermag. Man darf doch wohl sagen, daß nichtjegliches sich Liebe gewinnt, sondern nur das, wasdazu geeignet ist, und dazu wird erfordert, daß es gut,angenehm oder nützlich sei. Nun kann man nützlichnennen, woraus uns ein Gutes oder eine angenehmeEmpfindung zufließt; demnach wäre in letzter InstanzGegenstand der Zuneigung das Gute und das Ange-nehme.

Gilt nun die Liebe der Menschen dem was gut ist,oder gilt sie dem, was für sie gut ist? Dies beides fälltdoch bisweilen auseinander. Und ebenso steht es mitdem Angenehmen. Es scheint doch, daß jeder liebt,was ihm gut ist, und danach wäre Gegenstand derLiebe schlechthin das Gute, für den einzelnen aberdas, was für ihn gut ist. Nun liebt aber der einzelnenicht, was für ihn gut ist, sondern was ihm das für ihnGute zu sein scheint. Indessen, darauf kommt es hiernicht an; es bestimmt sich nur danach der Gegenstand

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der Liebe als das was gut zu sein scheint. Währendnun die drei Gründe der Zuneigung auch leblosenDingen gegenüber gelten, so gebraucht man den Aus-druck Liebe doch nicht von der Neigung zu diesen.Denn hier gibt es keine Erwiderung der Neigung; hierhat auch der Wille, dem Gegenstande Gutes zu erwei-sen, keinen Platz. Es wäre doch eine lächerliche Vor-stellung, dem Weine etwas Gutes antun zu wollen;höchstens will man ihn doch nur aufbewahren, um ihnzur Verfügung zu haben. Dagegen heißt es, daß mandem, dem man freundlich gesinnt ist, alles Gute wün-schen muß um seiner selbst willen. Diejenigen, die indieser Weise anderen Gutes wünschen, nennt manwohlwollend, wenn ihnen von jenen nicht das gleichezuteil wird; denn ist das Wohlwollen gegenseitig, sonimmt es den Namen der Freundschaft an. Oder mußman noch das weitere hinzufügen, daß die Gesinnungdes anderen auch den beiden nicht unbekannt bleibendarf? Denn es kommt vor, daß man Wohlwollen fürsolche hegt, die man nie gesehen hat, die man aber fürehrenhafte oder für wertvolle Persönlichkeiten hält,und es kann auch das vorkommen, daß einer von die-sen ganz dieselbe Gesinnung jenem gegenüber hegt,so daß augenscheinlich zwischen ihnen gegenseitigesWohlwollen herrscht. Gleichwohl dürfte man diejeni-gen als befreundet bezeichnen, die von diesem ihremgegenseitigen Verhältnis doch nichts wissen? Wenn

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es also doch erforderlich ist, daß sie einander auseinem der oben angegebenen Gründe wohlgesinntseien und sich alles Gute wünschen, so gehört dazuauch dies, daß ihnen diese gegenseitige Gesinnungnicht verborgen bleibe.

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b) Unterschiede in denBefreundungsverhältnissen

Wie nun die Gründe der Zuneigung der Art nachverschieden sind, so sind es infolgedessen die Zunei-gung und die Freundschaft selbst. Es gibt demnachdrei Arten der Befreundung, ebenso viele wie Artenihrer Gründe. Für jede dieser Arten gilt es, daß eineErwiderung stattfindet, die nicht verborgen bleibt,und daß diejenigen, die einander befreundet sind, ein-ander alles Gute wünschen, und zwar Gutes in demSinne der Gründe, die die Befreundung bewirken.Diejenigen, bei denen die freundschaftliche Verbin-dung durch den Vorteil gestiftet ist, hegen solchefreundliche Gesinnung nicht um der Persönlichkeitwillen, sondern um des Guten willen, das ihnen wech-selseitig vom anderen zufließt. Das gleiche gilt vondenen, deren Zuneigung in dem Streben nach An-nehmlichkeit wurzelt. So liebt man die guten Gesell-schafter nicht um ihrer Persönlichkeit willen, sondernwegen des Vergnügens, das sie bereiten. Diejenigen,deren Zuneigung ihren Grund im Vorteil findet, liebenden anderen um des eigenen Vorteils willen, und die-jenigen, bei denen sie auf der Aussicht auf Annehm-lichkeit beruht, lieben ihn um ihres Vergnügens wil-len, also nicht weil der, dem sie ihre Neigung

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zuwenden, diese Person ist, sondern sofern er Vorteiloder Vergnügen gewährt. Solche Zuneigung alsogründet sich auf Nebenrücksichten. Nicht deswegen,weil er ist der er ist, wird derjenige dem man seineNeigung zuwendet zum Gegenstande der Neigung,sondern weil er in einem Falle Vorteil, im anderenFalle Vergnügen bereitet.

Solche Verhältnisse sind denn auch leicht lösbar,wenn die Menschen nicht die gleichen bleiben. Berei-ten sie kein Vergnügen oder keinen Vorteil mehr, soerlischt die Zuneigung zu ihnen. Vorteil aber erhältsich nicht dauernd, sondern ist zu verschiedenen Zei-ten verschieden. Schwindet nun der Grund, aus demman befreundet war, so schwindet auch die freund-schaftliche Gesinnung, weil sie durch jenen bedingtwar. Solche Freundschaftsverhältnisse kommen ammeisten bei Leuten im höheren Lebensalter vor, /denn diese sind nicht auf das Vergnügen, sondern aufden Vorteil gerichtet, / unter den Leuten in den bestenJahren aber und unter den Jünglingen findet man sie,wo die Rücksicht auf das Nützliche vorwaltet. In sol-chen Verhältnissen pflegen denn auch die Leute keineLebensgemeinschaft miteinander; in vielen Fällen istihnen der Umgang nicht einmal angenehm; sie emp-finden also auch kein Bedürfnis nach solchem Um-gang, außer sofern jene sich hilfreich erweisen. Dennnur soweit sind sie willkommen, als sie die Aussicht

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auf einen Vorteil gewähren. Auf gleiche Linie stelltman dann auch das gastfreundliche Verhältnis zuAuswärtigen.

Dagegen beruht bei jungen Leuten die Zuneigungauf dem Triebe zu dem was ihnen Vergnügen bereitet.Denn die Jugend lebt ihren Gefühlen nach und hat ammeisten im Auge was vergnüglich ist und was der Au-genblick bietet. Nimmt die Zahl der Jahre zu, so an-dern sich auch die Dinge, an denen man Vergnügenfindet. Deshalb wird in der Jugend Freundschaftschnell geschlossen und auch schnell wieder gelöst;denn die Freundschaft schwindet wie die Freude, unddie Veränderung in dem was Freude macht gehtschnell vonstatten. Junge Leute sind ferner zu sinnli-cher Liebe geneigt; sinnliche Liebe aber ist meisten-teils leidenschaftlicher Art, und ihr Streben geht aufLust. So verliebt man sich denn schnell und hört auchschnell wieder auf, zuweilen so, daß man noch andemselben Tage in seiner Liebe wechselt. Verliebteaber möchten mit dem Gegenstand ihrer Neigung amliebsten den ganzen Tag zusammen sein und gemein-sam leben; denn das ist der besondere Charakter, denbei ihnen das Verhältnis der Zuneigung annimmt.

Die vollkommenste Zuneigung aber ist die, dieMenschen von edler Art und gleicher sittlicher Gesin-nung verbindet. Diese wünschen einander als Men-schen von edler Gesinnung gleichmäßig alles Gute,

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und von edler Gesinnung zu sein macht ihr Wesenaus. Das aber bezeichnet die innigste Freundschaft,den Freunden alles Gute zu wünschen rein um ihrerselbst willen; denn da gilt die Zuneigung der Persön-lichkeit selbst abgesehen von Nebenrücksichten. Zwi-schen ihnen bleibt darum die Freundschaft bestehen,solange sie edel gesinnt sind; sittliche Gesinnung aberist beständig. Da ist jeder von beiden edel an und fürsich und edel gegen den Freund; denn edle Menschen,solche, die edel sind von Wesen, sind auch einanderhilfreich, und im selben Maße sind sie einander lieb.Edle Menschen sind an und für sich ein Gegenstanddes Wohlgefallens und sind es gegenseitig für einan-der. Denn jeder Mensch hat Freude an seiner eigenenArt zu handeln und an einer die ihr gleicht; edel Ge-sinnte aber haben dieselbe oder eine ähnliche Art zuhandeln. Es ist wohl verständlich, daß Freundschaftvon dieser Art beständig ist; trifft doch bei ihr alleszusammen, was bei eng verbundenen Gemütern vor-handen sein soll. Alle Freundschaft hat zum Ziele einGut oder ein Gefühl der Befriedigung, entwederschlechthin oder für den Befreundeten, und das imSinne einer gewissen Verwandtschaft des Wesens.Hier ist alles Genannte im Wesen der Persönlichkei-ten bei einander; hier sind sie einander wesensver-wandt und was sonst noch dazu gehört, und das Guteschlechthin ist auch das was schlechthin Befriedigung

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gewährt. Dies aber ist das Liebenswerteste, und sowaltet denn zwischen solchen Menschen das Band derZuneigung und Freundschaft am meisten und am in-nigsten. Natürlich finden sich solche Freundschaftenselten, denn Menschen von dieser Art gibt es wenige.Es bedarf dafür ferner der Zeit und der Gewohnheitdes Zusammenlebens; denn dem Sprichwort zufolgelernt man einander nicht eher kennen, als bis man dasbekannte Maß Salz zusammen verzehrt hat. Mankann nicht früher Gefallen an einander finden oder be-freundet sein, bevor jeder vom Werte des andern völ-lig überzeugt ist und sein volles Vertrauen erlangthat. Diejenigen, die schnell ein freundschaftlichesVerhältnis zueinander eingehen, möchten gern Freun-de sein; sie sind es aber nicht, wenn sie nicht zugleichliebenswert sind und dies auch einer vom andern wis-sen. Denn der Wunsch, Freundschaft zu schließen,stellt sich schnell ein, die Freundschaft nicht.

Dies also ist die Freundschaft, die in bezug auf dieZeitdauer wie in allen anderen Beziehungen die voll-kommenste ist; hier empfängt jeder vom anderen injedem Sinne dasselbe und das gleiche, so wie es zwi-schen Freunden sein soll. Die Freundschaft, die An-nehmlichkeit und Vergnügen zum Ziele hat, hat Ähn-lichkeit mit dieser; denn Freude machen einander auchdie Edelgesinnten. Das gleiche gilt von der Freund-schaft, die der Vorteil stiftet; denn auch Vorteil

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gewähren einander die edlen Menschen. Auch dauer-haft sind Freundschaftsverhältnisse von dieser Art,wenn beide Teile sich gegenseitig dasselbe, etwa Ver-gnügen, gewähren, und nicht bloß dasselbe, sondernauch aus derselben Quelle, wie es z.B. in der Freund-schaft zwischen unterhaltenden Leuten der Fall ist,nicht dagegen in der Zuneigung zwischen Liebhaberund Geliebtem. Denn diese letzteren haben ihre Freu-de nicht an demselben; sondern der eine hat sie amAnblick des andern, dieser aber an den ihm vom Lieb-haber erwiesenen Aufmerksamkeiten. Hört nun dieJugend auf, so hört in manchen Fällen auch das Bandder Neigung auf; dem einen macht der Anblick keineFreude mehr, dem andern werden keine Freundlich-keiten mehr erwiesen. Dagegen dauern auch wiedermanche solche Verhältnisse fort, wenn man am ande-ren infolge der Gewohnheit des Zusammenlebensseine ganze Gemütsverfassung auf Grund der Charak-tergleichheit lieb gewonnen hat. Ist aber, was man inLiebesverhältnissen austauscht, nicht Befriedigungdes Gefühls, sondern Vorteil, so ist die Zuneigungweniger eng und dauerhaft. Freundschaftsbande, dieder Vorteil knüpft, lösen sich zugleich mit dem Vor-teil; denn befreundet war man ja nicht der Person,sondern dem Nutzen, den sie gewährte.

Um sinnlicher Befriedigung und um des Vorteilswillen können auch geringwertige Menschen

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miteinander befreundet sein, ebenso treffliche mit ge-ringwertigen, und solche, die keines von beiden sindmit Menschen von beliebiger Beschaffenheit; dagegensind offenbar bloß die edlen Naturen schon durch ihrePersönlichkeit Freunde. Denn schlechte Menschenhaben aneinander keine Freude, wo nicht ein Nutzendabei herauskommt. Auch gegen Klatsch und Verhet-zung ist nur die Freundschaft zwischen Edelgesinntengeschützt; denn nicht leicht glaubt man irgendeinemdritten, wo man selbst in langer Zeit jemand bewährtgefunden hat. Bei ihnen herrscht das gegenseitigeVertrauen, die Gewißheit, daß keiner dem andern Un-recht tun wird, und alles sonst, was als Kennzeichenwahrer Freundschaft gewürdigt wird. Dagegen hindertin anderen Freundschaftsverhältnissen nichts, daß sieauf diesem Wege auseinander gebracht werden. Dennwenn die Menschen von Freundschaft auch da reden,wo es nur den Vorteil gilt, wie bei den Staaten, / denndie Bündnisse zwischen Staaten werden augenschein-lich nur um des Vorteils willen geschlossen, / und da,wo man sich um des Vergnügens willen gern hat, wiedie Kinder, so werden dementsprechend auch wir vonFreundschaft in solchen Verhältnissen sprechen dür-fen und dann mehrere Arten von Freundschaft anneh-men müssen. In erster Reihe und in eigentlichemSinne werden wir Freundschaft nennen diejenige, diezwischen Edelgesinnten als solchen besteht, und nur

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in analogem Sinne werden wir auch die anderen Ver-hältnisse mit diesem Namen bezeichnen. Freundschaftbesteht bei diesen nur, sofern es sich dabei um einGut und etwas einem Gute Ähnliches handelt; giltdoch auch sinnliche Befriedigung bei denen, derenNeigung auf sie gerichtet ist, als ein Gut. Indessendies beides kommt nicht leicht zusammen vor; es be-freunden sich nicht dieselben Menschen zugleich umdes Vorteils und der sinnlichen Befriedigung willen.Denn was nur zufälliger Nebenerfolg ist, findet sichnicht häufig zusammen ein.

Sind nun dies die Arten, in die das Freundschafts-verhältnis zerfällt, so wird den Grund der Befreun-dung zwischen geringwertigen Menschen die Aussichtauf das Angenehme oder auf den Vorteil bilden, da siein dem Streben danach einander verwandt sind; edleMenschen aber werden schon durch ihre Persönlich-keit Freunde sein, einfach auf Grund ihrer edlen Ge-sinnung. Die letzteren sind demnach Freunde an undfür sich, jene sind es nur beiläufig, und das Verhältniszwischen ihnen zeigt zu jenem nur eine Analogie.

Wie man nun auf Grund ihrer sittlichen Beschaf-fenheit bei den einen vom Adel des Wesens, bei denanderen von rühmlicher Wirksamkeit spricht, so ge-schieht es auch auf Grund des Freundschaftsverhält-nisses. Die einen genießen das Glück des Zusammen-lebens und tun sich gegenseitig alles Gute an; die

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andern mögen im Schlaf oder bei räumlicher Tren-nung nicht füreinander tätig sein: sie sind doch gegen-einander so gesinnt, daß sie sich im Sinne der Freund-schaft zu betätigen herzlich gern bereit wären. Räum-liche Entfernung steht also nicht der Freundesgesin-nung an und für sich, sondern nur ihrer Betätigung imWege. Dauert die Entfernung längere Zeit, so siehtman allerdings wohl eine Abschwächung der Freund-schaftsgesinnung eintreten. Darum heißt es:

»Freundschaft lockert sich oft, wo Austauschfehlt des Gespräches.«

Es läßt sich ferner beobachten, daß weder Leute inhöheren Jahren noch verdrießliche Leute zur Freund-schaft geneigt sind. Denn das Interesse am Angeneh-men kommt bei ihnen zu kurz, und niemand bringt esfertig, immerfort mit solchem zu leben was Verdrußoder was auch nur kein Vergnügen bereitet. Denn dieNatur treibt augenscheinlich dazu, zu meiden, wasVerdruß, und zu begehren, was Vergnügen macht.Das Verhältnis zwischen Leuten, die aneinander einWohlgefallen haben, aber nicht zusammenleben, trägtmehr die Züge des Wohlwollens als die der Freund-schaft. Denn nichts ist Freunden so eigen, als mitein-ander zu leben. Beistand begehren diejenigen, die des-sen bedürftig sind, Beisammensein auch die, die mit

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allem versehen sind. Vereinsamt zu sein, sagt geradeden letzteren am wenigsten zu. Man kann aber nichtTag für Tag zusammen sein, wenn einer dem anderenkein Vergnügen macht und beide nicht an denselbenDingen ihre Freude haben; denn dies bildet denGrundzug aller kameradschaftlichen Gemeinschaft.

Freundschaft im höchsten Sinne ist also, wie wirwiederholt gesagt haben, die zwischen Edelgesinnten.Denn Gegenstand der Liebe und des Begehrens istdas, was an und für sich, und für den einzelnen das,was für ihn gut und erfreulich ist; für den Edelgesinn-ten ist es aus beiden Gründen der Edelgesinnte. Diepersönliche Zuneigung trägt zunächst den Charakterdes Gefühls, die Freundschaft den einer befestigtenGesinnung. Denn Neigung empfindet man ebensosehrfür leblose Dinge; dagegen ist Erwiderung der Nei-gung Sache des Willens, und der Wille stammt ausbefestigter Gesinnung. Denen, die man liebt, wünschtman alles Gute um ihrer selbst willen, nicht aus einembloßen Gefühle, sondern aus einer Gesinnung heraus,und wer den Freund liebt, liebt, was für ihn selbst einGut ist; denn der Edle, den man zum Freunde gewon-nen hat, wird ein Gut für den, dessen Freund er ist. Soliebt denn jeder von beiden das, was für ihn ein Gutist, und vergilt gleiches mit gleichem durch denWunsch, den er hegt, wie durch das Glück, das er be-reitet. Freundschaft bezeichnet man als Gleichheit,

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und dies gilt am meisten von der Freundschaft zwi-schen Edelgesinnten.

Bei verdrießlichen und bei bejahrten Leuten kom-men Freundschaftsverhältnisse desto weniger zustan-de, je übler ihre Laune ist und je weniger sie Freudeam Umgang mit anderen haben. Denn solche Freudeam Umgang ist freundschaftlicher Verbindung ammeisten förderlich und geeignet, solche Verbindungzu stiften. Daher kommt es, daß junge Leute sichschnell befreunden, bejahrte Leute nicht; denn manschließt nicht Freundschaft mit solchen, an denen mankeine Freude hat. Das gleiche gilt von den verdrießli-chen Leuten; doch können solche ganz gut für einan-der Wohlwollen hegen. Sie wünschen einander Gutesund leisten Beistand wo es nottut; aber Freunde sindsie doch nicht eigentlich, weil sie weder dauernd zu-sammenleben, noch aneinander Freude haben, was fürdie Freundschaft das dringendste Erfordernis ist.

Mit vielen Freundschaft zu pflegen im Sinne dervollkommensten Freundschaft geht nicht wohl an, wieman ja auch nicht zu vielen zugleich in einem Liebes-verhältnis stehen kann; denn solche Freundschaft hatdie Art eines höchsten Grades, und dergleichen kanneigentlich nur einem gegenüber statt haben. Anderer-seits ist es nicht leicht der Fall, daß einem mehrerezugleich in hohem Grade lieb sind, und es ist auchdas nicht leicht, vielen Edlen zu begegnen. Man muß

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überdies Erfahrung haben und in langem Umgangebeisammen sein, und das ist sehr schwierig. Dagegenist es, wo es bloß Vergnügen und Vorteil gilt, wohlmöglich, vielen zu gefallen. Denn Leute, die derglei-chen gewähren, kommen häufiger vor, und diese Artvon Leistungen bedarf auch nicht langer Zeit. Unterdiesen beiden Verhältnissen nun hat dasjenige, das inder Aussicht auf Vergnügen wurzelt, zur Freundschaftgrößere Verwandtschaft, falls beide Teile einanderwechselseitig das gleiche Vergnügen bereiten und esauch dieselben Dinge sind, durch die sie einanderFreude machen.

Von dieser Art sind die Jugendfreundschaften. Beiihnen kommt mehr eine ideale Gesinnung zum Aus-druck; Freundschaft, die der Vorteil stiftet, zeugt da-gegen von Krämersinn. Wohlversehene Leute habenkein Bedürfnis nach solchen, die Vorteil, sondernnach solchen, die Vergnügen verheißen. Denn siewünschen sich Gesellschaft; aber was verdrießlichstimmt, erträgt man wohl einige Zeit; auf die Dauerdagegen hält das kein Mensch aus, und wenn es auchdie Idee des Guten selber wäre, die einen ärgert.Darum suchen sie sich lieber Freunde, die ihnen ange-nehme Empfindungen erwecken. Solche müssen na-türlich mit dieser Eigenschaft auch eine edle Gesin-nung verbinden und sich ihnen so bewähren; so erstwerden sie alle Eigenschaften haben, die man bei

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Freunden sucht.Leute in Macht- und Herrscherstellung sieht man

zwischen Freunden und Freunden unterscheiden. Dieeinen sind ihnen brauchbar, die andere Klasse dientihnen zur Unterhaltung; daß beides zusammenfällt,kommt nicht leicht vor. Sie suchen nach Leuten zuihrer Ergetzung, / diese aber brauchen nicht solchevon sittlicher Gesinnung zu sein, / und nach brauch-baren Leuten, / diese aber müssen nicht gerade zuedlen Zwecken dienen; sondern insofern sie es auf Er-getzung absehen, suchen sie unterhaltende geistreicheLeute, und andererseits solche, die gewandt sind, einaufgetragenes Geschäft auszuführen; dies beides abertrifft nicht leicht in derselben Persönlichkeit zusam-men.

Freude und Vorteil zugleich, haben wir gesagt, ge-währt ein Mensch von ernstem sittlichen Charakter.Leider nur gewinnt sich der Mensch in überragenderStellung solche Leute nicht zu Freunden, wenn er sienicht auch in sittlicher Gesinnung überragt. Ist dasnicht der Fall, so ist zwischen dem Mann von edlerGesinnung und dem Manne von überragender Machtkeine Gleichheit hergestellt; denn dazu müßte dasÜbergewicht an Macht dem Übergewicht an edlen Ei-genschaften entsprechen. Es ist aber nicht gerade dieRegel, daß Machthaber solche Charakterzüge an sichtragen.

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Die Freundschaftsverhältnisse, von denen wir bis-her gesprochen haben, beruhen auf Gleichheit. BeideTeile leisten und wünschen einander eins und dassel-be, oder sie tauschen miteinander das eine für das an-dere aus, etwa gewahrtes Vergnügen gegen empfange-nen Vorteil. Daß diese letzteren Arten der Befreun-dung weniger eng und dauerhaft sind, haben wir be-reits dargelegt. Man darf sagen: wegen der Ähnlich-keit und der Unähnlichkeit, die sie mit der wahrenFreundschaft haben, sind sie einerseits Freundschafts-verhältnisse, und andererseits sind sie es wieder nicht.Auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit der auf sittlicher Ge-sinnung beruhenden Freundschaft stellen sie sich alsFreundschaftsverhältnisse dar; das eine Mal gewährensie Ergetzung, das andere Mal Vorteil, wie ja beidesauch bei jener der Fall ist. Dadurch aber daß die eineArt nicht durch Verhetzung trennbar und daß sie dau-erhaft ist, diese letzteren aber schnell vergehen, undauch sonst durch eine Menge von Unterschieden, zei-gen sie, daß sie doch keine rechten Freundschaftsver-hältnisse sind, und zwar um der Unähnlichkeit willen,die zwischen ihnen und jenen obwaltet.

Nun gibt es aber weiter eine zweite Art von Ver-hältnissen der Befreundung, die sich durch die Über-legenheit des einen Teils über den anderen kennzeich-net; das ist der Fall zwischen Vater und Sohn undüberhaupt zwischen dem Älteren und Jüngeren,

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zwischen Mann und Weib, und allgemein zwischendem Herrschenden und dem Untergebenen. Auch indiesen Verhältnissen muß man aber noch weiter un-terscheiden.

Es ist nicht dasselbe Verhältnis, das zwischen El-tern und Kindern, und das zwischen Herrschendenund Untergebenen; aber es ist auch das Verhältnisvom Vater zum Sohn nicht dasselbe wie das des Soh-nes zum Vater, das Verhältnis des Mannes zumWeibe nicht dasselbe wie das des Weibes zumManne. Denn bei jeder von dieser Persönlichkeiten istdie sittliche Beschaffenheit und Aufgabe eine andere,und eine andere auch der Grund der Zuneigung, unddanach gestalten sich denn auch die Gefühle der Zu-neigung und das Band zwischen ihnen anders. Esempfängt daher nicht jeder vom andern dasselbe, nochdarf er es verlangen. Wenn die Kinder den Eltern er-weisen was den Erzeugern gebührt, und die Eltern denKindern was den Kindern gebührt, so ist die Zunei-gung in diesem Verhältnis dauerhaft und rechtschaf-fen. Ähnlich muß sich auch in allen Verhältnissen derBefreundung, die auf der Überlegenheit des einenTeils beruhen, das Gefühl der Zuneigung gestalten.So muß der höher Stehende mehr Freundlichkeit emp-fangen als gewähren; das gleiche gilt für den der dengrößeren Beistand gewährt, und ebenso für jeden, derirgendwie der Überlegene ist. Wo nämlich das Gefühl

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der Zuneigung sich nach der Würdigkeit richtet, dastellt sich gewissermaßen eine Gleichheit her, und indieser erblickt man allgemein den Grundzug der Be-freundung.

Indessen, unter Gleichheit ist offenbar in Rechts-verhältnissen nicht ganz dasselbe zu verstehen wie inFreundschaftsverhältnissen. In Rechtsverhältnissenbedeutet das gleiche in erster Linie das was nach derWürdigkeit bemessen ist, und erst in zweiter Linieeinfache Gleichheit der Größe nach; im Freund-schaftsverhältnis steht umgekehrt das der Größe nachgleiche voran, und die Abmessung nach der Würdig-keit kommt erst in zweiter Reihe. Das tritt klar her-vor, wenn der Abstand in sittlichem oder unsittlichemCharakter, in Wohlstand oder sonst etwas anderembeträchtlich wird. Dann sind die so Verschiedenen garnicht mehr Freunde, noch verlangen sie es zu sein.Am augenscheinlichsten wird dies den Göttern gegen-über; denn diese sind durch jede Art von Gütern überallen Vergleich erhaben. Man sieht es aber auch beiden Königen; denn Menschen, die in weit geringererStellung sind, lassen gar nicht den Gedanken in sichaufkommen, ihre Freunde sein zu wollen, ebensowe-nig wie die ihres Unwertes sich Bewußten daran den-ken, Freunde der Edelsten und geistig Höchststehen-den zu werden. Es gibt für diese Dinge keine exakteGrenze, bis an die noch von Freunden geredet werden

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kann. Man kann auf der einen Seite viel abziehen, undes kann immer noch Freundschaft bestehen; nichtaber, wenn die Kluft allzuweit wird, wie die zwischenMensch und Gott. Daher das Bedenken, ob wohlFreunde den Freunden wirklich die größten Gütergönnen, z.B. das, Götter zu sein. Denn dann würdensie selbst nicht mehr ihre Freunde sein, also auchnicht mehr für sie einen wertvollen Besitz bedeuten;denn Freunde sind ein wertvoller Besitz. Ist nun derSatz richtig, daß der Freund dem Freunde alles Guteum seiner selbst willen wünscht, so wäre demnach er-forderlich, daß dieser bleibe was er ist, und ihm alsMenschen wird der Freund die größten Güter wün-schen. Allerdings nicht alle; denn jeder Menschwünscht an erster Stelle alles Gute sich selbst.

Wenn die meisten Menschen wünschen, Beweisefreundlicher Gesinnung mehr entgegenzunehmen alssolche zu gewähren, so nimmt man an, daß es Ehr-sucht ist, was sie dazu treibt. Darum haben die mei-sten die Schmeichler gern. Denn der Schmeichler istein gutmeinender Mensch, der sich unterordnet, oderer gibt sich wenigstens so, und nimmt die Miene an,als ob er mehr Freundlichkeit zu erweisen als zu emp-fangen wünschte. Solche Beweise von Zuneigung zuempfangen macht beinahe denselben Eindruck, wieBeweise der Ehrerbietung zu empfangen, und das istes gerade worauf die meisten sich spitzen. Indessen

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möchte man annehmen, als strebten die Menschennach solcher Ehre nicht um dieser selbst, sondern umdessen willen was daran hängt. Wenn die meistendurch Auszeichnung, die ihnen von den Mächtigenwiderfährt, beglückt sind, so ist der Grund die da-durch eröffnete Aussicht; sie meinen nämlich durchjene erlangen zu können was ihnen not tut, und freuensich an der Auszeichnung als an einem Vorzeichenkünftigen Wohlergehens. Diejenigen aber, die voncharaktervollen und durch Geist hervorragenden Män-nern ausgezeichnet zu werden wünschen, sind von derBegierde beseelt, die eigene Meinung die sie von sichhegen durch jene sichergestellt zu sehen. Sie erwär-men sich also an dem Gedanken, Männer von Ver-dienst zu sein und sich auf das Urteil derjenigen diesie dafür erklären stützen zu können. Dagegen Bewei-se von freundlicher Gesinnung zu empfangen machtan und für sich Freude. Deshalb sollte man diese fürwertvoller halten als erfahrene Auszeichnung, undfreundschaftliche Zuneigung sollte um ihrer selbstwillen für begehrenswert gelten.

Eigentlich aber liegt der Wert derselben doch mehrin der Liebe die man erweist, als in der die man er-fährt. Einen Beweis dafür liefert das Mutterglück;dies besteht im Erweisen von Liebe. Es kommt vor,daß Mütter ihren Kindern die Nahrung von anderenreichen lassen und sie mit ausdrücklichem

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Bewußtsein lieb haben, ohne Gegenliebe zu verlan-gen, wenn beides nicht zusammen sein kann; sie sindganz zufrieden, wenn sie nur sehen, daß es ihren Kin-dern gut geht, und sie haben sie lieb, auch wenn diese,weil sie ihre Mutter gar nicht kennen, ihr nichts vondem erweisen was einer Mutter zukommt. Ist aber beidem Bande das die Menschen verbindet die Hauptsa-che die Liebe, die man erweist, und gewinnen sichdiejenigen Beifall, die ihren Freunden Liebe erweisen,so darf man Liebeserweis als die Tugend des Freun-des bezeichnen, und die Folge ist, daß wo solcheLiebe in Hinblick auf den hohen Wert der Persönlich-keit erwiesen wird, die Freunde beständig sind undihre Freundschaft festgefügt ist.

Auf diese Weise kann noch am ehesten Freund-schaft ohne Gleichheit bestehen; denn so findet leichteine Ausgleichung statt. Gleichheit und Ähnlichkeitaber macht Freundschaft, und am meisten die Ähn-lichkeit der von sittlichem Streben Erfüllten. Diesebleiben, wie sie an und für sich beständig sind, aucheinander treu; sie bedürfen nicht der Menschen vonniederer Art, noch leisten sie sich gegenseitig bedenk-liche Dienste, sondern eher noch darf man sagen, sieweisen sie ab. Denn das ist die Art edelgesinnter Ge-müter, weder selbst falsche Wege zu gehen, noch esden Freunden zu gestatten. Auf charakterlose Men-schen ist kein Verlaß. Sie bleiben nicht einmal sich

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selber treu und gleichförmig; nur für kurze Zeit be-freunden sie sich, und nur für kurze Zeit ist dem einendie niedrige Gesinnung des andern willkommen.Demgegenüber sind diejenigen, die einander Nutzenoder Unterhaltung gewähren, immer noch beharrli-cher; denn sie halten zusammen, solange sie einanderUnterhaltung oder Vorteil gewähren.

Freundschaft, bei der es sich um den Vorteil han-delt, möchte am ehesten zwischen solchen Menschenzustande kommen, die in entgegengesetzter Lage sichbefinden, so zwischen einem Armen und einem Rei-chen, einem Ungebildeten und einem geistig Hochste-henden. Wer in die Lage gerät, etwas zu bedürfen, dersucht es zu erlangen dadurch, daß er dafür eine Ge-genleistung gewährt. Hierfür darf man auch den Lieb-haber und den Geliebten, den Schönen und den Häßli-chen heranziehen. Liebhaber machen darum bisweileneinen lächerlichen Eindruck, wenn sie verlangen,ebenso heiß geliebt zu werden, wie sie lieben; da wäredoch wohl zu fordern, daß sie auch ebenso liebens-wert seien, und haben sie von dieser Eigenschaftnichts an sich, so wird ihr Verlangen lächerlich. Imallgemeinen gilt der Satz, daß wenn Entgegengesetz-tes einander zustrebt, dies nicht an der Sache selbst,sondern an besonderen Umständen liegt. Das Strebengeht auf das Mittlere zwischen den Gegensätzen; denndieses Mittlere bezeichnet das Gute. So ist es für das

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Dürre gut, nicht daß es naß werde, sondern daß es inden mittleren Zustand gelange, und das gleiche giltauch für das Warme und so fort. Indessen, daraufwollen wir uns hier nicht weiter einlassen; es liegtvon unserm Gegenstande zu weit ab.

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3. Freundschaftsverhältnis und Rechtsverhältnis

a) Allgemein

Wie wir gleich im Anfang bemerkt haben, darf manannehmen, daß es dasselbe Gebiet und dieselben Per-sonen sind, die für das Freundschaftswie für dasRechtsverhältnis in Betracht kommen. Überall woGemeinschaft ist, gibt es auch ein Rechtsverhältnisund ein Verhältnis der Befreundung. Man spricht alsvon seinen Freunden von den Genossen auf einer See-reise und von den Kriegskameraden, und ebenso inanderen Fällen der Gemeinschaft. Soweit wie die Ge-meinschaft reicht, so weit reicht auch die Befreundungund so weit auch das Rechtsverhältnis. So hat dennauch das Sprichwort recht: Freundesgut, gemeinsamesGut; denn in der Gemeinschaft besteht die Freund-schaft. Brüdern und Kameraden ist alles, den andernsind nur bestimmte Dinge gemeinsam, hier mehr, dortweniger, wie auch die Freundschaftsverhältnisse hierenger, dort lockerer sind. Der gleiche Unterschiedzeigt sich auch in den Rechtsverhältnissen. Es istnicht dasselbe Recht im Verhältnis von Eltern zu Kin-dern wie in dem von Brüdern untereinander oder zwi-schen Kameraden oder zwischen Mitbürgern, undebenso verschieden geht es in den anderen Verbänden

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zu. Demgemäß bedeutet denn auch das Unrecht injedem dieser Verhältnisse etwas anderes; es wird umso größer, je enger das Band mit denen ist, gegen diees sich wendet. So ist es schlimmer, einen Kameradenseines Vermögens zu berauben, als einen sonstigenMitbürger, schlimmer, dem eigenen Bruder Hilfe zuversagen, als einem Fremden, den eigenen Vater zumißhandeln, als einen beliebigen anderen Menschen.Andererseits entspricht es der Natur der Sache, daßgleichmäßig mit der Enge der Verbindung auch dasRechtsverhältnis an Stärke zunimmt; handelt es sichdoch um dieselben Personen und erstreckt es sichdoch über dasselbe Gebiet.

Sämtliche Gemeinschaftsverhältnisse sind als Be-standteile der Staatsgemeinschaft dieser untergeord-net. Sie haben zum Inhalt die Gemeinschaft der Arbeitfür einen nützlichen Zweck und der Fürsorge für einesder Lebensbedürfnisse. Ruch die Staatsgemeinschaftselber ist doch wohl bestimmt durch die Rücksichtauf das Nützliche in ihrer Entstehung, wie in ihremFortbestände. Das ergibt das Ziel, das die Gesetzge-bung im Auge hat; gerecht heißt das, was das gemeineWohl fördert. Die anderen Arten der Gemeinschafthaben statt dessen einzelne besondere Nützlichkeitenzum Zweck, so die Genossen einer Seefahrt das wasfür die zum Gelderwerb oder zu einem sonstigenZweck unternommene Reise nötig ist,

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Kriegskameraden das was dem Kriegszweck dient, seies, daß die Absicht auf Geld, auf Sieg oder auf Erobe-rung gerichtet ist. Das gleiche ist der Fall bei Bezirks-und Gaugenossen, Alle diese fallen unter die Staats-gemeinschaft: denn diese hat nicht bloß den Nutzendes Augenblicks, sondern den für das ganze Lebenzum Ziel.

Es gibt aber auch solche Gemeinschaften, als derenZweck man die Belustigung bezeichnen darf, Opfer-und Schmausgesellschaften, wo es auf Opferfeste undGeselligkeit hinausläuft. Man begeht eine Opferfeierund hält Zusammenkünfte zu diesem Zweck; man er-weist den Göttern eine Ehrung und verschafft damitzugleich sich eine erfreuliche Erholung. Diese uraltenOpferfeiern und Zusammenkünfte werden tatsächlichnach dem Einbringen der Früchte als Erstlinge veran-staltet; in solchen Zeiten hatte man eben am meistenMuße. Die Gemeinschaften sämtlich erweisen sichalso als Glieder der Staatsgemeinschaft; der besonde-ren Art dieser Gemeinschaften aber wird auch die Artder inneren Verbundenheit in den Gemütern entspre-chen.

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b) Im Staate

Es gibt drei Arten der Staatsverfassung, und ebensogroß ist die Zahl der Abarten, d.h. der Entstellungen,die sie erfahren. Formen der Staatsverfassung sindMonarchie und Aristokratie; eine dritte ist die aufdem Zensus beruhende, die passend als die timokrati-sche bezeichnet werden darf: die meisten sind ge-wohnt, sie einfach als den Freistaat zu benennen.Unter diesen Formen ist die Monarchie die am mei-sten geschätzte, die Timokratie die geringwertigste.Eine Ausartung des Königtums ist die Tyrannis; mon-archisch sind beide, aber sie unterscheiden sich aufsstärkste. Der Tyrann ist auf seinen eigenen Vorteil be-dacht, der König auf das Wohl seiner Untertanen.König ist nur, wer für sich selbst genug hat und anBesitz von Gütern alle überragt; so ausgestattet be-darf er niemand und sucht keinen Vorteil für sich,sondern für die von ihm Beherrschten; wäre er nichtso ausgestatte. so wäre er ein lediglich durchs Los er-nannter Titular-König. Ganz entgegengesetzten Cha-rakter trägt die Tyrannis. Sie verfolgt den eigenenVorteil. Daß sie von allen die schlechteste Verfassungist, tritt bei ihr noch deutlicher darin hervor, daß dasSchlechteste das ist, was zum Besten den geraden Ge-gensatz ausmacht. Der Übergang zur Tyrannis

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vollzieht sich vom Königtum aus. Die Tyrannis isteine Entartung der Alleinherrschaft, und ein nichts-würdiger König wird zum Tyrannen. Von der Aristo-kratie geschieht der Übergang zur Oligarchie durchdie Verderbtheit derer, die an der Gewalt sind, wennsie das, was des Staates ist, ohne Rücksicht auf Wür-digkeit verteilen und die Vorteile alle oder doch diemeisten für sich vorwegnehmen, die Ämter immerwieder an dieselben verleihen und den größten Wertauf die eigene Bereicherung legen. Dann liegt die Ge-walt in der Hand einer kleinen Anzahl von Schlechtenstatt in der der Besten und Verdientesten. Von der Ti-mokratie geht es zur Demokratie; diese beiden gren-zen aneinander. Die Herrschaft der großen Anzahl zubegründen ist das Ziel auch der Timokratie, und alsgleich gelten hier alle, die die Bedingung des Zensuserfüllen. Aber die Demokratie ist von allen Ausartun-gen die noch am wenigsten bedenkliche; denn sie be-deutet nur eine geringe Abweichung von der Form desFreistaats.

In dieser Richtung also vollziehen sich meistensdie Wandlungen der Verfassung: denn in der geschil-derten Weise findet der Übergang am leichtesten undmit den geringsten Änderungen statt. Ein Gleichnisdafür und eine Art von Beispiel kann man dem Haus-wesen entnehmen. Das Gemeinschaftsverhältnis vonVater und Söhnen trägt die Form des Königtums:

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denn der Vater sorgt für die Kinder. Daher nenntHomer auch Zeus den Vater; denn das ist die Bestim-mung des Königtums, eine väterliche Regierung zusein. Bei den Persern ist es eine väterliche Tyrannei;denn die Kinder werden hier wie Sklaven behandelt,und eine Tyrannis ist auch das Verhältnis des Herrnzum Sklaven; denn was dabei erzielt wird ist der Vor-teil des Herrn. Dies Verhältnis nun hat gewiß seineBerechtigung, die persische Verfassung aber ist eineAbirrung. Denn je nach der Verschiedenheit der Men-schen sollten sich auch die Herrschaftsverhältnisseunterscheiden. Das Verhältnis zwischen Mann undFrau stellt ein Bild der aristokratischen Verfassungdar. Denn der Mann hat gebührendermaßen die Herr-schaft und übt sie auf dem ihm zustehenden Gebiete;dagegen überläßt er der Frau, was dieser angemessenist. Will der Mann alles selbst entscheiden, so ver-fälscht er das Verhältnis im Sinne der Oligarchie;denn da ist sein Verhalten nicht mehr durch seineWürdigkeit und seine Vorzüge gerechtfertigt. Eskommt aber auch vor, daß die Frau, wenn sie eineErbtochter ist, die Herrschaft führt; dann verteilt sichdie Herrschaft wieder nicht den persönlichen Vorzü-gen entsprechend, sondern nach Reichtum und Ein-fluß wie in einer Oligarchie. Der Timokratie gleichtdas Verhältnis zwischen Brüdern; denn diese sindeinander gleichgestellt, abgesehen von dem

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Unterschiede den das Lebensalter bedingt. Ist deshalbder Unterschied der Jahre sehr groß, so ist das Banddas sie verbindet nicht mehr das brüderliche. Demo-kratie herrscht am ehesten in Haushaltungen, wo esüberhaupt keinen Herrn gibt, / denn da sind allegleich, / und in solchen wo der Herrschende schwachist und jeder die Macht hat zu tun was ihm beliebt.

Entsprechend jeder dieser Staatsformen gestaltetsich nun auch das Band zwischen den Personen, undzwar ebensoweit wie das Gebiet des Rechts reicht.Zunächst zwischen König und Untertan wird es be-stimmt durch das Übergewicht der für das Wohl derletzteren vollbrachten Leistungen. Denn der Königwird der Wohltäter seiner Untertanen, wenn er inedler Gesinnung für sie Sorge trägt wie ein Hirt fürseine Herde, damit ihr Wohlstand blühe. Darum hatauch Homer den Agamemnon den Völkerhirten ge-nannt. Die väterliche Gewalt trägt den gleichen Cha-rakter, unterscheidet sich aber davon durch die Größeder erwiesenen Wohltaten. Denn der Vater ist derSpender wie des Daseins, das doch als die größte allerGaben gilt, so auch der Nahrung und der Erziehung;und den Großeltern wird der gleiche Anspruch aufDank zugeschrieben. Die Herrschaft des Vaters überdie Kinder, der Großeltern über die Nachkommen-schaft, des Königs über die Untertanen ist so in derNatur begründet. Hier beruht das Band zwischen den

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Personen auf der Überlegenheit des einen Teils; daherdie Ehre, die man seinen Eltern erweist. In diesemFalle sind denn die Personen auch dem Rechte nachnicht gleichgestellt, sondern das Recht ist nach derWürdigkeit abgestuft; das gilt auch von der Art wiesie für einander empfinden. Das Band zwischen Mannund Weib ist dasselbe wie in einer Aristokratie. Esgründet sich auf die persönlichen Vorzüge jedesTeils; der größeren Tüchtigkeit fällt das größere Gutund jedem das zu was ihm gebührt; ebenso will esauch das Recht. Das Band zwischen Brüdern gleichtdem zwischen Kameraden; sie sind einander gleich anStellung und Alter, und in der Regel haben sie auchgleiche Stimmung und gleichen Charakter. Mit dieserArt von Verbundenheit hat denn auch die Verfas-sungsform der Timokratie Ähnlichkeit; denn da ist dieForderung, daß die Mitbürger einander gleichgestelltseien und gleiche Achtung genießen; die Herrschaftalso ist geteilt und zwar im Sinne der Gleichheit. Da-nach bestimmt sich auch das Band zwischen den Per-sonen.

Was nun die der Verschlechterung anheimgefalle-nen Staatsformen anbetrifft, so ist hier wie das Rechtauch das Band zwischen den Personen verkümmert,und am schlimmsten steht es damit in der schlechte-sten Verfassung. In der Tyrannis findet sich persönli-che Anhänglichkeit überhaupt nicht oder doch nur in

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geringem Maße. Denn wo Herrscher und Beherrschtenichts gemein haben, da gibt es auch kein Gefühl per-sönlicher Zusammengehörigkeit, und auch keinRechtsverhältnis, sondern nur ein Verhältnis wie daszwischen dem Arbeiter und seinem Werkzeug, zwi-schen der Seele und ihrem Leibe, zwischen dem Herrnund seinem Sklaven. Alle diese Dinge sind Gegen-stände der Fürsorge für den der sie braucht; aber zudem Unbeseelten gibt es so wenig ein Verhältnis derZuneigung wie ein Verhältnis des Rechtes, und soauch nicht zu einem Pferde oder einem Rinde, undebensowenig zu einem Sklaven, sofern er ein Sklaveist; denn auch da gibt es keine Gemeinschaft. DerSklave ist ein beseeltes Werkzeug, wie das Werkzeugein unbeseelter Sklave ist. Zum Sklaven als Sklavengibt es also kein Band der Zuneigung, aber wohl zuihm als Menschen. Denn jeder Mensch, darf mansagen, steht im Rechtsverhältnis zu jedem, der ineiner Gemeinschaft des Gesetzes und des Vertrageszu stehen die Fähigkeit hat; somit ist auch die Mög-lichkeit eines Bandes persönlicher Zuneigung gege-ben, sofern der Sklave ein Mensch ist. Auch in derTyrannis also ist das Band der Personen und dasRechtsverhältnis beider nur in geringer Stärke vorhan-den. Am meisten noch ist es in der demokratischenVerfassung der Fall; denn hier gibt es wegen der herr-schenden Gleichheit eine Menge von solchem, was

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den Bürgern gemein ist.

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c) In der Familie

Alles Gefühl der Zusammengehörigkeit unter denMenschen beruht also wie wir gesehen haben auf derGemeinschaft der Lebensverhältnisse. Dabei darf mandie auf Verwandtschaft und Kameradschaft beruhendeGemeinschaft als besondere Arten abscheiden. DieGemeinsamkeit des Staates, des Bezirks der Reiseund was dergleichen mehr ist, trägt mehr das Geprägeäußerer Vereinigung; denn sie stellen sich dar alsgleichsam auf Übereinkunft beruhend. In diese Klassekann man auch das Verhältnis der Gastfreundschafteinreihen. Die Verbindung die die Verwandtschaftstiftet, bietet einen Reichtum von Formen, aber siewurzeln alle in der Gemeinsamkeit des Erzeugers. DieEltern lieben ihre Kinder als ein Stück von sichselbst, und die Kinder die Eltern als die, denen sie ihrDasein verdanken. Die Eltern aber haben das be-stimmtere Wissen um das was von ihnen stammt,während ihre Sprößlinge kaum ein Wissen um ihreHerkunft von ihnen haben, und das Gefühl der Zu-sammengehörigkeit mit dem Erzeugten ist bei demErzeuger lebhafter als bei dem Erzeugten das der Zu-gehörigkeit zum Erzeuger. Denn was von einem her-kommt, das bleibt dem eigen, von dem es sein Daseinhat; selbst Zähne und Haare und dergleichen bleiben

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ein Stück ihres Eigentümers; für den Sprößling dage-gen hat das wovon er stammt keine oder doch nur ge-ringe Bedeutung. Endlich wirkt darauf auch die Längeder Zeit. Die Eltern haben das Kind lieb gleich wennes zur Welt gekommen ist, die Kinder die Eltern erstwenn die Zeit fortschreitet und sie zu Verstand undEinsicht kommen. Dadurch erklärt es sich auch, wes-halb die Mutterliebe die stärkere ist. Die Eltern liebendie Kinder wie sich selbst; / denn was von ihnen ab-stammt ist wie ein zweites Exemplar von ihnen, dassich von ihnen abgelöst hat, / die Kinder ihre Elternals durch diese in die Welt gesetzt Die Geschwisteraber haben einander lieb um der Gemeinsamkeit derEltern willen, von denen sie stammen. Die Identitätdes Verhältnisses zu jenen bewirkt die Identität desWesens zwischen ihnen selbst. Daher sagt man, sieseien eines Blutes, eines Stammes und wie man essonst bezeichnet. So sind sie getrennte Personen unddoch von Wesen dasselbe.

Allerdings ist für die geschwisterliche Zuneigungauch das von Bedeutung, daß sie zusammen aufwach-sen und gleichaltrig sind. »Gleiches Alter, gleicheNeigung«, heißt es, und Gewohnheit des Zusammen-lebens macht den Kameraden. Daher ist auch das ge-schwisterliche Verhältnis dem kameradschaftlichenverwandt. Vettern und sonstige Verwandte gehörenzum engsten Kreise der nächst Verbundenen aus eben

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diesem Grunde, wegen der Abstammung von densel-ben Personen; und das Band ist enger oder lockerer, jenachdem der gemeinsame Stammvater näher oderweiter zurückliegt.

Die Liebe der Kinder zu den Eltern ist wie die derMenschen zu den Göttern eine Hingebung an das Er-habene und Überlegene, an das, wovon man die größ-ten Wohltaten empfangen hat, an diejenigen, denenman Dasein und Nahrung verdankt, und die nachherauch noch für die Erziehung gesorgt haben. DiesesVerhältnis der Zusammengehörigkeit enthält auch desErfreuenden und des Vorteilhaften mehr als das zuFremden, in dem Maße, als die Lebensgemeinschafteine engere ist.

In dem Verhältnis zwischen Geschwistern findetsich auch das wieder, was das kameradschaftlicheVerhältnis bietet; es findet sich, wo sie brav und über-haupt einander ähnlich sind, in um so höherem Grade,je mehr sie zusammengehören und von Geburt an sichgegenseitig lieb haben, und je mehr solche, die diesel-ben Eltern haben, die miteinander aufgewachsen sindund die gleiche Erziehung genossen haben, auch vonGemüt einander gleichen. Dazu kommt dann auch dieErprobung in der Länge der Zeit, die hier die stärksteund zuverlässigste ist. Auch in den übrigen Ver-wandtschaftsverhältnissen richtet sich die Wärme derZuneigung nach der Nähe des Verwandtschaftsgrades.

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Zwischen Mann und Frau waltet die Liebe vonNatur. Denn der Mensch ist durch seine Natur nochmehr auf das eheliche Leben, als auf das Leben imStaate angewiesen, ebenso wie die Familie ursprüng-licher und unentbehrlicher ist als der Staat, und wiedie Fortpflanzung allem Lebendigen gemeinsamer zu-kommt. Bei den anderen Wesen reicht die Gemein-samkeit nur so weit; bei den Menschen aber hat dieeheliche Gemeinschaft nicht bloß die Fortpflanzung,sondern alle Zwecke des menschlichen Lebens zumInhalt. Denn die Aufgaben sind von vornherein ge-teilt, und dem Manne liegt anderes ob, als der Frau.So helfen sie sich gegenseitig aus und stellen jederseine eigentümlichen Gaben in den Dienst der Ge-meinschaft. Darum gewährt dieses Verhältnis derGattenliebe so reichen Gewinn und so großes Glück;dazu mögen denn auch die persönlichen Vorzüge bei-tragen, falls beide Gatten tüchtige Persönlichkeitensind. Denn jeder Teil hat seine eigenen Vorzüge, undeben dies kann für sie eine Quelle des Glücks werden.

Ein Band zwischen den Gatten bilden weiter dieKinder, deshalb werden kinderlose Ehen leichter ge-schieden. Die Kinder sind für beide Gatten ein ge-meinsamer köstlicher Besitz, und das Gemeinsamehält vereinigt. Die Frage aber, wie Mann und Frauund überhaupt solche, die sich lieb haben, miteinan-der leben sollen, bedeutet offenbar nichts anderes als

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die Frage, was in solchen Verhältnissen das Gerechteist. Denn das Gerechte ist nicht dasselbe in dem Ver-hältnis zwischen Freunden, wie in dem zum Fremden,zum Kameraden oder zum Mitschüler.

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d) In der wirtschaftlichen Gemeinschaft

Im Eingang haben wir gesagt, daß es drei Artenvon freundschaftlichen Verbindungen zwischen denMenschen gibt und jede wieder zwei Formen zuläßt,indem die Verbundenen entweder einander gleich ste-hen oder der eine Teil über den anderen das Überge-wicht hat. Freundschaftliche Verbindung nun kommtvor zwischen solchen, die einander an Tüchtigkeitgleich sind, und zwischen einem Manne von höhererund einem von geringerer Tüchtigkeit; es können, wodie Verbindung um des Vergnügens oder des Vorteilswillen geschlossen wird, beide sich gegenseitig gleichviel Vergnügen und gleich viel Aushilfe gewähren,oder der eine mehr als der andere. Wo nun Gleichheitvorhanden ist, da muß auch die Zuneigung und müs-sen ihre Konsequenzen gleich sein: wo Ungleichheitwaltet, da muß man Gleichheit dadurch herstellen,daß man dem Teil, der das Übergewicht hat, ein ent-sprechendes Mehr zugesteht.

Daß gegenseitige Anschuldigungen und Vorwürfein der auf den Vorteil gerichteten Verbindung aus-schließlich oder vorwiegend vorkommen, ist leichtverständlich. Leute, zwischen denen ihre edle Gesin-nung das Band der Freundschaft knüpft, sind von demEifer beseelt, einander nur Gutes zu erweisen, / denn

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das gehört zum edlen Charakter wie zur Freundschaft,/ und eben weil ihr Wetteifer darauf gerichtet ist, gibtes weder Anschuldigung noch Streit zwischen ihnen.Denn dem, der Liebe und Wohltat erweist, zürnt nie-mand; dagegen wenn einer vornehm gesinnt ist, rächter sich dadurch, daß er mit Gutem erwidert. Derjeni-ge, der das Überlegene leistet, wird, wenn er erlangt,was er begehrt, gegen den Freund keinen Vorwurf er-heben; denn beide Teile streben nach dem Guten. Undauch wo man gutfreund ist um des Vergnügens wil-len, kommen Anschuldigungen nicht leicht vor; dennbeide erreichen zugleich, was sie beabsichtigten,wenn ihnen der Umgang Freude macht. Würde sicheiner doch nur lächerlich machen, wenn er sich dar-über beklagte, daß der andere ihm keinen Spaßmacht; denn es steht ihm ja frei, von dem Umgang zu-rückzutreten. Eine Verbindung unter dem Gesichts-punkte des Vorteils dagegen gibt allerdings leicht zuAnschuldigungen Anlaß. Denn da man dabei den an-deren um des Vorteils willen an sich heranzieht, soverlangt man immer noch mehr und meint immer,man verlange weniger, als einem zukommt, man istdeshalb verdrießlich darüber, daß man trotz der Ge-rechtigkeit seines Anspruchs doch nicht so viel errei-che, wie man fordert, und so vermag der andere mitallen noch so wertvollen Diensten, die er leistet, dochden Anforderungen nicht zu genügen, die der

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empfangende Teil erhebt.Wie nun das Recht ein doppeltes ist, ungeschriebe-

nes und gesetzlich fixiertes Recht, so darf man sagenwendet sich auch solche Verbindung zu Zwecken desVorteils teils an den guten Willen, teils an das Ge-setz, und die Anschuldigungen stellen sich am mei-sten dann ein, wenn Abschluß und Auflösung der Ge-meinschaft nicht von beiden in gleichem Sinne ge-meint ist. Die Verbindung, die das gesetzlicheRechtsverhältnis erstrebt, ist die auf genau bestimmteBedingungen hin eingegangene; sie ist die ganzmarktgängige, wo Leistung und Gegenleistung Zugum Zug erfolgt, oder sie ist von vornehmerer Form,wo die Gegenleistung hinausgeschoben wird; aberimmer ist auch hier Leistung und Gegenleistung durchÜbereinkunft festgelegt. Die Verpflichtung ist damitdeutlich und dem Streit entnommen, und nur das Hin-ausschieben der Leistung rechnet mit dem guten Wil-len. Darum ist in manchen Staaten dafür der Rechts-weg ausgeschlossen; man meint eben, diejenigen, dieVerbindungen auf Treu und Glauben eingegangensind, müßten sich dabei beruhigen.

Eine geschäftliche Verbindung, die auf den gutenWillen zählt, wird nicht auf genau bestimmte Bedin-gungen eingegangen, sondern etwa wie man einem, zudem man in freundschaftlichen Beziehungen steht, einGeschenk macht oder sonst irgend etwas leistet und

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dabei erwartet, daß man ebensoviel oder mehr wieder-erhalten wird, indem man nicht sowohl etwas wegzu-geben, als nur es auszuleihen beabsichtigt. Erfolgtnun die Einlösung der Verpflichtung nicht in demSinne, wie sie eingegangen worden ist, so beschwertman sich, und das ist die Folge davon, daß alle oderdoch die meisten, so sehr sie das uneigennützig Edleschön finden, in ihren Entschließungen sich dochmehr für das Nützliche entscheiden. Sittlich edel istes, Gutes zu erweisen ohne die Absicht, es zurücker-stattet zu erhalten, dagegen ist es nützlich. Wohltatentgegenzunehmen. Demnach soll man, wenn mandas Vermögen hat, den gleichen Wert, den man emp-fangen hat, auch zurückerstatten, und das aus freienStudien. Denn es ist nicht wohlgetan, jemanden alsFreund zu behandeln wider seinen Willen; man mußin der Sache verfahren, als wäre man von vornhereinim Irrtum gewesen und hätte gute Dienste von einementgegengenommen, von dem man es nicht gesollthätte, Dienste nicht von einem guten Freunde undnicht von einem, der in solcher Freundesgesinnunghandelte. Man muß also seine Verpflichtung so einlö-sen, als hätte man die Leistung auf fest bestimmte Be-dingungen hin empfangen, in diesem Falle wäre mandoch mit dem andern dahin übereingekommen, daß erleistete, wenn er dazu imstande wäre. Allerdings, daßer nun leiste, wozu er nicht imstande ist, das würde

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der Geber selbst nicht verlangen. Also ist es geboten,zurückzuerstatten, wenn man es vermag. Von vorn-herein aber muß man sich's wohl überlegen, von wemman Dienste entgegennimmt und unter welcher Be-dingung, um dann auch wirklich diese Bedingung in-nezuhalten oder abzulehnen.

Verschieden denken kann man über die Frage, obdie Gegenleistung nach dem Nutzen, der dem Emp-fänger zugefallen ist, zu bemessen und dementspre-chend ins Werk zu setzen ist, oder vielmehr nach derGröße des Opfers, das der Geber gebracht hat. DerEmpfänger hat die natürliche Neigung, den Wert desEmpfangenen herabzusetzen; er sagt wohl, er habevom Geber solches erhalten, was für diesen nicht inBetracht kam und was er auch ganz gut von anderenhätte bekommen können. Der Geber umgekehrt be-hauptet, er habe das größte geleistet, was in seinerMacht stand und was sonst kein Mensch hätte leistenkönnen, und das in gefährlichen oder sonstigen dring-lichen Lagen. Wäre nun nicht da, wo die Verbindunggeschäftlicher Art ist, das Richtige dies, daß der vomEmpfänger erlangte Vorteil den Maßstab bildet? Die-ser war doch der, der des andern bedurfte, und der an-dere half ihm aus in der Aussicht, das gleiche zurück-zuerlangen. Der gewährte Beistand ist also so großgewesen, wie der andere den Vorteil davon gehabthat, und er muß so viel zurückerstatten, wie er Nutzen

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gehabt hat, oder noch mehr; letzteres ist das Edlere. InVerbindungen dagegen, die der Adel der Gesinnungstiftet, kommt es nicht vor, daß der eine sich über denanderen beklagt; hier liefert das Opfer, das in der Ab-sicht des Gebers lag, den geeigneten Maßstab. Dennwo auf den Adel der Gesinnung und des Charaktersgezählt wird, da ist das Entscheidende die Absicht,aus der die Handlung erfolgt.

Zum Streite kann es auch in solchen Verbindungenkommen, wo der eine Teil das Übergewicht hat. Eskann jeder Teil zu viel für sich beanspruchen, und trittdas ein, so geht die Verbindung auseinander. DerÜberlegene meint, es komme ihm zu, ein Mehr zu er-langen, denn dem Tüchtigen gebühre ein größerer An-teil. Ganz ähnlich der, der mehr leistet. Denn wernichts leistet, heißt es, dürfe auch nicht das gleiche er-langen; sonst laufe es auf einen Ehrendienst und nichtauf eine geschäftliche Verbindung hinaus, wenn derbei der Verbindung sich ergebende Gewinn sich nichtnach dem Werte der Leistung richtet. Man meint näm-lich, wie in gemeinsamen geschäftlichen Unterneh-mungen diejenigen, die mehr einschießen, auch mehrempfangen, so müsse es auch in freundschaftlichenVerhältnissen geschehen. Umgekehrt denkt der, derdes anderen bedarf, und der Minderwertige, es sei ein-fach Pflicht eines befreundeten Mannes von guter Ge-sinnung, denen zu helfen, die der Hilfe bedürfen; denn

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was habe man sonst von der Freundschaft mit einemtüchtigen und mächtigen Manne, wenn man davondoch keinen Genuß zu schmecken bekomme?

Da kann man nun den Anspruch beider Teile fürbegründet halten und meinen, beiden Teilen müsseauf Grund des Freundschaftsverhältnisses ein Mehrzufließen, aber nicht ein Mehr derselben Art: vielmehrgebühre dem Höherstehenden die höhere Ehre, unddem in bedürftiger Lage der größere Vorteil. Denn füredle Gesinnung und hilfreiches Tun bildet das Gegen-geschenk die Ehre, und für eine bedrängte Lage ist derGewinn die Hilfe.

So sieht man es denn auch im Staate zugehen. Werdem Gemeinwesen nichts Nützliches leistet, der ge-nießt auch keine Ehre. Denn was das Gemeinwesengewähren kann, wird dem gewährt, der sich um dasGemeinwesen verdient macht; das aber ist die Ehre.Ausgeschlossen dagegen ist das, daß man aus denMitteln des Gemeinwesens Gewinn und Ehre zugleichschöpfe. Denn in allen Stücken zurückzustehen, daserträgt kein Mensch. Wer also an Geldbezügen ver-kürzt wird, dem teilt man Ehre zu, und wer Geldbrauchen kann, erhält Geld. Denn, wie gesagt, dasAusteilen nach dem Verhältnis der Würdigkeit stelltdie Gleichheit her und erhält das freundschaftlicheBand zwischen den Menschen.

So also muß man auch in Verhältnissen zwischen

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Ungleichen das Verfahren regeln. Wer aus dem Ver-mögen oder durch das überlegene Verdienst des ande-ren Aushilfe empfangen hat, der soll mit Ehre als Ge-gengabe erwidern, indem er gibt, was in seiner Machtsteht. Denn wo ein Freundschaftsverhältnis besteht,da verlangt man soviel, als wozu das Vermögen vor-handen ist, nicht soviel, als dem Verdienste ent-spricht. Das letztere wäre auch gar nicht in allen Ver-hältnissen möglich, so bei der Ehre, die man den Göt-tern oder die man den Eltern erweist. Hier könntedoch niemand Ehre nach Verdienst erweisen: dagegenmeint man, daß der seine Schuldigkeit tut, der seineDienste nach seinem Vermögen leistet. Deshalb meintman auch, es stehe zwar dem Sohne nicht zu, sichvom Vater, aber wohl dem Vater, sich vom Sohneloszusagen. Wer schuldet, muß bezahlen; der Sohnaber kann mit allem, was er leistet, nichts tun, wasdem ihm vom Vater Geleisteten an Wert entspräche;er bleibt also immer Schuldner. Dagegen steht es demGläubiger zu, die Schuld zu erlassen, und so auchdem Vater. Zugleich aber wird es nicht leicht vorkom-men, daß einer sich von dem eigenen Sohne abwen-det, es sei denn, daß dieser über die Maßen verkom-men ist; denn es liegt in der menschlichen Natur, auchabgesehen von der natürlichen Zuneigung, eine hilf-reiche Hand nicht von sich zu stoßen. Dem ungerate-nen Söhne dagegen erscheint die dem Vater zu

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leistende Hilfe als etwas, was er besser unterläßt oderwofür er sich wenigstens nicht besonders erwärmt.Denn Wohltaten zu empfangen wünschen sich diemeisten, sie zu erweisen meiden sie als eine Last. /Soviel über diese Dinge.

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e) Austausch ohne Entgelt

In allen Verbindungen, in denen es sich um denAustausch von Leistungen handelt, die der Art nachverschieden sind, ist es, wie wir dargelegt haben, dieProportion, die die Gleichheit herstellt und die Ver-bindung in Bestand erhält. So bekommt in der wirt-schaftlichen Gemeinschaft der Schuhmacher für dasSchuhzeug, das er liefert, einen entsprechenden Ge-genwert, ebenso der Weber und alle anderen Produ-zenten auch. Dafür nun ist als das allgemeine Wert-maß das Geld eingeführt worden; auf dieses wird alleszurückgeführt, und an ihm wird alles gemessen.

Bei Liebschaften liegt es anders. Da kommt es vor,daß der Liebhaber sich beklagt, er erlange für seineüberschwänglichen Liebesbeweise keine Erwiderung;dergleichen geschieht, wenn er nichts Liebenswertesan sich hat, was ja wohl bisweilen zutreffen mag. Zuanderen Malen beklagt sich wieder der geliebte Ge-genstand, daß ihm von dem, was ihm dereinst verhei-ßen worden, jetzt nichts erfüllt werde. Das ist das Er-gebnis in dem Falle, wo der eine dem geliebten Ge-genstande seine Liebe zuwendet um sinnlicher Befrie-digung willen, und dieser dem Liebhaber um des Vor-teils willen, und nun beide um ihr Ziel kommen. Hatein Liebesverhältnis solche Begründung, so tritt die

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Auflösung ein, wenn die Parteien das nicht erlangen,was sie zu der Verbindung veranlaßt hat. Ihr Interessewar ja gar nicht auf die Person gerichtet, sondern aufdas, was ihr anhaftete, und da dies letztere nicht dau-ert, so dauert eben deshalb auch das Liebesverhältnisnicht. Dagegen eine Liebe, die der Person als solchermit ihrer inneren Beschaffenheit gilt, diese erweistsich, wie wir dargelegt haben, als dauerhaft.

Die Parteien gehen aber auch dann auseinander,wenn das was sie erlangen ein anderes ist als das wassie begehren. Hier ist es geradeso, als ob sie nichts er-langten; denn eben das Ziel wonach sie streben bleibtihnen versagt. So erging es einst einem Virtuosen,dem versprochen worden war, je besser er spiele,desto höher würde seine Belohnung sein. Als er nunam folgenden Tage um Erfüllung des Versprechensersuchte, erhielt er zur Antwort: für das Vergnügendas er bereitet, habe er ja sein Vergnügen bereits er-langt [durch die ihm eröffnete angenehme Aussicht].Wenn nun die Absicht beider Teile eben darauf ge-richtet war, dann wäre es so ganz in der Ordnung ge-wesen. War aber das was der eine Teil wollte die Be-zahlung, was der andere Teil wollte der musikalischeGenuß, und bekommt dann der eine was er begehrt,der andere nicht, dann wäre der Ausgang, der das ge-schäftliche Verhältnis beendigte, nicht der gebührendegewesen.

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Was einer eben bedarf, das sucht er sich zu ver-schaffen, und zu diesem Zweck gibt er hin was er hat.Wessen Sache ist es nun, den Preis abzuschätzen,dessen der hingegeben, oder dessen der in Empfanggenommen hat? Wer hingegeben hat, von dem nimmtman an, daß er die Preisbestimmung dem andernüberlasse; so sagt man habe es in der Tat Protagorasgemacht. Wenn dieser jemand in irgendeinem Fachunterrichtet hatte, so hieß er den Schüler abschätzen,wieviel ihm das Gelernte wert erscheine, und sovielließ er sich dann bezahlen. Manchem anderen sagt insolchen Verhältnissen mehr das Wort zu: »Wie derMann, so der Lohn.«

Wer Geld angenommen hat und dann, weil er mehrversprochen hat als wozu seine Kräfte reichen, nichtleistet was er zu leisten verheißen hat, über den be-klagt man sich mit Recht; denn er erfüllt nicht, wor-über man doch übereingekommen war. Die Sophistensind im Grunde gezwungen so zu verfahren, weil fürdas was sie wirklich können kein Mensch einen Hel-ler geben würde. Solche Leute also, die das nicht lei-sten, wofür sie die Bezahlung schon empfangenhaben, sind mit Recht Gegenstand der Beschwerde. InFällen dagegen wo eine Vereinbarung über den zu lei-stenden Dienst nicht getroffen worden ist, da habenwir schon gesagt daß diejenigen, die aus freundlicherGesinnung für den anderen solche Leistung

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vollbringen, einem Vorwurf nicht ausgesetzt sind;denn was sie tun stammt aus der auf sittlicher Gesin-nung beruhenden Hingebung. Da muß man denn auchdie Gegenleistung nach dem bemessen, was in derAbsicht des andern lag, denn Hingebung und sittlicheGesinnung stellt sich in dem dar, was einer beabsich-tigt. Das darf man nun auch als das für das Verhältnisvon Lehrer und Schüler auf idealem Gebiete Gültigebezeichnen; denn hier läßt sich der Wert der Leistungüberhaupt nicht in Geld abschätzen, und auch durchEhrenerweisung könnte der empfangene Wert nichtaufgewogen werden. Da also muß man sich, wie es imVerhältnis zu den Göttern und zu den Eltern der Fallist, an dem genügen lassen, was einer zu leisten im-stande ist.

Ist dagegen die Leistung nicht so gemeint, hat derLeistende vielmehr von vornherein eine Gegenlei-stung im Auge, so muß die Gegenleistung in ersterLinie eigentlich so beschaffen sein, daß sie beidenTeilen dem Wert der Leistung zu entsprechen scheint,und wenn darüber eine Einheit des Sinnes zwischenihnen nicht besteht, so würde es nicht bloß als dasNotwendige, sondern auch als das Gerechte erschei-nen, daß derjenige entscheidet, der die Leistung emp-fangen hat. Denn wenn der Leistende so viel wiederempfängt als jenem an Nutzen zuteil geworden istoder als jener für die genossene Befriedigung

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aufgewandt haben würde, so empfängt er den Ersatz,der ihm von diesem gebührt.

So geht es ja offenbar auch bei Kauf und Verkaufzu. An manchen Orten gibt es gesetzliche Bestim-mungen des Inhalts, daß bei freiwillig eingegangenengeschäftlichen Verbindungen der Rechtsweg ausge-schlossen bleiben soll, weil man der Meinung ist, daßdie Abwickelung des Geschäfts dem gegenüber, mitdem man auf Treu und Glauben das Geschäft einge-gangen ist, in demselben Sinne stattzufinden hat, indem man es eingegangen ist. Man hält es für gerech-ter, daß derjenige den Wert bestimme, dem die Lei-stung zugute gekommen ist, als daß derjenige es tue,der sie für ihn vollbracht hat. Denn meistenteils istder Wert eines Gegenstandes nicht der gleiche in denAugen desjenigen der ihn besitzt wie in den Augendesjenigen, der ihn zu erwerben wünscht. Jedermannist geneigt, dem was ihm gehört und was er hingibt,einen hohen Wert zuzuschreiben; der Austausch abervollzieht sich gleichwohl nach demjenigen Werte, dender Empfänger dem Gegenstande beilegt. Allerdingsaber muß man den Wert nicht danach bestimmen, wieer dem Empfänger erscheint wenn er den Gegenstandschon hat, sondern danach wie er ihn anschlug, bevorer ihn bekommen hatte.

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4. Einzelfragen das Freundschaftsverhältnisbetreffend

a) Das Maß der Verpflichtung

Eine Schwierigkeit bietet ferner die Antwort aufFragen wie die: Ist man verpflichtet seinem Vater inallem zu Willen zu sein und ihm überall Gehorsam zuleisten? wenn man krank ist, soll man sich nicht viel-mehr dem Arzt anvertrauen, und wo es gilt einen Offi-zier zu wählen dem Kriegserfahrenen seine Stimmegeben? Oder die andere Frage: hat man seine Diensteeher dem Freunde oder hat man sie dem verdientenManne zu leisten ? welche Pflicht steht höher, demWohltäter zu vergelten oder dem Kollegen ein Opferzu bringen, falls man nicht beides zugleich zu leistenvermag? In allen dergleichen Fragen ganz bestimmteEntscheidungen zu fällen, ist das nicht recht schwer?Denn die einzelnen Fälle bieten eine Unmenge vonEigentümlichkeiten der verschiedensten Art, wasWichtigkeit oder Geringfügigkeit des Gegenstandes,was die sittliche Bedeutung und was die äußere Not-lage anbetrifft. Soviel indessen steht außer Zweifel,daß man nicht einem alles zugestehen darf, daß in derRegel die Pflicht empfangene Wohltaten zu vergeltender Willfährigkeit gegen befreundete Genossen

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vorgeht, wie man ja auch an erster Stelle Geld dasman geborgt hat dem Darleiher zurückzuerstatten ver-pflichtet ist, bevor man dem Genossen einen Vor-schuß leistet. Indessen immer ist eigentlich auch nichteinmal ein solcher Satz gültig. Man nehme folgendenFall. Es ist einer aus Räuberhänden durch ein Löse-geld befreit worden. Was ist nun seine nächstePflicht, seinen Befreier wer er auch immer sei, wiederzu befreien, oder ihm, wo Gefangenschaft nicht vor-liegt, auf seine Forderung das Lösegeld zurückzuer-statten, oder den eigenen Vater aus der Gefangen-schaft zu befreien? Da möchte man eher meinen, diePflicht gegen den Vater gehe der Pflicht, die aus demeigenen Erlebnis stammt, voran.

Wie gesagt also, im allgemeinen muß man bezah-len was man schuldig ist; ist dagegen das was irgendjemandem sonst zu leisten ist der sittlichen Bedeutungnach oder des Zwanges der Lage wegen von überra-gendem Werte, so muß man sich nach dieser Seite hinentscheiden, ja, es kann vorkommen, daß es nicht ein-mal recht ist, empfangene Wohltaten zu vergelten.z.B. es kennt jemand einen anderen als einen Mannvon ehrenhaftem Charakter und erweist ihm einenDienst; dieser aber soll jenem nun das gleiche erwei-sen. Wirklich? auch dann wenn er von ihm die Über-zeugung gewonnen hat, daß er ein Mensch von ganzunwürdiger Gesinnung ist? Und so soll man auch

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nicht einmal immer dem wieder borgen, von dem mangeborgt hat; denn es kann sein, daß der eine einem eh-renhaften Manne ein Darlehen gegeben hat in derÜberzeugung, daß er es wiederbekommen wird, derandere aber keine Aussicht hat von dem charakterlo-sen Menschen jemals etwas zurückzuerhalten. Verhältes sich nun so in Wirklichkeit, so ist der Anspruchnicht auf beiden Seiten der gleiche; verhält es sichaber in Wirklichkeit nicht so, und hat man nur dieMeinung es verhalte sich so, so dürfte es immer nochnicht heißen, es sei wider das gesunde Gefühl gesün-digt worden. Wie wir wiederholt dargelegt haben;Ausführungen, bei denen es sich um menschliche Ge-fühle und Handlungsweisen handelt, lassen nur dasgleiche bescheidene Maß von Bestimmtheit zu, dasauch diesen Gegenständen selber zukommt.

Das also ist unzweifelhaft, daß man nicht allen das-selbe, und auch seinem Vater nicht alles zu leistenhat, wie man ja auch dem höchsten Gotte selber nichtalles opfert, und da die Pflicht den Eltern gegenübereine andere ist als den Geschwistern, den Kollegenund den Wohltätern gegenüber, so ist die Aufgabedie, jeder Klasse das gerade ihr Gebührende und An-gemessene zu erweisen. Und offenbar richtet man sichja auch tatsächlich nach diesem Grundsatz. Zur Hoch-zeit lädt man seine Verwandten; denn diese sind vonder gemeinsamen Abstammung und haben das

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gemeinsame Interesse an dem, was damit zusammen-hängt. Aus demselben Grunde hält man dafür, daßauch bei Leichenbegängnissen die Verwandten zu-nächst zu erscheinen verpflichtet sind. Den Eltern Un-terhalt zu gewähren, wird man für die nächste Pflichthalten, weil man dereinst denselben von ihnen emp-fangen hat, und weil ihn denen zu gewähren, denenwir das Dasein verdanken, höhere sittliche Bedeutunghat als in diesem Sinne für uns selber zu sorgen. AuchEhre sind wir den Eltern gleichwie den Göttern schul-dig, doch nicht unbedingt, nicht dieselbe dem Vaterwie der Mutter, nicht die, die dem Manne von höch-ster geistiger Auszeichnung oder die dem Heerführergebührt, sondern gerade die, die dem Vater und eben-so die der Mutter zukommt. So ist man auch jedemManne in höherem Alter die Ehre schuldig, die seinenJahren entspricht, indem man vor ihm aufsteht, ihmden Ehrenplatz einräumt und was dergleichen mehrist. Kollegen wiederum und Geschwistern gegenübergebührt Offenheit und Gemeinsamkeit in allenStücken; Verwandten, Bezirksgenossen, Mitbürgernund allen anderen gegenüber gilt es immer den Ver-such, jedem das Gebührende zu erweisen und das wasjedem zukommt nach der Nähe der Beziehung, nachdem persönlichen Verdienst und nach dem Werte, densie für uns haben, zu bemessen. Solches Bemessen istleichter bei Stammesgenossen, mißlicher bei

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Fernstehenden. Aber darum darf man davon dochnicht abstehen, sondern muß eine Entscheidung tref-fen, so gut es geht.

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b) Die Auflösung freundschaftlicher Beziehungen

Eine weitere Schwierigkeit bietet die Frage, ob manein Freundschaftsverhältnis zu Leuten ohne Bestän-digkeit lösen soll oder nicht. Hat es irgend etwas Be-fremdliches, daß man eine Verbindung mit Leuten,die man um des Nutzens oder der Annehmlichkeitwillen seiner Freundschaft würdigt, auflöst, wenn siedas nicht mehr gewähren, wessen man sich zu ihnenversehen hat? Hier galt die Zuneigung doch diesenDingen, und blieben sie aus, so ist es ganz verständ-lich, daß auch die Zuneigung erlischt. Einen Vorwurfkönnte man daraus nur dann ableiten, wenn einer,während seine Anhänglichkeit tatsächlich in der Aus-sicht auf Nutzen oder Annehmlichkeit wurzelt, dochso täte, als liebte er die Persönlichkeit um ihrer inne-ren Beschaffenheit willen. Denn, wie wir gleich zuAnfang gesagt haben, die meisten Zwistigkeiten erhe-ben sich zwischen Freunden in dem Falle, wo dasBand zwischen ihnen nicht die Begründung in Wirk-lichkeit hat, wie sie es sich vorstellen. Täuscht sicheiner hierin und lebt er in dem Wahne, er werde umseiner Persönlichkeit willen geliebt, ohne daß der an-dere zu solcher Täuschung etwas beiträgt, so wird erdie Schuld sich selber zuzuschreiben haben. Ist er da-gegen durch die Verstellung des anderen in die

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Täuschung versetzt worden, so hat er ein Recht, sichüber den Urheber seines Irrtums zu beklagen, und dasweit mehr als über einen Falschmünzer, je mehr dasdurch solchen Frevel verletzte Gut an Wert höhersteht als im letzteren Fall.

Nimmt man aber den anderen für einen ehrenhaftenCharakter, während er ein schlechter Mensch wirdund sich auch als solcher erweist, soll man ihm dannauch noch die Freundschaft bewahren ? Oder ist dasnicht vielmehr unmöglich, wenn doch nicht alles Ge-genstand der Zuneigung ist, sondern nur das Gute?Ein schlechter Charakter verdient keine Zuneigung,und man soll sie ihm auch nicht gewähren. Man sollkein Freund des Bösen sein, noch sich dem niedrigGesinnten gleichstellen. Oben haben wir gesagt, daßzwischen gleich und gleich Freundschaft herrscht.Soll man also die Verbindung auf der Stelle lösen?oder nicht in jedem Fall, sondern nur mit denjenigen,deren schlechter Charakter keine Aussicht auf Besse-rung gewährt? Ist es nicht eine weit höhere Pflicht,denjenigen, die einer Besserung noch fähig sind, zuihrer Charakterbildung seinen Beistand zu leihen, alssie bloß in ihren äußeren Verhältnissen zu fördern ?Und das um so mehr, je mehr dies letztere eine edlereHandlungsweise bedeutet und wahrer Freundschafts-gesinnung in höherem Sinne entspricht? Indessen, werdas Band löst, von dem kann man doch nicht sagen,

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daß er etwas Ungehöriges tue. Galt doch seineFreundschaft nicht einem Menschen von dem Charak-ter, den er jetzt zeigt, und läßt er doch von seiner Ge-sinnung nur deshalb ab, weil er den Entfremdetennicht wieder auf die rechte Bahn zu bringen vermag.

Bleibt nun aber der eine, wie er ist, und bessertsich der andere in seinem Charakter so sehr, daß erjenen in sittlicher Haltung weit überragt, muß er ihndann als Freund behandeln, oder verbietet sich ihmdas als unmöglich? Wird der Abstand sehr groß, sotritt die Schwierigkeit am deutlichsten hervor; so beiKnabenfreundschaften. Bleibt der eine in seiner gei-stigen Entwicklung ein Knabe, während der andere zueinem Manne von besonderer Auszeichnung heran-reift, wie könnten sie dann noch Freunde sein? Habensie doch weder an denselben Dingen ein Gefallen,noch den Anlaß zu Freude oder Schmerz gemeinsam.Auch in ihrem gegenseitigen persönlichen Verhältniswerden sie nicht das gleiche empfinden, und ohne das,sagten wir, ist es unmöglich, befreundet zu sein, weilein Zusammenleben unmöglich ist. Davon haben wiroben gesprochen. Muß man sich also zu dem andernin kein anderes Verhältnis stellen, als zu einem, zudem man niemals freundschaftliche Beziehungen un-terhalten hat? Oder soll man an der Erinnerung desdereinstigen vertrauten Umgangs festhalten, und so,wie wir meinen, Freunden mehr als Fremden

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entgegenkommen zu müssen, so auch dereinstigenFreunden um der früheren Freundschaft willen ein Zu-geständnis machen, falls nicht durch einen besondershohen Grad boshafter Gesinnung die völlige Tren-nung geboten ist?

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c) Selbstliebe und Nächstenliebe

Man darf die Betätigungsweisen, in denen sich lie-bevolle Gesinnung darstellt, und dasjenige was ihrenBegriff bezeichnet, als abgeleitet ansehen aus demVerhältnis, in dem wir zu uns selber stehen. Untereinem uns liebevoll zugetanen Menschen verstehtman doch einen solchen, der uns um unsertwillenalles, was gut ist oder was ihm so erscheint, zudenktund ins Werk setzt, oder einen solchen, der für den,dem er in Liebe zugetan ist, rein um dessen selbstwillen den Wunsch hegt, daß er dasei und lebe. Soempfinden Mütter für ihre Kinder, so auch Freundefür einander, und das selbst dann, wenn sie durcheinen Zwist völlig auseinander geraten sind. EinenFreund nennt man ferner den, der unser Leben teilt,der dieselben Dinge wie wir wert hält, der mit unsLeid und Freude gemein hat. Auch das ist in der Mut-terliebe am meisten der Fall. Durch einen dieser Zügealso charakterisiert man die Liebe, jedes dieser Merk-male gilt nun aber für einen Menschen von sittlicherHaltung im Verhältnis zu sich selbst, und für die üb-rigen gilt es gleichfalls, sofern sie solche Menschenzusein beanspruchen. Wie wir dargelegt haben, darfaber die sittliche Gesinnung und der sittlich tüchtigeMann als Maßstab dienen für jede besondere

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Lebensäußerung. Ein solcher Mann also lebt in Frie-den mit sich selbst, und alle Betätigungsformen seinerInnerlichkeit zeigen ein und dasselbe Bestreben. Ernimmt für sich selbst alles Gute und das, was ihm alsdas Gute erscheint, zum Ziel und setzt es auch insWerk; denn daran erkennt man den guten Men-schen, daß er alle seine Kraft an das Gute wendet.Er tut es um seinetwillen, im Dienste der in ihm le-benden Vernunft, die man als das eigentliche Selbsteines jeden betrachten muß. Er wünscht zu leben undwohlbehalten zu sein, und er wünscht es am meistenfür das, was in ihm das denkende Teil ist. Denn fürden Mann von sittlichem Charakter ist das Daseinein Gut, und das Gute wünscht jeder für sich selbst;niemand dagegen wünscht, ein anderer zu werden, sodaß dann das, zu dem er geworden wäre, alles Gutehätte. Denn auch Gott hat schon so alles Gute, aberdeshalb hat er es, weil er ist, was er ist. Jeder aber,darf man sagen, ist [wie Gott] das, was in ihm den-kende Vernunft ist, oder doch dies mehr als alles an-dere. So will denn auch ein solcher Mann sein Lebenim Umgange mit sich selbst führen, denn darin findeter volle Befriedigung. Die Erinnerung an seine Ver-gangenheit ist ihm erfreulich; was er von der Zukunfterwartet, ist nur Gutes, und solches Hoffen ist Grundzur Freude. Er ist mit Gegenständen seiner Betrach-tung in der Innerlichkeit seines denkenden Geistes

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reichlich ausgestattet. Was an Freud und Leid sein In-neres bewegt, das empfindet er als denkendes Selbstaufs stärkste mit; denn allen Seiten seines Wesens isteines und dasselbe schmerzlich oder erfreulich, undnicht der einen dieses, der anderen jenes. Reue, darfman sagen, kennt er nicht. Indem nun bei einem Men-schen von sittlicher Haltung alle diese Züge für dasVerhältnis zu der eigenen Person gelten und er sich zudem den er liebt verhält wie zu sich selbst, / ist dochder Freund sein anderes Selbst, / so darf man sagen:die Liebe zu anderen trägt eben diese Züge, und inLiebe verbunden sind die, bei denen sich diese Zügewiederfinden.

Die Frage nun, ob es ein Freundschaftsverhältniszu der eigenen Person gibt, mag fürs erste auf sich be-ruhen. Doch darf man nach den obigen Ausführungenannehmen, daß ein solches Freundschaftsverhältnisinsofern vorhanden ist, als man an einem Menschenzwei oder mehrere Seiten seines Innern unterscheidet,und daß die Freundschaft mit anderen in ihrem höch-sten Sinne dem Verhältnis ähnlich ist, in welchemman so zu sich selbst steht. Nun zeigt sich allerdings,daß die bezeichneten Züge auch bei der großen Massevorkommen, die doch von niedriger Art ist. Habendiese Menschen nun dadurch einen Anteil daran, daßsie selbstgerecht sich treffliche Menschen zu seinschmeicheln? Bei Menschen von völlig gemeiner und

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verworfener Art findet sich nichts davon, auch nichtder bloße Schein; aber auch bei Menschen von ge-wöhnlicher Art findet es sich kaum. Sie liegen mitsich selbst im Streit; ihre Begierde ist auf das eine, ihrWille auf das andere gerichtet, gerade wie es beidenen der Fall ist, die sich nicht zu beherrschen wis-sen, die statt dessen was ihnen selbst als das Gute er-scheint, das begehren, was ihr Gelüsten reizt, wäh-rend es ihnen doch schädlich ist; andere wieder unter-lassen aus Feigheit und Willenlosigkeit eben das insWerk zu setzen, wovon sie doch überzeugt sind daßes für sie das Heilsamste wäre. Manche, die eineMenge von schändlichen Taten vollbracht und sichdurch ihre Verworfenheit verhaßt gemacht haben,werden des Lebens überdrüssig und legen Hand ansich selbst.

Verworfene Menschen sehen sich nach anderen um,um mit ihnen zu leben, während sie sich selbst entflie-hen möchten. Sind sie sich selbst überlassen, so über-fällt sie eine Menge von quälenden Erinnerungen undvon Zukunftsvorstellungen der gleichen Art; in Ge-sellschaft anderer suchen sie das Vergessen. Da sieselber nichts an sich haben was Zuneigung zu er-wecken vermöchte, so haben sie kein Gefühl der Zu-neigung für sich selbst. Solche Menschen haben auchkein Mitgefühl für das Leid und die Lust, die sieselbst empfinden. Ihr Gemüt ist in Aufruhr wider sich

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selbst; die eine Seite ihres innern empfindet esschmerzlich, wegen ihrer Verworfenheit gewisserDinge entbehren zu müssen; die andere Seite hat ihreLust daran; das eine zieht sie hierhin, das andere dort-hin und zerrt sie gleichsam auseinander. Ist es abernicht möglich Unlust und Lust zugleich zu empfin-den, so ärgert man sich dafür nach kurzer Frist dar-über daß man vergnügt gewesen ist, und gönnt sichselber die Lust nicht, die man genossen hat. Von Ver-druß über das Durchlebte stecken solche niedrigenNaturen ganz voll. Ein Mensch von niederer Gesin-nung hat also offenbar deshalb kein Gefühl der Zunei-gung zu sich selbst, weil er nichts an sich hat, wasZuneigung zu erwecken vermöchte. Ist dies nun einüberaus unseliger Zustand, so ist es doppelt gebotenmit Anspannung aller Kräfte das Böse zu fliehen undzu versuchen die Eigenschaften zu erwerben, die demMenschen geziemen. Dann wird es ihm gelingen, seineigner Freund und der Freund anderer Menschen zuwerden.

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5. Freundschaftsähnliche Verhältnisse

a) Wohlwollen

Das Wohlwollen hat mit der Freundschaft Ähnlich-keit, ohne doch Freundschaft zu sein. Wohlwollenkann man auch für Unbekannte hegen und ohne daßsie es wissen: das ist bei der Freundschaft nicht mög-lich. Wir haben oben davon gehandelt. Wohlwollenist auch keine tätige Zuneigung; denn es enthält keineWillensregung und kein Streben, was doch mit tätigerZuneigung untrennbar verbunden ist. Solche Zunei-gung ferner erfordert eine Gewohnheit des Zusam-menlebens, das Wohlwollen dagegen kann auchplötzlich hervortreten; so das für einen Wettkämpfer,dem man seine Gunst zuwendet und den Siegwünscht, ohne doch dazu irgendwie mitzuwirken.Denn wie gesagt, solches Wohlwollen ist eine plötzli-che Regung und eine ganz flüchtige Neigung. Dage-gen läßt es sich wohl als Ausgangspunkt für dieFreundschaft bezeichnen, wie es die Freude am An-blick des anderen für die Liebe ist. Niemand liebt,ohne vorher an der äußeren Erscheinung Freude emp-funden zu haben; aber die bloße Freude am Anblickmacht doch noch nicht den Verliebten; dazu gehörtnoch, daß man sich nach dem Entfernten sehnt und

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die Gegenwart des Geliebten herbeiwünscht. So ist esnun auch unmöglich Freund zu sein, ohne Wohlwol-len gehegt zu haben; aber Wohlwollen macht nochkeine Freunde. Denen, für die man Wohlwollen hegtwünscht man alles Gute; aber man tut nichts dazu undübernimmt für sie keine Anstrengungen. Darum darfman es in übertragenem Sinne eine Freundschaft ohnetätige Bezeugung nennen, die aber, wenn sie eineZeitlang dauert und zur Gewohnheit des Zusammenle-bens führt, in wirkliche Freundschaft übergeht, eineFreundschaft nicht um des Vorteils oder der Annehm-lichkeit willen; denn solche Gründe sind dem Wohl-wollen fremd.

Wer eine Wohltat empfangen hat, der erwidert fürdas was er erfahren hat mit seiner wohlwollenden Ge-sinnung und tut damit nur was gerecht ist. Wer aberwünscht, daß es jemandem wohlergehe, weil er vonjenem Förderung für sich erhofft, von dem gilt nicht,daß er für den anderen, sondern eher daß er für sichselbst Wohlwollen hegt, ebenso wie auch der, der sichdem andern um des Nutzens willen gefügig erweist,nicht die Gesinnung eines Freundes zeigt. Überhaupt,Wohlwollen erwächst auf Grund verdienstlicher undsittlicher Eigenschaften, wo jemand den Eindruckmacht, mit edler Gesinnung, mit festem Mute odersonstigen Vorzügen ausgestattet zu sein, wie in demoben erwähnten Beispiel des Wettkämpfers.

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b) Eintracht

Als eine Art der Befreundung stellt sich ferner auchdie Eintracht zwischen Mitbürgern dar. Sie bedeutetdeshalb nicht bloße Gleichheit der Ansichten, diesekann auch zwischen solchen stattfinden, die einanderpersönlich unbekannt sind. Man spricht von Eintrachtauch nicht bei solchen, die über irgendeinen beliebi-gen Gegenstand, z.B. über astronomische Fragen,gleicher Meinung sind; gleiche Ansichten in diesemPunkte zu haben hat mit freundschaftlicher Zuneigunggar nichts zu schaffen. Sondern von Eintracht sprichtman im Staate, wenn die Bürger über das was demStaate frommt übereinstimmen, wenn sie dieselbenZiele verfolgen und sich im Sinne der öffentlich ge-faßten Beschlüsse betätigen. Einträchtig ist man alsoin Fragen der Praxis und zwar in solchen, die eine ge-wisse Bedeutung haben und für zwei oder für allewichtig sind. So wenn im Staate alle die Ansichthaben daß die Beamten durch Wahl einzusetzen sind,oder daß ein Bündnis mit Lakedämon geschlossenwerden oder Pittakus zu der Zeit die Regierung führensoll, wo auch er selbst es wollte. Hält dagegen jederan seinem Willen zu herrschen fest, wie die feindli-chen Brüder in Euripides' »Phönizierinnen«, dannleben sie in Zwietracht.

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Einträchtig sein heißt nicht, daß zwei bloß densel-ben Gegenstand welcher es auch sei ins Auge fassen,sondern es gehört dazu auch, daß sie denselben Ge-genstand auch derselben Person zuwenden wollen: sowenn das Volk und die oberen Klassen einig sind,daß die Besten die Herrschaft haben sollen; denndann erlangen alle was sie anstreben. Die Eintrachtstellt sich also als freundschaftliche Gesinnung unterMitbürgern dar, und so faßt sie auch der Sprachge-brauch; sie dreht sich um die öffentlichen Interessenund um das was dem praktischen Leben dient.

Eintracht in diesem Sinne herrscht zwischen Men-schen von edler Art. Solche leben mit sich selbst unduntereinander in Eintracht, da sie im Grunde gleicheGesinnung hegen. Menschen von dieser Art beharrenbei ihren Entschließungen und fluten nicht hin undher wie die Strömungen in einer Meerenge; ihr Willeist auf das Gerechte und Heilsame gerichtet, und dasbezeichnet auch ihr Streben für das Gemeinwesen.Dagegen können Menschen von niederer Gesinnungunmöglich Eintracht halten oder können es doch nurfür kurze Zeit, gerade wie es mit der Freundschaftzwischen ihnen der Fall ist. Wo es einen Vorteil gibt,da bedenken sie immer nur sich selbst, und wo es gilteine Mühe oder eine Leistung zu übernehmen, da ver-sagen sie. Da jeder so mit seinem Willen auf den ei-genen Nutzen gerichtet ist, so krittelt er an dem

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anderen herum und bildet nur ein Hindernis. Denn einGemeinwesen muß zugrunde gehen, wenn es nichtwohl gepflegt wird. Die Folge ist allgemeine Zwie-tracht; einer schiebt dem anderen die Nötigung zu;selbst aber will keiner leisten was die Gerechtigkeitfordert.

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c) Wohltäter und Empfänger

Wohltäter hegen im allgemeinen eine wärmere Ge-sinnung für die von ihnen Bedachten als diese für ihreGönner hegen, und dafür sucht man nach einer Erklä-rung wie für eine unverständliche Erscheinung. Diemeisten halten dafür, daß die einen Schuldnern glei-chen, die andern ein Forderungsrecht haben. Wie nunim Fall eines Darlehns der Schuldner lieber sähe, erhätte keinen Gläubiger, der Darleiher dagegen dasWohl des Schuldners auf dem Herzen trägt, so habeauch der Wohltäter den Wunsch, daß es dem von ihmGeförderten Wohlergehen möchte, weil er denkt dannden Dank einzuheimsen; dagegen erscheine jenem dieRückerstattung bei weitem nicht so dringlich. Epi-charmos würde wahrscheinlich urteilen: so redetensie, weil sie die Sache von der verkehrten Seite ausansähen; es läßt sich aber, wie die Menschen nun ein-mal sind, ganz wohl verstehen. Denn die Masse derMenschen hat erstens ein kurzes Gedächtnis und ziehtzweitens das Nehmen des Guten dem Geben vor.

Man möchte deshalb eher meinen, die Sache seitiefer im Wesen begründet und habe mit dem Verhält-nis bei einem Darlehen keinerlei Verwandtschaft.Denn hier ist es ja nicht eine liebevolle Empfindungfür den Schuldner, was den Wunsch für sein

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Wohlergehen begründet, sondern das Verlangen nachRückerstattung. Dagegen diejenigen die anderenGutes erwiesen haben, hegen für die von ihnen Geför-derten eine freundliche und liebevolle Gesinnung auchdann, wenn ihnen diese keinen Vorteil gewähren nochfür die Zukunft einen solchen in Aussicht stellen. Dieslehrt auch die Erfahrung bei den Künstlern. Jeder liebtsein eigenes Werk mehr als dieses ihn lieben würde,wenn es eine Seele bekäme. Am meisten aber tritt eseinem wohl bei den Dichtern entgegen. Diese sind inihre eigenen Schöpfungen über die Maßen verliebtund hängen an ihnen mit der Zärtlichkeit, mit der manan seinen Kindern hängt. Dieser Stimmung nun läßtsich die des Wohltäters vergleichen. Ihr Schützling istgleichsam ihr Werk, und so lieben sie es mehr, als dasWerk seinen Schöpfer liebt.

Der Grund dafür ist der, daß das Dasein für alle einGegenstand des Begehrens und der Liebe ist; unserDasein aber besteht in unserer Wirksamkeit, und mit-hin im Leben und in der Betätigung. In Wirklichkeitalso hat der Schöpfer gewissermaßen sein eigenes Da-sein an seinem Werke. So liebt man sein Werk, weilman das Dasein liebt, und das nun ist tief im Wesenbegründet. Denn das Werk zeigt als Wirklichkeit, waseiner der Möglichkeit nach ist.

Zugleich aber ist für den Wohltäter auch seineHandlungsweise etwas Beglückendes und Edles, so

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daß er seine Freude an dem hat, dem sie galt. Dage-gen der von ihm Geförderte empfindet an dem Spen-der nicht sowohl das was seine Handlungsweise Edleshat, sondern höchstens das was darin ihm zustattenkommt; dies aber ist nur in geringerem Grade für ihnein Grund des Wohlgefallens und der Zuneigung.Was Wohlgefallen erregt, ist an dem Gegenwärtigendie Wirklichkeit, an dem Zukünftigen die Hoffnung,am Vergangenen die Erinnerung. Das innigste Wohl-gefallen aber ist das, was man an seiner eigenenWirksamkeit empfindet, und das ruft denn auch ingleichem Maße Zuneigung hervor. Wer die Wohltatvollbracht hat, dem bleibt sie dauernd; denn das be-glückend Edle überdauert die Zeit; der Vorteil dage-gen für den dem sie erwiesen wurde, geht vorüber.Die Erinnerung an edle Taten ist erfreulich; die an er-langten Vorteil ist es überhaupt nicht oder doch nur ingeringerem Maße.

Dagegen möchte es sich mit der Erwartung umge-kehrt verhalten. Das Gefühl der Zuneigung gleichtdem Tätigsein, Gegenstand solchen Gefühles seindem passiven Verhalten. Wer also in der Betätigungder Stärkere ist, auf dessen Seite ist auch das Gefühlder Zuneigung und der Erweis derselben. Überdies,jedermann hat größere Liebe zu dem was ihm sauergeworden ist; so liebt man das Geld mehr, wenn manes selbst erworben, als wenn man es geerbt hat.

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Wohltat empfangen aber ist im allgemeinen mühelos,sie erweisen mühevoll. Deshalb ist auch die Liebe derMutter zu dem Kinde die größere; denn sie hat es mitSchmerzen geboren, und sie hat die stärkere Empfin-dung, daß das Kind das ihre ist. Eben dies aber, darfman sagen, ist auch für den Wohltäter das eigentüm-lich Bezeichnende.

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d) Selbstliebe

Eine weitere Frage ist die: ist es Pflicht sich selbstam meisten zu lieben oder den Nächsten? Man hat ge-meinhin für den der sich selbst am meisten liebt nurTadel; man schilt ihn, als sei er in verwerflicherSelbstsucht befangen. Es ist die allgemeine Ansicht,daß ein Mensch von niedriger Gesinnung alles umseiner selbst willen tut, und je schlechter einer vonCharakter ist, umso mehr. Man macht ihm also einenVorwurf in dem Sinne, daß er nichts tue ohne dabeian sich zu denken. Ein edel gesinnter Mensch dage-gen tue alles zu sittlichem Zwecke, und je edler einervon Wesen sei, desto mehr sei sein Motiv die sittlichePflicht und die Zuneigung zu anderen, während er daseigene Interesse hintansetze.

Indessen, zur Wirklichkeit der Dinge wollen solcheAuffassungen schlechterdings nicht stimmen, und dasist auch gar nicht unverständlich. Es heißt wohl, essei Pflicht, den am meisten zu lieben, der uns am in-nigsten verbunden sei; am innigsten verbunden aberist uns der, der, wenn er uns alles Gute wünscht, esrein um unserer Person selber willen wünscht, auchwenn niemand etwas davon erfahren sollte. Das aberpaßt am meisten auf jeden Menschen im Verhältnis zusich selbst, und von allem übrigen, was zum Begriff

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der Freundschaft gehört, gilt genau dasselbe. Wirhaben dargelegt, daß das was für freundschaftlicheLiebesgesinnung bezeichnend ist, erst von dem Ver-hältnis des Menschen zu sich selbst auf das Verhält-nis zu den anderen übertragen ist. Das drücken über-einstimmend auch alle solche Sprichwörter aus wie:»Zwei Menschen und eine Seele«; »Unter Freundenist alles gemeinsam«; »Gleich sein, Freund sein«;»Das Knie ist einem näher als die Wade«. Dies allesalso gilt am meisten im Verhältnis eines jeden zu dereigenen Person. Ein jeder ist sich selbst der Nächste,und so muß er denn auch wohl sich selbst am meistenlieben.

Da erhebt sich naturgemäß die Frage: welcher vonbeiden Ansichten soll man sich nun anschließen?Haben doch beide guten Grund für sich. Man wirdsolcher Verschiedenheit der Auffassungen gegenüberwohl zu unterscheiden und genau die Grenze zu be-stimmen haben, bis zu welcher, und die Beziehung, inwelcher jede die Wahrheit für sich hat.

Die Sache läßt sich leicht ins reine bringen, wennman sich nur klar macht, was denn eigentlich jede derbeiden Ansichten unter Selbstliebe versteht. Dieeinen, die aus ihr einen Vorwurf machen, verstehenunter Selbstliebe das Streben, der eigenen Person soviel wie möglich an Geld, Ehren und sinnlichen Ge-nüssen zuzuwenden. Das bezeichnet nun in der Tat

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das Streben der meisten Menschen: das ist es, woraufsie die größte Mühe verwenden, als wäre es das höch-ste Gut; und darum sind diese Dinge auch so heftigumstritten. Menschen, deren selbstsüchtiges Strebenauf dergleichen gerichtet ist, geben ihren Begierdenwillfährig nach; sie lassen sich überhaupt von erreg-ten Gefühlen leiten und willfahren der vernunftlosenSeite ihres Inneren. Damit ist nun allerdings die Artder großen Masse gekennzeichnet, und daher hat dennauch das Wort Selbstliebe seine Bedeutung zugewie-sen bekommen von der Menge, die niedriger Gesin-nung ist.

Diejenigen nun, die Selbstliebe in diesem Sinnehegen, verurteilt man mit Recht; es läßt sich abernicht verkennen, daß die Masse von Selbstliebe beidenjenigen zu sprechen gewohnt ist, die in diesemSinne für sich bedacht sind. Wenn einer immer nurdarum bemüht ist, selbst in seinem Tun sich vor alleman das Gerechte oder an das Maßvolle oder was ir-gendsonst Ausfluß sittlicher Gesinnung ist zu haltenund überhaupt immer alles Edle und Hohe sich anzu-eignen, so wird einem solchen Mann niemand Selbst-liebe zuschreiben oder sie ihm zum Vorwurf machen.Und doch darf einem solchen Mann Selbstliebe erstrecht nachgesagt werden. Er nimmt für sich das Herr-lichste, die Güter die es im höchsten Sinne sind, inAnspruch; er willfahrt dem was an ihm selbst sein

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eigentlichstes Wesen ist, und diesem leistet er in allenStücken Gehorsam.

Was nun vom Staate wie von jedem anderen zu-sammengesetzten Gebilde gilt, nämlich daß das wasan ihm den wesentlichsten Kern ausmacht, ihn imvollsten Sinne darstellt, das gilt ebenso auch vom ein-zelnen Menschen. Und so liebt denn der am eigent-lichsten sich selbst, der dieses sein Wesen liebt undihm zu Gefallen lebt.Man schreibt jemandem Selbst-beherrschung und Mangel an Herrschaft über sich zu,je nachdem die Vernunft in ihm die Herrschaft hatoder nicht, weil man meint, daß das eigentlicheSelbst eines jeden eben die Vernunft ist. Als eigene,frei vollbrachte Tat setzt man jedem nur das in Rech-nung, was er am meisten mit vernünftiger Überlegungvollbracht hat. Daß also dies eines jeden eigentlichesSelbst oder es doch mehr ist als alles andere, läßt sichnicht verkennen, und ebensowenig daß ein Menschvon sittlichen Grundsätzen darin die reichste Befriedi-gung findet.

Darum ist er gerade derjenige, bei dem die Selbst-liebe am stärksten ausgebildet ist; nur ist sie es ineiner anderen Bedeutung als die die man verurteilt.Sie unterscheidet sich von dieser gerade so weit, wiedas Leben nach der Vernunft sich von dem Lebennach Gefühlserregungen, und das Streben nach sittli-chen Zielen von dem Streben nach scheinbarem

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Vorteil unterscheidet. Menschen, die in hervorragen-dem Maße mit allem Eifer auf sittliche Betätigung be-dacht sind, gewinnen sich bei allen Sympathie undBeifall. Würden alle Menschen wetteifernd um sittli-che Ziele ringen und zu edler Tat die Kräfte regen, sowürde im Gemeinwesen alles stehen wie es soll undjeder einzelne für seine Person die höchsten Güter be-sitzen, wenn nämlich sittliche Vorzüge ein solchesGut darstellen. Ein edelgesinnter Mensch ist demnachzur Selbstliebe geradezu verpflichtet; denn von seinersittlichen Betätigung wird er selbst den Segen genie-ßen, und die anderen werden sich ihrer förderndenWirkung erfreuen. Bei einem Menschen von schlech-tem Charakter dagegen ist sie allerdings übel ange-bracht; denn ein solcher wird, indem er seinen niede-ren Antrieben folgt, sich selbst und seinen Nächstennur schädigen.

Bei dem schlechten Menschen klafft also zwischendem was er tun sollte und dem was er wirklich tut einWiderspruch; der gute Mensch dagegen tut das was ertun soll. Denn die Vernunft entscheidet sich jedesmalfür das was ihr das Entsprechendste ist, und ein guterMensch gehorcht der Vernunft. Gewiß also tut einpflichtgetreuer Mensch auch für seine Freunde und fürsein Vaterland vieles; ja, er setzt wenn es nötig ist fürsie sein Leben ein. Er gibt Geld und Ehrenstellen,überhaupt alle viel umworbenen Güter dahin, um sich

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dafür das was edel und herrlich ist zu gewinnen; erwill lieber kurze Zeit die höchste Seligkeit genießenals lange Zeit mäßigen Genuß erlangen und lieber einJahr hindurch ein Leben voll edlen Gehaltes als vieleJahre hindurch ein Leben führen wie es sich ebentrifft; lieber eine edle und bedeutsame Tat vollbringenals eine Menge von unbedeutenden Beschäftigungentreiben. Dies alles trifft bei dem zu, der sein Lebenhingibt; er wählt sich damit ein bedeutendes und einedles Los. Solche Menschen bringen denn auch wohlGeldopfer, damit ihre Freunde dadurch größeren Vor-teil erlangen. Dann fällt dem Freunde der Vorteil,ihnen der Ruhm der edlen Tat zu; es ist also das hö-here Gut, was sie für sich gewinnen. In bezug auf Eh-renstellen und Ämter ist das Verhalten dasselbe. Erwird alles dergleichen gern dem Freunde überlassen;denn dann fällt ihm zu was edel und preiswürdig ist.So wird er denn mit Recht als ein Mann von sittlicherGesinnung geachtet, da er die edle Tat höher stellt alsalles andere. Es kann selbst geschehen, daß er großeDinge, die zu vollbringen sind, dem Freunde überläßtund es für ihn ein edlerer Entschluß ist, dem Freundedazu den Anlaß zu gewähren, als sie selbst zu voll-bringen. So nimmt denn offenbar in allem was desBeifalls würdig ist der Mann von sittlicher Gesinnungden größeren Anteil von dem was edel und wertvollist für sich in Anspruch. In diesem Sinne also, wie

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wir sie geschildert haben, ist Selbstliebe Pflicht; aller-dings eine solche wie die große Menge sie übt, diesollte nicht sein.

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6. Das Bedürfnis nach Freunden

a) Im Glück

Gestritten wird ferner auch darüber, ob ein Menschin glücklichen Verhältnissen Freunde braucht odernicht. Es heißt, die Menschen in glücklicher Lage ge-nügten sich selbst und bedürften der Freunde nicht:sie hätten ja was gut ist, erfreuten sich dessen in aus-reichendem Maße und hätten also kein Bedürfnis nachetwas Weiterem; der Freund als ein anderes Selbstverschaffe einem ja nur, was man sich selbst zu ver-schaffen nicht imstande sei. Daher das Wort:

Wenn dir die Gottheit Glück verliehn, wasbraucht's des Freunds?

Und doch erscheint es ungereimt, daß man, wennman dem Glücklichen alle Güter zuerteilt, ihm Freun-de nicht zuweist, die doch von allen äußeren Güternfür das höchste gelten. Nun ist es ja für den Freundbezeichnender, daß er Gutes erweise, als daß er esentgegennehme: anderen Gutes zu erweisen gehörtzum guten Menschen und zur guten Gesinnung, undFreunden Gutes anzutun ist schöner als Fremden. Ausallen diesen Gründen wird ein wohlgesinnter Mensch

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solcher bedürfen, an denen er Guttat üben kann.Darum ist es eine Frage, ob man im Glück oder obman im Unglück das dringendere Bedürfnis nachFreunden hat. Bedarf doch wer im Unglück ist sol-cher, die sich seiner annahmen und wer im Glück istsolcher, an denen er Gutes tun kann. Andererseits istes doch auch wohl ungereimt, aus dem Glücklicheneinen Vereinsamten zu machen; denn kein Menschwürde sich etwas aus dem Besitz aller nur möglichenGüter machen, wenn er sie für sich allein genießensollte. Der Mensch ist ein für die Gemeinschaft mitandern bestimmtes Wesen und zum Zusammenlebenmit andern geschaffen; das ist bei dem Glücklichenerst recht der Fall. Er hat die Güter die ihrer Naturnach Güter sind, und offenbar ist ein Zusammenlebenmit Freunden und mit guten Menschen wertvoller alsmit Fremden oder mit dem ersten besten. Mithin, werim Glücke ist der bedarf der Freunde.

Was will denn nun die erst genannte Ansicht undworin besteht ihre Berechtigung? Etwa darin, daß dergroße Haufe meint, unser Freund sei wer uns Nutzenbringt? Dieser Art von Freunden allerdings wird werim Glücke ist nicht bedürfen, da er die Güter des Le-bens besitzt. Er bedarf aber der Freunde auch nichtzum Behufe der Annehmlichkeit oder bedarf ihrerdoch nur für kurze Augenblicke; denn ein Leben daserfreulich ist bedarf keiner von außen

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hereingetragenen Annehmlichkeiten.Wenn er aber Freunde von dieser Art nicht braucht,

so scheint es bedarf er überhaupt keiner Freunde. Unddoch ist dies schwerlich richtig. Gleich im Einganghaben wir dargelegt, daß glückselig sein ein Wirk-samsein bedeutet; solches Wirksamsein aber ist einVorgang und nicht ein Zustand gleich einem ruhendenBesitze. Bedeutet aber glückselig sein lebendig seinund ein Leben der Wirksamkeit führen, und ist dieWirksamkeit des guten Menschen, wie wir am Ein-gang dargelegt haben, auf sittliche Ziele gerichtet undan und für sich erfreulich; ist ferner für jeden das er-freulich, was seinem Wesen als das ihm eigentümlichZukommende entspricht, und sind wir eher imstandedie uns Nahestehenden als uns selbst, und eher ihreHandlungen als unsere eigenen zu verstehen: so sindmithin für den Edelgesinnten die Handlungen edlerMenschen die ihm befreundet sind, eine Quelle derFreude; denn beides, das Sittliche wie das persönlichEigene, hat das zum Inhalt, was von Natur eine Quel-le der Freude ist. Ein Mensch in glücklichen Umstän-den wird also das Bedürfnis nach Freunden von dieserBeschaffenheit empfinden, wenn er sittliche Hand-lungsweisen wie sie ihm selber eigen sind bei anderenzu beobachten wünscht; solche aber treten ihm beieinem guten Menschen, der sein Freund ist, entgegen.

Es ist ferner herrschende Überzeugung, daß das

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Leben eines glücklichen Menschen reich an Freudensein müsse; für einen einsamen Menschen ist aber dasLeben eine drückende Last. Es ist schon das nichtleicht, für sich allein in ununterbrochener Wirksam-keit zu stehen; viel leichter wird es, wenn man mit an-deren vereint und im Hinblick auf andere wirken darf.So wird die Wirksamkeit stetiger und zugleich an undfür sich zur Quelle der Freude, und so muß es beimglücklichen Menschen sein. Denn ein edler Menschempfindet eben, sofern er ein solcher ist, Freude anHandlungen von sittlicher Art und Betrübnis überHandlungen aus unsittlicher Gesinnung, geradeso wieein musikalisch gebildeter Mensch an schönen Ton-weisen seine Freude hat und durch schlechte geärgertwird. In dem Zusammenleben mit guten Menschenbefestigt sich auch wohl die Übung im Guten, wieschon Theognis bemerkt.

Betrachten wir aber den Gegenstand unter Ge-sichtspunkten, die mehr von der äußeren Natur herge-nommen sind, so darf man erst recht sagen, daß einFreund von sittlich bewährtem Charakter für dengleichartig gesinnten Mann von Natur etwas Wün-schenswertes ist. Denn wie wir dargelegt haben: daswas von Natur ein Gut ist, das ist auch für den Mannvon sittlicher Gesinnung an und für sich ein Gut undeine Quelle der Freude. Den Inhalt des Lebens be-stimmt man aber für die Tiere als durch das

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Vermögen der Empfindung, für die Menschen alsdurch das Vermögen des Empfindens oder des Den-kens gegeben. Das Vermögen aber ist um der Wirk-samkeit willen, und die Wirksamkeit ist das worauf eseigentlich ankommt. So darf man denn sagen, daß dasLeben im eigentlichen Sinne vom Empfinden undDenken seine Bedeutung empfängt; das Leben abergehört zu demjenigen, was an und für sich gut und er-freulich ist; denn es ist ein begrifflich Bestimmtes,und was begrifflich bestimmt ist, gehört dem Gebietedes Guten an. Was nun seiner Natur nach ein Gut ist,das ist ein Gut auch für den Mann von sittlicher Ge-sinnung. Daher die Tatsache, daß das Leben für alleetwas Erfreuliches ist. Freilich darf man dabei nichtan ein böses und verworfenes Leben, noch an einLeben voller Schmerz denken; denn ein solches istebenso wie das was ihm anhaftet begrifflich nicht zubestimmen. In dem folgenden Abschnitt wo wir überden Schmerz handeln werden, wird das noch deutli-cher hervortreten.

Fassen wir nun alles das zusammen. Das Leben istschon an sich etwas Gutes und Erfreuliches; man siehtes auch daran, daß alle es begehren und die guten undglücklichen Menschen am meisten; denn für diese istdas Leben am meisten begehrenswert, und ihr Le-bensgeschick ist das seligste. Ferner, wer sieht ist sichseines Sehens, wer hört seines Hörens, wer geht

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seines Gehens bewußt, und bei den anderen Funktio-nen gibt es ebenso ein Bewußtsein davon daß man sieübt, so daß wir also empfinden daß wir empfindenund denken daß wir denken. Die Tatsache aber daßwir empfinden oder denken enthält auch dies daß wirexistieren; denn Existenz hieß eben Empfinden oderDenken. Das Bewußtsein daß man lebt ist aber etwasan und für sich Erfreuliches; denn Leben ist seinerNatur nach ein Gut, und das Bewußtsein daß man dasGute zu eigen hat, ist ein Grund der Freude. Mithinist das Leben begehrenswert, und am meisten für dieGuten, weil für diese die Existenz etwas Gutes undErfreuliches ist; denn sie sind glücklich in dem Be-wußtsein des an und für sich Guten, das sie besitzen.Nun verhält sich ferner der sittlich Gesinnte zumFreunde wie zu sich selbst; denn der Freund ist seinzweites Selbst. So ergibt sich denn aus alledem, daßfür jeden wie seine eigene Existenz, ebenso oder na-hezu so auch die Existenz seines Freundes etwas Er-wünschtes ist. Die Existenz aber war zu wünschenwegen des Bewußtseins des Guten im eigenen Wesen,und ein solches Bewußtsein ist an und für sich erfreu-lich. Man muß also auch ein Bewußtsein von der Exi-stenz des Freundes haben, und dieses kann man erlan-gen durch das Zusammenleben und den Austauschvon Worten und Gedanken. Denn das ist es, was fürdas Zusammenleben von Menschen das bezeichnende

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ist, nicht das Weiden auf derselben Weide wie beimlieben Vieh. Ist also dem Glücklichen schon die Exi-stenz als solche wünschenswert als etwas von NaturGutes und Erfreuliches, und gilt das nahezu ebensovon der Existenz des Freundes, so wird auch derFreund zu dem Wünschenswerten zu rechnen sein.Was ihm aber ein Gegenstand seines Wunsches ist,das muß derjenige haben, der glücklich sein soll,wenn er nicht in dieser Beziehung unter einem Man-gel leiden soll. Somit gehört es zum Begriffe desglücklichen Menschen, daß er ein Bedürfnis nachFreunden von edlem Charakter empfindet.

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b) Die rechte Zahl der Freunde

Soll man sich nun so viele Freunde wie möglich er-werben? oder wird, wie von der Gastfreundschaft mitgesundem Urteil gesagt zu sein scheint: »Nicht vieleGäste, aber auch nicht ohne Gäste,« so auch bei derFreundschaft das Wort angebracht sein: nicht ohneFreund, aber auch nicht allzuviele Freunde? Werdabei nur an den Vorteil denkt, dem wird der Aus-spruch überaus einleuchtend erscheinen. Denn vielenGegendienste leisten macht große Beschwer, und eszu vollbringen ist das Leben nicht lang genug. MehrFreunde zu haben als für das eigene Leben ausrei-chen, ist Überfluß und für eine befriedigende Lebens-führung nur hinderlich; also hat man auch kein Be-dürfnis danach. Gilt es dagegen die Annehmlichkeit,so reicht man wieder mit wenig aus, wie mit dem Ge-würz bei der Speise. Wo es endlich um Leute von sitt-lichem Charakter zu tun ist, soll man da eine mög-lichst große Zahl suchen? oder gibt es ein rechtesMaß auch für die Menge von Freundschaftsverhältnis-sen, wie für die Einwohnerzahl einer Stadt? ZehnMenschen machen noch keine Stadt; zehn mal zehn-tausend aber, das würde keine Stadt mehr sein.

Das Quantitative nun ist eigentlich nicht ein ein-heitlich zu Bestimmendes, sondern immer ein

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Mittleres zwischen äußersten Grenzen. So gibt es einebestimmte Grenze auch für die Zahl der Freunde, unddas Maximum würde sich danach bestimmen, mitwievielen man in Lebensgemeinschaft zu stehen ver-mag; denn dies war es doch, was uns als das fürFreundschaftsverhältnisse Bezeichnendste galt. Es istnun eine ausgemachte Tatsache, daß es unmöglich ist,seine Lebensführung mit vielen zu teilen und sich vie-len zu widmen. Die Freunde müßten ferner auch un-tereinander befreundet sein, wenn sie sämtlich mitein-ander Tag für Tag zusammen sein sollen; daß ein sol-ches Verhältnis zwischen einer größeren Anzahl be-stehe, hat aber seine Schwierigkeit, und auch das hatseine Bedenken, daß eine Mehrheit von MenschenFreud und Leid persönlich miteinander teilen sollen.Es wird wahrscheinlich nur allzuoft beides zusam-mentreffen, daß man die Freude des einen und dasLeid des anderen mitzuempfinden bekommt. Alsowird das Richtige doch wohl dies sein, daß man nichtdanach strebt, eine möglichst große Anzahl vonFreunden zu haben, sondern nur geradeso viele als füreine volle Lebensgemeinschaft zulässig sind.

Es scheint auch gar nicht möglich mit vielen ganzeng befreundet zu sein, aus demselben Grunde ausdem es auch nicht möglich ist, ein Liebesverhältnismit mehreren zu unterhalten. Denn ein solches bedeu-tet einen besonders hohen Grad von inniger

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Zuneigung, und diese gibt es nur im Verhältnis zueinem einzigen. Ebenso kann man denn auch in ganzintimem Freundschaftsverhältnis nur mit wenigen ste-hen. Daß es sich so verhält, lehrt auch die Erfahrung.Es werden nicht viele unsere Freunde im Sinne einesdas Leben ausfüllenden Freundschaftsbundes, undwas die berühmten, vielgepriesenen Freundschaftsver-hältnisse betrifft, so sind es immer solche zwischenzwei Personen, von denen die Geschichte berichtet.Leute mit vielen Freunden, die sich mit jedem gleichvertraut stellen, sind eigentlich niemandes Freund, so-fern es nicht bloß ein Verhältnis wie zwischen Nach-barn und Mitbürgern sein soll. Jene Leute nennt mandenn auch Allerweltsfreunde. Nur im Sinne solchernachbarschaftlichen Verhältnisse als gute Bekannteist es möglich, mit vielen befreundet zu sein, ohnedoch zu den Allerweltsfreunden zu gehören, und sodaß man dabei in Wahrheit seinen ehrenwerten Cha-rakter wahrt. Dagegen eine Freundschaft, die den sitt-lichen Vorzügen und der Person selber gilt, kann mannicht mit vielen unterhalten. Man darf schon zufriedensein, wenn man auch nur wenige findet, die die dazuerforderlichen Eigenschaften besitzen.

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c) Freunde im Glück und im Unglück

Wann ist nun das Bedürfnis nach Freunden drin-gender, im Glück oder im Unglück? In beiden Lagensieht man sich nach ihnen um. Im Unglück bedarfman des Beistandes; im Glück bedarf man solcher,mit denen man zusammenleben und denen man Guteserweisen kann; denn das wünscht man sich, anderenwohlzutun. Dringlicher ist das Bedürfnis von Freun-den im Unglück, weil man da Menschen braucht, dieeinem hilfreich sind; edler dagegen ist es im Glück,und darum sucht man hier Freunde von sittlichemWert; denn an diesen Gutes zu tun und mit diesensein Leben zuzubringen schafft größere Befriedigung.Schon die bloße Gegenwart der Freunde macht Freudeim Glück wie im Unglück. Betrübte finden Erleichte-rung durch die Teilnahme der Freunde. Man könnteim Zweifel sein, ob Freunde gleichsam die Last tragenhelfen, oder ob dies zwar nicht der Fall ist, abergleichwohl die Freude an ihrer Anwesenheit und dasBewußtsein von ihrer Teilnahme den Kummer verrin-gert. Ob indessen dies oder etwas anderes der Grundder Erleichterung ist, mag auf sich beruhen; der Er-folg ist jedenfalls der bezeichnete.

Die Gefühle, die die Gegenwart der Freunde her-vorruft, sind von gemischter Art. Schon der Anblick

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der Freunde ist erfreulich, besonders wenn man imUnglück ist, und trägt viel dazu bei den Kummer zuverscheuchen. Denn der Freund, falls er taktvoll ist,hat etwas Tröstendes durch seinen bloßen Anblickwie durch sein Zureden; er kennt die Empfindungs-weise des anderen und weiß was ihn angenehm undwas ihn schmerzlich berührt. Andererseits hat es auchwieder etwas Betrübendes, zu sehen wie ein andererüber unser Mißgeschick sich mit uns grämt; dennjeder möchte es lieber vermeiden, seinen FreundenGram zu verursachen. Darum wenden Menschen vonmännlichem Charakter alle Vorsicht auf, um ihreFreunde nicht an ihrem Schmerz zu beteiligen, undselbst wenn einer nicht in hervorragendem Maße demSchmerze gegenüber widerstandsfähig ist, trägt erschwer an dem Leide, das den anderen daraus er-wächst. Leute die zu weichlicher Klage geneigt sind,läßt er nicht zu sich, weil auch er nicht zum Wehkla-gen und Jammern geneigt ist. Weibern dagegen undMännern von weibischem Charakter ist es ein wohltu-endes Gefühl, wenn andere mit ihnen jammern, undsie haben solche gerne um sich als liebevolle und teil-nehmende Seelen. Offenbar aber ist es geraten, sich inallen Stücken nach dem zu richten, der der Charakter-vollere ist. Im Glück hingegen bedeutet die Gegen-wart der Freunde eine erfreuliche Lebensgemeinschaftund das Bewußtsein, daß sie an dem Guten was man

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besitzt ihre Freude haben.Das Richtige wird also wohl dies sein, daß man

seine Freunde freudig einladen soll unser Glück zuteilen; / denn es ist etwas Herrliches Freude um sichzu verbreiten; / daß man aber nur zögernd ihnen zu-muten soll unser Unglück zu teilen; / denn an seinenSchmerzen soll man andere so wenig wie möglich be-teiligen. Daher das Wort: »Genug, daß ich selberleide.« Seine Freunde anzugehen ist noch am ehestendann geraten, wenn sie uns eine große Hilfe gewährenkönnen bei geringer eigener Beschwerde. Umgekehrtist es angemessen, Leuten im Unglück sich unaufge-fordert und bereitwillig anzubieten; denn das istFreundesart, dem anderen Gutes zu erweisen, und be-sonders einem der es bedarf und der es doch nicht for-dert. So sich zu erw7eisen ist auf beiden Seiten dasEdlere und Erfreulichere. Zu Leuten im Glück dage-gen soll man bereitwillig dann gehen, wenn man sichihnen nützlich machen kann; / denn dazu bedarf mander Freunde: / aber zögernd, um es sich mit ihnenwohl sein zu lassen; denn es ist nicht hübsch, sichdazu zu drängen Vorteile zu erhaschen. Doch sollteman sich auch vor dem Rufe der Unfreundlichkeit beieiner Ablehnung hüten; denn es kommen Fälle vor,wo man sich wirklich solchem Rufe aussetzt. Und soerscheint denn die Gegenwart der Freunde in jederLage als etwas Wünschenswertes.

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d) Die Freundschaft als Lebensgemeinschaft

Ist nun nicht für Freunde die Gewohnheit des Zu-sammenseins ebenso das Erfreulichste, wie Liebendeim Anblick des Geliebten das größte Glück findenund diese Empfindung jeder anderen vorziehen, weildie Liebe am meisten in dieser Empfindung ihrenAnlaß und ihren Entstehungsgrund hat? Freundschaftbedeutet Gemeinschaft; man verhält sich zum Freundewie zu dem eigenen Selbst. Ist nun die Empfindungein Gegenstand des Wunsches, die uns die eigeneExistenz erweckt, so ist es auch diejenige, die uns dieExistenz des Freundes erweckt; zur Wirklichkeit aberwird sie in der Gemeinschaft der Lebensführung, undso ist es nur natürlich, daß man sich diese wünscht.Was für jeden den Inhalt seiner Existenz bedeutet, daswas einem das Leben erst lieb macht, gerade daswünscht man mit dem Freunde zusammen zu genie-ßen. Darum lieben es die einen mit dem Freunde zuzechen, die anderen mit ihm Würfel zu spielen, wie-der andere treiben mit ihm Körperübungen und Jagdoder wissenschaftliche Studien, indem jeder das woriner im Leben am meisten Befriedigung findet zur ge-meinsamen Unterhaltung mit dem Freunde macht.Denn weil man sein Leben mit den Freunden teilenwill, so treibt man in Gemeinschaft mit ihnen eben

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dies, worin man das Glück seines Lebens findet.Daher wird die Freundschaft zwischen Menschen vonniederer Gesinnung zu einer Gemeinschaft im Bösen.Der eine überträgt auf den anderen vermöge ihres un-befestigten Charakters die eigene Schlechtigkeit, undindem sie sich einander angleichen, werden sie nurimmer verworfener. Die Freundschaft zwischen gutenMenschen dagegen wird zu einer Gemeinschaft imGuten, die durch den steten Umgang nur verstärktwird. Man kann sagen: sie werden tüchtiger, indemsie miteinander tätig sind und einer den anderen aufdem rechten Wege erhält. Jeder nimmt vom anderendas Gepräge dessen an, was ihm am anderen lieb undwert ist: daher das Wort: »Gutes lernt man vonGuten.«

So weit über die Gemeinschaften zwischen denMenschen. Wir gehen nunmehr über zur Erörterungder Gefühle.

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IV. TeilMotive, Ziele und Stufen

des sittlichen Lebens

1. Der sittliche Wert der Gefühle

In diese Ausführungen schließt sich naturgemäßeine Untersuchung über das Wesen des Gefühles.

Das Gefühl der Lust, darf man sagen, ist mit derNatur des Menschen aufs innigste verwachsen; des-halb regiert man ja auch die Jugend beim Werke derErziehung durch das Mittel von Lust und Schmerz.Für die früheste Charakterbildung gilt es als das Mo-ment von höchster Bedeutung, daß man lerne seineFreude zu haben an dem was der Freude wert ist, undWiderwillen zu empfinden gegen das, was Widerwil-len verdient. Das behält dann seine Wirksamkeit dasganze Leben hindurch; es übt eine ausschlaggebendeMacht auf die sittliche Lebensführung und auf dieGlückseligkeit; denn der Mensch begehrt was ange-nehm, und meidet was schmerzlich ist. An so wichti-gen Gegenständen möchte man meinen darf man amwenigsten stillschweigend vorbeigehen, schon ausdem Grunde nicht, weil sie zu so großen Meinungs-verschiedenheiten Anlaß geben.

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a) Verschiedenheit des Urteils über den Wert derLustgefühle

Manche nämlich sehen das Gefühl der Lust als dasGute selber an, andere betrachten es in geradem Ge-gensatze dazu als ganz und gar verwerflich; jene inder Überzeugung, daß ihre Auffassung der Sache ent-spreche, diese in der Meinung, daß es für die Lebens-führung der Menschen zuträglicher sei, wenn man dasLustgefühl unter die verwerflichen Dinge einreihe,auch dann wenn es eigentlich nicht dazu gehöre. Denndie Masse laufe der Freude nach und sei sklavisch denLüsten ergeben: deshalb müsse man die Triebe in dieentgegengesetzte Richtung ablenken. So würden dieLeute am ehesten dazu gelangen, die mittlere Straßeeinzuschlagen.

Indessen, diese Ansicht trifft schwerlich das Richti-ge. Wo es sich um starke Empfindungen und um dieBetätigung im Leben handelt, da erringt sich weit we-niger Glauben das was die Leute lehren, als das wassie tätig üben, und wenn zwischen der Lehre und demwas man tatsächlich wahrnimmt, ein Zwiespalt her-vortritt, so erregt das bei den Leuten Geringschät-zung, und sie ziehen dann auch das was etwa an derLehre wahr ist, in die gleiche Verwerfung mit hinein.Eifert jemand gegen die Lust und sieht man ihn

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dennoch begehren was Lust bereitet, so meinen dieLeute, seine Neigung sei in jedem Falle der Lust zu-gewandt, als wäre jede Lust von gleicher Art; dennstreng zu unterscheiden liegt nicht in der Art der gro-ßen Masse. Man wird daher annehmen dürfen, daßdiejenigen Lehren, die der Wahrheit entsprechen,nicht nur im Sinne der Theorie, sondern auch für diePraxis des Lebens die wertvolleren sind. Man schenktihnen Glauben, weil ihnen die Taten entsprechen, undsie bilden deshalb für die Hörer den Antrieb, sichnach ihnen zu richten. Indes genug davon. Treten wirnunmehr an das heran, was über die Lust von alters-her gesagt worden ist.

Eudoxus erklärte die Lust geradezu für das Gute,und begründete es damit, daß man alle Wesen, dievernünftigen, wie die vernunftlosen, ihr nachjagensehe. Überall sei das Wertvolle das, was Gegenstanddes Begehrens sei, und was mit dem größten Eifer be-gehrt werde, das sei auch das am höchsten Stehende.Die Tatsache, daß alle Wesen auf dasselbe Ziel ge-richtet seien, deute also darauf hin, daß eben dies füralle das Beste sei; denn jedes Wesen wisse wie beider Nahrung ganz wohl herauszufinden was ihm dien-lich sei; was aber für alle dienlich sei und was alleWesen begehren, das sei eben das Gute.

Wenn nun diese seine Ausführungen Glauben fan-den, so geschah es doch mehr wegen der Trefflichkeit

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seines Charakters als wegen ihres inneren Wertes.Denn er galt für einen Mann von ungewöhnlich ehren-festem Charakter, und darum meinte man, was ersage, das sage er nicht als Liebhaber der Lust, son-dern es verhalte sich wirklich so. Er nun meinte, seinSatz werde ebenso bekräftigt durch das was der Lustals ihr Gegenteil gegenüberstehe. Der Schmerz gelteschon an und für sich jedem für etwas was zu meidensei, und darum sei sein Gegenteil in gleichem Maßedas wonach man strebe. Am meisten begehrenswertaber sei dasjenige, was die Menschen nicht wegeneines anderen oder als Mittel für ein anderes, sondernum seiner selbst willen begehren; diesen Charakteraber trage nach allgemeinem Zugeständnis die Lust.Denn niemand frage, wozu die Lust gut sei, offenbarweil die Lust an und für sich begehrenswert sei.Komme sie zu irgendeinem Guten noch als Zusatz, sowerde dessen Würdigkeit als Gegenstand des Stre-bens durch sie noch erhöht; das gelte z.B. für Gerech-tigkeit im Handeln und für Selbstbeherrschung. Wasaber am Guten eine Steigerung bewirke, das sei selbstein Gutes.

Dieser Ausführung darf man nun wohl so viel zu-gestehen, daß sie die Lust wirklich als eines in derZahl der Güter, aber nicht, daß sie dieselbe als eingrößeres im Vergleich mit anderen erweist. Denn dasgilt von jeglichem, daß es durch seine Verbindung mit

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einem anderen Gute begehrenswerter wird als esaußer solcher Verbindung ist. Durch eine derartigeBetrachtung beweist denn auch Plato, daß die Lustnicht das Gute selber ist. Denn ein lustvolles Lebenwerde in Verbindung mit der Einsicht begehrenswer-ter als ohne sie; wenn aber solche Mischung ein Bes-seres sei, so sei die Lust nicht das Gute selber: denndas Gute werde durch keinen Zusatz noch begehrens-werter. Dann würde aber offenbar auch nichts ande-res, was durch die Verbindung mit einem an sichGuten noch begehrenswerter würde, das Gute selbersein. Was ist es nun, was als das Gute selbst durchkeinen Zusatz vermehrt wird und woran wir auch An-teil haben? Danach gerade halten wir ja Umschau.

Wenn andererseits manche den Einwand erheben,das was alle begehren sei gar kein Gutes, so will dasschlechterdings nichts besagen. Denn was alle für einGut halten, das behaupten wir ist wirklich ein Gut.Wer diesen Glauben aufhebt, wird schwerlich etwasaufzuzeigen imstande sein, was mehr Glauben ver-diente. Wenn bloß die vernunftlosen Geschöpfe da-nach strebten, so hätte jener Satz vielleicht einenSinn; tun es aber auch die vernunftbegabten, waskann er dann bedeuten? Ist doch selbst in den gering-wertigen Dingen noch ein natürlich Gutes, das besserist als ihr sonstiges Wesen, und dieses strebt nachdem ihnen eigentümlich zukommenden Guten. Aber

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auch jener aus dem Gegenteil hergenommene Beweisdarf nicht ohne weiteres als zutreffend gelten. Dennwenn der Schmerz ein Übel ist, wendet man ein, so istdas noch kein Beweis, daß die Lust ein Gut ist. Esstehe ja auch ein Übel im Gegensatze zu einem ande-ren Übel, und beide zusammen wieder im Gegensatzezu dem was weder ein Gut noch ein Übel ist. Darinnun haben sie gewiß ganz recht; indessen was denSatz anbetrifft, so ist ihr Gedanke sicher nicht richtig.Denn wenn beide, Lust und Schmerz, zu den Übelngehören, so müßten auch beide gemieden werden;sind sie weder ein Gut noch ein Übel, so wäre keinesvon beiden oder beide gleichmäßig zu meiden. Nunaber meidet man augenscheinlich den Schmerz als einÜbel und begehrt die Lust als ein Gut, und so stehensie sich denn auch gegenüber, das eine als ein Gutund das andere als ein Übel.

Auch daß die Lust nicht zu den dauernden Qualitä-ten gehören soll, ist kein Beweis dafür, daß sie des-halb auch nicht zu den Gütern gehöre. Die sittlichenTätigkeiten bedeuten gleichfalls keine Qualitäten unddie Glückseligkeit auch nicht. Man sagt aber weiter,das Gute sei ein begrifflich Bestimmtes, die Lust da-gegen sei unbestimmt, weil sie ein Mehr oder Minderzuläßt. Wenn man nun dieses Urteil auf die subjektiveLustempfindung der Menschen bezieht, so verhält essich ganz ebenso mit der Gerechtigkeit und den

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anderen Tugenden, in bezug auf welche man denMenschen ausdrücklich ein Mehr oder Minder der Be-schaffenheit wie des tugendhaften Handelns zu-schreibt. Es kann einer mehr oder minder gerecht undtapfer sein und auch mehr oder minder Gerechtigkeitund Selbstbeherrschung bewähren. Wenn man aberdie Unbestimmtheit in den Lustgefühlen selbst findet,so gibt man kaum den wahren Grund für jenen Satzan, nämlich daß die einen ungemischt, die anderen ge-mischt sind. Was hindert denn daß ebenso, wie dieGesundheit, die doch ein begrifflich Bestimmtes ist,das Mehr oder Weniger zuläßt, es sich auch mit derLustempfindung verhalte? Denn die Menschen habennicht alle die gleiche Konstitution; ja in einem unddemselben Menschen ist sie nicht immer die gleiche,sondern sie erhält sich, auch wenn sie bis zu einemgewissen Punkte nachläßt, und läßt einen Unterschieddes Mehr und Minder zu. Etwas derartiges kann dochauch bei der Lustempfindung der Fall sein.

Weiter versucht man es damit, daß man, indemman das Gute als etwas Vollendetes, dagegen die Be-wegungen und die Prozesse des Werdens als etwasUnvollendetes darstellt, die Lustempfindung als einebloße Bewegung und einen Prozeß kennzeichnet.Auch hier kann man nicht zugeben, daß sie damit dasRechte treffen und daß die Lust wirklich solch eineBewegung sei. Denn wo Bewegung ist, da kommt ihr

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als eigentümliches Attribut Schnelligkeit und Lang-samkeit zu, und wo dies nicht an sich zutrifft, z.B. beider Bewegung des Universums, dann doch im Ver-hältnis zu anderem. Der Lustempfindung kommt aberkeines von beiden Attributen zu. Von Schnelligkeitkann man wohl reden, wo jemand in den Zustand derLust wie in den des Zornes gerät, aber nicht wo je-mand Lust empfindet; hier gibt es Schnelligkeit auchnicht im Verhältnis zu anderem, wie da wo jemandgeht oder wächst und in allen ähnlichen Prozessen.Man kann schnell und langsam in den Zustand derLust übergehen, aber man kann nicht im wirklichenZustande der Lust, das heißt im Genüsse selberschnell sein. Und in welchem Sinne soll es ein Prozeßsein? Man kann doch nicht annehmen, daß Beliebigesaus Beliebigem werde, sondern daß jegliches sich indasjenige wieder auflöse, woraus es entspringt. DerSchmerz soll dann der Untergang eben dessen sein,dessen Entstehung die Lust ist. Ferner sagt man,Schmerz sei Mangel an dem was die Natur fordert,Lust dagegen sei die Befriedigung solcher Forderung.Diese Vorgänge indessen sind leiblicher Art. Ist nundie Lust die Befriedigung des natürlichen Bedürfnis-ses, so müßte auch das Substrat, dem solche Befriedi-gung zuteil wird, also der Leib, dasjenige sein, dasdie Lust empfindet, und das will doch nicht einleuch-ten. Also ist die Lust auch nicht die Befriedigung

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selber; sondern das Verhältnis ist dies, daß man,wenn die Befriedigung eintritt, Lust, und wenn manihrer verlustig geht, Unlust empfindet.

Es scheint, daß die genannte Ansicht ihren Anlaßhat an den Unlust- und Lustempfindungen, die dieNahrung mit sich bringt. Wenn man nämlich das Be-dürfnis empfinde und dadurch in schmerzliche Emp-findungen versetzt werde, dann bereite die Befriedi-gung Lust. Indessen, das trifft nicht auf alle Arten derLustempfindung zu. Der Freude am Lernen geht keinSchmerz voran, und unter den sinnlichen Wahrneh-mungen ebensowenig denen des Geruchs sowie vielenGehörs- und Gesichtswahrnehmungen, oder den Erin-nerungen und Hoffnungen. Was sollen es also fürDinge sein, deren Werden diese Genüsse bezeichnen?Da ist doch kein Mangel vorausgegangen, dessen Be-friedigung nachher eintreten könnte. Gegen diejenigenaber, die mit den Lüsten von schimpflicher Art ope-rieren, ließe sich einwenden, daß dergleichen ja garnicht wirklich lustvoll ist; denn wenn etwas Leutenvon schlechter Gesinnung Lust bereitet, darf mandoch deshalb nicht annehmen, daß es auch anderenals diesen lustvoll ist, ebensowenig wie das was denKranken gesund oder süß oder bitter ist oder auchwas den an den Augen Ladenden weiß erscheint, das-selbe für die anderen bedeutet.

Man kann weiter einwenden, daß die Lust wohl

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begehrenswert ist, nur nicht die aus diesen bestimm-ten Quellen entspringende, geradeso wie auch derReichtum es ist, aber nicht der durch Verräterei er-worbene, und die Gesundheit, aber nicht die durchjede Art von Speisen erlangte. Oder auch man kannsagen, in der Lust gibt es einen Unterschied derArten. Die Lust am Ehrenhaften ist eine andere als dieam Verwerflichen; die Lust am Gerechten kann mannicht empfinden, wenn man nicht gerecht ist, die Lustan edler Bildung nicht, wenn man nicht gebildet ist,und so durchgängig. Ein Freund ist etwas anderes alsein Schmeichler; auch daran kann man klar machen,daß die Lust nicht ein Gut ist oder daß es doch in ihrverschiedene Arten gibt. Der eine sucht anerkannter-maßen den Umgang zu gutem Zwecke, der anderezum Zwecke der Lust; diesen verachtet man, jenenschätzt man hoch, in dem Gedanken, daß die Zweckeverschieden sind, zu denen sie sich einem zugesellen.Niemand wird sich wünschen sein ganzes Leben hin-durch Art und Sinn eines Kindes zu behalten undseine Freude zu haben an dem, was den Kindern dieallergrößte Freude macht; niemand würde sich einenGenuß zu verschaffen wünschen dadurch daß er etwashöchst Verwerfliches täte, auch wenn ihm niemalsdaraus eine Unlust erwachsen könnte. Vielen Dingenwürden wir den größten Eifer auch dann zuwenden,wenn sie uns keinerlei Genuß eintrügen, wie dem

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Sehen, dem Eingedenksein, dem Wissen, dem Besitzehoher Vorzüge. Wenn sich aus diesen Dingen Lust-empfindungen notwendig ergeben, so ändert das ander Sache gar nichts. Wir würden uns ihnen auchdann widmen, wenn sie uns keine Lust gewährten.

So hätten wir folgende Punkte klargestellt: erstensdie Lust ist nicht das Gute, und nicht jede Lust ist be-gehrenswert; zweitens, es gibt Arten der Lust, und be-gehrenswert ist sie je nach ihrer Art an und für sichoder je nach den Quellen, aus denen sie entspringt.Damit möchten denn die geläufigen Ansichten überdie Frage von Lust und Unlust hinlänglich erörtertsein.

Was aber das Wesen der Lust und welches ihre Be-schaffenheit ist, das wird deutlicher hervortreten,wenn wir die Frage von Anfang an neu aufnehmen.Der Akt des Sehens stellt sich dar als zu jeder Zeitfertig; denn er bedarf nicht weiter noch etwas, waskünftig hinzutretend sein Wesen vollende. Demgleicht nun auch die Lust. Sie ist etwas Ganzes, undzu keiner Zeit kann jemandem ein Lustgefühl zuteilwerden, dessen Wesen erst dadurch fertig würde, daßes sich über einen längeren Zeitraum erstreckte. Des-halb ist die Lust auch keine Bewegung. Denn jedeBewegung vollzieht sich in der Zeit und zu einemZiele hin, wie etwa ein Hausbau, und vollendet ist siedann, wenn sie das herstellt, worauf sie gerichtet ist,

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mithin entweder zu jeder Zeit oder in diesem Augen-blick. In den Teilen aber des Zeitverlaufs sind allenoch unvollendet; die Teile sind der Art nach etwasanders als die ganze Bewegung und verschieden untereinander. Das Zusammensetzen der Steine ist etwasanderes als die Kannelierung der Säulen, und beideswieder etwas anderes als die Herstellung des Tem-pels. Diese Herstellung des Tempels ist etwas Ab-schließendes; denn für den vorliegenden Zweck wirddann weiter nichts mehr erfordert. Dagegen ist dieHerstellung des Baugrundes und die der Triglyphennichts Fertiges; jegliches davon ist nur ein Teilstück.Sie sind also der Art nach verschieden; es ist nichtmöglich in irgendwelcher Zeit eine Bewegung zu er-halten, die ihrer Art nach vollendet wäre; oder wennvollendet, dann ist sie's zu jeder Zeit. Das gleiche giltvom Gehen und von anderen ähnlichen Bewegungen.Heißt nämlich Ortsbewegung soviel wie Bewegungvon einem Orte aus und zu einem Orte hin, so gibt esauch in ihr Artunterschiede: Flug, Gang, Sprung undso weiter, und nicht allein das, sondern auch vomGehen selber gibt es Arten. Das Woher und dasWohin ist nicht dasselbe, wenn es sich um ein Stadi-um, wie wenn es sich um einen Teil des Stadiumshandelt, nicht dasselbe in dem einen Teile wie in demanderen, und der Durchgang durch diese Strecke istnicht dasselbe wie der Durchgang durch jene Strecke.

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Man geht doch nicht bloß eine Strecke überhaupt ent-lang, sondern eine Strecke an einem bestimmten Orte,und die andere Strecke ist an einem anderen Orte.Über die Bewegung nun habe ich mit voller wissen-schaftlicher Strenge an anderen Stellen gehandelt.Von der Bewegung gilt, daß sie nicht zu jeder Zeit einFertiges ist, sondern meistens ist sie unvollendet, unddann unterscheidet sie sich der Art nach, sofern dasWoher und Wohin einen Artunterschied ergibt. DieLust dagegen ist ihrer Art nach in jedem Zeitmomentein Fertiges. Wenn jene Bewegungen untereinanderverschieden sind, so ist dagegen die Lust offenbardem zuzurechnen, was ein Ganzes und ein Fertigesist.

Man kann das auch daraus entnehmen, daß eineBewegung nicht möglich ist, die nicht in der Zeit ver-liefe, wohl aber eine Lustempfindung; denn diese istim Augenblick als etwas Ganzes vorhanden. Dadurchwird auch dies klar, daß es unrichtig ist, die Lust eineBewegung oder einen Prozeß zu nennen; denn dieseBezeichnung gilt keineswegs von allem, sondern nurvon dem was ein Geteiltes und nicht ein Ganzes ist.So ist das Sehen kein Prozeß, noch ist es der Punktoder die Einheit, nichts von alledem ist Bewegungoder ein Vorgang. Also auch nicht die Lust, denn sieist ein Ganzes.

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b) Die Bedeutung der Lustgefühle für das tätigeLeben

Die Betätigung jedes Vermögens der Empfindungwird jedesmal bedingt durch den Gegenstand derEmpfindung; in vollkommener Weise vollzieht siesich da, wo das Vermögen von rechter Verfassung miteinem Gegenstande von edelster Art zusammentrifft.Sind diese Bedingungen erfüllt, so stellt sich die Be-tätigung als im höchsten Sinne vollendet dar; ob mansagt, das Wirksame dabei sei die Empfindung selber,oder das Subjekt welches sie besitzt, soll uns nichtweiter kümmern. So steht denn bei jeder Empfindungdie Betätigung des Vermögens dann am höchsten,wenn es selber in der rechten Beschaffenheit ist undwenn das Objekt, worauf es gerichtet ist, das vortreff-lichste unter dem ist was überhaupt sein Objekt seinkann. Dann ergibt sich eine Form der Betätigung, diewie die vollkommenste so auch die erfreulichste ist.Ein Lustgefühl gibt es im Bereiche jeder Empfindungund ebenso bei jeder Tätigkeit des Verstandes und derVernunft; die Betätigung gewährt aber die höchsteLust dann, wenn sie am vollkommensten ist, und sieist am vollkommensten, wenn die Betätigung des innormaler Verfassung befindlichen Vermögens auf daswertvollste der in ihr Bereich fallenden Objekte

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gerichtet ist. Und umgekehrt: was die Betätigung zurvollendeten macht, das ist gerade das mit ihr verbun-dene Lustgefühl.

Indessen, es ist doch nicht dieselbe Art, wie dieLust diese Vollkommenheit herstellt, oder wie der Ge-genstand und das Empfindungsvermögen von wert-voller Beschaffenheit es leistet. Es ist damit geradeso,wie auch die Genesung und der Arzt beide Ursacheder Gesundheit sind; auch sie sind Ursache nicht inderselben Weise. Daß der Zustand der Lust bei jederArt von Empfindung vorkommt, ist offenbar; auchvon Gesichts- und Gehörswahrnehmungen gilt dieAussage, daß sie Lust bereiten. Aber offenbar ist auchdas, daß dies am meisten dann der Fall ist, wenn dasEmpfindungsvermögen hervorragend kräftig und aufein Objekt von gleicher Vortrefflichkeit gerichtet ist.Ist nun das empfundene Objekt und das empfindendeSubjekt von der bezeichneten Art, so wird sich jedes-mal ein Zustand der Lust ergeben, wo beide, das Ob-jekt, das sie bewirken soll, wie das Subjekt, das sieentgegennehmen soll, zusammentreffen. Das Lustge-fühl macht die Betätigung zu einer vollkommenen,aber nicht als einwohnende stehende Beschaffenheit,sondern als ein hinzukommendes was sie vollendet,etwa so wie die Schönheit sich zu der Jugend gesellt.Solange nun das Objekt des Denkens oder Wahrneh-mens ebensowohl die angemessene Beschaffenheit

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besitzt wie das beurteilende und betrachtende Subjekt,so lange wird die Betätigung von einem Lustgefühlbegleitet sein. Denn sind beide, das den EindruckEmpfangende und das ihn Bewirkende, gleichartigund verhalten sie sich zueinander auf dieselbe Weise,so liegt es in der Natur der Sache, daß auch das Er-gebnis dasselbe ist.

Wie kommt es nun, daß kein Mensch beständig imZustande der Lust sich befindet? Etwa weil er ermü-det? Allerdings bleibt es allem was am Menschen istversagt ununterbrochen tätig zu sein, und darum istauch das Lustgefühl nicht ununterbrochen, weil es dieTätigkeit begleitet. Manches wieder bereitet Genußnur solange es neu ist, und nachher nicht mehr in glei-chem Grade, aus demselben Grunde. Denn im Anfangist der Gedanke lebhaft angeregt und beschäftigt sichgespannt mit dem Gegenstande, wie man beim Sehenden Blick auf den Gegenstand richtet; auf die Daueraber bleibt die Tätigkeit nicht eine ebenso gespannte,sondern sie läßt nach, und dadurch wird denn auchdas Lustgefühl ein schwächeres.

Daß alle Menschen das Gefühl der Lust begehren,wird man wohl darauf zurückführen dürfen, daß alleMenschen auch das Leben lieb haben. Das Lebenaber ist eine Tätigkeitsform, und jedes Wesen ist tätigfür das und mit den Mitteln, worin es zugleich diegrößte Befriedigung für sich findet. So erwärmt sich

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der Musiker mit dem Gehör für Tonfolgen, der Wiß-begierige mit dem Verstande für wissenschaftlicheTheorien, und ebenso jeder andere in seiner Weise.Das Lustgefühl aber ist eine Krönung der Tätigkeiten,und somit auch des Lebens, das alle lieb haben. Sowird es verständlich, daß alle nach Lust streben; dennsie ist für jeden die Krönung seines Lebens, das selbstGegenstand des Begehrens ist.

Die Frage, ob man das Leben liebt um der Lustwillen oder die Lust um des Lebens willen, wollenwir für jetzt unerörtert lassen. Offenbar ist beides aufsengste mit einander verbunden und läßt eine Tren-nung nicht zu. Denn ohne Betätigung wird uns keineLust, und jede Betätigung empfängt von der Lust diesie bereitet ihre Krönung. Daher denn die Ansicht,daß die Gefühle der Art nach verschieden sind. Wienämlich die Tätigkeiten der Art nach verschiedensind, so, meinten wir, auch das was sie vollendet. Dastritt uns entgegen an den Gebilden der Natur unddenen der Kunst, an Tieren und Pflanzen, an Gemäl-den und Statuen, an Haus und Hausgerät. Und sowürden denn auch die verschiedenen Arten der Tätig-keit durch solches was der Art nach verschieden sei,zur Vollendung gebracht.

Die Tätigkeiten des Verstandes sind von denen desWahrnehmungsvermögens und beide wieder in sichselbst der Art nach verschieden; ebenso ist dasjenige

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verschieden, was sie zur Vollendung bringt, die Lust-gefühle. Man sieht das ganz deutlich auch daran, daßjedes unter den Lustgefühlen derjenigen Tätigkeits-form, die es zur Vollendung bringt, auch eigentümlichzugehört. Was die Tätigkeit stärker und frischermacht, das ist das sie eigentümlich begleitende Lust-gefühl. Wer mit Lust und Liebe tätig ist, der hat Überjegliches Einzelne das richtigere Urteil und arbeitetsorgfältiger. So werden die besten Mathematiker die,die an der Mathematik ihre Freude haben, und ihr Ge-dankengang ist auch in allem einzelnen der strengere.So widmen sich die Freunde der Musik und der Ar-chitektur wie die jedes anderen Gebietes jeder seinereigentümlichen Aufgabe mit Lust und Liebe. DieLustgefühle erhöhen die Tätigkeit, und dasjenige wasdie Tätigkeit erhöht, ist das ihr eigentümlich Zugehö-rende. Wie aber das von Art verschieden ist, dem sol-ches als eigentümlich zugehört, so ist auch dies selberwieder von Art verschieden.

Dies nun wird noch deutlicher dadurch, daß Lust-gefühle, die aus fremdartiger Quelle stammen, der Tä-tigkeit vielmehr hinderlich sind. Wer das Flötenspielliebt, ist nicht imstande einem Gespräche sein Ohr zuleihen, wenn er jemanden dies Instrument spielenhört, weil er an der Kunst des Spielers ein größeresInteresse nimmt als an dem gleichzeitigen Gespräch.Es ist also die Freude am Klange des Instrumentes,

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die die Beteiligung an dem Gespräche nicht aufkom-men läßt. Das gleiche findet auch in anderen Fällenstatt, wo zwei Tätigkeiten zugleich herausgefordertwerden. Da wird durch diejenige, die mehr Lust berei-tet, die andere zurückgedrängt, und das um so mehr,je größer der Unterschied in bezug auf das Lustgefühlist, das beide bereiten; so kann es geschehen, daß dieeine Tätigkeit auch wohl ganz ausgeschlossen wird.Daher kommt es, daß wenn uns irgend etwas beson-dere Lust bereitet, wir schlechterdings nichts anderesvornehmen, und daß wir, wenn uns etwas nur geringeBefriedigung verschafft, dafür anderes treiben. Sosieht man die Zuschauer im Theater sich dann ammeisten an Näschereien laben, wenn die Schauspielernichts taugen.

Da jede Tätigkeit durch die ihr eigentümlich zuge-sellte Lustempfindung zu einer sorgfältiger, dauernderund erfolgreicher betriebenen wird, eine ihr fremdarti-ge Lustempfindung dagegen sie beeinträchtigt, so hatman daran ein Kennzeichen, wie weit beide auseinan-der liegen. Solche fremdartige Lustempfindung hatannähernd dieselbe Wirkung wie die mit der Tätigkeiteigentümlich verbundene Unlust. Denn durch diesemit ihr eigentümlich verbundene Unlust wird die Tä-tigkeit aufgehoben, wie das Schreiben oder das Nach-denken einem dadurch zuwider und lästig wird. Dereine unterläßt das Schreiben und der andere das

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Nachdenken, weil die Anstrengung ihm Unlust berei-tet. Es übt also auf die Tätigkeiten die ihnen eigen-tümlich beigesellte Lustempfindung die gerade entge-gengesetzte Wirkung wie die Unlustempfindung. Ei-gentümlich aber sind jeder Tätigkeit diejenigen Emp-findungen, die aus ihr als solcher entspringen. Vonden Lustempfindungen aus fremder Quelle dagegenhaben wir gesehen, daß ihre Wirkung ganz ähnlich istderjenigen der Unlustempfindung; sie heben die Tä-tigkeit auf, wenn auch nicht ganz in der gleichenWeise.

Wie Tätigkeiten sich dadurch unterscheiden, daßdie einen verdienstlich, die anderen verwerflich sind;daß also die einen zu betreiben, die anderen zu mei-den Pflicht ist, während eine dritte Art indifferent ist:so gilt das gleiche auch von den Arten der Lust. Mitjeder Art von Tätigkeit ist auch ihre besondere Artvon Lust verbunden. Die Lust, welche die edle Hand-lungsweise als die ihr eigentümliche begleitet, ist löb-lich, diejenige, die der verwerflichen als ihr eigentüm-lich zufällt, ist selber verwerflich. Denn auch das Be-gehren, das auf das Edle gerichtet ist, ist rühmlich,das auf das Verwerfliche gerichtete tadelnswert; nochenger aber mit den Tätigkeiten verbunden als dasStreben das sie veranlaßt ist die Lust, die sie gewäh-ren. Jenes ist nach Zeit und Situation von der Tätig-keit getrennt; diese liegt den Tätigkeiten ganz nahe

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und ist so wenig davon geschieden, daß man darüberstreiten könnte, ob nicht die Tätigkeit mit der Lust ei-gentlich eines und dasselbe ist. Allerdings, die Lustsieht nicht aus, als ob sie Gedanke oder Wahrneh-mung wäre; das wäre ungereimt. Aber weil sie davonnicht abzutrennen ist, gilt sie manchen als damit iden-tisch. In derselben Weise also wie die Tätigkeiten ver-schieden sind, sind auch die Lustempfindungen ver-schieden. Das Sehen unterscheidet sich vom Tastendurch die Reinheit, und ebenso unterscheidet sichGehör und Geruch vom Geschmack: in gleicherWeise sind auch die Lustempfindungen verschieden.Von diesen ist wieder die Lust verschieden, die ihreQuelle im Denken hat, und ebenso sind es in jeder derbeiden Gattungen die Arten der Lustempfindung un-tereinander.

Jedem lebenden Wesen, darf man sagen, kommtseine ihm eigentümliche Art von Lustempfindungebenso wie auch seine eigentümliche Bestimmung zu;denn die Lust richtet sich nach der Tätigkeit. Das trittjedem Beobachter entgegen. Die Lustempfindungeines Pferdes ist eine andere als die eines Hundes odereines Menschen. So sagt Heraklit, ein Esel würdeSpreu höher schätzen als Gold; denn für den Esel hatdas was seine Nahrung bildet höheren Wert als dasGold. Wie die Wesen der Art nach verschieden sind,so unterscheiden sich auch ihre Lustempfindungen der

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Art nach; dagegen ist es wohl verständlich, daß siebei Wesen derselben Art nicht verschieden sind. BeimMenschen allerdings herrscht darin große Mannigfal-tigkeit. Dasselbe was die einen erfreut, verdrießt dieanderen, und was den einen widerwärtig und verhaßtist, ist den anderen lieb und wert. Schon beim Süßentritt das hervor. Dem Fiebernden scheint nicht dassel-be süß wie dem Gesunden, dem Schwachen nicht das-selbe heiß wie dem Kräftigen, und ebenso verhält essich auch sonst. In allen derartigen Fällen nimmt manals richtig dasjenige an, was von dem in normalerVerfassung Befindlichen empfunden wird. Ist dieseAnnahme gültig, wie man zugestehen darf, so ist dasMaß für jegliches die rechte Beschaffenheit und diedurchgebildete Persönlichkeit als solche; Lustempfin-dung wäre was ein solcher empfindet, und erfreulichdas, woran er sich freut. Empfindet dagegen einer alslustvoll was jenem widersteht, so ist es nicht zu ver-wundern. Denn bei den Menschen kommen vieleArten von Verderbnis und Verirrung vor; dann istdergleichen nur diesen und den ihnen gleichgesinntenMenschen lustvoll. Was einmütig als verwerflich be-zeichnet wird, darf man offenbar nicht zu den Quellender Lust rechnen, es sei denn für verderbte Naturen.Unter den Lustempfindungen aber, die als sittlich ge-rechtfertigt gelten, welche ist es denn nun und vonwelcher Beschaffenheit ist sie, die man als dem

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Menschen eigentümlich zukommend bezeichnen darf?Muß man das nicht aus den menschlichen Tätigkeitenentnehmen? Denn diese sind es doch, an die sich dieLustempfindung anschließt. Ob es nun nur eine ist,oder ob es eine Vielheit von diesen Tätigkeiten gibt,die den vollkommenen und beglückten Menschen be-zeichnen: diejenigen Lustempfindungen müssen alsdie dem Menschen im höchsten Sinne eigenen angese-hen werden, die für jene Tätigkeiten die Krönung undVollendung bedeuten. Die übrigen stehen erst anzweiter oder an noch späterer Stelle, ebenso wie dieTätigkeiten selber.

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2. Das Leben nach reiner Vernunft

Nach diesen Ausführungen über die sittlichen Tä-tigkeiten, über die Gemeinschaftsformen und über dieArten der Lust bleibt uns noch die Aufgabe, in allerKürze von der Eudämonie zu handeln, da wir diesedoch als den letzten Endzweck für alles Menschlichebetrachten. Unsere Erörterung des Gegenstandes wirdsich kürzer fassen können, wenn wir an das frühervon uns Ausgeführte erinnern.

Wir haben ausgemacht, daß die Eudämonie keineruhende Beschaffenheit ist; sonst könnte sie auch dembeigelegt werden, der sein Leben verschläft oder derein Pflanzenleben führt, und ebenso dem der dieschwersten Unglücksfälle erleidet. Wenn nun demkein Mensch zustimmen wird; wenn im Gegenteil dieEudämonie, wie oben dargelegt worden ist, eher ineine Art der Betätigung zu setzen ist; und wenn nunvon den Arten der Betätigung die einen notgedrungenund um durch sie anderes zu erreichen betrieben wer-den, die anderen aber an und für sich den Gegenstanddes Wollens bilden: so muß man die Eudämonie of-fenbar zu der Klasse derjenigen Betätigungen zählen,die an und für sich, und nicht zu denen, die um ande-res zu erreichen gewollt werden. Denn die Eudämoniebedarf nichts, sie genügt sich selbst.

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An und für sich aber gewollt werden diejenigen Be-tätigungen, bei denen nichts weiter begehrt wird alsdie Tätigkeit selbst. Dahin nun zählen die Menschenerstens die der sittlichen Anforderung entsprechendenHandlungsweisen; denn das Edle und Würdige zu tungehört zu dem, was an und für sich gewollt werdensoll. Aber sie zählen dahin zweitens auch von denArten des Spieles diejenigen, die Vergnügen bereiten;denn auch diese werden nicht betrieben, um durch sieanderes zu erreichen. Bringen sie doch eher eineSchädigung als einen Gewinn mit sich, weil manihnen zuliebe wohl auch die Sorge für Leib und Ver-mögen verabsäumt. Gleichwohl greifen die vomGlück Begünstigten meistenteils zu diesen Arten desZeitvertreibs, und die in solchen Künsten der Erho-lung besonders Gewandten machen deshalb bei denMächtigen der Erde ihr Glück, weil sie sich gerade indem angenehm zu machen wissen, woran diese ihrVergnügen finden; solche Leute sind es eben, die siebrauchen können.

Nun meint man wohl, diese Dinge müßten dochBestandteile der Glückseligkeit bilden, weil dieMächtigen und Großen darin ihr Vergnügen finden.Indes diese Art von Menschen kann man kaum alsBeweismittel gelten lassen. Tugend und Vernunft, dieQuellen edler Betätigung, haben nichts mit Macht undHerrschaft zu schaffen, und wenn jene Menschen in

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ihrer Unfähigkeit zum Genüsse reiner und eines gebil-deten Geistes würdiger Freuden zu sinnlichen Genüs-sen greifen, so darf man sich deshalb nicht der Mei-nung hingeben, diese verdienten wirklich den Vorzug.Meinen doch auch die Kinder, daß dasjenige wasunter ihnen den Vorrang verleiht, das Herrlichste sei.Und so liegt die Vermutung nahe, daß wie den Kin-dern anderes für preiswürdig gilt als den Erwachse-nen, das gleiche der Fall sein wird mit Niedriggesinn-ten und Edelgesinnten. Wie wir nun vielfach dargelegthaben: dasjenige ist rühmlich und erfreulich, was denWürdigen als rühmlich und erfreulich gilt. Für jedenaber bildet diejenige Betätigung den bevorzugtestenWillensinhalt, die seiner eigentümlichen Beschaffen-heit entspricht, und also für den Edelgesinnten die dersittlichen Gesinnung angemessene Betätigung.

Also ist die Eudämonie nicht im Spiele zu suchen.Es wäre auch wider alle Vernunft, daß das Spiel derletzte Zweck sein sollte, und daß man die Mühen undSchmerzen eines ganzen Lebens um des bloßen Spie-les willen tragen sollte. Denn alles, darf man sagen,ergreifen wir, um ein anderes dadurch zu erreichen,nur die Eudämonie nicht; sie ist selbst der Zweck.Daß man sich aber mühen und quälen sollte nur umdes Spielens willen, das wäre doch offenbar eine garzu törichte und kindische Vorstellung. Das Spiel da-gegen, sofern es dazu dient die ernste Anstrengung zu

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fördern, so wie es Anacharsis auffaßte, das darf fürdas Richtige gelten. Denn Spielen bedeutet ein Ausru-hen, und des Ausruhens bedarf man, weil man nichtimstande ist sich unausgesetzt zu mühen. Also nichtder letzte Zweck ist die Erholung; vielmehr sie wirdvorgenommen damit man nachher in seiner Tätigkeitum so besser fortfahren könne.Und so ergibt sich denn, daß das glückselige

Leben doch wohl das der sittlichen Gesinnung ge-mäße Leben ist; dieses aber ist ein Leben ernster Tä-tigkeit und nicht des Spieles. Wir nennen denn auchernste Tätigkeit preiswürdiger als die Belustigung,auch wenn sie unterhaltend ist, und wir bezeichnen je-desmal diejenige Betätigung als die edlere, welche diedes höher stehenden Vermögens und des höher ste-henden Menschen ist. Die Tätigkeit dieses Höherste-henden ist mithin auch die wertvollere und glückseli-gere. Sinnliche Befriedigung mag ein Beliebiger undein Sklave nicht weniger genießen als der Herrlichste.Anteil an seiner Glückseligkeit aber gewährt niemandeinem Sklaven, wenn er ihm nicht auch einen Anteilan der entsprechenden Lebensführung gewährt. Dennnicht in Unterhaltungen von jener Art besteht die Eu-dämonie, sondern in den der sittlichen Gesinnung ent-sprechenden Tätigkeiten. Das haben wir schon obendargelegt.

Besteht aber die Eudämonie in der der rechten

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Beschaffenheit entsprechenden Betätigung, so liegtnahe, daß es sich dabei um diejenige innerliche Be-schaffenheit handeln wird, die die herrlichste ist, alsodoch wohl um die rechte Beschaffenheit dessen, wasan uns das Edelste ist. Mag dieses nun denkende Ver-nunft, mag es etwas anderes sein, was seiner Naturnach zur Herrschaft und Leitung und zum bewußtenErgreifen des Idealen und Göttlichen berufen scheint;mag es an sich ein Göttliches, oder das in uns ammeisten Gottähnliche sein: die Betätigung eben die-ses Herrlichsten gemäß seines ihm eigentümlichenAdels würde die vollendete Eudämonie bedeuten.

Daß nun diese Betätigung die reine Betrachtungist, haben wir dargelegt. und wir dürfen wohl sagen,daß es wie mit dem vorher Ausgeführten, so auch mitder Wahrheit der Tatsachen übereinstimmt. Dennunter allen Betätigungsarten ist diese die herrlichste,wie unter unseren Vermögen die denkende Vernunft,unter den Objekten aber die der reinen Vernunfter-kenntnis entsprechenden die herrlichsten sind. DieseBetätigungsart ist außerdem die am meisten stetige.Denn in reiner Betrachtung vermögen wir eher als inirgendeiner Tätigkeit nach außen stetig zu verharren.Wir sind ferner überzeugt, daß die Eudämonie mit in-nerer Befriedigung verbunden sein müsse. Solche Be-friedigung gewährt nach allgemeinem Zugeständnisunter den der rechten inneren Beschaffenheit

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entsprechenden Betätigungen am meisten diejenige,die der Wahrheitserkenntnis gilt. Wenigstens darfman soviel sagen, daß das Wahrheitsstreben eine Be-friedigung von wunderbarer Reinheit und Zuverläs-sigkeit gewährt, und es ist ein einleuchtender Satz,daß der Zustand des Wissens noch größere Freude be-reitet als der des Suchens. Auch was man Selbstgenü-ge nennt, findet sich am meisten bei der reinen Be-trachtung. Denn die Bedürfnisse des Lebens sind demWeisen und Gerechten ebenso nötig wie den übrigen.Sind sie aber mit dergleichen hinlänglich versehen, sobedarf der Gerechte noch anderer, in bezug auf welcheund in Verbindung mit welchen er seine Gerechtigkeitbetätigen kann, und das gleiche gilt von dem Beson-nenen und dem Willensstarken und jedem anderen.Der Wahrheitsfreund dagegen kann auch für sich al-lein der Betrachtung leben, und um so mehr, je mehrer Wahrheitsfreund ist. Vielleicht ist es noch besser,wenn er gleichgesinnte Genossen hat, aber gleich-wohl, sich selbst genug zu sein, das kommt ihm ammeisten zu.

Und auch das dürfte gelten, daß die reine Betrach-tung das einzige ist, was um seiner selbst willen ge-liebt wird; denn man hat von ihr weiter keinen Ge-winn als das Betrachten selbst, während man von denäußeren Tätigkeiten irgendeinen Ertrag, einen größe-ren oder einen geringeren, noch neben der Tätigkeit

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ins Auge faßt. Ferner gilt als ausgemacht, daß die Eu-dämonie sich in der Muße finde. Denn den Geschäftengeben wir uns hin zu dem Zwecke, um Muße zu ge-winnen, wie wir Krieg führen, um uns des Friedens zuerfreuen. Die Betätigung praktischer Tugenden nundreht sich um Staatsgeschäfte oder kriegerische Ak-tionen; Tätigkeiten auf diesen Gebieten aber dürftensich mit der Muße kaum vertragen, kriegerische Ak-tionen nun gar vollends. Denn niemand begehrt krie-gerische Tätigkeit um der kriegerischen Tätigkeit wil-len, nicht einmal die Vorbereitung für den Krieg hatdieses Ziel. Würde man doch den für überaus blutdür-stig halten, der seine Freunde sich deshalb zu Feindenmachen wollte, damit es nur zum Losschlagen undBlutvergießen komme. Aber auch die Tätigkeit desStaatsmannes ist der Muße feindlich; auch sie suchtetwas außer der staatsmännischen Tätigkeit selberLiegendes, Machtstellung und Ruhm oder auchGlückseligkeit für ihn selbst und für seine Mitbürger,eine Glückseligkeit, die etwas anderes ist als staats-männische Tätigkeit, und offenbar auch eine andereals die, von der wir eben hier handeln.

Erwägt man nun, daß unter den Tätigkeiten, indenen hohe Vorzüge wirksam werden, diejenigen, diesich um Staat und Krieg drehen, die an Glanz und Be-deutung hervorragendsten sind, eben diese aber derMuße feindlich sind, einem äußeren Zwecke

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zustreben und nicht um ihrer selbst willen zu begeh-ren sind; erwägt man ferner, daß wohl mit Recht dieBetätigung der denkenden Vernunft, weil sie der rei-nen Betrachtung zugewandt ist, an innerem Werte denVorrang beansprucht, daß sie keinen Zweck erstrebt,der außer ihr selbst läge, und daß sie eine ihr eigen-tümliche Befriedigung mit sich bringt, die selbst wie-der die Betätigung zu steigern vermag; daß dasSelbstgenüge aber, das Element der Muße und Unge-störtheit in ihr, soweit es einem Menschen zugänglichist, und alles was sonst noch Attribut eines seligenLebens bildet, daß das alles augenscheinlich in dieserArt der Betätigung vorhanden ist: so darf eben dieseals die vollendete Eudämonie eines Menschen gelten,falls sie nur die normale Dauer eines Menschenlebenshindurch währt. Denn in dem was zur Eudämonie ge-hört, gibt es nichts was nicht vollendet wäre.

Ein Leben dieser Art nun ist herrlicher als daß esder bloß menschlichen Natur zukäme. Denn nicht so-fern einer Mensch ist, wird er solch ein Leben führen,sondern sofern in ihm etwas Göttliches wohnt. Soweit aber dieses Leben über das mit der sinnlichenNatur verbundene Leben hervorragt, so weit übertrifftauch diese Form der Betätigung diejenige, die allersonstigen Vorzüglichkeit gemäß ist. Wenn aber diedenkende Vernunft im Vergleich mit dem Menschenetwas Göttliches ist, so ist auch das dieser Vernunft

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gemäße Leben ein göttliches im Vergleich mit demmenschlichen Leben.

Es soll also nicht, wie die Moralprediger mahnen,wer ein Mensch ist auf Menschliches gerichtet sein,noch wer sterblich ist sich am Sterblichen genügenlassen; sondern man soll, soweit es möglich ist, dasUnsterbliche ins Herz fassen und all sein Tun daraufeinrichten, daß man lebe entsprechend dem was in unsdas Herrlichste ist. Denn wenn dies auch dem äußerenMaßstab nach in uns ein Unscheinbares ist, so ist esdoch seiner Macht und seinem Werte nach das beiweitem über alles Hervorragende. Ja, man darfsagen, daß jeglicher eben dieses Göttliche selber ist;ist dies doch an ihm sein eigentliches Wesen undsein besseres Teil. Es wäre also wider die Vernunft,wenn er nicht sein eigenes Leben, sondern das einesfremden Wesens führen wollte. So wird denn, was wirfrüher ausgeführt haben, auch mit dem jetzt Dargeleg-ten übereinstimmen: was für einen jeden seinem ei-gentümlichen Wesen nach das Entsprechende ist,das ist für jeden auch das Wertvollste und Erfreu-lichste. Für den Menschen also ist es dasjenigeLeben, das der denkenden Vernunft entspricht, wenndoch diese am meisten der Mensch selber ist. DiesesLeben ist also auch das glückseligste.

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3. Die moralische Betätigung

Die zweite Stelle nimmt sodann das Leben imSinne sonstiger moralischer Beschaffenheiten ein.Die Betätigungsweisen in dieser Richtung sind die ei-gentümlich menschlichen. Wir benehmen uns gegen-einander gerecht, mutig oder sonst der moralischenAnforderung entsprechend in Geschäften und Angele-genheiten jeder Art, indem wir auch in unseren Affek-ten die Linie innehalten, die jedesmal das Gebührendebezeichnet; und was sich so ergibt, ist offenbar lautersolches, was der eigentümlich menschlichen Naturentspricht. Darunter ist mancherlei, was mit der leibli-chen Natur des Menschen zusammenhängt; vielfachscheint auch die angemessene Haltung des Charaktersin engster Verbindung mit den Affekten zu stehen. Zuder rechten Haltung des Charakters steht ferner auchdie verständige Einsicht in naher Beziehung undebenso umgekehrt der Charakter zur Einsicht, wenndoch die in der Einsicht wirksamen Grundsätze denrechten Beschaffenheiten des Charakters, und das wasim moralischen Sinne das Rechte ist, dem entspricht,was in der Einsicht lebt. Da sie nun beide wiederumauch mit den Affekten im Zusammenhange stehen, sowerden sie doch wohl dem aus Leib und Seele beste-henden zusammengesetzten Wesen zuzuweisen sein,

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und die Attribute dieses zusammengesetzten Wesensebenso wie die ihnen entsprechende Lebensführungmit ihrer Art von Eudämonie machen das eigentüm-lich Menschliche aus, während das was der reinenVernunft angehört, vom Leiblichen getrennt ist. So-viel mag hier darüber bemerkt sein; genauer ins ein-zelne zu gehen, würde über die Aufgabe, die uns hierbeschäftigt, hinausreichen.

Von der Eudämonie im Sinne der reinen Vernunftdarf man wohl sagen, daß sie der Ausstattung mit äu-ßeren Gütern nur in geringerem Grade oder doch ingeringerem als die dem moralischen Verhalten ent-sprechende bedarf. Des Lebens Notdurft mag beide ingleichem Maße beschäftigen, wenn auch derjenige dersein Leben in den Geschäften zubringt, sich in höhe-rem Maße um den Leib und was mit ihm zusammen-hängt zu bekümmern hat; das würde aber einen sogroßen Unterschied nicht machen. Dagegen ist derUnterschied sehr groß, was ihre Betätigungsweisenanbetrifft. Ein hochgesinnter Mann bedarf der äußerenGüter, um seine hohe Gesinnung zu betätigen: ein ge-rechter Mann bedarf ihrer, um Empfangenes zu ver-gelten. Denn das bloße Wollen ist unerkennbar, undauch Leute ohne gerechte Gesinnung tun so als wärees ihre Absicht gerecht zu handeln. Ein mutiger Mannbedarf der Stärke, wenn er eine Tat im Sinne dieserwertvollen Eigenschaft vollbringen soll, und ein

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besonnener Mann bedarf der Möglichkeit der Unbe-sonnenheit. Wie sollte man sonst erkennen können objemand mit dieser oder mit anderen edlen Eigenschaf-ten ausgestattet ist?

Man streitet darüber, ob die Hauptsache bei dermoralischen Beschaffenheit eines Menschen die inne-re Gesinnung oder die äußeren guten Werke sind. Er-forderlich dafür ist beides, und soll die Moralität voll-kommen sein, so muß sie offenbar in beiden Formenzur Erscheinung kommen. Für die äußeren Handlun-gen wird an äußeren Mitteln vieles erfordert, und jebedeutender und herrlicher jene sind, desto mehr. Da-gegen bedarf der der reinen Betrachtung Lebendenichts dergleichen für seine Tätigkeit; ja man möchtesagen: die äußeren Güter bilden für die reine Betrach-tung eher eine Störung. Indessen, sofern er einMensch ist und mit vielen zusammenlebt, entscheidetauch er sich für ein tätiges Leben im Sinne morali-scher Handlungsweisen, und so wird denn auch erjene Dinge gebrauchen, um als Mensch unter Men-schen zu leben.

Daß demgegenüber die vollkommene Eudämonieeine Betätigung des kontemplativem Vermögens ist,wird auch aus folgendem deutlich werden. Die Götterstellt man sich doch vor als im höchsten Grade seligund vollkommen. Welche Art von Betätigung sollman nun wohl ihnen zuschreiben? Etwa Handlungen

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der Gerechtigkeit? Es wäre aber doch lächerlich dieGötter sich vorzustellen, wie sie Tauschgeschäfte ma-chen, ein Depositum zurückerstatten oder andere ähn-liche Geschäfte betreiben. Oder Handlungen der Tap-ferkeit, so daß sie in Schrecknissen standhielten undGefahren beständen, weil das edle Handlungen sind?Oder Handlungen der Freigebigkeit? Wem sollen siedenn geben? Und ist es nicht töricht ihnen den Besitzvon barem Gelde oder dergleichen zuzuschreiben?Was soll man aber bei ihnen unter Betätigungen idea-ler Gesinnung verstehen? Wäre es nicht eine grob-sinnliche Anschauung, sie deshalb zu preisen, weil sieniedrigen Begierden nicht zugänglich sind? Und wennwir so alles einzelne durchgehen, immer würde dasErgebnis das sein, daß ein handelndes Leben für dieGötter zu niedrig und ihrer nicht würdig wäre. Unddoch stellen sich alle vor, daß die Götter leben undalso auch daß sie tätig sind, nicht etwa daß sie schla-fen wie Endymion. Wenn man aber dem Lebendendas Tätigsein nach außen und noch mehr das äußereHervorbringen abnimmt, was bleibt dann übrig alsdie reine Betrachtung? Die Wirksamkeit Gottes, diean Seligkeit alles übertrifft, wird also in der reinenBetrachtung bestehen, und von den menschlichenWirksamkeiten wird diejenige mit der größtenGlückseligkeit verbunden sein, die jener am näch-sten verwandt ist.

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Man sieht das ferner auch daraus, daß die übrigenlebenden Wesen an der Eudämonie keinen Anteilhaben, weil ihnen eine derartige Wirksamkeit voll-kommen versagt bleibt. Der Götter Leben ist ganzund gar selig; das Leben des Menschen ist es nur soweit, als ihm ein Ebenbild einer derartigen Wirksam-keit zugänglich ist. Von den übrigen Lebewesenkommt keinem Eudämonie zu, weil es in keiner Weisean der reinen Betrachtung teil hat. So weit sich diereine Betrachtung erstreckt, so weit erstreckt sichauch die Eudämonie. Den Wesen, denen die reine Be-trachtung in höherem Maße zukommt, kommt auchdie Eudämonie in höherem Maße zu, nicht als bloßesAnhängsel, sondern gemäß dem Wesen der reinen Be-trachtung; denn diese hat ihre Herrlichkeit an sichselbst. Und so erweist sich denn die Eudämonie alsein Zustand der Kontemplation.

Nun wird ja allerdings der Mensch als Menschauch des äußeren Wohlergehens bedürfen. Denn dieNaturausstattung ist für sich nicht ausreichend, umdie Tätigkeit der reinen Betrachtung zuzulassen; esmuß auch der Leib in rechter Beschaffenheit sein, ermuß Nahrung und sonstige Pflege genießen. Dennochdarf man sich nicht der Meinung hingeben, daß je-mand, um sich des Zustandes der Eudämonie zu er-freuen, wenn es doch nicht möglich ist ganz ohne dieäußeren Güter glücklich zusein, deshalb vieler und

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umfangreicher Dinge bedürfe. Denn daß einer ein vol-les Genüge und die Möglichkeit der Betätigung habe,liegt nicht an dem großen Überschwang; man kannganz wohl den Adel der Seele bewähren auch ohnedaß man Länder und Meere beherrscht, und auch mitmäßigen Mitteln kann einer im Sinne der sittlichenAnforderung tätig sein. Das lehrt deutlich genug dietägliche Erfahrung. Sie zeigt, daß oft ein einfacherPrivatmann nicht in geringerem, sondern eher in hö-herem Maße pflichtmäßig das Seine tut als die Gro-ßen dieser Erde. Es genügt völlig, wenn man geradenur so viel hat; denn selig ist das Leben dessen, derseine sittliche Gesinnung wirksam betätigen darf. Sohat auch Solon den Begriff des glücklichen Menschenwohl zutreffend bezeichnet, wenn er sagt, glücklichsei, wer mit äußeren Gütern mäßig ausgestattet, dieedelsten Taten, / was er darunter verstand, / vollbrachtund ein Leben der Selbstbeherrschung geführt habe.Denn es ist ganz wohl möglich, bei mäßigem Besitzseine Pflicht und Schuldigkeit zu tun. Auch bei Ana-xagoras hat man den Eindruck daß er nicht den Rei-chen und nicht den Mächtigen als den Glücklichenbetrachtet, wenn er sagt, es würde ihn nicht verwun-dern, wenn solch einer beim großen Haufen eine lä-cherliche Figur wäre. Denn die Masse urteilt nachdem Äußeren, das sie allein wahrzunehmen vermag.So dürfen wir denn annehmen, daß die Ansichten der

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erleuchtetsten Geister mit unseren Ausführungenübereinkommen, und eine solche Übereinstimmungbedeutet immerhin eine Bestätigung. Allerdings, dieWahrheit in Fragen des praktischen Lebens wird ersterwiesen auf Grund der erfahrungsmäßigen Tatsa-chen; denn diese bilden die entscheidende Probe. Waswir vorher dargelegt haben, das muß man darum prü-fen. Indem man es an der Wirklichkeit des Lebensmißt. Stimmt es mit der Wirklichkeit, so muß man esgelten lassen; steht es dazu im Widerspruch, so darfman es für leeres Gerede halten.

Wer der Vernunft gemäß tätig ist und die Vernunftin sich pflegt, den darf man als den Menschen in derherrlichsten Lage und als den Liebling der Götter be-trachten. Denn wenn die Götter irgendwie sich um diemenschlichen Dinge bekümmern, wie es doch die all-gemeine Ansicht ist, so ist es auch eine vernünftigeAnnahme, daß sie an dem ihre Freude haben, was dasHerrlichste und das ihnen Verwandteste ist, / diesaber wird doch wohl die Vernunft sein, / und daß siedenjenigen, die dies am meisten lieben und schätzen,mit Gutem vergelten, als solchen die nach dem trach-ten was den Göttern wohlgefällig ist, und einen rech-ten und löblichen Wandel führen. Daß alles dies sichim höchsten Grade bei dem Menschen von erleuchte-ter Vernunft findet, ist nicht zu verkennen; also istdieser der Liebling der Götter, und damit wird

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derselbe naturgemäß auch der höchsten Eudämoniegenießen. Und so ersehen wir denn auch daraus, daßder Mensch mit erleuchteter Vernunft der glückselig-ste ist.

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4. Staat, Gesetz, Zwang im Dienste dessittlichen Lebens

Wenn wir nun so über diese Dinge und über diesittlichen Beschaffenheiten, wenn wir auch über diesittlichen Gemeinschaften und über die Lustgefühle ingroßen Umrissen zwar, aber ausreichend gehandelthaben, dürfen wir uns dabei beruhigen, daß wir nun-mehr mit unserem Vorhaben ans Ende gelangt sind?Oder ist nicht vielmehr, wie man zu sagen pflegt, inden Fragen des praktischen Lebens das Ziel nichtbloß dies, daß man das einzelne zu betrachten und zuerkennen, sondern vielmehr daß man das Erkannteauch handelnd zu bewähren vermöge? Wo es sich umdie sittliche Gesinnung handelt, da ist es mit dem blo-ßen Wissen nicht getan: man muß auch versuchen esinnezuhaben und auszuüben, oder wenn es andereWege für uns gibt um tüchtig zu werden, so muß mandiese benutzen. Wären Abhandlungen ausreichend,um die Menschen zur rechten Gesinnung umzubilden,so würden sie nach dem Ausspruch des Theognis rei-chen und großen Lohn einbringen, und das mit vollemRecht: es wäre die dringendste Pflicht, sich mit sol-chen zu versehen. Aber leider, man beobachtet wohl,wie sie junge Leute von edler Anlage anzutreiben undanzufeuern und ein edles, in Wahrheit zur Freude an

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allem Schönen geneigtes Gemüt unwandelbar imGuten zu befestigen die Kraft besitzen, daß sie aberdie Masse zu edler Gesinnung zu erheben nicht im-stande sind. Denn die Masse der Menschen ist so ge-artet, daß sie sich nicht von zarter Scheu bestimmenläßt, sondern von der Furcht, und schlechter Handlun-gen sich enthält nicht weil sie schimpflich sind, son-dern weil sie Strafe eintragen. Indem sie ihren Affek-ten nachleben, jagen sie den ihrem Geschmack zusa-genden Lüsten nach und den Mitteln dieser teilhaftigzu werden, und meiden die dem gegenüberstehendenQuellen der Unlust; von dem aber was edel und inWahrheit köstlich ist haben sie keine Ahnung, weilsie es nie gekostet haben. Welche Belehrung wärevermögend, derartige Leute umzubilden? Es ist nichtmöglich oder doch nicht leicht, was von Alters her imCharakter tief eingewurzelt ist, durch Belehrung zubeseitigen. Wir dürfen schon von Glück reden, wennwir da wo alle Vorbedingungen gegeben sind, die fürdie Erzeugung der rechten Gesinnung nach allgemei-ner Ansicht entscheidend sind, von der sittlichen Cha-rakterbeschaffenheit wenigstens einen Teil gewinnen.

Sittliche Tüchtigkeit erlangt man nach der einenAnsicht durch Naturanlage, nach der anderen durchGewöhnung, nach der dritten durch Unterweisung.Was nun die Naturanlage anbetrifft, so ist es offenbar,daß sie nicht in unserer Macht liegt, sondern daß sie

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durch eine Art von göttlicher Gnade den in WahrheitGesegneten zuteil wird. Belehrung aber und Unter-weisung hat keineswegs auf alle den genügenden Ein-fluß; es muß vielmehr die Seele des zu Unterrichten-den schon vorher durch Gewöhnung so weit vorberei-tet worden sein, daß das Gefühlsleben in Zuneigungund Abneigung edel gestimmt ist, gleichsam wie einAcker, der bestimmt ist den aufgenommenen Samenzur Entwicklung zubringen. Denn ein Mensch, derseinen Affekten folgt, wird auf das Wort der Ermah-nung nicht achten; er wird es nicht einmal verstehen.Wie soll einer imstande sein, einen solchen Menschendurch Worte anderen Sinnes zu machen? Überhauptdarf man annehmen, daß der Affekt nicht der Beleh-rung weicht, sondern nur dem Zwange. Es muß alsoschon zuvor eine Gemütsart vorhanden sein, die ir-gendwie der sittlichen Gesinnung verwandt ist: Liebezum Edlen und Widerwille gegen das Gemeine.

Nun ist es schwer, von Jugend an die rechte Anlei-tung zur sittlichen Gesinnung zu genießen, wenn mannicht unter der Herrschaft von Gesetzen aufwächst,die eben diese Bedeutung haben. Denn die Masseempfindet keine Neigung zu einem Leben der Selbst-beherrschung und Charakterfestigkeit, und ganz be-sonders gilt das von der Jugend. Darum wird es erfor-derlich, daß die Aufzucht und daß das Studium durchGesetze fest geordnet werde. Denn was völlig in die

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Gewohnheit übergegangen ist, das wird nicht mehrals beschwerlich empfunden. Aber es ist nicht ausrei-chend, daß die Menschen, solange sie noch jung sind,die rechte Zucht und Sorgfalt genießen; sondern da eserforderlich ist, daß sie auch noch wenn sie zu Män-nern geworden sind eben diese Studien und Gewöh-nungen pflegen, so werden gesetzliche Anordnungenauch zu diesem Behufe und damit überhaupt für dasganze Leben nötig sein. Denn die Masse unterwirftsich eher dem Zwange als der Belehrung, eher derStrafe als dem Gebot der Ehre. Darum sind mancheder Meinung, der Gesetzgeber müsse einerseits zusittlicher Gesinnung ermahnen und antreiben durchBerufung auf den Wert des Guten selber; die durchGewöhnung zum Rechten Vorgebildeten würden dar-auf hören; für die Ungehorsamen und für die vonNatur niedriger Gearteten dagegen müsse er Züchti-gungen und Strafen darauf setzen und die Unheilbarengänzlich aus dem Staate beseitigen. Der rechtlich Ge-sinnte, der für das Edle lebt, werde der Belehrung ge-horchen; der niedrig Gesinnte, der nur die Lust alsMotiv kennt, werde durch den Schmerz in Zucht ge-halten, wie ein Tier im Joch. Und darum, meinen sie,müssen die angedrohten Übel von der Art sein, daßsie zu den Lüsten, an denen die Menschen sich befrie-digen, den schärfsten Gegensatz bilden.

Ist es nun, wie wir dargelegt haben, erforderlich,

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daß wer zum Guten gebildet werden soll, in edlemSinne erzogen und gewöhnt werde, daß er dann so inlöblichen Beschäftigungen weiterlebe und weder wil-lig noch wider Willen niedere Handlungen begehe, sowird dies am ehesten dann der Fall sein, wenn manunter einer vernünftigen, mit physischer Gewalt aus-gerüsteten Ordnung lebt. Dem Gebote des Vaterssteht solche Gewalt und solcher Zwang nicht zurSeite, überhaupt nicht dem Gebote eines einzelnenMenschen, er müßte denn etwa ein Herrscher seinoder sonst eine ähnliche Stellung einnehmen. Das Ge-setz des Staates dagegen besitzt diese zwingende Ge-walt, während es zugleich einen Ausdruck der Ein-sicht und der Vernunft darstellt. Menschen, die sichden Begierden anderer in den Weg stellen, machensich verhaßt, auch wenn sie recht daran tun; das Ge-setz dagegen wird nicht als etwas Widerwärtigesempfunden, wenn es das Vernünftige anbefiehlt.

Nur in dem lakedämonischen Staatswesen oderdoch in ganz wenigen außerdem wie es scheint hat derGesetzgeber auf die Erziehung und die Beschäftigun-gen der Staatsangehörigen solche Fürsorge verwandt;in den meisten Staaten hat man sich um dergleichenganz und gar nicht bekümmert, und jeder lebt nachseinem Belieben, indem er nach Art der Kyklopenüber seine Frau und Kinder herrscht. Das Beste wärees ja nun, wenn die Sorge dafür zur Sache der

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Gemeinschaft und wenn sie verständig betriebenwürde; es käme nur darauf an, daß sich dies ins Werksetzen ließe. Findet solche Fürsorge durch die Ge-meinschaft aber nicht statt, so müßte man doch wohlannehmen, daß es eines jeden einzelnen Pflicht wäre,für seine eigenen Kinder und für seine Freunde dieMittel der Erziehung zur sittlichen Gesinnung aufzu-bringen oder dies sich doch zum Zweck zu setzen.Nach dem was wir bemerkt haben sollte man indessenannehmen, daß derjenige der das Amt des Gesetzge-bers übernimmt, dazu im höheren Grade imstande ist.Denn die Fürsorge der Staatsgemeinschaft drückt sichoffenbar in den Gesetzen aus, und die vernünftigeFürsorge tut es in wertvollen Gesetzen.

Ob diese Gesetze geschrieben oder nicht geschrie-ben sind, das macht, scheint es, keinen Unterschied,auch nicht ob es einer ist oder ob es viele sind, diedurch sie erzogen werden sollen, ebensowenig wie esin der Musik, in der Gymnastik und den anderen Bil-dungsfächern einen Unterschied macht. Denn wie imStaate Gesetz und Sitte, so übt im Hauswesen die vä-terliche Ermahnung und der Brauch seine Macht, jasie leisten es in noch höherem Maße auf Grund derBlutsverwandtschaft und der empfangenen Erweisevon liebevoller Gesinnung. Hier ist die Liebe und derGehorsam durch den natürlichen Zusammenhang dasselbstverständlich Vorausgegebene. Hier sind denn

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auch die Erziehungsmittel je nach der Individualitätverschieden, ganz anders als es in der Staatsgemein-schaft der Fall ist. Es ist damit wie in der Medizin. Imallgemeinen ist für den Fieberkranken Ruhe und Ent-haltung von Speisen das Zuträgliche, aber im einzel-nen Fall doch wieder nicht; und der Fechtmeisterschreibt doch wohl auch nicht allen gleichmäßig die-selben Übungen vor. Es ist doch wirklich so, daß mandas dem Individuum Angemessene genauer trifft,wenn man dem einzelnen besonders seine Sorgfalt zu-wendet, und daß der einzelne auf diese Weise bessererlangt was ihm zuträglich ist. Andererseits wird derArzt, der Turnlehrer und jeder andere seine Anord-nungen für den einzelnen richtiger treffen, wenn er dieallgemeine Regel darüber kennt, was allen oder wasden Menschen von bestimmter Beschaffenheit taugt;denn die Wissenschaft heißt es handelt vom Allge-meinen, und so ist es. Gleichwohl hindert natürlichnichts, daß man auch für einen einzelnen einmal dierichtigen Anordnungen treffe, auch wenn man nichtim Besitze der Wissenschaft ist, vorausgesetzt nurdaß man aufmerksam beobachtet hat, was erfahrungs-mäßig bei dem einzelnen vorkommt, wie man ja auchwohl sieht, daß mancher als sein eigener Arzt am vor-züglichsten ist, während er einem anderen zu helfennicht imstande wäre. Nichtsdestoweniger möchte mandoch wohl annehmen, daß demjenigen der in einem

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Fach geschickt oder kundig werden will, zu raten sei,daß er auf das Allgemeine hinsteuere und dieses so-weit als möglich zu erkennen trachte. Denn wie ge-sagt, um das Allgemeine dreht sich die Wissenschaft.

So wird denn auch derjenige, der die Menschen,seien es viele, seien es wenige, durch seine Veranstal-tungen besser zu machen die Absicht hat, versuchenmüssen, sich die Eigenschaften des Gesetzgebers an-zueignen, wenn es wahr ist, daß Menschen durch Ge-setze zur Tüchtigkeit angeleitet werden können. Denneinen beliebigen oder diesen gegebenen Menschen indie rechte Verfassung zu versetzen, das vermag nichtder erste beste, sondern wenn irgend jemand, nur einKundiger, wie es in der Medizin und überall da derFall ist, wo es sich um kluge Veranstaltung und ein-sichtiges Urteil handelt.

Wäre es nun danach unsere Aufgabe zu untersu-chen, auf welchem Wege und durch welche Mitteleiner die Eigenschaften eines Gesetzgebers erwirbt?Etwa nach dem Gleichnis auf anderen Gebieten durchdie in Staatsgeschäften Tätigen? Denn die Tätigkeitdes Gesetzgebers gehört ja, wie sich gezeigt hat, insGebiet der Staatskunst. Oder sollte bei der Staats-kunst nicht augenscheinlich das gleiche gelten wie beiden übrigen Wissenschaften und Fähigkeiten? Hierüberall sieht man, wie dieselben Männer eben dieKunst auf andere übertragen, die sie selbst ausüben;

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so die Ärzte und die Maler. Dagegen sind es die So-phisten, die sich anheischig machen die Staatskunstzu lehren, und doch ist keiner von ihnen wirklich inden Geschäften bewandert. Bewandert darin sind nurdie in den Staatsgeschäften Geübten, und diese wer-den augenscheinlich in ihrer Tätigkeit mehr durch an-geborene Fähigkeit und durch Erfahrung geleitet alsdurch wissenschaftliche Reflexion. Wenigstens siehtman nicht, daß sie über dergleichen Gegenständeschreiben oder reden; und doch wäre dies ohne Zwei-fel eine verdienstlichere Beschäftigung, als Redenaufzuzeichnen, die vor Gericht oder in der Volksver-sammlung gehalten werden. Aber man merkt auchnichts davon, daß sie ihre eigenen Söhne oder sonstjemand von ihren Freunden zu bedeutenden Staats-männern herangebildet hätten. Und doch würden siees aller Wahrscheinlichkeit nach tun, wenn sie dazuimstande wären. Denn dem Staate könnten sie garnichts Besseres hinterlassen, und keine andere Fähig-keit würde ihnen als persönlicher Besitz lieber oderals Besitz ihrer lieben Freunde wünschenswerter er-scheinen als die, Staatsmänner ausbilden zu können.Und wirklich möchte man glauben, daß es auf die Er-fahrung nicht wenig für diesen Zweck ankomme;sonst würde man nicht durch die Übung in Staatsge-schäften zum Staatsmann werden. Darum darf mander Ansicht sein, daß diejenigen, die nach Verständnis

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der Aufgaben der Staatskunst streben, auf die Erfah-rung angewiesen sind.

Den Sophisten, die sich dazu anheischig machen,fehlt deshalb offenbar nicht weniger als alles, um zuLehrern der Staatskunst tauglich zu sein. Sie wissenüberhaupt nicht was die Eigentümlichkeit derselbenist, noch um welche Fragen sie sich dreht. Sonst wür-den sie sie nicht mit der Rhetorik auf gleiche Liniestellen oder gar sie ihr unterordnen, noch würden siesich der Meinung hingeben, es sei eine leichte SacheGesetze zu geben; man brauche ja nur die Gesetze zu-sammenzustellen, die sich allgemeiner Billigung er-freuen, und die besten auszuwählen. Als ob nicht ge-rade zu solcher Auswahl das gründlichste Verständniserforderlich und das richtige Urteil die Hauptsachewäre! Es ist hier gerade wie im Urteil über Kunstwer-ke. Richtig über jede Leistung urteilt der Erfahrene,der weiß, durch welche Mittel und auf welche Weisesie vollbracht wird und wie alles einzelne zueinanderstimmt. Wer keine Erfahrung hat, der muß sich schonzufrieden geben, wenn ihm nur das eine nicht entgeht,ob die Leistung im ganzen wohl oder übel hergestelltist, wie bei einem Werke der Malerei, Die Gesetzeaber stellen doch auch nur Leistungen der Staatskunstdar. Wie soll also einer auf Grund einer Sammlungderselben ein rechter Gesetzgeber werden oder beur-teilen können, welche die besten sind? Wird man

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doch augenscheinlich auch kein geschickter Arzt bloßauf Grund von Lehrbüchern. Und doch versuchendiese letzteren wenigstens nicht nur die Kurmittel an-zugeben, sondern auch zu zeigen, wie die einzelnenPatienten geheilt werden können und wie man sie ku-rieren muß, indem sie die besonderen leiblichen Dis-positionen unterscheiden. Es ist ganz glaublich, daßdem Erfahrenen dergleichen zustatten kommen mag;aber wer keine Einsicht in die Sache hat, dem kann esnichts nützen. Das gleiche ist der Fall mit den Zusam-menstellungen von Gesetzen und Staatsverfassungen.Wer imstande ist der Sache auf den Grund zu sehenund zu beurteilen, was angemessen, was das Gegen-teil ist, und wie das eine zum andern paßt, den kannes wesentlich fördern. Wer aber ohne eingehende Ver-trautheit mit dem Gegenstande dergleichen studiert,der kommt zu keinem richtigen Urteil, es sei denndurch puren Zufall; nur vielleicht empfänglicher fürdie richtige Einsicht in die betreffenden Fragen mag erdadurch werden.

Unsere Vorgänger haben die Fragen, die mit derGesetzgebung zusammenhangen, unerledigt gelassen;es wird also wohl das beste sein, wir nehmen dieSache selber in die Hand, und damit auch überhauptdie Probleme des Staatslebens, um nach dem Maß un-serer Kräfte die Wissenschaft von den menschlichenDingen zum Abschluß zu bringen. Wir wollen

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zunächst versuchen näher an das heranzutreten, wasetwa ältere Denker über den Gegenstand im einzelnenTreffendes vorgebracht haben, um sodann auf Grundeiner Zusammenstellung von Staatsverfassungen aus-zumachen, welche Ursachen das Gedeihen, welchedas Verderben von Staaten im allgemeinen und vonden Arten der Verfassung im besonderen bewirkenund aus welchen Gründen sich das Staatsleben hierglücklich, dort unglücklich gestaltet. Wenn wir dar-über ins Klare gelangt sind, werden wir besser erse-hen können, sowohl welche Verfassung die beste sei,als auch wie jede einzelne geordnet sein und welcheGesetze und Bräuche in ihr herrschen müßten. Und soschicken wir uns denn an zu dieser weiteren Untersu-chung.