Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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    Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT ür

    den_die Verkäuer_in

    No. 2, Januar - Februar 2016

    ABGEWERTETInerview mi einemVorureilsorscher (Seie ) 

    HERAUSFORDERNDMi Mobbing-Erahrungenumgehen (Seie )

    BEREICHERNDErahrungen eines

    Ehrenamlichen (Seie )

    AUSSENSEITER

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      srasseneger | Nr. | Januar - Februar | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraßenzeiung srasseneger  wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des srasseneger  is: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srasseneger  wird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-seneger  biee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMöglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie können selbs enschei-den, wo und wann sie den srasseneger  anbieen. Die Verkäuer erhaleneinen Verkäuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srasseneger  soziale Projeke wie die Noübernachung und den sozialen Treffpunk»Kaffee Bankrot« in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhäl keine saaliche Unersüzung.

    Liebe Leser_innen,Auf den ersten Blick erscheint es paradox. Ein Außenseiter, inseinen vielfältigen Erscheinungsformen, ist in Bezug zu sich selbstund den herrschenden Mehrheitsverhältnissen, jeweils auch dassoziokulturelle Produkt einer viel zu oft paranoiden Gesellschafts-interpretation. Zu gern übersehen wir, dass gerade seine Existenz

    ein wesentlicher Antrieb für gruppendynamische Entwicklungs-prozesse ist. Oder um es mal banal auf den einen, alles entschei-denden Punkt zu reduzieren: Ohne Außenseiter gibt es auch keineGruppe! Er ist der Gegenentwurf zu den Normenerwartungenseiner Mitmenschen, Motivation für die Veränderungen oder Ma-nifestation der Regeln des Zusammenlebens! Seine Individualitätwird geliebt wie das grüne Gummibärchen in der randvollen Tütebunter Kollegen, seine Anwesenheit aber oft genug ignoriert, wieder obdachlose Schnorrer in der urbanen Fußgängerzone.

     Was war zuerst da, der Obdachlose oder der Flüchtling? Das Vor-urteil stützt den Selbstwert, die Polemik erstickt die offene Diskus-sion oder wie es der Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zickausdrückt: »Das stärkste Vorurteil ist eines, dass sich selbst er-klärt!« Wie wichtig die Erkenntnis ist, dass Obdachlose und Flücht-

    linge genauso Menschen sind wie jene, die über sie den Stab bre-chen, lesen Sie im Interview mit Professor Andreas Zick ab Seite 6.

    Ein besonders perfider Umgang mit Außenseitern ist inzwischenein weit verbreitetes Massenphänomen in hierarchischen Umge-bungen. Am Arbeitsplatz und in Schulen, aber auch in Vereinenund im WWW wird schikaniert, gequält, seelisch verletzt undsozial isoliert. Die Folgen von Mobbing sind im Einzelfall ver-heerend, in ihrer Verbreitung ein nicht mehr zu leugnendes Pro-blem für die Volkswirtschaft. Die Formen und die Verbreitungvon Mobbing, aber auch Präventionsstrategien und erfolgreicheInterventionen werden auf Seite 9 dieser Ausgabe thematisiert.

     Wenn die Verkäufer der schwedischen Straßenzeitung Faktumin ihren verdienten Feierabend gehen, werden sie manchmal vonHåkan Ludwigson mit der Kamera begleitet. Dabei entstehen

    ungewöhnliche Ansichten von außergewöhnlichen Menschenund das, was sie ihr Zuhause nennen. Jedes Porträt, jede Ge-schichte beschreibt auf eindrucksvolle Weise die Würde einesAußenseiters, zu sehen ab Seite 10.

    Bleiben Sie uns gewogen und viel Spaß beim Lesen!Guido Fahrendholz

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    AUSSENSEITERIch bin ein Außenseier

    Außenseier in der Lieraur

    Die Dicherin Jakubowska-Fijałkowska

    Obachlose als Außenseier: Inerview miPro. Andreas Zick

    Erlebnisse im sexuellen Unergrund

    Mobbing: Mi Würde wieder herauskommen

    Zeiungsverkäuer nach Feierabend

    Posiiver Rassismus is nich posiiv

    Ausgegrenze gegen Ausgegrenze

    Obdachlose anworen au die Frage:

    Bin ich ein Außenseier?

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rJavanisches Schatenpuppenheaer

    B r e n n p u n k tBerich aus dem Arbeiskreis Wohnungsno

    V e r e i nMeine Erahrungen als Ehrenamlicher

    Engagier: Die Band Jennier Rosock

    k a f f e e b a n k r o t t t a l kDas Radio komm ins Fernsehen

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    S p o r tAlba Berlin im Zwischenhoch

    Rezension: Buch über den deuschen Fußball

    A k t u e l lKäleod einer obdachlosen Frau

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rEinsweiliger Rechsschuz Teil

    K o l u m n eAus meiner Schnupabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    strassenfeger | Nr. | Januar - Februar AUSSENSEITER |

    Ich bin ein AußenseiterÜber die Lust, ein Außenseiter zu seinB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    Ein Außenseiter ist schnell gemacht. Un-sere Gesellschaft hat Normen und Re-geln, wie man sich zu benehmen und inihr zu bewegen hat. Es wird versucht,

    alles und jede Verhaltensweise mit diesen Nor-men zu erklären und einzuordnen. Verhaltens-weisen, die dieser Norm nicht entsprechen, sindeinfach falsch. Wenn sich ein Mensch gegendiese Norm verhält, kann man ihn eben nichteinordnen. In jeder Gesellschaft wird das, wasman nicht einordnen kann, was nicht mehr nor-mal ist, als krank behandelt, mit Medikamentenbetäubt oder wegtherapiert, um den betroffenenMenschen wieder zu rehabilitieren. Führen ent-sprechende Maßnahmen, für die jede Menge Be-

    rufe geschaffen wurden, nicht zum Erfolg, sprichzur Anpassung des Menschen, zeigt dieser nichtdas von der Norm erwartete Verhalten, gerät erschnell an den Rand der Gesellschaft, wird ab-gelehnt, verlacht, verhöhnt, beleidigt, diskrimi-niert, gedemütigt und stigmatisiert – kurz gesagt:Er wird zum Außenseiter!

    Meinungen über Außenseiterund Konsequenzen für mein LebenIch musste das am eigenen Leib erleben, alsich Alkoholiker wurde. Man nimmt eben nichtderartige Mengen von Alkohol zu sich, weil eseben inzwischen allgemein bekannt ist, dassdas krank macht. Wer das tut, ist eben dummund liegt der Gesellschaft auf der Tasche, wirdkriminell, damit er sich seinen Suff beschaffenkann, weil er ja schließlich nicht arbeitet und

    derartige Mengen Alkohol von einem normalenEinkommen nicht finanzierbar sind. Das ist nuneinmal die übliche Meinung über Alkoholiker.Die schaffen das sowieso nie und haben stän-dig Rückfälle, sind unverbesserlich und wollenauch gar nicht anders, wurde auch mir immerwieder entgegen geschmettert. Ich konnte undkann mich auch heute kaum gegen diese aus Vor-urteilen bestehende Meinung wehren und tue esnur äußerst selten, vor allem dann, wenn ich dasGefühl habe, man hört mir zu. Ich sehe mich alsAußenseiter und ich spüre auch im täglichen Le-ben, dass ich einer bin. Man traut mir wenig bisgar nichts zu und ist immer völlig erstaunt, wennich geistig anspruchsvolle Aufgaben bewältige.

    Mein Leben findet überwiegend in Nischen statt.Ich bewege mich fast nur in Vereinen wie Bür-gerhilfe (Betreuungsverein für Alkoholiker),mob e. V., Unter Druck – Kultur von der Straßeund ähnlichen Vereinen, die es sich zur Aufgabegemacht haben, Menschen zu unterstützen, diean den Rand der Gesellschaft geraten sind.

    Über die Lust, ein Außenseiter zu seinDie Tatsache, dass ich Alkoholiker bin, hat michzwar zum Außenseiter gestempelt und mich imgewissen Sinne stigmatisiert, mir vieles im Lebengenommen, das ich für wertvoll erachte, aber eskann auch eine Lust sein, ein Außenseiter zusein. Auf jeden Fall ist es im Alltag eine Heraus-forderung, an der man geistig und menschlichreifen und wachsen kann. Diese Tatsache hatmir aber auch Bereiche geöffnet, die mein Leben

    als Frührentner lebenswert machen. Beim Ver-ein Unter Druck e. V. - Kultur von der Straßekann ich meinen Traum leben und in anspruchs-vollen Produktionen Schauspieler sein. Ich lerneSchauspielerei, indem ich es einfach tue, lernedie Grundlagen der Schauspielkunst anzuwen-den. Ich kann bei mob e. V. an einer Zeitung,dem strassenfeger, mitarbeiten und als Journalisttätig sein, ohne diesen Beruf gelernt zu haben.Ich lerne Journalismus direkt in der Praxis undbekomme durch Gespräche die Möglichkeit,Fehler zu erkennen und diese auszumerzen, waszur Steigerung des Niveaus meiner Artikel führt.Ohne meine Alkoholprobleme hätte ich dieseBereiche vermutlich nie gekannt, die heute mein

    Leben bestimmen und ihm einen Sinn geben. Woanders könnte ich derartige Dinge gar nichtmachen, weil man mir einfach keine Chancedazu geben, mich vielleicht sogar ablehnen unddiskriminieren würde. Und ganz wichtig: Ichkann diese Tätigkeiten ausüben, ohne unter gro-ßen Erfolgsdruck zu stehen. Das führt dazu, dassich beständig und kontinuierlich daran arbeitenkann und es mir sogar gelingt, mich hier und dain kleinen Schritten zu verbessern. Auch ein an-derer Aspekt ist wichtig: Es wird nicht viel vonmir erwartet. Wenn ich meine Leistung präsen-tiere, sind alle darüber erstaunt, was ich kann.Ich bekomme Lob, das mich stark und selbst-bewusst macht und mich insgesamt stabilisiert.Mir gelingt es dadurch, auch privat stärker undselbstbewusster aufzutreten und mich durchzu-setzen, wenn es darauf ankommt.

    (Foo: Wikimedia Commons von Peronas CC BY 2.0)

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | AUSSENSEITER

    Visionäre oder

    AußenseiterGeachtete und verachtete LiteratenT E X T : A s t r i d

    Falls Sie bei der Überschrift stutzen, überlegen Siemal kurz: Manche Autoren waren ihrer Zeit weitvoraus, wurden aber dafür angefeindet oder aus-gelacht. Wer hätte 1948 gedacht, dass ein Satz ineinem Buch heute Wirklichkeit geworden ist: »Big

    Brother ist watching you!« aus dem Roman 1984 von George

    Orwell. Übersetzt bedeutet dieser Satz, dass der Staat seineBürger überwacht, immer und überall. Sind wir nicht bald soweit? Die Nachrichtendienste tun das doch schon, immer imsogenannten Kampf um den Frieden. Hüstel. Aber die Men-schen nannten Orwell verrückt.

    Noch ein heute berühmter Autor wurde sein Leben lang nichtanerkannt: Jules Verne. Seine »20 000 Meilen unter demMeer« war eines meiner Lieblingsbücher, das Buch »Fünf Wo-chen in einem Ballon« oder »Die Reise zum Mond« habe ichauch verschlugen. Seltsamerweise wurden aber diese drei Ro-mane aus den vielen von Jules Verne geschriebenen Büchern Wirklichkeit. Ein U-Boot, genannt »Die Nautilus«, tauchte

    unter dem Nordpol durch, und wir Menschen schafften eszum Mond. Es wäre Verne gegönnt gewesen, das zu sehen.Aber zu seiner Zeit hat man ihn ausgelacht.

    1933 landeten unter den Nationalsozialisten viele Autorenauf einer sogenannten schwarzen Liste, ihre Bücher wurden

    verboten oder sogar öffentlich verbrannt. Erich Kästner,Sigmund Freud, Karl Marx und Erich-Maria Remarque sindnur einige dieser Autoren. Angeblich verunreinigten sie diedeutsche Sprache. Erich Kästners »Emil und die Detektive«verunreinigt die deutsche Sprache? Oder seine anderenKinderbücher? Nein, aber er war überzeugter Antimilita-rist, wahrscheinlich machte ihn das zum Außenseiter in denAugen der Nazis.

    Ein fast unbekannter Autor ist Aldous Huxley. Eines seinerBücher – »Schöne neue Welt« – las ich nach einer Leseprobein meinem Deutschbuch mit 13. Damals konnte ich mir einenStaat mit verschiedenen »Kasten« nicht vorstellen, jedochheute? Gut, wir sind keine Alphas bis Omegas, aber es wirdunterschieden in Reiche, Mittelständige und Arme. Ja, auchals ich 13 war, gab es Leute, die Sozialhilfe bekamen, doch ist

    es nicht noch schlimmer geworden? In dem Buch bist du nuretwas, wenn du den oberen Kasten angehörst. Und heute?Markenartikel oder Smartphones müssen sein, sonst bist duein Nichts, ein Omega. Irgendwie komme ich auf die Idee,manche der Außenseiter in der Literatur waren ihrer Zeit sehrweit voraus.

    Auch kann ein Autor ein Außenseiter sein, indem er über The-men schreibt, die ihn in verschiedenen Ländern, ja, sogar inseinem eigenen Heimatland, unter Zensur stellen. Als Heran-wachsende fiel mir ein Buch von Henry Miller in die Hand:»Nexus«, etwas freizügig in der Sprache und mit Sexualität.Ich war aufgeklärt und 16, also besorgte ich mir noch einigeBücher von Miller. Ui, ich glaube, selbst ich hatte ab und zumal rote Ohren. Außer »Nexus« besaß ich drei Jahre später

    die »Wendekreise« und noch zwei Bücher von ihm. Ich fandseinen Stil und seine Sprache eigentlich gut, er schrieb wahr-scheinlich so, wie ihm recht war. Er wollte halt die spießbür-gerliche Gesellschaft seiner Zeit schocken, was ihm gelungenwar. Aber in Amerika findet man ihn auch heute nur sehr sel-ten in den Büchereien.

    Ein berühmter Literat, den seine politische Meinung ins Exiltrieb, war Victor Hugo. Er musste 1851 nach dem Staats-streich Napoleons Frankreich verlassen und ließ sich aufden französisch sprechenden Kanalinseln vor England nie-der. Dort entstanden einige kleinere Werke, aber 1861 auchsein, neben »Notre Dame de Paris« (Der Glöckner von NotreDame), wohl bekanntestes Werk »Les Miserables«, »Die Elen-den«, das Buch über den Galeerensträfling Jean Valjean. Es istnicht nur ein einfacher Roman, auch die Studentenunruhen,die zu Napoleons Zeit in Paris auftraten, sowie die Situationdes einfachen Volkes wurden in diesem Werk angeprangert.

    Vicor Hugo musse 1851 nach dem Saassreich Napoleons Frankreich verlassen(Foo: Public Domain)

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    srasseneger | Nr. | Januar - Februar AUSSENSEITER |

    INFO

    Genowea Jakubowska-Fijałkowska: »Poesiesiz nich in derSonne«, Gediche.Aus dem Polni-schen von UrszulaUsakowska-Wolff.Pop Verlag Ludwigs-

    burg, Preis: 17 Euro

    Genowefa Jakubowska-

    Fijałkowska& ihre Gedichte über die Welt der GescheitertenP O R T R Ä T & F O T O : S u s a M u s a k o f f

    Genowefa Jakubowska-Fijałkowska hat einenroten Pagenkopf und ein markantes Gesicht. IhrBlick ist direkt, fest und etwas ironisch: ein Blick,der unter die Haut geht und bei dem man sich et-

    was unwohl und recht unbehaglich fühlen kann.Ihre Poesie ist auch unbehaglich, unbequem,düster. Sie erzählt von zerrütteten zwischen-menschlichen Beziehungen, Krankheit, Sucht,Gewalt, Leid, Demütigung und Tod. »In unsererKultur gibt es keinen Platz für das Sterben, fürMakel, Hässlichkeit und Armut. Wir schämenuns unserer Behinderungen, der physischen Ab-nutzung des Körpers. Ich schreibe darüber, dennso ist das Leben«, sagt die polnische Lyrikerin.

    Genowefa Jakubowska-Fijałkowska zeigt einekleinstädtische Welt, die von Armut, Aussichts-losigkeit, Verwahrlosung, Gewalt, Hass undHässlichkeit geprägt ist. Eine gottverdammte Welt, in der es keinen Trost und keinen Halt mehr

    gibt. Ihre Kulissen sind heruntergekommene Wohnungen, Hinterhöfe, schummerige Kneipenund Bahnhöfe in der »siebten Provinz«, wo In-dividuen, welche die Gesellschaft ausgestoßenhat, ihren niedrigsten Instinkten nachgehen unddas Abnormale zur Norm wird. Es ist ein Teu-felskreis, aus dem es eigentlich kein Entkommengibt, denn die gescheiterten oder zum Scheiternverurteilten Menschen sieht man nicht, will mannicht sehen.

    Die am 21. Dezember 1946 in der zehn Kilome-ter von der oberschlesischen KohlemetropoleKatowice (Kattowitz) entfernten KleinstadtMikołów (Nikolai) geborene Genowefa wuchs in

    einer Umgebung auf, in der Alkoholmissbrauchzur Normalität gehörte. Schon als kleines Mäd-chen schrieb sie, denn sie konnte sich mit der Wirklichkeit nicht abfinden. Mit 26 Jahren hattedie literarische Autodidaktin, die unter anderemals Bürobotin, Bahn- und Lagerarbeiterin undals Putzfrau arbeitete, ihr Debüt: »Ich schriebund trank, damals war das noch nicht destruktiv,denn niemand wird Alkoholiker von einem Tagzum anderen.« Seit Anfang der 1980er konntesie nicht mehr schreiben, zehn Jahre lang tranksie häufig bis zur Besinnungslosigkeit, nach ei-nem Delirium wurde sie in eine geschlossenepsychiatrische Klinik eingeliefert und auf Ent-zug gesetzt, hatte dann 1991 einen Rückfall undmusste sich einer Alkoholentgiftung unterzie-hen. Als sie trocken war, stand sie vor der Wahl:»Entweder du lebst – oder du trinkst.«

    Genowefa Jakubowska-Fijałkowska entschiedsich für das Leben, begann wieder zu dichtenaus dem Gefühl heraus, dass die Poesie die Welt,in der es so viel Leid, Gewalt und Ungerechtig-keit gibt, zwar nicht verändern oder besser ma-chen kann, doch »sie lindert den Schmerz derExistenz: Für mich ist Poesie und überhaupt dasSchreiben Therapie.« Ihre Lyrik ist schonungs-los und scharf wie »der Geschmack der rohen

    Zwiebel im Mund.« Seit 1994 veröffentlichte siein Polen sieben Lyrikbände, ihre Gedichte wur-den als Hörspiele vertont. Auch in anderen Län-dern wird ihre Poesie immer bekannter dank derÜbersetzungen ins Tschechische, Slowenische,Serbische und Englische. Eine umfangreicheAnthologie ihrer Lyrik unter dem Titel »Poesiesitzt nicht in der Sonne« ist Ende 2012 im Lud-wigsburger Pop Verlag erschienen.

    Genowefa Jakubowska-Fijałkowska ist eineMeisterin der Reduktion. Ihre lakonischen Ge-dichte bestehen aus wenigen Worten. Wie in ei-nem Film noir holt sie das Verborgene ans Lichtund beleuchtet für einen kurzen Augenblick diegeschlossene Gesellschaft der kaputten Existen-zen, bevor sie wieder in der Finsternis, in demKlima der Sucht und der destruktiven Triebe

    versinken. In der Tat: »Poesie sitzt nicht in derSonne«, deshalb ist Genowefas Lyrik, in der sichkaum erträgliche Bilder des Verfalls und der Ver-wahrlosung mit zarten poetischen Bildern mi-schen, keine leichte Kost. »Ich bin weit entferntvon jeder Korrektheit«, sagt die polnische Dich-terin. »Seitdem ich mich erinnere, hatte ich keinBedürfnis, zu einer gesellschaftlichen Gruppezu gehören, in einer Herde zu sein, von einem

    Alpha-Männchen oder von der Mutter betreut zuwerden. Ich wurde irgendwo ausgesetzt und bineine Außenseiterin, einsam wie ein Wolf.

    Buchcover 

    Genowea Jakubowska-Fijałkowska

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | AUSSENSEITER

    »Obdachlose stehenin der sozialen Hierarchie

    ganz unten«Wohnungslose als Außenseiter – ein Interview mitdem Konflikt- und Gewaltforscher Andreas ZickI N T E R V I E W : J u t t a H e r m s

    Was ist ein Außenseiter?In der Gesellschaft ist ein Außenseiter eine

    Person, die von der gesellschaftlichen Mitte bzw.von der Mehrheit der Gesellschaft als solcher be-trachtet und behandelt wird. Das heißt, ein Au-ßenseiter ist eine Person, von der angenommen

    wird, dass sie nicht Mehrheitsnormen und -wertenentspricht. Das ist also ein Zuschreibungsprozess.

    Kann man sagen, dass für diejenigen, die ver-meintlich von der Norm Abweichenden be-stimmte Eigenschaften zuschreiben, diese Men-schen weniger wert sind?

    Das ist der fundamentale Mechanismus. Esgibt eine Studie von Norbert Elias und John L.Scotson aus dem Jahr 1965, die dieses Konzeptder Außenseiter besonders deutlich gemacht hat.Die Etablierten sind demnach die, die annehmen,dass sie schon immer da waren und Vorrechtehaben. Und alle, die diese Vorrechte in Fragestellen, werden als Außenseiter stigmatisiert.

    Hinter der Zuschreibung der Außenseiterrollesteht unseres Erachtens der Versuch, andere alsungleichwertig zu betrachten und ihnen damitnicht die gleichen Rechte, die gleiche Würde undauch die gleiche Normalität zu unterstellen.

    In welchem Ausmaß gibt es in Deutschlandfeindliche oder abwertende Haltungen Obdach-losen gegenüber?

     Wir beobachten seit zwölf Jahren, dass dieZustimmung zu Vorurteilen sehr stabil ist. Wennich von Vorurteilen spreche, dann meine ichdie Zustimmung zu negativen Meinungen überwohnungslose Menschen in einer generalisier-ten – es betrifft alle, es wird kein Unterschiedgemacht – und einer sehr stabilen Art und Weise.Die Abwertung von Obdachlosen liegt bei unsin Deutschland um die 20 Prozent, jeder Fünfte

    stimmt eindeutig negativen Aussagen über Ob-dachlose zu. Das ist zwischen 2011 und 2014leicht abgesunken. Solche Entwicklungen unter-liegen Konjunkturen. Mitten in der Wirtschafts-und Finanzkrise etwa gab es weniger Abwertungvon wohnungslosen Menschen. Nach der Krise

    ist sie angestiegen. Wir haben auch beobachtet,dass die größten Anstiege, gerade bei der Ab-wertung von wohnungslosen Menschen, in derGruppe der sogenannten etablierten, reichen, gutsituierten Gruppe von Befragten zu finden sind.Das heißt, es sind eher die Reicheren, die Woh-nungslose abwerten.

    Warum ist das so?Gesellschaftliche Gruppen werden offen-

    sichtlich immer stärker nach Nützlichkeitskrite-rien beurteilt. Es gibt viele Menschen, die legenfür die Gruppe der wohnungslosen Menschen,der Gruppe der arbeitslosen Menschen, dieGruppe der Menschen mit körperlichen oder

    geistigen Behinderungen ein Kosten-Nutzen-Kalkül an. Wer nichts leistet, der bringt auchnichts. Gegenüber diesen Gruppen gibt es in denMittelschichten starke Vorurteile. Gleichzeitigbeobachten wir, dass im Zuge von gesellschaft-lichen Krisen auch Solidarität abgezogen wird.Das heißt, man entsolidarisiert sich mit denscheinbar unnützen, kostenden Gruppen.

    Viele Menschen hätten gern, dass Obdachloseaus den Fußgängerzonen verschwinden…

    In den Vorurteilsstudien fällt auf, dass beiden Vorurteilen gegenüber obdachlosen Men-schen diese Vorurteile vor allem Handlungenausdrücken. Ganz stark verbreitet ist tatsäch-lich die Meinung, man solle obdachlose Men-schen aus den Fußgängerzonen entfernen. Dasist eine Einstellung zu einer Handlung, die man

    gegenüber Obdachlosen ausführen sollte. Alsonicht so sehr eine Emotionsäußerung wie eineAntipathie zum Beispiel. Die gibt es auch, alsoStigmatisierung, Ekel, Abscheu. Aber das Vorur-teil drängt gerade bei wohnungslosen Menschennach Handlung. Das ist sehr auffällig.

    Inwiefern hat die Abwertung von Obdachlosenetwas zu tun mit dem persönlichen Versuch,sich dadurch selber aufzuwerten?

    Alle Daten deuten darauf hin, dass es nichtum persönliche Abwertung geht. Richtig da-gegen ist, die Abwertung erfolgt aus sozialenMotiven, die Menschen nur über ihre Gruppenbefriedigen können. Indem ich Obdachlose ab-werte, kann ich fünf wesentliche soziale Motiveaus meiner Umwelt heraus befriedigen: Ich kannunterstreichen, dass ich zu den Etablierten undnicht zu den Außenseitern gehöre. Ich kann Kon-trolle über die Außenseiter ausüben. Wir könnenuns die Welt erklären: »Kann man ja sehen, wer

    nichts bringt, der verliert eben.« Das stärksteVorurteil ist eines, das sich selbst erklärt. Wenn jemand arbeitslos oder obdachlos ist, dann liegtes wohl an der Person selbst. Zudem kann ichmeinen Selbstwert erhöhen. Das heißt, die Ab-wertung der anderen führt zu meiner eigenenAufwertung. Das hält aber nicht lange an. Ausder Forschung weiß man, man muss dann stän-dig abwerten, um diesen Mechanismus aufrecht-erhalten zu können.

    Ausländische Obdachlose, die ja in großer Zahlin Deutschland leben, gehören zwei sozialenGruppen an, der Gruppe der Ausländer und derder Obdachlosen. Kommt es hier zu so etwaswie einer Addition der Vorurteile?

    Zumindest zu einem Verstärkungseffekt. Dieneuere moderne Forschung spricht hier von Inter-

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    sektionalität. Je mehr Kategorien Sie angehören,desto größer ist die Gefahr, diskriminiert zu wer-den. Das ist etwas, was uns gerade jetzt beschäf-tigt, wo Geflüchtete zum Teil obdachlos werden.

     Wenn es um vorurteilsbasierte Hassdatengeht, um sogenannte Hate crimes, sehen wir,

    dass die Gefahr größer ist, ein Opfer dieserVerbrechen zu werden, wenn Sie mehrere Au-ßenseiterkategorien gleichzeitig erfüllen. Auchungeschützte Menschen werden schneller Opfervon Hate crimes. Obdachlose Menschen, die al-koholisiert und schutzlos dann sind und obdach-lose Menschen, die ausländisch aussehen, habeneine höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer von Hatecrimes zu werden. Zudem sehen wir ja auch, dassbei Frauen, die wohnungslos sind, die Gefahr hö-her ist angegriffen zu werden als bei Männern.

    Kann man sagen, wer auf der sozialen Leiterweiter oben oder weiter unten steht – Flücht-linge oder Obdachlose?

    Es gibt Forscher, die sagen, ein Vorurteildrückt sich aus in Sympathie und Antipathie,und wenn man das misst, »Wen magst Du? Wenmagst Du nicht?« dann gehören Obdachlose inder sozialen Hierarchie sicherlich ganz nach un-ten. Professoren wie ich gehören in der sozialenHierarchie ganz nach oben. Flüchtlinge gehörteneigentlich in der sozialen Hierarchie ziemlich weitnach oben. Sie haben ja per Grundgesetz einenbesonderen Schutz. Aber im Moment kippt dieStimmung, das kann man kaum noch genau sa-gen. Wir wissen, dass viele Menschen, rund 40Prozent, unterstellen, dass die meisten Flücht-linge eigentlich illegal hier sind. Und sie lehnen esab, dass Flüchtlinge hier ein Aufenthaltsrecht ha-ben. In einer solch brisanten Situation, wie wir sie jetzt haben, neigen Mehrheitsgesellschaften dazu,umso mehr Außenseiter zu Außenseitern zu ma-

    chen, wenn sie sie in eine Gruppe packen können. Wenn man Gruppen abwerten möchte,

    dann macht man die Schublade, in der sie sind,ganz breit. Dann gehören da die arbeitslosen,die wohnunglosen, die behinderten Menschen,die Geflüchteten, die, von denen man an-

    nimmt, sie sind illegal hier, dazu. Sie gehörenalle in die große Gruppe der nicht Passenden,der nicht Normalen.

    Es scheint so zu sein, dass zurzeit nicht nurRechtspopulisten und Rechtsextreme, son-dern auch Politiker die Obdachlosen wieder-entdecken…

    Und das ist nicht ganz ungefährlich. Manentdeckt obdachlose Menschen wieder, weilman sich sagt, alle Solidarität ging jetzt an dieGruppe der Geflüchteten, wir müssen nun auchein Angebot machen für die Gruppen, die im-mer schon da waren. Wir sehen auch, dass derRechtspopulismus die wohnungslosen Men-

    schen entdeckt, weil er sie als Exempel dafürbraucht, was diese korrupte Gesellschaft mitMenschen macht. Auch bei Pegida tauchen woh-nungslose Menschen auf. Man gibt ihnen dortvermeintlich eine Würde wieder, man brauchtsie als ein Beispiel. Wenn man eine Gruppe ge-gen die andere Gruppe ausspielt, werden amEnde wahrscheinlich alle die Verlierer, weil esum Gleichwertigkeit aller gehen muss.

    Es kann sein, dass zum Kippen der Stim-mung bei den geflüchteten Menschen nun auchdie Entdeckung kommt, dass andere randstän-dige Gruppen auf einmal zu denen gehören, dieschon immer da waren. Ich würde da aber keinegroßen Hoffnungen setzen in stabile Effekte.Letztlich wären Wohnungslose dann die besse-ren Außenseiter. Und das ist keine Diskussion,die wir brauchen.

     Andrea s Zic k

    is Proessor ür Sozialisaion und Konflik-orschung an der Universiä Bieleeld. Er leiedas Insiu ür inerdisziplinäre Konflik- und Ge-walorschung, das der Universiä angegliederis. Andreas Zick is Nacholger von Wilhelm Hei-meyer, mi dem er uner der Überschri „DeuscheZusände“ eine Langzeisudie über gruppenbezo-

    gene Menscheneindlichkei herausgebrach ha.

    Eine abwerende Halung Obdachlosen gegenüber haben ewa 20 Prozen der Deuschen (Foo: Juta Herms)

        (    Q   u   e    l    l   e   :    A   n    d   r   e   a   s    Z    i   c    k ,

        U   n    i   v   e   r   s    i   t    ä   t    B    i   e    l   e    f   e    l    d    )

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    »Auch hier wird getanzt...« oder: Silvester im sexuellen UntergrundT E X T : M i c h a e l K l a u s - J ü r g e n

    Es war mir gelungen, mich intensiver an-

    zuschubsen, und spontan doch die Ent-scheidung zu treffen, an einer Feier zumJahreswechsel teilzunehmen. Es galt die

    beinahe schon traditionell katastrophalen Ad-vents- bzw. Weihnachtstage zu beenden.

    Mehrlagig gegen die herrschende Kälte verpackt,stapfte ich am frühen Silvesterabend los in Rich-tung Monumentenstraße. In einem Eckhaus mitder Nummer 13, direkt gegenüber der Rückseitedes Alten Sankt-Matthäus-Kirchhofes, kam ichkurz nach 19 Uhr an. Nach Eintritt in die Räum-lichkeiten der Allgemeinen Homosexuellen Ak-tionsgemeinschaft, des AHA e. V., konnte ichmir zielstrebig noch einen prominenten Platzin der ersten Reihe sichern, belegte ihn sogleich

    mit einem Teil meiner warmen Verpackung. DieKünstler des Programms tauchten gelegentlichauf, der aufmerksame Gast konnte ihren Ver-wandlungen folgen. Hier war die Perücke nochnicht montiert, dort war der Büstenhalter nochnicht gestopft, auch die Schminke war nochnicht flächendeckend verteilt.

    Ich hatte das erste Mal einen Kajalstift auspro-biert, trug ein schwarzes kurzärmeliges T-Teilder Marke »Aggro«, auf das weiß das Wort»Westberlin« durch Siebdruck aufgebrachtworden war. Das »W« formten die Finger ei-ner Hand, abgespreizt der Zeigefinger und derkleine Finger, der mittlere und der Ringfinger

    zusammengehalten, die anderen Buchstaben inDruckschrift. Ein Paar Strassohrhänger hatte ichangelegt, den einen in den untersten Durchstichmeines rechten Ohres, den anderen in den un-tersten Durchstich meines linken Ohres.

    Am Tresen nahm ich einen Kaffee, die besteMöglichkeit zu schauen, wer denn so allesmit mir den Abend verbringen würde. Ich ließmich von einer Dame ein wenig gefangenneh-men, der mein Modeschmuck gefiel. Sie sagte,sie habe eine Vorliebe für diese Art Dekorationund zuhause eine damit prall gefüllte Schmuck-schatulle. Ob ich denn die »Alt-LietzowerLampe« kennengelernt hätte, eine Gaststättesehr ähnlichen Ambientes. 1984 aus berufli-chen Gründen nach Berlin gekommen, hättesie dort regelmäßig den Ruhetag einschlägig

    gestaltet. Sie war in Begleitung zweier weitererälterer Damen und ließ mich wissen, dass sie abNeujahr Renterin sein würde. Die drei hattenErdnüsse, Käsescheiben und Oliven, ich etwasObst, auch eine Flasche Bier als Proviant mit-gebracht – ein Buffet gab es nicht. Die Damen

    teilten brüderlich und schwesterlich mit mir.

    Auf ein großes weißes Laken an der Wandwurden unterschiedliche Städte unserer Erdeprojiziert, versehen mit der Mitteilung, ob dasneue Jahr dort schon begonnen hatte respektivewieviel Zeit bis dahin noch bliebe. Die Schaubegann, eine Parodie von »Wetten, daß ...«: ...Roberts Versuch, einer zwischen die Beine ge-klemmten Salatgurke in kurzer Zeit möglichstviele Kondome überzustreifen, blieb mir dabeiherausragend entzückend in Erinnerung.

    Gegen 23 Uhr 30 endete die Vorstellung. Wirstellten die Bestuhlung zusammen - eine Tanzflä-che entstand. Jedem wurden zwei Schluck Sektin einem Klarsichtbecher gereicht: Wir zähltendie Sekunden! 2016!

    Ich drückte, grüßte, wünschte Umstehenden,meinen Bekannten und meinen Favoriten die-ser Nacht das Beste. Es gab Kreppel mit Pu-der- und Zuckerguß und auf der Straße Feu-erwerk. Nach dem Lichtspektakel lockte michdie Musik und deren Umsetzung in Bewegung.

    Gerne ließ ich mich von Xenia alias Alexan-der, gebürtig aus Moskau, zum Walzertanzenführen. Leider konnte ich sie aufgrund nichtvorhandener Standardtanzkenntnisse nur imBereich des Oberkörpers nah halten. Im un-teren Bereich musste ich darauf schauen, ihrnicht allzu intensiv auf die Füße zu treten. Siekonnte darüber hinwegsehen, wie auch übermich, der ich mit sportlichem Schuhwerk kleinneben der großen Dame auf hohen Absätzen er-schien. Später trug sie ihre Straßenschuhe undich frönte freien Tanzbewegungen.

    Gegen drei Uhr packte ich mich wieder warmein und ging. Als ich in das Licht der Laternender Nacht trat, blitzten unter meiner schwarzenStrickmütze die geschliffenen Glassteine mei-nes Ohrschmucks.

     AHA e.V.: Einer der älesen besehenden Schwulenvereine Deuschlands (Foo: Michael F. Mehner)

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    Eine Form desPsychoterrorsMit Würde herauskommen aus den Erfahrungenals Mobbing-OpferT E X T : A n d r e a s P e t e r s

    Mobbing ist kein neues Phänomen. In der Ar-

    beitswelt, in Schulen und überall, wo Men-schen eng zusammenwirken, ist es weit ver-breitet. Wer jemals davon betroffen war,weiß, wie sehr es einem das Leben zur Hölle

    machen kann. Und das gilt nicht nur für die Arbeit, sondernreicht bis ins Private hinein. Bei den Betroffenen sind Selbst-zweifel, Depression und schwindendes Selbstvertrauen nichtselten die Folge. Es ist daher nicht zu verwechseln mit kurz-zeitigen Konflikten und Streitereien unter Menschen, wie sie jeden Tag passieren. Mobbing ist eine Form des Psychoter-rors, die nicht enden will. In der einfachsten Variante geht esvielleicht noch darum, seinen eigenen Arbeitsplatz zu sichern,oder für einen Karrieresprung einen Mitbewerber aus dem Weg zu räumen. Solche Zusammenhänge sind auch aus demTierreich bekannt, um die Brut oder das Futter zu sichern. Inder Regel vollzieht sich Mobbing aber viel subtiler.

    In der Schule gibt es diese Beispiele, wo eine Lehrerin wie-derholt vor der Klasse abwertend über eine Schülerin spricht,weil sie nicht mitkommt oder immer wieder krank ist. Oder,wenn ein bestimmter Schüler sich zu Wort meldet und Mit-schüler anfangen zu tuscheln, zu kichern oder beleidigendeBemerkungen fallen lassen. Auf Arbeit ist das Sich-wegdre-hen und Mit-dem-Reden-aufhören, wenn jemand herein-kommt ein anderes typisches Beispiel für die AusgrenzungEinzelner. Äußerlich wird nur der gemeinsame Plausch in derPause abgebrochen, dahinter steht aber eine deutliche Formder Ausgrenzung unter KollegenInnen. Wenn dies von »oben«kommt, nennt sich das Ganze »Bossing«. Es landen ungeliebteAufgaben auf dem eigenen Tisch, Kompetenzen werden ei-nem abgesprochen oder einfach entzogen. Das Geflecht aus

    Lügen, Täuschungen und Projektionen macht die Betroffe-nen regelrecht handlungsunfähig und ohnmächtig. Es kommtnicht selten zur Eskalation. Verbale und psychische Attackenbis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen isolieren dieBetroffenen dann noch mehr. Das Fatale am Mobbing ist,dass das Verhalten und die Handlungen der anderen für sichgenommen nicht zwingend einen ausgrenzenden Charakterhaben. Es ist wie bei einem Puzzle. Erst in der Gesamtschauoder Draufsicht wird das Phänomen Mobbing erkennbar. Esist da und zwar dauerhaft, aber einzeln schwer greifbar. Untersuchungen am Arbeitsplatz oder in der Schule bestäti-gen, dass vor allem das vorherrschende Klima untereinanderMobbing begünstigt - oder verhindert. Vorbereiten kann sichder Einzelne nur wenig darauf. Allein auf den Arbeitgeberzu hoffen ist auch wenig hilfreich. Selbst potentielle Helferunter den KollegenInnen werden oft frühzeitig abschreckt,weil sie Gefahr laufen, selbst in den Strudel der Ausgrenzung

    zu geraten. Keine guten Aussichten für die Betroffenen selbst.

    Ohne Hilfe von außen stecken sie beim Mobbing in einer psy-chischen Falle. In Internet-Foren zu dem Thema Mobbingwird deshalb zu Recht darauf hingewiesen, sich unbedingtanderen anzuvertrauen. Dies können professionelle Helfer,Psychologen und Ärzte, aber auch Freunde und Familie sein.Da es den Betroffenen in der unmittelbaren Situation meistunmöglich ist, adäquat zu reagieren oder Hilfe zu erfahren,raten Betriebsräte und Rechtsanwälte, zunächst ein Mobbing-Tagebuch zu führen. Die einzelnen Vorfälle sollten so konkretwie möglich notiert werden. Wer, was, wann und wie? In einem Rechtsstreit jedenfalls stehen die Chancen mit um-fassenden Notizen durchaus gut, aus der Situation erhobe-nen Hauptes herauszukommen. Ob der Weg zurück wirklichwieder an die alte Wirkungsstätte führt, müssen Betroffenedanach selber entscheiden. Viele fühlen sich, allein durch die

    psychische Belastung, in ihrer Würde und persönlichen Inte-grität derart beschädigt, dass dies nicht in Frage kommt. Esist zu begrüßen, dass das Bundesarbeitsgericht dies in vielenFällen erkannt hat und sich bei ausreichend dargelegter Er-fahrung als Mobbing-Opfer als arbeitnehmerfreundlich zeigt.

     Sopp: Mobbing-Opern wird geraen, sich unbeding Hile zu holen (Foo: Public Domain)

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    Was Straßenzeitungs-Verkäuferin Schwedens Hauptstadt Göteborgnach der Arbeit machenT E X T : I N S P N e w s S e r v i c e w w w . I N S P . n g o / F a k t u m ( S c h w e d e n ) , L a u r a S m i t h | F O T O S : H å k a n L u d w i g s o n

    Das schwedische StraßenmagazinFaktum hat den Fotografen Hå-kan Ludwigson beauftragt, fest-zuhalten, wie die Verkäufer derStraßenzeitung nach der Arbeit

    ihre Zeit verbringen. Dabei sind Porträts ent-standen, die die Verkäufer an den verschiede-nen Plätzen zeigen, die sie ihr Zuhause nen-nen. »Wir wollen zeigen, dass die Menschen,die Straßenzeitungen verkaufen, einen Job ha-ben wie alle anderen auch«, sagt Faktum-Che-fin Åse Henell. »Außerdem wollen wir daraufaufmerksam machen, wie unsere Verkäufer le-ben, wenn sie mit der Arbeit fertig sind.«

    Csaba (1) stammt aus Ungarn. Er verkauft in Gö-teborg die Straßenzeitung »Faktum« und spart soviel er kann. Er lebt in einem gebrauchten Wohn-wagen in der Nähe einer Kirche in Mölndal.Den Wohnwagen hat ihm ein Kunde geschenkt,der inzwischen ein guter Freund von ihm ist.Credit: Håkan Ludwigson

    Bertil (2)  ist ein vertrautes Gesicht in Göte-borgs Einkaufszentrum Nordstan, wo er Fak-tum verkauft. Der Verkauf der Straßenzeitunghat ihm geholfen, seine sozialen Ängste zuüberwinden und eine dauerhafte Bleibe zu fin-den. Er lebt mit seinem Hund und drei Katzenin einem Apartment.

    Anne (3) und ihr Hund Tjabo wohnen bei einerFreundin auf der Couch. Auf dem kleinen Tischneben ihr liegen all ihre Habseligkeiten; ein Bildvon George Harrison und alles, was sonst nochwichtig ist. Anne ist bereits eine eigene Unter-kunft angeboten worden, aber dort hätte sie ihren

    Hund nicht halten dürfen. Deshalb teilen sie sichweiterhin die Couch – und verkaufen zusammenFaktum.

    Jespers (4)  Leben veränderte sich vollkom-men, als er bei einem Autounfall schwer ver-letzt wurde. Der Unfall wirkte sich auch aufseine Psyche aus. Jesper ist sehr künstlerischveranlagt. Durch den Verkauf von Faktum hater eine tägliche Routine und kommt auch mitseinen Ängsten besser klar. Manchmal findet erFarbdosen, die er dann mit zu sich nach Malmönimmt, wo er wohnt; die Toilette seiner Unter-kunft benutzt er auch als Atelier.

    Lillemor (5) blüht auf, wenn sie Faktum verkauft.Sie liebt es, Leute zu treffen und sich ausgiebigmit ihnen zu unterhalten – sowohl mit Kunden

    als auch mit Kollegen. Sie lebt in Malmö und sammeltPorzellanfiguren. Jedes Jahr an Weihnachten holt sie ihrekostbare Sammlung heraus, die aus 280 Figuren besteht.

    Khan (6) glaubte, er hätte seine große Liebe gefunden,

    als er in Indien ein schwedisches Mädchen kennen-lernte. Sie wurde schwanger, fuhr wieder nach Hauseund Khan reiste ihr nach. Aber die Beziehung ging indie Brüche. Jetzt verkauft Khan Faktum, damit er inSchweden bleiben und seinen Sohn sehen kann. »Wennich meinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreitenkann, habe ich keine Chance auf ein geteiltes Sorge-recht«, sagt er.

    Lakos (7) sagt, dass die Natur magisch sei. In ihr mani-festiere sich die Macht unseres gesamten Universums.Er lebt in einem Zelt in der Nähe des Göteborger Fried-hofs und ist sowohl Naturphilosoph als auch Musiker.Aber er ist traurig, weil ihm seine Geige gestohlenwurde. Jetzt trägt er seine Instrumente und anderewichtige Gegenstände immer bei sich, wenn er das Zeltverlässt. Lakos verkauft die Straßenzeitung Faktum inden Außenbezirken Göteborgs.

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    »Gib der Weißen

    den Platz!«Positiver Rassismus ist auch Rassismusund hat nichts PositivesB E T R A C H T U N G : L e o n i e

    Von dem sogenannten »positiven Rassismus« hatman schon gehört: Eine bevorzugte Behandlungvon Minderheiten wäre ein Beispiel. Oder eineüberkorrekte Handhabung von Begriffen in Be-zug auf eine Minderheit, während der Landes-

    bruder lapidar angeredet wird. Kurzum: Als positiven Ras-sismus versteht man eine Form der Unterscheidung aufgrundvon Hautfarbe und Herkunft, ohne aber dabei den Betrof-fenen herabzusetzen. Im Gegenteil: Es wird so sehr daraufgeachtet, den Menschen nicht anders oder gar schlechter zubehandeln, dass man ihn dann doch wieder anders behandelt.Von Betroffenen hier in Deutschland hört man oft, dass dieserpositive Rassismus eine große Belastung für sie ist. Doch diese

    Rassismusform existiert nicht nur hier. Seit meiner Zeit in Af-rika verstehe ich das Problem überhaupt erst richtig.

    Zuallererst muss gesagt werden: Ich liebe Afrika. Die Zeitund die Menschen dort bedeuten mir unglaublich viel, undich habe mich sehr wohl und sicher dort gefühlt. Dennochhabe ich dort das erste Mal persönlich erfahren, wie es ist,als »Mensch mit anderer Hautfarbe« statt als »Eine vonuns« wahrgenommen zu werden. Zwar hatte ich das Glück,nicht wirklich schlimm rassistisch angegriffen zu werden,es gab nur allzu viele gut gemeinte Worte, die sich aber soschlecht anfühlten.

    Die schlimmste Situation für mich ergab sich im Bus vonDodoma nach Arusha in Tansania. Nach einem tödlichenBusunfall stürmten die Freunde des Toten wutentbrannt denBus und zerrten den Busfahrer nach dem Prinzip Selbstjustizheraus. Die Businsassen wurden in Swahili angewiesen, sich

    ruhig zu verhalten und den Blick zu senken. Wer hochschauteoder sprach, wurde mit einem Stock geschlagen. Ich verstanddie Anweisungen erst nicht, schaute dementsprechend alar-miert hoch, als ein anderer Passagier geschlagen wurde. So-fort stand jemand neben mir, doch sobald ich ihn ansah wich

    er zurück und wies mich nur auf Englisch an, mich ruhig zuverhalten, er wolle mir nichts tun.

    Hier verstand ich zum ersten Mal das vollkommen ungerechteGlück, das einem mit weißer Haut zu Gute kommt. Trotz dersichtbaren Wut der Menschen und trotz der fehlenden Hem-mung, andere Insassen zu schlagen, wurde mir kein Haar ge-krümmt. Ein afrikanischer Freund sagte mir später: »Stirbtein Afrikaner in Tansania, so ist das nicht schön, aber stirbteine Deutsche, so kriegen wir richtig Ärger.«

    In diesem Fall hatte ich Glück. Was ich jedoch erschreckendfand, war der Riesenunterschied, der automatisch gemachtwurde und das in einer Situation unbändiger Wut.

    Auch in meinem Alltag in Afrika ließ mich dieser Unter-

    schied nie ganz los. Ein Sitzplatz, der mir angeboten wurde,auf dem eigentlich eine ältere Dame saß, ein Fremder, dermir beim Tragen der Einkäufe helfen wollte, obwohl seineFrau selbst vier Tüten bei sich hatte. Es waren meist nette Worte, ein Zuruf auf der Straße »Mzungu Mzungu! MamboMzungu!« (»Weiße/Fremde«, Hallo, Weiße/Fremde!«) oderMenschen, die mein Haar ungefragt berührten, weil es so an-ders war als ihres. Zum ersten Mal verstand ich auch die Vor-teile eines Kopftuches und weiterer Kleidung. Damit fühlteich mich angepasster, sicherer, nicht so ausgeliefert in derFremde. Wo immer ich hinkam, ich wurde meist strahlendbegrüßt, jedoch nie als Person wahrgenommen. Ich war eineTouristin, eine reiche Weiße.

    Mit der Zeit, kam ich langsam der Sprache näher und fand

    afrikanische Freunde, war etwas bekannter im Ort undnicht mehr ganz so interessant und fremd. Dennoch bliebein Rest Fremdheit und dies kenne ich leider inzwischen vonvielen »Weißen« in Afrika, selbst wenn sie dort geboren undaufgewachsen sind.

    Inzwischen kann ich mir gut vorstellen, wie es in einer Stadtvoller »Anderer« ist. Der ständige Unterschied – ob nun nega-tiv ausgedrückt oder positiv – ist immer da. Und auch die be-vorzugende Behandlung macht einem immer wieder deutlich,dass man anders ist. Wünschenswert wäre es, diese Unter-schiede nicht auf Teufel komm raus zu machen. Es gibt sicherwelche. Manchmal. Manchmal auch nicht. Und vor allem gibtes sie auch zwischen Menschen gleicher Herkunft. Sie habeneinen schlechten Tag? Dann zicken Sie doch alle Leute an,nicht nur die, bei denen Sie es politisch korrekt finden. Undwenn Sie einen guten Tag haben, dann lächeln Sie alle Men-schen an. Und zwar genau gleich breit.

    »Wo immer ich hinkam, ich wurde srahlend begrüß.«

    (Foo: Unied Naions Phoo (CC BY-NC-ND 2.0) )

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    Wenn ausgegrenzte Menschenandere Menschen ausgrenzenErlebnisse mit suchtkranken Menschen auf dem Leopoldplatz,im alten West-Berlin und als Obdachloser unter ObdachlosenB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Begegnung mit einem Suchtkranken aufdem LeopoldplatzIch habe mich ab 2008 oft mit denSuchtkranken auf dem Leopoldplatz

    unterhalten. Sie hatten zwei Bänke an der Na-

    zarethkirchstraße in der Nähe der Bushaltestelleam Leopoldplatz in Beschlag genommen. VieleMenschen trauten sich nicht in die Nähe dieserBänke. Outfit und Gebaren machten Angst. Ichunterhielt mich mit ihnen und mischte mich nurein, wenn ein Streit untereinander zu eskalierendrohte. Es ging meist um Kleinigkeiten. Bei eini-gem Alkohol intus flogen schon mal die Fäuste.Einige Kumpel heizten das an. Endlich eine Ab-wechslung, endlich was los auf dem Platz. Ichwusste, dass die Mitmenschen für solche Vergnü-gungen wenig Verständnis haben.

    Einmal geriet ich an einen Mann, der sich par-tout nicht unterhalten wollte. Der wollte Kohle. Was er anzubieten hatte, werde ich in meinem

    Leben weder anbieten noch kaufen. Er hätte sichmit mir unterhalten können. Aber das wollteer nicht. Er fragte, ob ich Polizist sei. Es wareigentlich keine Frage, eher Unterstellung. Ichverstand nicht und reagierte nicht. Er meinte:»Verschwinde!«. Das war eine Drohung. Ich bingegangen. Ich habe wenig Lust auf körperlicheAuseinandersetzung. Und: Es war sein Platz,sein Wohnzimmer. Ich war Gast. Und wenn derGastgeber nicht will … Ich hatte schon längstmitbekommen, dass dort mit Drogen gehandeltwurde. Soweit ich das mitbekommen konnte,ging es um kleine Mengen. Und wenn ich dasmitbekomme, hat sich das längst beim zuständi-gen Abschnitt rumgesprochen.

     Wochen später war er bei Unter Druck zu Gast.Da gelten seine Regeln nicht. Fortan haben wiruns gegenseitig ignoriert.

    Andere Erfahrungen: Ausgegrenzte Menschengrenzen andere Menschen ausMir ist beim Schreiben eingefallen: Die wenigerfreuliche Begegnung mit dem suchtkrankenMöchtegernhändler war nicht meine erste Er-fahrung mit Ausgrenzung, die von ausgegrenz-ten Menschen ausging. Ich hatte genau das Jahr-zehnte vorher bei den Alternativen bemerkt. Ichbin 1984 von Berlin nach Berlin gefahren undhatte im September 1984 eine ABM-Stelle beimProjekt »Strategien für Kreuzberg« im damaligenSzenekiez SO 36 angetreten. Mir ist aufgefallen,wie schwer es alternative Menschen von draußen

    hatten, in ein bestehendes Projekt einzusteigen.Die Abschottung war mir in der Hauptstadt deskleinen zänkischen Ländchens unbekannt.

    In der DDR gab es natürlich auch eine soziale Dif-ferenzierung, sogar innerhalb einer Gruppe. Be-stimmte Handwerker wie Schuhmacher darbtenam Existenzminimum, andere wie Automechani-ker konnte bei einigem Glück sogar teilweise mitD-Mark entlohnt werden. Es gab DDR-Bürger,die sich selbst abgegrenzt haben: Die Spitzen-funktionäre der damaligen Staatspartei und Mit-arbeiter des sogenannten Sicherheitsapparates,insbesondere die hauptamtlichen Mitarbeiter desMinisteriums für Staatssicherheit. Und es gabMenschen, die ausgegrenzt wurden. Die miefigenKleinbürger konnten mit psychisch kranken Men-schen ebenso wenig umgehen wie mit Menschen,die aus der Haft entlassen wurden. Trotzdem: EineAbschottung wie bei den Alternativen habe ich indem kleinen zänkischen Ländchen nicht erlebt.

    Ich habe beobachtet, wie Obdachlose einen ande-ren Obdachlosen aus dem Bahnhof ZoologischerGarten vertrieben hatten. Als er weg war, habe ich

    den Grund erfahren. Obdachlose in Wut sind sel-ten leise. Es ging um Geld. Ob der AusgestoßeneGeld entwendet, unterschlagen oder geliehen undnicht zurückgegeben hatte, kann ich nicht sagen.Einen Satz habe ich deutlich vernommen: »Derbraucht gar nicht wiederkommen!« Der BahnhofZoo war der Fernbahnhof West-Berlins. und derTreffpunkt der Obdachlosen.

    Als ich ohne festen Wohnsitz lebte, habe ich inNachtcafés die Angst obdachloser Menschenvor Kleiderläusen beobachtet. Die Menschenmit solchen Tierchen wurden gemieden. Wehedem »Läuseheini« der es wagte, sich neben ei-nem anderen Obdachlosen hinzulegen! Dasssolche Ausgrenzung der Bekämpfung des Be-falls nicht grade förderlich ist, steht auf einemanderen Blatt.

    Häufig Or von gewaltäigen Auseinandersezungen: Nounerkunf ür männliche Obdachlose (Foo: Juta Herms)

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    Gute und schlechteErfahrungenAuf dieser Doppelseite antworten sechs wohnungsloseMenschen auf die Frage, ob sie sich als Außenseiter fühlenP R O T O K O L L E & F O T O S : J u t t a H e r m s

    » M a n f ü h l t s i c h e c h t s c h l e c h t «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Leute einen nachdem Äußeren beurteilen. Als ich noch draußen geschlafenhabe, hatte ich einen Bart und dreckige Hände und Finger-nägel. Manche Leute haben mich mit einem Gesichtsaus-druck angeschaut, der war total abwertend und abschätzig.Man schaut in deren Gesichter und sieht diesen Hass. Selberweiß man ja, warum man dreckig ist. Und obdachlos. Wa-rum man nicht duschen kann. Man fühlt sich echt schlecht,wenn man so angeguckt wird, kommt sich total minderwertigvor. Vielleicht haben manche Leute, die einem so verachtend

    begegnen, auch Minderwertigkeitskomplexe, könnte ich mir jedenfalls vorstellen. Wenn ich in der S-Bahn um Geld bitte, gucken die meistenLeute aus dem Fenster. Die sagen nichts, wenn man sie an-spricht. Das ist kränkend. Klar kommen in der S-Bahn vieleSchnorrer durch und alle wollen was von den Leuten, die dasitzen. Aber man darf doch nicht alle in ein Boot schmeißen.Ich bin doch kein Junkie. Ich brauche mein Geld für Unter-kunft, Essen, nicht für Drogen. Da kann man doch wenigstens»nein« sagen, wenn man um Geld gebeten wird oder »Textemich nicht so voll«.

    Bei mir kommt hinzu, dass ich Ausländer bin, Kurde. Ichlebe seit 30 Jahren hier und bin genauso deutsch aufgewachsenwie jede und jeder andere hier auch. Seit dem 11. September2001 habe ich aber das Gefühl, dass alle arabisch aussehenden

    Menschen in einen Topf geschmissen werden. Manche Leutereagieren echt ganz krass auf mich. Zurzeit spielt wohl auchder hohe Zuzug von Menschen mit fremdländischem Ausseheneine Rolle. Wenn mich Leute dann akzentfrei Deutsch sprechenhören, sind sie immer ganz erstaunt.Said, 34 (3)

    » I c h g e h ö r e n i r g e n d w o z u «Ich bin ein Außenseiter insofern, als ich nicht teilhabe an derGesellschaft, nicht gar nicht, aber zum Teil. Ich will für michallein sein, suche Ruhe, Frieden, Intimssphäre. Aber Intims-sphäre hast Du nicht als obdachlose Frau. Wenn Du eine Woh-nung hast, kannst Du die Tür hinter Dir schließen. Wenn Duin einer Notunterkunft für Obdachlose übernachtest, hast Dudiese Tür nicht.

    Ganz schlimm ist für mich, dass ich derzeit keine me-dizinische Versorgung habe. Ich habe eine private Versi-cherung im Basistarif. Die stammt noch aus meiner Zeit als

    Beamtin, die ich über 20 Jahre lang war. Jedenfalls ist dieVersicherungskarte gesperrt, weil ich hoch verschuldet bin.Die medizinischen Obdachlosenpraxen weigern sich aber,mich zu behandeln. »Wir können nicht abrechnen«, sagendie dort. Das ist ein Unding. Ich muss dringend zum Zahn-arzt, wie soll ich die Rechnung bezahlen als Obdachlosemit Grundsicherung?

    Im vergangenen Sommer habe ich Morddrohungen be-kommen und bin fast vergewaltigt worden, der Mann lagschon auf mir. Als obdachlose Frau bist Du Freiwild. Seit die-

    sen Vorfällen achte ich penibel darauf, dass man mir meineObdachlosigkeit vom Äußeren her nicht ansieht. Das Gepäck,das ich sonst mit mir herumgetragen habe, schließe ich jetztimmer weg.

    Nicht gefährlich aber unangenehm waren immer auchBlicke. Zum Beispiel der Blick des Busfahrers abends, dermir hinterherguckte, wie ich von der letzten Haltestelle derLinie mit meiner Isomatte im Sommer im Wald verschwand.Erstaunlich und positiv fand ich, dass mir türkische Jugend-liche öfters ein paar Euro geschenkt haben – laut Koran sindMuslime ja verpflichtet, Bedürftigen zu helfen.

    Ich gehöre nirgendwo zu. Ich gehöre nicht richtig zurGruppe der Obdachlosen, nicht zur Gruppe der Wohnenden,nicht zur Gruppe der Arbeitenden. Ich falle überall hinaus, inallen Belangen. Selbst bei der medizinischen Versorgung falle

    ich durch alle Roste.Martina, 49 (1)

    » A b w e r t e n d e r a l s a b w e r t e n d «Manchmal fühle ich mich als Außenseiter, manchmal fühleich mich akzeptiert. Wenn ich in der Bahn den strassenfegerverkaufe, gibt es Leute, die sind sehr nett, einige interessierensich auch für meine Geschichte. Es gibt aber auch Leute, diemachen blöde Sprüche, etwa ‚Such Dir mal ne richtige Arbeit,Junge‘ oder ‚Du verdienst mit Deiner Bettelei ja eh mehr alsich‘. Viele gucken auch sehr von oben herab, da hat man dasGefühl, die halten sich für was Besseres.Aber es ist ja auch kein Muss, mir eine Zeitung abzukaufenoder mir eine Spende zu geben. Ich verstehe das auch, dassdie Leute manchmal genervt sind, wenn so viele Leute in denZügen unterwegs sind.Bis vor kurzem sah ich noch sehr verzottelt aus. Als ich damit einer Sozialarbeiterin beim Jobcenter war, hat mich eine

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    Sachbearteiterin dort extrem von oben herab an-geschaut. Das war abwertender als abwertend. Was wollen Sie hier mit diesem Erscheinungs-

    bild, Sie haben hier nichts verloren. So habe ichihre Blicke gedeutet.Den strassenfeger  verkaufe ich seit fünf Jah-

    ren. Ich bin seit 2014 obdachlos, vorher war ichauch schonmal mehrere Jahre obdachlos. Aberzurzeit scheint es voran zu gehen, ich warte ge-rade auf einen Platz im betreuten Wohnen.Tino, 25

    » K a t a s t r o p h a l e E r f a h r u n g e n «Ich bin ein absoluter Außenseiter. In Deutschlandgilt die Formel Obdachloser gleich Alkoholikeroder Drogensüchtiger gleich Krimineller gleichAsozialer. Diese Einstellung herrscht sowohl inder Bevölkerung als auch in Ämtern vor. Was füreinen Charakter Du hast, welche Bildung, wel-

    che Moral, das ist sekundär oder tertiär.Meiner Meinung nach gibt es in der deutschen

    Bevölkerung ganz viele Ressentiments Obdachlo-sen gegenüber. Wer den strassenfeger verkauft,erlebt das. Im vergangenen Sommer war ich alsstrassenfeger-Verkäufer am Gendarmenmarkt imAußenbereich der Cafés dort unterwegs. Etwa 50Menschen, die meisten Männer in Anzügen, diedort ihre Mittagspause verbracht haben, saßendort. Nicht einer hat sich gerührt, nicht einer hatmir ein einziges Wort entgegengebracht! Die ha-ben mich angeguckt, als wäre ich der größte Sit-tenstrolch in Berlin, vernichtend, abwertend, kalt.

    Seit 19 Jahren versuche ich vergeblich, eineArbeit zu finden. Ich bin Diplom-BWLer und

    war Geschäftsführer mehrerer Unternehmen.Arbeit findet man, das schon. Aber eine zu fin-den, die mir entspricht, jetzt noch mit Ende 60,das scheint unmöglich zu sein. Es ist wie auf derAutobahn, Du stehst auf der Standspur und allefahren an Dir vorbei.

    Auch auf persönlicher Ebene habe ich katas-trophale Erfahrungen gemacht. Ich komme öftersim Café oder im Zug mit Leuten ins Gespräch.Mein Eindruck ist, die Leute reden gerne mit mir,finden mich elloquent, finden, dass ich Niveauhabe, interessieren sich für mich. Wenn wir unsdann manchmal wiedertreffen und ich irgend-wann erwähne, dass ich obdachlos bin, fahren dieLeute auf der Stelle mit ihrer Sympathie herunter.Und zwar auf Null. Die Leute laufen jetzt an mirvorbei, als hätten sie mich nie gesehen.Volkmar, 69

    » A l l e s i n d s e h r n e t t « Wie ich von den Menschen in Berlin behandeltwerde? Gut. Zu 100 Prozent gut. Ich verkaufeden strassenfeger vor dem Eingang vom Super-markt Netto in Friedenau. Zurzeit ist es ja sokalt, da sagen die Mitarbeiter vom Supermarkt:»Papa, es ist zu kalt, um die Zeitung zu verkau-fen. Geh‘ bitte nachhause.« Papa, damit bin ichgemeint. Ich bleibe dann aber trotzdem dort ste-hen, ich muss ja Geld verdienen. Die Mitarbei-

    ter bringen mir dann einen Kaffee heraus. Undandere Kunden bringen mir etwas zu essen. Diesind wirklich alle sehr nett zu mir.

    Ich bin seit sieben Jahren hier in Deutsch-land. Von Anfang an habe ich Zeitungen ver-kauft, viele Stunden jeden Tag mache ich das.Eine richtige Arbeit habe ich hier nicht gefun-den, auch schon vorher in Rumänien nicht. Undmit 65 finde ich jetzt auch keine Arbeit mehr.Meine Familie ist in Rumänien, ich bin alleine inBerlin. Jeden Monat schicke ich die Euro, die ichentbehren kann, nachhause, 30 Euro im Schnitt.

    Mein Sohn hat Hepatitis B, meine FrauKrebs. Sie müssen Medikamente einnehmen,aber die sind teuer und in Rumänien mussman die selber bezahlen. Und mein Sohn hatfünf Kinder. Für die bekommt er im Monat 25Euro Kindergeld vom rumänischen Staat. Für

    Schuhe, Schule, Taschengeld – das reicht über-haupt nicht. Nachts schlafe ich bei anderen Ru-mänen in der Wohnung. Wir sind zehn Perso-nen in zwei Zimmern. Das ist nicht gut. Aber

    billig und nicht kalt.Iordache, 65 (4)

    N e u e Z ä h n e50/50 würde ich sagen. Manche Leute sind ab-fällig, andere sind sehr nett. »Polacke-Sack, ver-piss Dich«, solche Sprüche kenne ich gut. Michhat auch mal jemand zusammengeschlagen, soschlimm, dass ich längere Zeit im Koma lag.Der Mann musste wegen versuchten Totschlagsins Gefängnis.

    Ich bin seit 27 Jahren in Deutschland. Natür-lich habe ich hier auch richtig gearbeitet. Abernach diesem langen Krankenhausaufenthaltkomme ich nicht wieder richtig auf die Beine.

    Seit etwa acht Jahren verkaufe ich den strassen-feger. Geld vom Staat erhalte ich nicht, als Polehabe ich da keine Ansprüche.

    Aber es gibt Leute, die sind wirklich sehrnett zu mir. Manche laden mich zum Essen ein,andere geben mir ein bisschen Geld. Und jetztbekomme ich sogar neue Zähne. Als ich beimZeitungsverkauf mal mit einem Mann ins Ge-spräch gekommen bin, hat dieser mich gefragt,warum ich immer meine Hand vor den Mundhalte. Ich habe geantwortet, das mache ich,weil ich so schlechte Zähne habe. Der Mannhat gesagt, dass seine Frau Zahnärztin ist undich mal bei ihr in der Praxis vorbeikommen sol.Jetzt bekomme ich den ganzen Zahnersatz vonihr, er ist schon fertig, Donnerstag bekommeich ihn eingesetzt.

     Jaroslaw, 54 (2)

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Bayu Aji und sein

    Königreich der TiereHerlambang Bayu Aji ist wohl der einzige Künstler in Berlin, der sichso umfangreich und ausführlich mit dem javanischen Schattenpuppen-theater befasst. Deshalb ist die Ausstellung seiner Schattenpuppen imProjektraum art.endart in Weddig eine Rarität: außergewöhnlich undunbedingt zum Besuch empfohlen.R E Z E N S I O N & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f  

    Positive Energie, Humor, gute Launeund ein Lachen, das ansteckend wirkt:Herlambang Bayu Aji hat ein Naturell,das auf Anhieb begeistert und Sympathie

    weckt. Der mit vielen Talenten gesegnete Künst-ler von der Insel Java, seit fünf Jahren auch erein Berliner, ist Regisseur, Dramaturg, Schau-spieler, Sprecher und Musiker in einer Person.Seine Bühne sowie ein kleines Orchester, das essich auf dem Parkett gemütlich gemacht hat unddie Trommeln zum Klingen bringt, befinden sichhinter einer weißen Leinwand, wo Bayu Aji dieselbstgemachten Puppen agieren lässt. Die Sil-houetten der Puppen fallen auf die Leinwand,auf der er eine zeitgenössische Interpretation des

    alten indonesischen Schattentheaters Wayangbietet. Zugleich schlagen seine Aufführungeneine Brücke zwischen der alten und der neuenHeimat, zwischen Indonesien und Deutsch-land. Der Künstler greift häufig Motive aus denMärchen von Wilhelm Hauff und der GebrüderGrimm auf, um zu zeigen, dass die Welt auchheute nicht besser geworden ist, dass die Herr-scher ihre Macht missbrauchen, die Menscheneinschüchtern, ausbeuten, sich auf ihre Kostenbereichern. »Meine Intention ist es, Geschichtenzu erzählen, die mit unserer Situation etwas zutun haben«, sagt Bayu Aji.

    F a s z i n i e r e n d e a l t e T e c h n i k

    Herlambang Bayu Aji wurde vor 33 Jahren inSurakarta, auch Solo genannt, einer Großstadtin Zentral-Java geboren. Seine Eltern starbenfrüh, der Vater 1995, die Mutter 2005. »MeineMutter verkaufte Essen in einem Zelt auf derStraße, mein Vater war Busfahrer. Ich habe neunGeschwister, acht Schwestern und einen Bruder.Ich war der erste in meiner Familie, der studierthatte. Ich wusste, dass meine Mutter mir keinGeld geben konnte, sie gab mir aber ihren Se-gen. Ich habe 2001 das Studium der Malerei ander Akademie der Künste in Solo begonnen undes 2007 beendet. Um die Studiengebühren unddas Material zu bezahlen, habe ich mit Schreib-waren gehandelt. Im Herbst 2005 hatte ich dieIdee, Schattenpuppen zu machen. Diese alteTechnik hat mich so fasziniert, dass ich jedenMorgen nach dem Aufstehen nur einen Kaffee

    trank, dann den ganzen Tag oder mehrere Tagenacheinander die Puppen aufs Papier gezeichnet,

    sie dann ausgeschnitten und beidseitig mit Acryl-farben und Tusche bemalt habe.« Auf Java heißtsowohl das traditionelle Schattenpuppentheaterals auch die Figuren, die darin zum Einsatz kom-men Wayang. Bayu Aji knüpft an diese alte Tra-dition an, wenn es um die Form und das Materialgeht. »Ich benutze eine Leinwand, ich benutzeeine Lampe, die aber keine Öllampe ist«, sagtder Künstler. »Die von mir gefertigten Puppensehen aber anders aus als die alten. Und sie er-zählten Geschichten, die immer mit einem Bau-ernhof verbunden sind.« Deshalb nennt er seinSchattenpuppentheater »Wayang Rajakaya«.Das zweite Wort ist ein Homonym mit doppel-ter Bedeutung: Königreich und Tiere, wobei dieTiere, wie in Märchen und Fabeln oft der Fall,Menschen, ihre Eigenarten und Abarten, ihre gu-ten und schlechten Eigenschaften symbolisieren.

    H a u p t f i g u r K u hDa liegt es nahe, dass dem indonesischen Künst-

    ler George Orwells »Farm der Tiere« als Inspira-tionsquelle diente. »Diesen Roman habe ich vielspäter gelesen«, erklärt Bayu Aji. »Die Hauptfi-gur bei Orwell ist ein Schwein, bei mir eine Kuh.Schon als ich in Solo Malerei studierte, habeich oft Kühe gemalt. Die Kuh ist für mich wieIndonesien, kräftig, nahrhaft, geduldig, ein Or-ganismus mit einem großen Potential, das nichtrichtig genutzt wird. Wir haben Bodenschätze,Minen, schöne Landschaften, unendlich vielSonne und Energie, warum sind wir trotzdemarm? Wir wollen oder können diese Reichtümernicht selbst managen, weil die Regierung korruptist. Sie lässt die Regenwälder abbrennen, um Öl-palmen anzubauen. Sie verkauft Naturschutzge-biete an Unternehmer. Aktivisten und Journalis-ten, die das publik machen, verschwinden fürimmer. Politik und Gesellschaftskritik spielen in

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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    strassenfeger | Nr. | Januar - Februar TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    Herlambang Bayu Aji

    Herlambang Bayu Aji, Puppen aus

    »Wayang Rajakaya«

    Herlambang Bayu Aji. Puppe aus

     Jamakakara - das Land der Affen.

    Herlambang Bayu Aji. Puppen aus

    Wayang Rajakaya

    meinen Geschichten immer eine Rolle. Ich ver-suche, sie so zu gestalten und so zu erzählen,dass sie für alle, unabhängig von Alter und Wis-sen über Indonesien, verständlich sind. »BayuAjis »Schattentheater aus dem Königreich derTiere« ist eine ernste Angelegenheit, die sich aufhumorvolle, kabarettistische und unterhaltsameArt mit politischen und gesellschaftlichen Pro-blemen seines Landes, mit der Zerstörung vonNatur und Kultur, also mit Themen, die leiderglobal sind, auseinandersetzt.

    E i n r a u m g r e i f e n d e r C o m i cBisher hat der Künstler zweihundert Puppen aus Wasserbüffelleder, Papier und Bambus geschaf-fen, ein Teil davon wird jetzt in der Ausstellung»Wayang Rajakaya« im Projektraum art.endart inder Drontheimer Straße in Berlin-Wedding prä-sentiert. Des Meisters Hand verwandelt die Ga-lerie in ein Märchenland, bevölkert mit freund-lichen oder furchterregenden Monstern undTieren, die wie Menschen handeln. Sie sind gutoder böse, manchmal beides, schlau, hilfsbereit,stur, hinterhältig, hilfsbereit oder eigennützig:Schweine, Eichhörnchen, Drachen, Ziegen, An-tilopen, Büffel, Elefanten, Hasen, Mäuse. Trotzihrer nicht immer positiven Eigenschaften sehenalle Figuren prächtig aus. Die meisten sind bunt,wirken filigran, auch wenn sie eine beachtlicheGröße erreichen. Wie ein raumgreifender Comic

    hängen sie einzeln oder in Gruppen in den Fens-tern und an den Wänden. Für die aufwändigs-ten, kostbarsten und beständigsten Puppen ver-wendet Bayu Aji Wasserbüffelleder. Er zeichnetVorlagen und lässt sie in Solo von Handwerkernschneiden. Das Pergament aus Wasserbüffelle-der ist der Stoff, aus dem traditionelle javanischeSchattenpuppen sind. »Seine Herstellung ist einlanger und komplizierter Prozess, denn das Le-der muss drei Tage im Wasser liegen, um weichzu werden, und danach zwei Wochen lang in derSonne trocknen«, sagt der Künstler. »Deshalb

    kann ich solche Puppen nicht selbst und nicht inDeutschland machen lassen, weil es hier diesesPergament nicht zu kaufen gibt.«

    E i n k r e a t i v e s Te a mGleich nach dem Beginn des Studiums der Male-rei in Solo organisierte Bayu Aji eine internatio-nale Jugendkonferenz, zu der auch viele Leute ausDeutschland kamen. Seit 2010 lebt er zusammenmit seiner Frau Camilla Kussl aus Überlingen inBerlin. Sie studiert Kunstgeschichte an der HU,er im Institut für Kunst im Kontext an der UdK,wo er am 8. Februar seine Masterarbeit präsen-tieren wird. Es heißt »Jamakakarta – das Landder Affen« und ist ein »partizipatives Projekt«,entstanden unter Herlambang Bayu Ajis künst-lerischer Leitung in Zusammenarbeit mit WatchIndonesia! E.V. Der Titel dieses Schattentheaters

    INFO

    Herlambang Bayu Aji»Wayang Rajakaya«

    Schatenpuppen-Aussellung

    Noch bis zum 7. Februar

    Projekraum ar.endarDronheimer Sraße 22/2313359 Berlin

    Schatenpuppenheaer ür Erwachseneam 6. Februar um 19 Uhr

    mi Herlambang Bayu Aji, Camilla Kussl undLaleh Torabi

    Einrit Frei

     › hp://arendar.wix.com/kunsundkulur

    › hp://herlambangbayuaji.webs.com

    ist ein schönes Wortspiel: Jakarta und Makak.Das Stück, welches in Märchenform über po-litische Machenschaften in Indonesien erzählt,wurde 2014 im Theaterhaus Berlin-Mitte aufge-führt und war ein großer Publikumserfolg. EineDokumentation dieser politisch-künstlerischenAktion ist in der Ausstellung »Wayang Rajakaya«

    ebenfalls zu sehen. »Die meisten meiner Thea-terstücke und auch das Begleitbuch zum >Landder Affen< habe ich auf Deutsch geschrieben«,sagt der Künstler. »Deutsch ist sehr schwer,die Aussprache, die Grammatik, vor allem dieDeklination. Früher habe ich etwas Englischgesprochen, heute ist mein Englisch genausoschlecht wie mein Deutsch«, lacht Bayu Aji. SeinEnglisch kann ich nicht beurteilen, aber Deutschbeherrscht er fast perfekt, wenn man bedenkt,dass er es erst als Erwachsener gelernt hat. Beider Korrektur seiner Texte hilft ihm Camilla.Das Ehepaar ist ein kreatives Team. In größerenSchattenspielen, die manchmal eine Stunde dau-ern, leiht seine Frau den Puppen ihre Stimme, sie

    singt und trommelt.Herlambang Bayu Aji ist wohl der einzige Künst-ler in Berlin, der sich so umfangreich und ausführ-lich mit dem javanischen Schattenpuppentheaterbefasst. Wer es bisher nicht geschafft hat, sein»Wayang Rajakaya«, zu besuchen, sollte sich inden nächsten zwei Wochen auf den Weg zumProjektraum art.endart machen. »Das Königreichder Tiere« schließt seine Tore mit einem großenFinale: der Aufführung eines Schattenpuppenthe-aters, an dem sich ein perfekt eingespieltes Teamunter der Leitung des Meisters aus Solo beteiligt.

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | TAUFRISCH & ANGESAGT B r e n n p u n k t

    Arbeitskreis Wohnungsnotdiskutiert über Teilhabe vonWohnungslosenEine spannende Diskussion wird am 3.Februar erwartetK O M M E N T A R : J a n M a r k o w s k y

    D

    er Arbeitskreis (AK) Wohnungsnothat 2015 über sein Selbstverständnisund über Teilhabe von Wohnungslo-sen an der Arbeit des AK mehrmals

    in dem einmal im Monat durchgeführten Plenumdes AK diskutiert.

    D e r A r b e i t s k r e i s W o h n u n g s n o tDer Arbeitskreis Wohnungsnot ist, wie die AGLeben mit Obdachlosen, ein Zusammenschlussvon Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe inBerlin. Die AG Leben mit Obdachlosen ist ausdem runden Tisch niedrigschwelliger Einrich-tungen der Wohnungslosenhilfe in Kreuzbergentstanden, überwiegend Einrichtungen derKältehilfe. Der AK Wohnungsnot ist der Zusam-menschluss der Einrichtungen mit Sozialarbei-ter. Das sind Beratungsstellen und Einrichtungender ambulanten Wohnhilfe und Wohnprojekte.Sechs von 12 Bezirksämtern und das Jobcenter

    Tempelhof-Schöneberg sind Mitglied des AK.Die Bezirke werden von Mitarbeiter*innen dersozialen Wohnhilfen des Bezirks vertreten. DerAK Wohnungsnot wurde 1988 gegründet undhat seinen 20. Geburtstag im November 2008mit einer Pressekonferenz und einer Feier in derKulturbrauerei gefeiert.

    Der AK Wohnungsnot lädt jeden ersten Mittwochim Monat um 9 Uhr zum Plenum des AK ins Wil-liam-Booth-Haus, Hanauer Straße 5, in Wilmers-dorf ein. Das nächste Plenum ist am 3. Februar.

    Für die Vorbereitung und Moderation des Ple-nums sorgt die Vorbereitungsgruppe. Drin-

    gende oder komplexe Themen werden in Ar-beitsgruppen besprochen.

    E r f a h r u n g e n m i t T e i l h a b e v o nW o h n u n g s l o s e nAls Mensch ohne festen Wohnsitz habe ich diewohnungslosen und von Wohnungslosigkeitbedrohten Menschen in der Mehrheit als Kon-sumenten der Angebote erlebt. Doch selbst inder Suppenküche der Franziskaner fanden sichimmer helfende Hände, wenn Mitarbeiter umHilfe gebeten hatten. Meist musste etwas aneinem bestimmten Ort getragen werden. Oftmussten die Mitarbeiter nicht einmal fragen.In Nachtcafés habe ich erlebt, wie einzelne Ob-dachlose bei den Mitarbeitern kleine Privilegiengenossen. In der Regel war das die Reservierungfür einen bestimmten Schlafplatz. In ein nicht

    mehr existierendes Nachtcafé hat die Leiterineinem schwer herzkranken älteren Stammgast

    eine Decke als Unterlage für den Kopf hinge-legt. Einige Obdachlose berichteten stolz vonsolchen kleinen Vergünstigungen.

    Teilhabe fängt mit der Annahme der Angebotean. Als engagierter Mensch hatte ich die Wahl,ob ich ein kleines Nachtcafé mit mir befreunde-ten Gästen und in der Regel ungestörtem Schlafaufsuchen kann oder ob ich eine Einrichtungaufsuche, die auch spät in der Nacht Gäste auf-nimmt. Ich habe einige Male den schlechterenSchlaf gewählt.

    Teilhabe kann und sollte mehr sein als die bloßeAuswahl der Angebote zum Überleben. Dass es

    mehr sein kann und mehr sein sollte, zeigt dasBeispiel des Vereins von, für und mit Wohnungs-losen Unter Druck- Kultur von der Straße e.V.Unter Druck ist im September 1991 aus einemTheaterprojekt mit Obdachlosen entstanden.Obdachlose haben nach Ende des Theaterpro- jekts mit Künstlern und Sozialarbeitern die un-terschiedlichsten Ideen diskutiert und gemein-sam den Verein gegründet. Unter Druck hat heutenoch eine ausgeprägte Mitbestimmungskultur.In der Satzung ist festgelegt, dass mindestensein Drittel des Vorstands Erfahrungen mit Ob-dachlosigkeit haben muss. Die Teilhabekulturhat sich in Krisenzeiten bewährt. Nur dank derMitarbeit der Gäste konnte für 2002 eine extremgekürzte Finanzierung für den sozialkulturellenTreffpunkt für Wohnungslose erkämpft wer-den. Und nur dank der Mitbestimmungskultur

    konnte der finanziell stark gebeutelte Treffpunktdie ersten Jahre überstehen. Als der Treffpunkt

    von seinem Standort am Rosa-Luxemburg-Platzin den Wedding ziehen musste, hat sich die Teil-habe wieder bewährt.

    F ü r u n d g e g e n T e i l h a b ew o h n u n g s l os e r M e n s c h e nIch habe beobachtet, dass wohnungslose Mitar-beiter oft ihre Peergroup bevorzugen. Den Woh-nungslosen geht es wie vielen anderen Mitarbei-tern mit »Kunden« in ihrem sozialen Umfeld.Und natürlich können Wohnungslose oft derVersuchung nicht widerstehen. Die eigennützigeMitnahme fällt in der Regel auf und der Woh-nungslose verliert mehr, als er gewinnen kann.

    Gremien wie der AK Wohnungsnot hat Anzie-hung auf Menschen, die psychisch belastet sind.Das stört. Die Störungen sind aber minimal.Heinz, unser viel zu früh verstorbene Mitautorund Berufsberber, hat als Mitglied des Spre-cherrates der AG Leben mit Obdachlosen inVerhandlungen mit Politikern und Mitarbeiternder Sozialverwaltung bewiesen, welche WirkungArgumente haben können, wenn sie von einemBetroffenen kommen.

    Viele wohnungslose Frauen weigern sich, bei derSuche einer eigenen Wohnung, die Unterstützungder ambulanten Wohnhilfe in Anspruch zu neh-men. Die rigiden Vorgaben für die Mitarbeit derBetroffenen laden zur Verwechselung mit Amts-betreuung ein. Die Frauen haben Angst vor Ent-mündigung. Hier kann Teilhabe viel bewegen.

    Durch Einladung zum Mimachen Menschen von der Sraße holen

    (Foo: Wikemedia Commons von indeedous (CC BY-SA 2.0) )

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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    strassenfeger | Nr. | Januar - Februar TAUFRISCH & ANGESAGT | Verein

    Wie Zahnräder, die

    ineinander greifenMeine Erfahrungen als ehrenamtlicher Mitarbeiter in derNotübernachtung des Vereins ob e.V.B E R I C H T : D a v i d U t z | F O T O S : M a r a F i s c h e r

    Seit November bin ich freiwilliger Mitarbeiter in derNotübernachtung des Vereins mob e.V. im Prenz-lauer Berg. Vor einiger Zeit hatte ich im Internet zu-fällig einen Beitrag gesehen, in dem das Projekt nachMitarbeitern suchte. Ich war neugierig und meldete

    mich gleich bei Mara Fischer, der Projektleiterin. Nach ei-

    nem kurzen persönlichen Treffen und einer Besichtigung desneuen Gebäudes war ich ehrenamtlicher Mitarbeiter.

    Meine erste Schicht war eine Nachtschicht. Oft sind dieNächte ruhig, die Gäste sind entspannt, schauen Fernsehenim Aufenthaltsraum und gehen nach und nach in ihre Betten.Am morgen versucht man dann die Gäste zu wecken, was abund an etwas dauern kann.

    Oft legen einem die Besucher kleine Geschenke auf den Tisch,meistens Schokolade oder Pralinen. Ein Gast kam an einemAbend immer wieder, um uns ein paar Kleinigkeiten auf denTisch zu legen, so etwas berührt, man merkt, dass die Menschen,die hier ein warmes Bett finden, es wirklich zu schätzen wissen. Die Arbeit mit den Menschen ist unkompliziert. Die Auf-

    nahme von Neuen gestaltet sich meist so, dass ich kurz ihreSachen durchgehe, um nach Alkohol oder Ähnlichem zu su-chen. Viele wollen ihr Gepäck weggepackt haben, das ver-staue ich dann und versehe es mit dem Namen des Gastes.Ich trage den Namen ein und zeige ihnen ihr Bett. Sie bekom-men frische Bettwäsche und, falls Bedarf besteht, Zahnpasta,Zahnbüste und Duschgel.

    Manchmal läuft es auch nicht so einfach ab. Womit man häu-fig konfrontiert wird, ist das Gefühl, nicht helfen zu können. Während einer Nachtschicht erging es mir so. Kurz bevor ichan diesem Abend in die Notübernachtung kam, war ein jun-ger Pole aus dem Krankenhaus hierher gebracht worden. Erwar auf kaltem Heroinentzug, erst seit vier Tagen in Berlinund sprach weder Deutsch noch Englisch. Der junge Mann

    war in einem desolaten Zustand, zitterte am ganzen Leib undbewegte sich nur schwerfällig. Um drei Uhr morgens stand ervor mir und versuchte mit Händen und Füßen, sich mit mirund meiner Kollegin zu verständigen. Er hatte kaum Klamot-ten, also gab ich ihm welche aus der Kleiderkammer. Was ereigentlich von uns wollte, war ein Medikament, irgendetwas,damit der Schmerz aufhört. So etwas haben wir aber nicht,dazu sind wir auch gar nicht berechtigt. Er verschwand wie-der in seinem Zimmer, nachdem ich ihm das erklärt hatte. Ich machte ihm eine Liste mit Adressen von Ärzten, währendmeine Kollegin auf der Suche nach einem Ansprechpartnerfür ihn telefonierte. Als er am Morgen wieder bei uns im Bürowar, gaben wir ihm einen Stadtplan und eine Liste mit Ad-ressen. Ich wollte ihn nach meiner Schicht noch zur S-Bahnbringen damit, er den Weg findet. Kurz vor meinem Schich-tende war er bereits sang- und klanglos verschwunden. Andem Morgen musste ich noch lange daran denken.

    Am Ende einer Nachtschicht ist es meist achtoder halb neun Uhr morgens. Ich mache michdann auf den Weg nachhause und freue mich aufmein Bett. Die Gäste, die ja morgens um achtdie Notübernachtung verlassen müssen, findenmeistens noch ein warmes Frühstück im benach-barten Café Bankrott. Für sie beginnt jetzt derTag, und es stellt sich die Frage, wo in der Kälteden Tag verbringen?

    Ich will nicht sagen, dass meine Motivation ist,

    dass ich Menschen helfen will, das klingt viel zupathetisch. Eine Freundin sagte einmal zu mir»Wenn wir etwas dazu beitragen, diese Welt einbisschen besser zu machen, dann sind wir wieZahnräder, die ineinander greifen und die Weltam laufen halten. Aber ein einzelnes Zahnrad istnutzlos.«

    Es ist erschreckend, wieviel Leid neben uns exis-tiert. Einerseits leben viele von uns bequem undandererseits gibt es extreme Armut direkt nebenuns. Dem sollte man nicht aus dem Weg gehen,man sollte sich damit konfrontieren, um es zuändern. Mir persönlich hat die Arbeit dort schonviel gebracht. Es macht Spaß, mit Menschenzu arbeiten. Ich habe bereits viel gelernt durchmeine Tätigkeit und sehe die Welt jetzt etwas an-ders. Ich bin dankbar für die Erfahrung.

    Blick in ein Zimmer der Noübernachung

    David Uz 

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | TAUFRISCH & ANGESAGT k a f f e e | b a n k r o t t

    Das Radio wurde schon

    einmal totgesagt,tatsächlich ist es aber das letzte regionale Massenmedium!T E X T : G u i d o F a h r e n d h o l z

     Was wäre, wenn all die klugen Me-dientheoretiker unserer Republiksich eingestehen müssten, dassviele ihrer ach so neuen Trends,

    ihrer technischen Basis nach, gar nicht so trendysind? Klar hat sich das mediale Konsumverhal-

    ten den Verbreitungswegen der angebotenen In-halte angepasst. Aber auch das ist seit schon min-destens einem Jahrzehnt gar nicht mehr so neu. Wie eh und je definieren die angesprochenenZielgruppen das Format und ein Alleinstellungs-merkmal entscheidet noch längst nicht über denErfolg oder das Nischendasein eines Medien-produkts! Der Medienwandel ist keine neue Er-findung irgendeines Zeitgeistes, trimediale Pro-dukte kein Hokuspokus aus dem Web-Zylinder!Seit den Zeiten, in denen allein der Hörfunk denguten Ton vorgab, die bewegten Bilder nur derFlimmerkiste vorbehalten waren und sich Buch-staben in sinnhaften Ketten ausschließlich aufZeitungspapier wiederfanden, haben sich die

    heutigen Abiturienten entwickelt. Glauben Sienicht? Na, dann staunen sie mal. Im September2000 starteten Frau Dr. Marianne Koch und derBR-Moderator Werner Buchberger ihre Sen-dung »Gesundheitsgespräch« auf Bayern2Ra-dio. Gleichzeitig wurde die Sendung in BR-alphaübertragen und als Livestream angeboten. Texte,Tipps und Fakten auf der Website rundeten dasAngebot ab. Der Clou aber war ein Mitschnitt jeder Sendung. Ja genau, so nannte man zumJahrtausendwechsel noch einen Podcast. DieLanglebigkeit dieser Sendung ist das eigentlichErstaunliche. Ein Erfolgsmodell bis heute.

    D a s m e d i a l e I n v e n t a rAlso, die Idee ist nicht neu, die Umsetzung füruns aber eine wirklich große redaktionelle He-rausforderung und am Anfang steht erst einmal

    eine Inventur. Wir sind auf zwei Sendern mitvier Medienformaten vertreten. Unangefochte-nes Aushängeschild und Sprachrohr der Print-ausgabe des strassen|feger ist seit nunmehr überzehn Jahren das strassen|feger radio auf 88vier.Jeden Mittwoch zwischen 17 und 18 Uhr lockt

    unser Magazin mit einer Mischung aus aktuel-len, überregionalen und regionalen Themen,immer wieder mit interessanten Gesprächspart-nern und Musik auch mal abseits irgendwelcherChart-Platzierung unzählige Hörer an die UKW-und Kabelempfänger. Wir sind immer wieder er-staunt über das so zahlreiche Feedback, bei Te-lefonaktionen und in Emails. Somit wird es auchmal wieder Zeit, vielen Dank zu sagen an eine/unsere treue Hörerschaft!

    Verwicklungen bei den Namens-Rechten veran-lassten uns vor drei Jahren dazu, aus unseremTV-Format strassen|feger unplugged das TV-Magazin kaffee|bankrott und die Musikshow

    kaffee|bankrott in concert entstehen zu lassen.Der Name war natürlich nicht von ungefähr sogewählt: kaffee|bankrott, das ist auch die Be-gegnungsstätte des Vereins mob – obdachlosemachen mobil e.V. und Treffpunkt der Redak-tionssitzungen des strassen|feger. Was lag nunnäher, als solche Begegnungen zu visualisieren.Ein kluger Schritt, wie sich inzwischen heraus-stellte. Bei den Liveproduktionen im Studiobesuchten uns auch schon mal über einhundertStudiogäste. Die Liste von Künstlern, Politi-kern und Vertretern von Institutionen, Behör-den usw. ist gleichermaßen bunt, interessantund beachtlich. Die Zusammenarbeit mit unse-rem Haussender ALEX wird seit Jahren immerkonstruktiver und technisch professioneller.Das komplette Spektrum vom Außendreh biszur Liveschaltung wird realisiert und Entwick-

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    strassenfeger | Nr. | Januar - Februar TAUFRISCH & ANGESAGT | k a f f e e | b a n k r o t t

    lungsprozesse gemeinsam gefördert. Beginnenwerden wir in diesem Jahr, am 4. März ab 19Uhr, mit dem Record-Release-Konzert von Hill& Ray zu ihrer dann neuen CD »Secret Gar-den«. Die begehrten Zuschauer-Karten dazugibt es nach einer Email an radio@strassenfe-

    ger.org. Die darauf folgenden Aufzeichnungs-termine werden wie gewohnt im strassen|fegerund auf unserer Facebook-Seite veröffentlicht.

    k a f f e e | b a n k r o t t t a l k - R a d i oz u m A n s c h a u e n u n d d a b e i s e i nMit dem Jahreswechsel bekam nun diekaffee|bankrott-Familie Hörfunkzuwachs. JedenMontag ab 21 Uhr startet ebenfalls auf ALEX derkaffee|bankrott talk. Eine Stunde, ein Modera-tor, ein Gast, dessen Thema und - zur Unterhal-tung - seine Musik. Soweit so gut, aber auch dasreicht uns noch nicht, das sind noch zu wenigeBegegnungen. Deshalb laden wir auch zu jederSendung Sie, die Hörer, ins Hörfunkstudio von

    ALEX ein. Seien Sie dabei, stellen Sie Fragen,diskutieren Sie mit, live im Studio oder auch livevia Telephon unter 030 46400517. Auch da-für bekommen Sie die Studio-Karten nur [email protected].

    A l l e s h a t s e i n e Z e i tNatürlich fragen Sie sich jetzt ganz zu Recht, wasdas alles mit dem uralten trimedialen Medien-konzept zu tun hat und warum ich es am Anfangso ausführlich thematisierte. Weil uns Frau Dr.Marianne Koch und Werner Buchberger seit über15 Jahren vormachen, wie mit den Schnittmen-gen aus Radio, TV und Web wirklich erfolgreichund vor allem auch nachhaltig umgesetzt, Hö-rer, Zuschauer, Leser und Internet-Nutzer glei-chermaßen erreicht werden. Vom 15. Februaran wird die Sendung kaffee|bankrott talk an je-

    dem dritten Montag im Monat live für das TVund den Livestream auf ALEX aufgezeichnetund übertragen werden. Jede dieser Aufzeich-nungen wird nach ihrer Erstausstrahlung inder Mediathek von ALEX nach zu sehen undzu hören sein und entsprechend auf unserer

    Facebook-Seite verlinkt.

    Ein erster erfolgreicher Probelauf mit dem Jour-nalisten, Autor und Publizisten Jörg Thadeuszliegt bereits hinter uns. Ihm werden folgen AchimAchilles alias Hajo Schumacher, Rob Vegas, Die-ter Puhl von der Berliner Bahnhofsmission undDr. Ulrich Schneider, der Geschäftsführer desParitätischen Gesamtverbandes Deutschlandund einige mehr. Aber auch Sie sind gefragt, alsGast am Mikrophon. Stellen Sie sich live in derSendung vor, präsentieren Sie ihr Anliegen, er-zählen Sie uns Ihre Geschichte, machen Sie auf-merksam! Wie heißt es so poetisch: Kein Menschist eine Insel!

    Und hier noch ein kleiner TV-Tipp in eigenerSache. Am 31. Januar 2016 um 17 Uhr 55wird auf sat1 die Dokusoap »Von der Straßein den Job« ausgestrahlt. Drei »echte« Obdach-lose bekommen die einmalige Möglichkeit,sich über ein Praktikum in einem Vier-Sterne-Hotel für eine Anstellung zu empfehlen. EineChance womöglich? Die Begleitung durch einprofessionelles TV-Team ist Segen und Fluchgleichermaßen. Zu einem auch nachhaltig an-erkanntem Leben in unserer Gesellschaft, ge-hört mit Sicherheit mehr. Vieles davon wirdhier beispielhaft gezeigt, manches kann nurangerissen werden, und einige Aspekte bleibenunerwähnt. Kein Platz für gönnerhaft-butter-weiche Illusionen, dafür jede Menge Input fürkontroverse Diskussionen. Karikaur: OL

    Guido Fahrendholz mi dem Journalisen, Auor und Publizisen Jörg Thadeusz  (Quelle: Auor)  Jörg Thadeusz im Sudio von kaffee bankrot alk 

    (Quelle: Auor)

  • 8/20/2019 Aussenseiter - strassenfeger 2/2016

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      strassenfeger | Nr. | Januar - Februar | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    LESUN G & GESPRÄCH

    Ein sterbender MannMartin Walser liest aus seinem neuenRoman »Ein sterbender Mann«: Wegen eines Verrats will Theo Schadt,72, Hauptperson in Walsers Buch,Selbstmord begehen. Schadt hat sichin einem Online-Suizid-Forumangemeldet, wo man schreibt, waseinem geschehen ist und von Men-schen Antwort kriegt, die Ähnliches

    erfahren haben. Das gemeinsameThema: der Freitod. Doch dann tritteine Frau auf, und alles ist anders.Nach achtunddreißig Ehejahren ziehtTheo Schadt zu Hause aus. Sitte,Anstand, Moral, das gilt ihm nunnichts mehr. In seinem neuen Romanvariiert Walser sein großes Thema:Liebe und Leben.

    27. Januar, 20 Uhr

    Karen 8 Euro, 5 Euro (ermäßig)

    Lierarisches Colloquium BerlinAm Sandwerder 514109 Berlin-Wannsee

    Ino: www.lcb.deFoo: wikipedia

    VORTRAG

    Zwei Physiker – Zwei Standpunkte

    Ein Pro und Contra zur Energiewende und ihrerBedeutung für den Klimawandel mit den Argumen-ten der Wissenschaft, das versprechen zweinamhafte Physiker: Professor Wolfgang Eberhardtbeschäftigt sich seit Jahren mit Fragen zur Gewin-nung und Bereitstellung von Energie und hat alsMitglied und Sprecher des ForschungsverbundsErneuerbare Energien an der Erstellung vonKonzepten für die Energieversorgung der Zukunftmitgearbeitet. Sein Kontrahent Professor Ganteför