Aufruhr Nr. 14 (April 2014)

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D ie Meinung ist die meist ver- breitete Ware. Alle besitzen sie und alle gebrauchen sie. Die Produktion von Meinun- gen interessiert eine breite Schicht der gesamten wirtschaftlichen Produkti- on, ihr Konsum nimmt einen Grossteil der Zeit der einzelnen Personen ein. Die hauptsächliche Qualität der Mei- nung ist ihre Klarheit. Lasst uns gleich sagen, dass es kei- ne unklaren Meinungen gibt. Man ist entweder dafür oder man ist dagegen. Die Nuancierungen und die Ambi- valenzen, die Widersprüche und die schmerzhaften Eingeständnisse von Unsicherheit sind ihr fremd. Daher die grosse Stärke, welche die Mei- nung demjenigen verschat, der sie gebraucht, der sie für seine Entschei- dungen konsumiert, der sie den Ent- scheidungen von anderen auferlegt. In einer Welt, die immer schneller auf die Binäre des positiv/negativ, des roten Knopfs und des schwarzen Knopfs zusteuert, ist die Reduzie- rung auf diese vereinfachte Logik ein wichtiger Entwicklungsfaktor, viel- leicht des zivilisierten Zusammenle- bens selbst. Was würde aus unserer Zukunft werden, wenn wir uns wei- terhin auf die ungelösten Grausam- keiten der Ambivalenzen stützten? Wie könnten wir gebraucht werden, wie könnten wir produzieren? Wenn sich die wirkliche Möglich- keit zur Auswahl reduziert, eben in diesem Moment tritt die Klarheit hervor. Nur wer klare Ideen hat, weiss genau, was zu tun ist, aber die Ideen sind nie klar, und so sieht man jene sich erheben, die sie uns klären, die einfache und verständliche Instru- mente liefern: nicht Diskurse, son- dern Frage- und Antwortspiele, nicht Vertiefungen, sondern binäre Alter- nativen. Der Tag oder die Nacht, kei- ne Dämmerungen oder Morgenröten. Auf diese Weise fragen sie uns da- nach, uns für oder gegen etwas zu erklären. Sie führen uns nicht die Aspekte des Problems vor Augen, sondern nur eine grob vereinfachte Konstruktion. Es ist eine einfache Sa- che, sich für das Ja oder für das Nein zu erklären, aber von der Einfachkeit, die die Komplexität vertuscht und ver- schwinden lässt, nicht die sie versteht und sie erklärt. Keine Komplexität kann, korrekt verstanden, tatsäch- lich erklärt werden, ohne auf andere Komplexitäten zu verweisen. Es gibt nicht Lösungen von Problemen, son- dern Gelegenheiten zur Reexion, zur Erkenntnis, zur Begegnung. Freuden des Intellekts und des Herzens, die der schlichte binäre Vorschlag streicht und durch die Nützlichkeit des rich- tigen Entscheidens ersetzt. Und weil niemand so dumm ist, zu glauben, dass sich die Welt auf zwei logische Stelzen stützt, die positive und die negative, da es ja doch einen spezischen Ort der Vertiefungen ge - ben muss, einen Ort, an dem die Ideen wieder die Überhand nehmen und die Kenntnis das verlorene Terrain zurückgewinnt, so sieht man, wie das Verlangen aufkommt, jegliche Vertie- fung an andere zu delegieren, an jene, die, da sie uns einfache Lösungen sug- gerieren, die Ausarbeitung der Kom- plexität als bereits geschehene Tatsa- che zu wahren scheinen, und folglich, die sich zu Zeugen und Hütern der Wissenschaft ernennen. So schliesst sich der Kreis. Die Ver- einfacher selbst präsentieren sich als Garanten der Fundiertheit der Meinung, die gefragt wird, ihres kor- rekten Auftretens in binärer Form. Sie scheinen sich der Tatsache be- wusst zu sein, dass die Meinung, wenn sie sich einmal niedergesetzt hat, jegliche Fähigkeit zerstört, das verwickelte Gefüge, das ihr zu Grun- de liegt, die komplexe Entwicklung der Probleme der Erkenntnis, die frenetische Interaktion der Symbole und der Bedeutungen, der Bezüge und der Intuitionen zu verstehen. Der Manipulator der Klarheit zer- stört das Gefüge der Dierenzen, er verwässert es im binären Universum des Gesetzbuches, wo die Realität nur in zwei Lösungen möglich scheint: das angestellte Lämpchen und das ausge- stellte Lämpchen. Das Modell fasst die Realität zusammen, streicht die Nuan- cierungen dieser letzteren und sugge- riert sie in vorgefertig ten statistischen Formeln, bereit zum Konsum. Es gibt keine Lebensprojekte mehr, sondern blosse Symbole, die die Verlangen er- setzen und die Träume [ital.:  sogni ] du- plizieren, sie in Bedürfnisse [bi-sogni ] verwandelnd. Das quantitative Anwachsen der In- formationen, über die wir verfügen, ermöglicht es nicht, aus dem Bereich der Meinungen herauszukommen. Auf die gleiche Weise, wie die grösse- re Menge an Waren in einem Markt, mit all den möglichen und unnützen Variationen desselben Produkts, nicht Reichtum oder Fülle bedeutet, sondern einzig Warenverschwendung, so lässt die Vermehrung von Informationen die Meinung nicht qualitativ wachsen, das heisst, erzeugt sie nicht eine wirk- liche Fähigkeit, zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Guten und dem Schlechten, dem Schönen und dem Hässlichen zu entscheiden, aus- ser indem sie jeden dieser Aspekte auf die erstarrte Repräsentation eines vor- herrschenden Modells reduziert. In der Realität gibt es nicht auf der einen Seite das Gute und auf der an- deren Seite das Schlechte, sondern eine ganze Nuancierung von Bedin- gungen, von Fällen, von Situationen, von Theorien und von Praktiken, die nur eine Fähigkeit, zu verstehen, er- fassen kann, das heisst, eine Fähigkeit, den Intellekt zu gebrauchen, mit den gebührenden korrektiven Präsenzen, die vom Wahrnehmungsvermögen und von der Intuition geliefert wer- den. Kultur ist nicht eine Anhäufung von Informationen, sondern ein le- bendiges und oft widersprüchliches System, auf Basis von dem wir die Welt und uns selbst kennenlernen, ein Prozess, der manchmal schmerzhaft ist, und fast nie zufriedenstellend, mit dem wir jene Beziehungen realisieren, die unser Leben und auch unsere Fä- higkeit, zu leben, bilden. Wenn wir all diese Nuancierungen streichen, nden wir uns mit einer statistischen Kurve in den Händen wieder, einem illusorischen Hergang, produziert von einem mathema- tischen Modell, nicht einer fraktio- nierten und überwältigenden Realität. Die Meinung verschat uns also, auf der einen Seite, Sicherheit, aber auf der anderen verarmt sie uns und be- raubt sie uns der Fähigkeit, zu kämp- fen, indem sie uns letzten Endes davon überzeugt, dass die Welt einfacher ist, als sie ist. Das alles liegt im Interesse von jenen, die uns beherrschen. Eine Masse von Untertanen, zufriedenge- stellt und überzeugt, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben: dies ist es, was sie brauchen, um die künftigen Herrschaftsprojekte zu realisieren. amb, „Canenero“ N UMMER  1 4  J A H R  I I A NARCHISTISCHES  B LATT  E RSCHEINT   J E D EN  MONAT G estern, am Donnerstag dem 27. März 2014, hat sich auf dem Bullinger- platz eine Gruppe von Personen getroen, um Flugblätter zu verteilen und über den Kampf gegen das PJZ (Polizei- und Justizzentrum) zu diskutieren, welches sich in diesem Quartier in der Bauphase bendet. Die Polizei, aufgrund der Weigerung dieser Personen, um eine Autorisierung zu fragen und ihre Identität anzugeben, ist mit einem Grossaufgebot auf dem Platz aufgefahren, um schliesslich verschiedene Personen zu verhaften. Um die Sache klar zu stellen: Wir wollen uns hier nicht über die Behandlung beklagen, die diese Personen von Seiten der Autorität erfahren haben, schliess- lich, trotz der demokratischen Lügen über die angebliche Vereinbarkeit zwis- chen Freiheit und Autorität, sind wir uns darüber bewusst, dass es zwischen der Autorität, die von der Polizei verteidigt wird, und ihren Feinden einen Abgrund gibt, einen Abgrund, den kein Dialog, kein Diskurs oder Kompromiss auüllen kann. Wir haben gewählt, auf welcher Seite wir stehen, und wir tret - en den möglichen Konsequenzen entgegen. Genauso, wie wir uns darüber be- wusst sind, dass die Freiheit nur im Kampf gegen und durch die Zerstörung der Autorität und ihrer Projekte möglich ist. Das PJZ ist nur eines von diesen, doch in seiner Bedeutung, unserer Meinung nach, das Sichtbarste und Deutlichste, da es einen beträchtlichen Teil des repressiven Apparates des Staates (Polizei, Gerichte, Gefängnis,...) in einem ärmeren und für sie unbequemen Quartier konzentrieren wird, in einem Quartier, das die städtischen Autoritäten auf- werten wollen, um es vermögenderen Personenkategorien zugänglicher zu machen. Diese Aufwertung wird auf Kosten von jenem Teil der Bewohner des Quartiers geschehen, der es sich nicht wird erlauben können, höhere Mieten zu bezahlen, oder der sich, aus verschiedenen Gründen, nicht einer Erhöhung der Kontrollen auf den Strassen von Seiten der Polizei aussetzen will. « Jedermann, der seine Hand über mich ausstreckt, ist ein Usurpator und ein Tyrann, und ich erkläre ihn zu meinem Feind.  Regie rung ist S klave rei, ihre Gese tze si nd Spinnweben für d ie R eiche n und Stahlketten für die Armen. Regiert zu werden, bedeutet, überwacht, inspiziert, ausspioniert, reguliert, indoktriniert, kontrolliert, verurteilt und  zensu riert [...] zu we rden.  Regie rt zu werde n, be deute t, in jeder Aktion und T ransa ktion regis trier t, abgestempelt, besteuert, patentiert, autorisiert, bewertet, bemessen, re -  formi ert, zurec htger ückt, korri giert und z unicht egemacht zu werden.  Mit d em V orwan d de r öe ntlich en Nü tzlich keit will e s hei - ssen, ausgebeutet, monopolisiert, missbraucht, beraubt, und dann, beim ersten Widerstand oder Klagewort, mit Bussgeld belegt, schikaniert, verunglimpft, kaltgemacht, verprü- gelt, entwanet, vor Gericht geführt, ver - urteilt, eingekerkert, [...], deportiert, ver - kauft, verraten, hintergangen, betrogen, beleidigt [...] zu werden.  Dies ist di e Re gier ung, dies ist ihre Gerechtigkeit, dies ist ihre Moral!. »  Bei den „K onterband Editionen“ wurden 4 Broschü- ren und 3 Bücher gedruckt. Diese sind in der Biblio- thek FERMENTO erhältlich oder können per E-Mail (konterbanded [email protected]) bestellt werden. Die Rebellion  Alfredo M. Bonanno Der Skeptiker, zu tiefst rational, ndet immer Recht - fertigungen, um nicht zu rebellieren. Kritisch, aber so kritisch, dass ihm jede Aktion unmöglich wird, merkt er nicht, dass er sich genau gemäss den gewünsch- ten Normen verhält. Aber die Rebellion geht nicht  von einer reinen Rationalität aus, ihre Mündungen sind nicht berechenbar. Sie erfordert zuallernächst den Bruch, ein Abweichen von dem, was von der Kol - lektivität als „rational“ und als „richtig“ betrachtet wird, den Mut, und auch eine gewisse „Überstürzt- heit“, um das Ungewisse zu wagen. Gewiss hat sie sehr rationale Gründe, aber sie hat auch Gründe des Herzens. Ausgehend von diesen Feststellungen werden in dieser Broschüre die Bedingungen analy - siert, die zum Entstehen des Rebellen beitragen, den es in allen Klassen gibt. Im Rahmen von Tendenzen werden einige Elemente zwischen ungeordneter und bewusster Rebellion dierenziert. Denn, wenn ein Kämpfer für die Freiheit immer, notwendigerweise, ein Rebell ist, so ist ein Rebell nicht immer ein Kämp - fer für die Freiheit. Format: Broschüre 10 x 15 cm, 24 Seiten 1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr . 1.50 Um die Rechungen zu begleichen  Lope V argas Eine Untersuchung über die Justiz, ein Konzept, dessen Ursprung sich in der Nacht der Zeit verliert, und das heute, in unserer Gesellschaft, namentlich in Gerichten und Gefängnissen seinen Ausdruck n- det. Die Gesetze der Justiz, kreiert von einem sehr menschlichen, und gewiss nicht einem „göttlichen“ Willen, wie ursprünglich behauptet, haben schon immer die Interessen jener beschützt, die auch die  Autorität besassen, sie zu erlassen. Die Justiz, als den Menschen übergeordnete Institution und Norm, egal in welcher Form, wird immer ein Werkzeug der Unterdrückung sein, auch in den Händen von Revo- lutionären. Sich gegen die Justiz, gegen das „Recht“ zu erklären, bedeutet also keineswegs, für die Unge- rechtigkeit zu sein. Es bedeutet schlicht und einfach, davon auszugehen, dass die menschlichen Konikte – die es auch in einer Gesellschaft, die von den heu - tigen Klassengegensätzen und der Ausbeutung und  Ve relendung der Men schen befreit ist, den noch im- mer geben wird, es sei denn wir beabsichtigen, sie in eine Klostergemeinschaft zu verwandeln –, dass die - se Konikte in ihrer Einzigartigkeit und von Seiten der direkt Involvierten angegangen werden müssen, und nicht anhand von allgemein aufgezwungenen Regeln (Strafgesetzbuch) und übergeordneten re - pressiven Instanzen (Gerichte und Gefängnisse). Format: Broschüre 10 x 15 cm, 20 Seiten  1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr . 1.50 Malatesta und das Konzept von revolutionärer Gewalt  Alfredo M. Bonann o  Ausgehend von Zitaten von Ma latesta, die sich in ein- facher und klarer Sprache mit der Frage der revoluti - onären Gewalt und ihren moralischen Implikationen auseinandersetzen, werden diese Überlegungen von  Alfredo Bonanno vertieft und ergänz t, und in den heutigen Kontext gestellt. Die Frage ist hier nicht, Rechtfertigungen oder Verurteilungen zu liefern. Der soziale Konikt, der zwischen den Unterdrückenden und den Unterdrückten besteht und der sich immer wieder gewaltsam äussert, wird solange fortdauern, wie diese Bedingungen fortdauern, unabhängig von unseren Urteilen. In diesem Beitrag geht es schlicht darum, diese Frage, die immer wieder für Missver - ständnisse sorgt, unter ihren verschiedenen mora- lischen und praktischen Aspekten zu beleuchten. Die  Anarchi sten sind für die Beseitigung der rohen Ge- walt aus den sozialen Verhältnissen, und eben darum gegen den Kapitalismus und den Staat, doch unter den gegenwärtigen Bedingungen, wenn wir nicht für das Fortbestehen der grösseren und allgemeinen Gewalt dieser Ordnung mitverantwortlich sein wol - len, ist es unumgänglich, sich gewaltsam gegen jene aufzulehnen, die ihre Aufrechterhaltung verteidigen. Die Gewalt ist ein Übel. Aber, auch wenn beide von ihr Gebrauch machen mögen, das Verlangen nach Freiheit stellt sich der Logik der Macht diametral gegenüber. Und gerade in dieser Frage drückt sich diese Andersheit besonders deutlich aus. Format: Broschüre 10 x 15 cm, 52 Seiten 1 Stk.: Fr. 0.30 | 10 Stk.: Fr . 2.50 P UBLIKATIONEN BULLINGERPLATZ POLIZEILICH BELAGERT [Am Abend des 27. März fuhren 12 Polizeivans auf dem Bullingerplatz auf, einzelne Riotcops postierten sich in den Seitenstrassen. Das folgende Flugblatt wurde am Tag darauf im Quartier verteilt, auf dem Platz wurde ein Banner gehängt: „Kein Bock auf Bullenschweine! PJZ Niemals!“]  Vo r kurze m wurde öentlich, was vor einigen Monaten geschah: Ein Mann, wie täglich so viele Arme, verurteilt dafür, die legalen Diebe illegal bestoh- len zu haben, lauerte in Luzern sei - nem Richter auf und polierte ihm das Gesicht. Ein Sonderfall, scheinbar, in der Geschichte dieser Institution. Komisch eigentlich. Verurteilen diese Hämmerchenschwinger doch täglich Menschenleben zu Sklaverei und Ker- ker. Aber was, wenn die von unten die  Justiz von oben nicht mehr achten? Ein  Alptr aum des Bürge rtums! Viell eicht ein Grund des langen Verschweigens? Einige Tage nach dem x-ten Massenansturm auf den Militärzaun nach Europa, bei den spanischen Enkla-  ven Ceuta und Melilla, ein Zeic hen de r Solidarität in Zürich: Die Konsule des spa - nischen Staates, verantwortlich, wie alle Staatsmänner, für die Hetzen und Massa- ker von Migranten, fanden ihren Arbeits- platz mit Durchzug und Scherben vor.. U N R U H E - N A C H R I C H T E N EIN HOCH AUF DIE MEINUNG Z ÜRICH , 17. A PRIL  2014  JUSTIZ MIGRATION Für die Umwälzung der Welt  Anonym Eingeschlossen Gedanken über das Gefännis –  Alfredo M. Bonann o Reise ins Auge des Sturms  Pierleon e M. P orcu  Wie ein Dieb in der Nacht  Anarchismus zwischen Theorie und Praxis – Alfredo M. Bonan no Broschüre, 24 S.,  Fr. 0.30 Büchlein, 108 S., Fr. 4.- Büchlein, 158 S., Fr. 4.- Büchlein, 152 S., Fr. 4.-

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  • Die Meinung ist die meist ver-breitete Ware. Alle besitzen sie und alle gebrauchen sie. Die Produktion von Meinun-gen interessiert eine breite Schicht der gesamten wirtschaftlichen Produkti-on, ihr Konsum nimmt einen Grossteil der Zeit der einzelnen Personen ein. Die hauptschliche Qualitt der Mei-nung ist ihre Klarheit.

    Lasst uns gleich sagen, dass es kei-ne unklaren Meinungen gibt. Man ist entweder dafr oder man ist dagegen. Die Nuancierungen und die Ambi-valenzen, die Widersprche und die schmerzhaften Eingestndnisse von Unsicherheit sind ihr fremd. Daher die grosse Strke, welche die Mei-nung demjenigen verschafft, der sie gebraucht, der sie fr seine Entschei-dungen konsumiert, der sie den Ent-scheidungen von anderen auferlegt.

    In einer Welt, die immer schneller auf die Binre des positiv/negativ, des roten Knopfs und des schwarzen Knopfs zusteuert, ist die Reduzie-rung auf diese vereinfachte Logik ein wichtiger Entwicklungsfaktor, viel-leicht des zivilisierten Zusammenle-bens selbst. Was wrde aus unserer Zukunft werden, wenn wir uns wei-terhin auf die ungelsten Grausam-keiten der Ambivalenzen sttzten? Wie knnten wir gebraucht werden, wie knnten wir produzieren?

    Wenn sich die wirkliche Mglich-keit zur Auswahl reduziert, eben in diesem Moment tritt die Klarheit hervor. Nur wer klare Ideen hat, weiss genau, was zu tun ist, aber die Ideen sind nie klar, und so sieht man jene sich erheben, die sie uns klren, die einfache und verstndliche Instru-mente liefern: nicht Diskurse, son-dern Frage- und Antwortspiele, nicht Vertiefungen, sondern binre Alter-nativen. Der Tag oder die Nacht, kei-ne Dmmerungen oder Morgenrten.

    Auf diese Weise fragen sie uns da-nach, uns fr oder gegen etwas zu erklren. Sie fhren uns nicht die Aspekte des Problems vor Augen, sondern nur eine grob vereinfachte Konstruktion. Es ist eine einfache Sa-che, sich fr das Ja oder fr das Nein zu erklren, aber von der Einfachkeit,

    die die Komplexitt vertuscht und ver-schwinden lsst, nicht die sie versteht und sie erklrt. Keine Komplexitt kann, korrekt verstanden, tatsch-lich erklrt werden, ohne auf andere Komplexitten zu verweisen. Es gibt nicht Lsungen von Problemen, son-dern Gelegenheiten zur Reflexion, zur Erkenntnis, zur Begegnung. Freuden des Intellekts und des Herzens, die der schlichte binre Vorschlag streicht und durch die Ntzlichkeit des rich-tigen Entscheidens ersetzt.

    Und weil niemand so dumm ist, zu glauben, dass sich die Welt auf zwei logische Stelzen sttzt, die positive und die negative, da es ja doch einen spezifischen Ort der Vertiefungen ge-ben muss, einen Ort, an dem die Ideen wieder die berhand nehmen und die Kenntnis das verlorene Terrain zurckgewinnt, so sieht man, wie das Verlangen aufkommt, jegliche Vertie-fung an andere zu delegieren, an jene, die, da sie uns einfache Lsungen sug-gerieren, die Ausarbeitung der Kom-plexitt als bereits geschehene Tatsa-che zu wahren scheinen, und folglich, die sich zu Zeugen und Htern der Wissenschaft ernennen.

    So schliesst sich der Kreis. Die Ver-einfacher selbst prsentieren sich als Garanten der Fundiertheit der Meinung, die gefragt wird, ihres kor-rekten Auftretens in binrer Form. Sie scheinen sich der Tatsache be-wusst zu sein, dass die Meinung, wenn sie sich einmal niedergesetzt hat, jegliche Fhigkeit zerstrt, das verwickelte Gefge, das ihr zu Grun-de liegt, die komplexe Entwicklung der Probleme der Erkenntnis, die frenetische Interaktion der Symbole und der Bedeutungen, der Bezge und der Intuitionen zu verstehen.

    Der Manipulator der Klarheit zer-strt das Gefge der Differenzen, er verwssert es im binren Universum des Gesetzbuches, wo die Realitt nur in zwei Lsungen mglich scheint: das angestellte Lmpchen und das ausge-stellte Lmpchen. Das Modell fasst die Realitt zusammen, streicht die Nuan-cierungen dieser letzteren und sugge-riert sie in vorgefertigten statistischen Formeln, bereit zum Konsum. Es gibt keine Lebens projekte mehr, sondern blosse Symbole, die die Verlangen er-setzen und die Trume [ital.: sogni] du-plizieren, sie in Bedrfnisse [bi-sogni] verwandelnd.

    Das quantitative Anwachsen der In-formationen, ber die wir verfgen, ermglicht es nicht, aus dem Bereich der Meinungen herauszukommen. Auf die gleiche Weise, wie die grsse-re Menge an Waren in einem Markt, mit all den mglichen und unntzen Variationen desselben Produkts, nicht Reichtum oder Flle bedeutet, sondern einzig Warenverschwendung, so lsst die Vermehrung von Informationen die Meinung nicht qualitativ wachsen, das heisst, erzeugt sie nicht eine wirk-liche Fhigkeit, zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Guten und dem Schlechten, dem Schnen und dem Hsslichen zu entscheiden, aus-ser indem sie jeden dieser Aspekte auf die erstarrte Reprsentation eines vor-herrschenden Modells reduziert.

    In der Realitt gibt es nicht auf der einen Seite das Gute und auf der an-deren Seite das Schlechte, sondern eine ganze Nuancierung von Bedin-gungen, von Fllen, von Situationen, von Theorien und von Praktiken, die nur eine Fhigkeit, zu verstehen, er-fassen kann, das heisst, eine Fhigkeit, den Intellekt zu gebrauchen, mit den gebhrenden korrektiven Prsenzen, die vom Wahrnehmungsvermgen und von der Intuition geliefert wer-den. Kultur ist nicht eine Anhufung von Informationen, sondern ein le-bendiges und oft widersprchliches System, auf Basis von dem wir die Welt und uns selbst kennenlernen, ein Prozess, der manchmal schmerzhaft ist, und fast nie zufriedenstellend, mit dem wir jene Beziehungen realisieren, die unser Leben und auch unsere F-higkeit, zu leben, bilden.

    Wenn wir all diese Nuancierungen streichen, finden wir uns mit einer statistischen Kurve in den Hnden wieder, einem illusorischen Hergang, produziert von einem mathema-tischen Modell, nicht einer fraktio-nierten und berwltigenden Realitt.

    Die Meinung verschafft uns also, auf der einen Seite, Sicherheit, aber auf der anderen verarmt sie uns und be-raubt sie uns der Fhigkeit, zu kmp-fen, indem sie uns letzten Endes davon berzeugt, dass die Welt einfacher ist, als sie ist. Das alles liegt im Interesse von jenen, die uns beherrschen. Eine Masse von Untertanen, zufriedenge-stellt und berzeugt, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben: dies ist es, was sie brauchen, um die knftigen Herrschaftsprojekte zu realisieren.

    amb, Canenero

    N u m m e r 14J a h r I I

    a N a r c h I s t I s c h e s B l at t e r s c h e I N t J e d e N m o N at

    Gestern, am Donnerstag dem 27. Mrz 2014, hat sich auf dem Bullinger-platz eine Gruppe von Personen getroffen, um Flugbltter zu verteilen und ber den Kampf gegen das PJZ (Polizei- und Justizzentrum) zu diskutieren, welches sich in diesem Quartier in der Bauphase befindet. Die Polizei, aufgrund der Weigerung dieser Personen, um eine Autorisierung zu fragen und ihre Identitt anzugeben, ist mit einem Grossaufgebot auf dem Platz aufgefahren, um schliesslich verschiedene Personen zu verhaften.Um die Sache klar zu stellen: Wir wollen uns hier nicht ber die Behandlung beklagen, die diese Personen von Seiten der Autoritt erfahren haben, schliess-lich, trotz der demokratischen Lgen ber die angebliche Vereinbarkeit zwis-chen Freiheit und Autoritt, sind wir uns darber bewusst, dass es zwischen der Autoritt, die von der Polizei verteidigt wird, und ihren Feinden einen Abgrund gibt, einen Abgrund, den kein Dialog, kein Diskurs oder Kompromiss auffllen kann. Wir haben gewhlt, auf welcher Seite wir stehen, und wir tret-en den mglichen Konsequenzen entgegen. Genauso, wie wir uns darber be-wusst sind, dass die Freiheit nur im Kampf gegen und durch die Zerstrung der Autoritt und ihrer Projekte mglich ist. Das PJZ ist nur eines von diesen, doch in seiner Bedeutung, unserer Meinung nach, das Sichtbarste und Deutlichste, da es einen betrchtlichen Teil des repressiven Apparates des Staates (Polizei, Gerichte, Gefngnis,...) in einem rmeren und fr sie unbequemen Quartier konzentrieren wird, in einem Quartier, das die stdtischen Autoritten auf-werten wollen, um es vermgenderen Personenkategorien zugnglicher zu machen. Diese Aufwertung wird auf Kosten von jenem Teil der Bewohner des Quartiers geschehen, der es sich nicht wird erlauben knnen, hhere Mieten zu bezahlen, oder der sich, aus verschiedenen Grnden, nicht einer Erhhung der Kontrollen auf den Strassen von Seiten der Polizei aussetzen will.

    Jedermann, der seine Hand ber mich ausstreckt, ist ein Usurpator und ein Tyrann, und ich erklre ihn zu meinem Feind.Regierung ist Sklaverei, ihre Gesetze sind Spinnweben fr die Reichen und Stahlketten fr die Armen. Regiert zu werden, bedeutet, berwacht, inspiziert, ausspioniert, reguliert, indoktriniert, kontrolliert, verurteilt und zensuriert [...] zu werden.Regiert zu werden, bedeutet, in jeder Aktion und Transaktion registriert, abgestempelt, besteuert, patentiert, autorisiert, bewertet, bemessen, re-formiert, zurechtgerckt, korrigiert und zunichtegemacht zu werden.Mit dem Vorwand der ffentlichen Ntzlichkeit will es hei-ssen, ausgebeutet, monopolisiert, missbraucht, beraubt, und dann, beim ersten Widerstand oder Klagewort, mit Bussgeld belegt, schikaniert, verunglimpft, kaltgemacht, verpr-gelt, entwaffnet, vor Gericht gefhrt, ver-urteilt, eingekerkert, [...], deportiert, ver-kauft, verraten, hintergangen, betrogen, beleidigt [...] zu werden.Dies ist die Regierung, dies ist ihre Gerechtigkeit, dies ist ihre Moral!.

    Bei den Konterband Editionen wurden 4 Brosch-ren und 3 Bcher gedruckt. Diese sind in der Biblio-thek FERMENTO erhltlich oder knnen per E-Mail ([email protected]) bestellt werden.

    Die Rebellion Alfredo M. BonannoDer Skeptiker, zu tiefst rational, findet immer Recht-fertigungen, um nicht zu rebellieren. Kritisch, aber so kritisch, dass ihm jede Aktion unmglich wird, merkt er nicht, dass er sich genau gemss den gewnsch-ten Normen verhlt. Aber die Rebellion geht nicht von einer reinen Rationalitt aus, ihre Mndungen sind nicht berechenbar. Sie erfordert zuallernchst den Bruch, ein Abweichen von dem, was von der Kol-lektivitt als rational und als richtig betrachtet wird, den Mut, und auch eine gewisse berstrzt-heit, um das Ungewisse zu wagen. Gewiss hat sie sehr rationale Grnde, aber sie hat auch Grnde des Herzens. Ausgehend von diesen Feststellungen werden in dieser Broschre die Bedingungen analy-siert, die zum Entstehen des Rebellen beitragen, den es in allen Klassen gibt. Im Rahmen von Tendenzen werden einige Elemente zwischen ungeordneter und bewusster Rebellion differenziert. Denn, wenn ein Kmpfer fr die Freiheit immer, notwendigerweise, ein Rebell ist, so ist ein Rebell nicht immer ein Kmp-fer fr die Freiheit.

    Format: Broschre 10 x 15 cm, 24 Seiten1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr. 1.50

    Um die Rechungen zu begleichen Lope VargasEine Untersuchung ber die Justiz, ein Konzept, dessen Ursprung sich in der Nacht der Zeit verliert, und das heute, in unserer Gesellschaft, namentlich in Gerichten und Gefngnissen seinen Ausdruck fin-det. Die Gesetze der Justiz, kreiert von einem sehr menschlichen, und gewiss nicht einem gttlichen Willen, wie ursprnglich behauptet, haben schon immer die Interessen jener beschtzt, die auch die Autoritt besassen, sie zu erlassen. Die Justiz, als den Menschen bergeordnete Institution und Norm, egal in welcher Form, wird immer ein Werkzeug der Unterdrckung sein, auch in den Hnden von Revo-lutionren. Sich gegen die Justiz, gegen das Recht zu erklren, bedeutet also keineswegs, fr die Unge-rechtigkeit zu sein. Es bedeutet schlicht und einfach, davon auszugehen, dass die menschlichen Konflikte die es auch in einer Gesellschaft, die von den heu-tigen Klassengegenstzen und der Ausbeutung und Verelendung der Menschen befreit ist, dennoch im-mer geben wird, es sei denn wir beabsichtigen, sie in eine Klostergemeinschaft zu verwandeln , dass die-se Konflikte in ihrer Einzigartigkeit und von Seiten der direkt Involvierten angegangen werden mssen, und nicht anhand von allgemein aufgezwungenen Regeln (Strafgesetzbuch) und bergeordneten re-pressiven Instanzen (Gerichte und Gefngnisse).

    Format: Broschre 10 x 15 cm, 20 Seiten 1 Stk.: Fr. 0.20 | 10 Stk.: Fr. 1.50

    Malatesta und das Konzept von revolutionrer Gewalt Alfredo M. BonannoAusgehend von Zitaten von Malatesta, die sich in ein-facher und klarer Sprache mit der Frage der revoluti-onren Gewalt und ihren moralischen Implikationen auseinandersetzen, werden diese berlegungen von Alfredo Bonanno vertieft und ergnzt, und in den heutigen Kontext gestellt. Die Frage ist hier nicht, Rechtfertigungen oder Verurteilungen zu liefern. Der soziale Konflikt, der zwischen den Unterdrckenden und den Unterdrckten besteht und der sich immer wieder gewaltsam ussert, wird solange fortdauern, wie diese Bedingungen fortdauern, unabhngig von unseren Urteilen. In diesem Beitrag geht es schlicht darum, diese Frage, die immer wieder fr Missver-stndnisse sorgt, unter ihren verschiedenen mora-lischen und praktischen Aspekten zu beleuchten. Die Anarchisten sind fr die Beseitigung der rohen Ge-walt aus den sozialen Verhltnissen, und eben darum gegen den Kapitalismus und den Staat, doch unter den gegenwrtigen Bedingungen, wenn wir nicht fr das Fortbestehen der grsseren und allgemeinen Gewalt dieser Ordnung mitverantwortlich sein wol-len, ist es unumgnglich, sich gewaltsam gegen jene aufzulehnen, die ihre Aufrechterhaltung verteidigen. Die Gewalt ist ein bel. Aber, auch wenn beide von ihr Gebrauch machen mgen, das Verlangen nach Freiheit stellt sich der Logik der Macht diametral gegenber. Und gerade in dieser Frage drckt sich diese Andersheit besonders deutlich aus.

    Format: Broschre 10 x 15 cm, 52 Seiten1 Stk.: Fr. 0.30 | 10 Stk.: Fr. 2.50

    P u B l I k at I o N e N

    BULLINGERPLATZ POLIZEILICH BELAGERT

    [Am Abend des 27. Mrz fuhren 12 Polizeivans auf dem Bullingerplatz auf, einzelne Riotcops postierten sich in den Seitenstrassen. Das folgende Flugblatt wurde am Tag darauf im Quartier verteilt, auf dem Platz wurde ein Banner gehngt: Kein Bock auf Bullenschweine! PJZ Niemals!]

    Vor kurzem wurde ffentlich, was vor

    einigen Monaten geschah: Ein Mann, wie tglich so viele Arme, verurteilt dafr, die legalen Diebe illegal bestoh-len zu haben, lauerte in Luzern sei-nem Richter auf und polierte ihm das Gesicht. Ein Sonderfall, scheinbar, in der Geschichte dieser Institution. Komisch eigentlich. Verurteilen diese Hmmerchenschwinger doch tglich Menschenleben zu Sklaverei und Ker-ker. Aber was, wenn die von unten die Justiz von oben nicht mehr achten? Ein Alptraum des Brgertums! Vielleicht ein Grund des langen Verschweigens?

    Einige Tage nach dem

    x-ten Massenansturm auf den Militrzaun nach Europa, bei den spanischen Enkla-ven Ceuta und Melilla, ein Zeichen der Solidaritt in Zrich: Die Konsule des spa-nischen Staates, verantwortlich, wie alle Staatsmnner, fr die Hetzen und Massa-ker von Migranten, fanden ihren Arbeits-platz mit Durchzug und Scherben vor..

    u N r u h e -N a c h r I c h t e N

    EIN HOCH AUF DIE MEINUNG

    Z r I c h , 17 . a P r I l 2014

    Justiz

    MigrationFr die Umwlzung der Welt AnonymEingeschlossen Gedanken ber das Gefnnis Alfredo M. BonannoReise ins Auge des Sturms Pierleone M. PorcuWie ein Dieb in der Nacht Anarchismus zwischen Theorie und Praxis Alfredo M. Bonanno

    Broschre, 24 S., Fr. 0.30

    Bchlein, 108 S., Fr. 4.-

    Bchlein, 158 S., Fr. 4.-

    Bchlein, 152 S., Fr. 4.-

  • Die Welt hat sich verndert. Eine banale Aussage, und doch nicht unntz, gele-gentlich in Erinnerung zu rufen ge-rade heute, da die Allgegenwart und die Unmittelbarkeit der modernen Kommunikationstechnologien dabei sind, ein Ge-fhl der ewigen Gegenwart einzurichten. Aber die Gegenwart, als das, wie sie uns umgibt, ist die Kon-sequenz aus ihrer Vergangenheit, und wir knnen die Bedingungen von heute nicht verstehen, ohne auch die Vergangenheit zu verstehen, die sie form-te. Jede revolutionre Anwandlung kommt nicht umhin, sich dieser analytischen Anstrengung anzu-nehmen. Wir knnen die Realitt nicht verndern, ohne zu versuchen, sie zu verstehen, und genauso knnen wir sie nicht verstehen, ohne zu versuchen, sie zu verndern. In diesem Wechselspiel gilt es heute, Mittel und Wege fr eine Wiederaufgleisung des revolutionren Kampfes zurckzufinden, Mit-tel und Wege, die den umfassenden Vernderungen angemessen sind, die auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene erfolgt sind. In diesem Sin-ne wollen wir etwas in die Geschichte hinabsteigen, um, in groben Zgen, einigen Entwicklungslinien zu folgen, die den sozialen Konflikt zwischen den Bedingungen von Herrschaft und Ausbeutung und den menschlichen Bestreben nach Freiheit und Solidaritt kennzeichneten, bis hin zu den fortge-schrittenen Demokratien und zur post-industriel-len Ausbeutung, wie wir sie heute kennen.

    der soZIale koNflIktEs interessiert uns hier nicht, den Ursprung des sozialen Konflikts in den menschlichen Gesellschaf-ten zu suchen, der sich zweifellos in der Nacht der Zeiten verliert, ebensowenig, wie den Mythos eines linearen sozialen Fortschritts von den primitiven Stmmen bis zum modernen Staat nachzubeten. Die Geschichte, geformt von den Willen und Ent-scheidungen aller Individuen, ist eine viel zu kom-plexe Angelegenheit, um irgendwelchen determi-nistischen Mechanismen zu folgen. Wir knnen jedoch wagen, zu bekrftigen, dass es auf dieser Welt, seit es Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt, schon immer auch Individuen ge-geben hat, die nach Wegen suchten, sich, alleine oder durch die Vereinigung mit anderen, dagegen zu widersetzen, um jenes hchste Gut zu verteidi-gen oder zu erobern, welches das Leben schliess-lich ausmacht: die Freiheit. ber die Jahrhunderte hinweg, begleitet von Revolten, Aufstnden und Revolutionen, haben sich die Systeme zur sozialen Organisation dieser Ausbeutung, die Mittel zu ihrer Verteidigung und Bewahrung, sowie ihre prakti-schen Formen, fortlaufend verndert und rationa-lisiert. Der grundlegende soziale Konflikt jedoch, zwischen einer herrschenden Klasse, welche die Autoritt und die Mittel besitzt, um ihre Privilegi-enordnung aufzuzwingen, und der berwiegenden Mehrheit, dem einfachen Volk, das darunter lei-det und ausgebeutet wird, ist bis heute derselbe geblieben: von der Sklavenhaltung der Antike, ber die Feudalherrschaft des Mittelalters, bis zu den grossen Industrieanlagen der Moderne, bis zur aufgestckelten und flexiblen, post-industriellen Arbeitswelt von heute. Mit diesen Vernderungen der Ausbeutungsformen, die nie definitiv, sondern vielmehr tendenziell und ineinander berlaufend waren (heute noch bestehen moderne und antike Formen nebeneinander), haben sich auch die Mittel und Wege verndert, wodurch sich die Leute gegen ihre Ausbeuter organisierten und widersetzten.

    dIe Grosse revolutIoNEinen markanten Wendepunkt in der Evolution die-ser sozialen Herrschaftssysteme kann mit der Fran-zsischen Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Diese Grosse Revolution, die innert weniger Jahre jahrhundertealt verwurzelte Institutionen umwlzte, die Ideen und Impulse in die Welt warf, die in zahlreichen Lndern, zeitlich mehr oder weniger verschoben und mit unterschiedlichen Charakteristiken, aber mit hnlichen Resultaten auf politischer Ebene, zu fundamentalen Umstruktu-rierungen fhrten, hat zweifellos das Schicksal der Menschheit verndert. Es war die Initiierung einer grossen Rationalisierung der Macht: das Ende des Absolutismus, der Monarchien, der Feudalherren, und das Aufkommen des Parlamentarismus, der Re-publiken, der Bourgeoisie als neue herrschende Klasse; das Ende der Willkr des kniglichen Hofes und das Aufkommen der konstitutionellen Regie-

    rungen, die Auffcherung der staatlichen Kontrolle ber die Gesellschaft (Verwaltungen, mter, Bro-kratien, etc.), die Ausprgung der Funktion des Br-gers, des gehorsamen, teilnehmenden Brgers, des Kultes des Gesetzes, des Richters, des Beamten, wie wir dies alles heute sehr gut kennen.

    Aber, was die Geschichtsschreiber meist nur am Rande anmerken: im Laufe dieser Revolution gab es nicht nur das politische Projekt der brgerlichen Klasse, die das Fundament der heutigen demokrati-schen Staaten legte. In ihr gab es auch, und an ers-ter Stelle, als wesentliche und treibende Kraft von jeder Revolution, die Bewegung des einfachen Vol-kes, das, angetrieben von seinen Nten und Leiden, fr unmittelbare und greifbare Verbesserungen seiner Lage kmpfte. Ohne die zahllosen Aufstnde der Bauern und der Proletarier der Stdte, die sich weigerten, die Abgaben an die Grundherren zu be-zahlen, die die Steuereintreiber mit Prgeln emp-fingen, die die Schlsser der Feudalisten in Brand steckten, die die Eigentums- und Steuerregister zerstrten, die sich der feudalen Lndereien be-mchtigten und sie bestellten, die, kurz gesagt, die Abschaffung der Feu-dalrechte in der Pra-xis bereits umsetzten, lange bevor sie von der Nationalversamm-lung dekretiert wurde, ohne diese autonome, aufstndische Bewe-gung des bewaffneten Volkes wren die alten Institutionen niemals gefallen und wre das revolutionre Brger-tum niemals in der Lage gewesen, ihr par-lamentarisches Regi-me durchzusetzen.

    Es gab in dieser Revolution also, was es in jeder Revolution gibt: eine politische Bewegung und eine volkstmliche Bewe-gung. Als Verfechter der ersten, die auto-ritren Revolutionre, die radikalen Brger-lichen, die Jakobiner, welche die volkstm-liche Bewegung fr die eigenen politi-schen Ziele ausnutzten und zu lenken versuchten. Als Verfechter der zweiten, die freiheitlichen Ideen und Krfte, die Anarchisten, wie sie abschtzend genannt wurden, die nicht in den Versammlungen und Parlamenten, sondern auf den Strassen agi-tierten, die die autonome und direkte Aktion des Volkes untersttzten und frderten, die vor den politischen Betrgern warnten und gegen die Ein-richtung einer neuen herrschenden Klasse weiter-kmpften, fr die tatschliche Gleichheit, fr den Wohlstand aller. Whrend das aufstrebende Br-gertum einzig daran interessiert war, sich die Pri-vilegien zu sichern, die es sich durch den Sturz des Feudalregimes erwarb, den revolutionren Prozess zu beenden und eine neue Regierung einzurich-ten, entwickelte sich also eine Bewegung, die weit ber das Programm der brgerlichen Revolution-re hinaus wollte und begann, das kommunistische Prinzip einer freien und egalitren Gesellschaft zu frdern: die Abschaffung des Privateigentums an Boden und Produktionsmitteln, das seit jeher die Grundlage der Ausbeutung bildet.

    Aber, wie wir wissen, wurden die grossen frei-heitlichen Prinzipien, die im Laufe dieser Revolution aufblhten, sptestens mit der Schreckensherrschaft der Jakobiner und der darauffolgenden Reaktion, endgltig im Blut ertrnkt, guillotiniert, erhnkt und erschossen um nur in ihrer brgerlichen Farce fort-zubestehen. Die Freiheit wurde zur Markt- und Aus-beutungsfreiheit, die Gleichheit zur (sehr relativen) Strafgleichheit vor dem Gesetz, die Brderlichkeit zum falschen Klassenfrieden und zum uniformierten Brudermord im Namen des Vaterlandes.

    Das Brgertum, also die wohlhabende, Land und Industrien besitzende Schicht, sicherte sich mit der neuen Gesetzgebung die Macht in den Parlamen-ten (ausschliessliche Wahlbeteiligung ab einem gewissen Grad an Vermgen), und verschuf ihren industriellen Unternehmen, mit dem Aufkauf der Feudalgter und der Aufhebung der Handelskon-trolle, freie Hand zur Ausbeutung der natrlichen

    Ressourcen und, vor allem, der Arbeiter. Die grosse Masse des einfachen Volkes, nach hunderten Auf-stnden und tausenden Toten, endlich von der feu-dalen Knechtschaft, den aushungernden Abgaben und der kniglichen Willkr befreit, sah sich nun also, ausgenutzt und betrogen, dem Laisser faire der neuen, liberalen Ordnung der brgerlichen Ar-beitgeberschaft ausgeliefert.

    Die schmerzhafte Lektion, die aus dieser Gro-ssen Revolution gezogen werden muss, sowie aus so vielen anderen, in denen sich hnliche Ablufe wiederholten: Wenn das ausgebeutete Volk wirklich eine Revolution will, die es von seinen Leiden und Zwngen befreit, dann muss es diese alleine ma-chen, autonom und selbst organisiert, und zwar bis auf den Grund, ohne und gegen alle Arten von Poli-tikern, die daherkommen mgen und meinen, ihre Interessen zu reprsentieren, nur um schliesslich ihre eigenen Klasseninteressen und eine neue Pri-vilegienordnung durchzusetzen; dann muss diese Revolution eine volkstmliche und soziale Revolu-tion sein, und nicht bloss eine politische. Dies ist die grundlegende Lektion, woraus sich, spter, die spe-zifische anarchistische Bewegung entwickeln wird.

    dIe INdustrIalIsIeruNG uNd dIe arBeIterBeweGuNG

    Der Aufstieg der brgerlichen Klasse und die po-litische Umwlzung, die mit der franzsischen Re-volution in zahlreichen Lndern in Gang kam, hat also, wie bereits angesprochen, der wachsenden Industrialisierung den Weg geebnet. Es ist die Zeit der ersten maschinellen Fabrikanlagen und der gro-

    ssen Umsiedlung vom Land in die Stdte, in die entstehenden Ar-beiterquartiere. Im-mer mehr Leute, die bis dahin zwar arm, aber in relativer Au-tonomie lebten, sahen sich gezwungen, die unlukrativ geworde-ne Ttigkeit als Bauer oder Heimarbeiter zu verlassen und sich in die sich verbreitenden Fabriken zu begeben, um dort, nach fixen Zeiten und unter Aufsicht, das einzige zu verkaufen, was sie hatten: ihre Arbeits-kraft.

    Aber die Einfh-rung dieser neuen, viel effizienteren Aus-beutungsform, welche unzhlige Leute ih-rem sozialen Kontext entriss und in diesen Fabriken einschloss, verbannt dazu, Tag fr Tag dieselbe monoto-

    ne Geste zu wiederholen, verlief nicht so ruhig, wie sich das Brgertum das gerne wnschte. In vielen Lndern brach eine Welle von Aufstnden, von Ma-schinenstrmerei, gegen die aufkommende indust-rielle Ausbeutung aus, und allein in England wurden, zwischen 1811-12, von der Bewegung der Luddis-ten mehr als tausend Maschinen zerstrt und meh-rere Fabriken in Brand gesteckt. Die Intervention der Armee und die Einfhrung der Todesstrafe fr Maschinenstrmerei waren ntig, um diese Bewe-gung niederzuschlagen. In der Schweiz gipfelte der Unmut im Aufstand von Uster, wobei eine der ersten industriellen Webereien in Brand gesteckt wurde.

    Die wachsende Konzentrierung der Ausbeu-tungsbedingungen in den Fabriken und in den damit verbundenen Arbeiterquartieren strkte in vielen das Bewusstsein ihrer Position als unter-drckte Klasse, und frderte, ber die Jahre hin-weg, das Aufkommen der Arbeiterbewegung. Diese letztere beginnt immer deutlicher, durch die Ausarbeitung der sozialistischen Ideen, die sich, ansatzweise, schon in der franzsischen Revolu-tion manifestierten, vereint durch die generische Idee einer Kollektivierung der Produktionsmittel, das Projekt einer klassenlosen, selbstverwalteten und freien Gesellschaft zu entwickeln.

    Diese Ideen waren stark geprgt von den aufkl-rerischen Mythen des Fortschritts, der Wissenschaft und des Historizismus, die in dieser Zeit auflebten und die allesamt, als angeblich neutrale Krfte der menschlichen Vernunft, geradewegs in Richtung einer freien Gesellschaft fhren wrden. Daher auch die Vorstellung einer Revolution als schlich-te andere soziale Organisation nicht mehr durch eine herrschende Klasse von Besitzenden, sondern selbstverwaltet und solidarisch von den Arbeitern selbst der bestehenden Produktionswelt. Eine Vorstellung, welche die Rolle der Produktionsmittel selbst, die in der Logik von Ausbeutung und Herr-schaft entstanden und geformt wurden, ausser Acht lsst. Etwas, das, unserer Meinung nach, wenn es da-

    mals schon fragwrdig war, besonders heute, nach den tiefgreifenden Umstrukturierungen durch die nuklearen, telematischen und informatischen Tech-nologien, radikal in Frage gestellt werden muss. Aber gehen wir der Reihe nach.

    Die Macht wurde also, im Verlaufe des 19. Jahr-hunderts, als Struktur, die die ganze Gesellschaft durchdringt, immer sichtbarer, die Funktion des Staates und seiner Institutionen, als Sttze und Verteidigung der kapitalistischen Produktions-struktur, immer aufgegliederter. Die Ausbeutung, die ausbeutende Klasse, die Bourgeoisie war et-was klares, etwas monolithisches, das man deut-lich vor sich hatte, das sich in den Fabriken, den Kasernen, den Palsten, den Persnlichkeiten, etc. manifestierte. Der Anblick von all dem, Ma-nifestierungen des Selbstbewusstseins einer sich ihres Triumphes sicheren Klasse, musste schreck-lich gewesen sein, besonders nach den Massakern zur Niederschlagung der Aufstnde von 1848 und der Pariser Kommune von 1871. Ein Eindruck, der heute noch andauert, wenn wir die pompsen ar-chitektonischen berbleibsel aus dieser Zeit be-trachten, wahre Symbole der Unterdrckung. An-gesichts dieser zentralistischen, monolithischen Manifestierung der Macht im alltglichen Leben der Leute, folgerten viele mit der Notwendigkeit, sich zu vereinen, mit der Gegenberstellung, in derselben Logik, einer Art Gegenmacht, mit der Kreierung von zentralistischen Strukturen zur Verteidigung der Interessen der Ausgebeuteten. Es ist das Aufkommen der ersten Arbeiterparteien, und spter der Gewerkschaften.

    (Fortsetzung in der nchsten Nummer des Aufruhr)

    (Es folgt eine Analyse der Rolle der Parteien und der Ge-werkschaften, sowie der anarchistischen Kritik an diesen Mitteln, die, im Grunde, die Logik der Macht reproduzieren und die Ausgebeuteten in den Betrug der Delegation und Reprsentation verwickeln, anstatt sie zur selbststndi-gen, direkten Aktion zu ermutigen. Der Aufschwung der Arbeiterbewegung, in einer Periode, die von der sozialen Frage, von Aufstnden und Revolutionen geprgt war, wird schliesslich durch die zwei Weltkriege beendet. Doch die Widersprche, denen die industrielle Gesellschaft ent-gegengeht, fhren bald zu neuen Konflikten, denen nur mit einer tiefgreifenden Umstrukturierung der gesamten Produktionsordnung abgeholfen werden kann. Die Einfh-rung der telematischen Technologien, welche die Aufst-ckelung und Flexibilisierung der zentralisierten, starren Industrien ermglicht, bringt solche Vernderungen auf sozialer, konomischer und politischer Ebene mit sich, dass die Terme des Klassenkonfliktes, wie wir ihn bis an-hin kannten, umfassend neu gestellt werden mssen. Die Mauer, die zwischen den Ausgebeuteten und den Privile-gierten verluft, wird heute, in den post-industriellen Gesellschaften, dank der Mglichkeiten der automatisier-ten Produktion und der Kommunikationstechnologien, weniger aus materieller Armut und roher Repression, son-dern vielmehr aus kultureller Verarmung und Konsens-verschaffung errichtet (man kann nicht mehr nach etwas anderem verlangen, wenn einem die Mglichkeit genom-men wurde, es zu verstehen). Die Dezentralisierung der Produktion hat die parteilichen und gewerkschaftlichen Modelle, sowie die entsprechenden revolutionren Ideolo-gien der Vergangenheit, von mehr oder weniger autorit-rer Prgung, endgltig entkrftet, und somit die Gltigkeit der anarchistischen Methode bestrkt. Sie hat aber auch einen neuen Typ Mensch hervorgebracht, flexibel, anpas-sungsfhig und wenig bereit, zu kmpfen, whrend die Revolten, die trotz allem aus den unterdrckten Schichten hervorbrechen, oft das Zeichen der Perspektivenlosigkeit tragen. Die Mittel und Wege fr eine Wiederaufgleisung des revolutionren Kampfes, unter diesen Bedingungen, mssen also umfassend neu betrachtet werden.)

    FR EINE WIEDERAUFGLEISUNG DES REVOLUTIONREN

    KAMPFES

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