Baumeister 03/2016

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BAU MEISTER B3 März 16 113. JAHRGANG Das Architektur- Magazin Rotterdamer Würfelspiel D 15 EURO A,L 17 EURO I 19,50 EURO CH 23 SFR 4 194673 015006 03 + PETER HAIMERL HERZOG & DE MEURON PÁLMAR KRISTMUNDSSON KSP JÜRGEN ENGEL ARCHITEKTEN MARTE.MARTE PHILIPP MEUSER JOSEP MARÍA MONTANER OMA R3 ARCHITETTI ZANDERROTH ... ODER WARUM GUTE ARCHITEKTUR KLUGE BAUHERREN BRAUCHT

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Rotterdamer Würfelspiel – oder warum gute Architektur auch kluge Bauherren braucht.

Transcript of Baumeister 03/2016

Page 1: Baumeister 03/2016

B A UM E I S T E R

B3März 16

11 3 . J A H R G A N G

Das Architektur-Magazin

Rotterdamer Würfelspiel

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15

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P E T E R H A I M E R L

H E R Z O G & D E M E U R O N

PÁ L M A R K R I S T M U N D S S O N

K S P J Ü R G E N E N G E L A R C H I T E K T E N

M A R T E . M A R T E

P H I L I P P M E U S E R

J O S E P M A R Í A M O N T A N E R

O M A

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Z A N D E R R O T H

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O D E R W A R U M G U T E A R C H I T E K T U R

K L U G E B A U H E R R E N B R A U C H T

Page 2: Baumeister 03/2016

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10Marte MarteDie Vorarlberger lieben denWerkstoff Beton.

14Josep MaríaMontanerDer Architekt und Lehrer wirdStadtpolitiker und will in Barcelonaeiniges ändern.

16Pálmar KristmundssonIsländische Architektur mit japanischem Einfluss

22Gezähmtes GebirgeDie Stadtverwaltung Rotterdam lässt sich von OMA ein multifunktionales Haus bauen.

32Zu viel der FreiheitZusammen wohnen: Eine Berliner Bauherrengruppe beauftragte ZanderrothArchitekten mit einem Lückenfüller.

42BraunschweigerWasserspieleSchwieriger Anfang mit gutem Ende: Stadtbad von KSP Jürgen Engel Architekten

52RaumakrobatenR3 Architetti bauen sich ein Architekturbüro.

60Neues Herz für ColmarNicht nur Museum, auch Stadtmitte: Umbauvon „Unterlinden“ von Herzog & de Meuron

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Bernhard und Stefan Marte in ihrem Büro

2 1

Mitten in Rotterdam: Stadtverwaltung von OMA

Gemeinsam mit unserer Schwesterzeitschrift Topos haben wir die „Baumeister Topos Cities Initiative“ ge- gründet. Die hat nun auch einen eigenen Bereich auf unserer Website.

B A U M E I S T E R .

D E

Der Bauherr ist des Architek-ten Lieblings-feind. Die unterstriche-nen Beiträge rechts zeigen, dass gute Architektur auch mit komplizierten Bauherren geht. Nur der Weg dahin ist steinig.

Köpfe IdeenB3

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7 4

Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen

8 6

Viel Licht im März: auf der Light + Building 2016

86Licht

96ReferenzArno Brandlhubers „Antivilla“ mit Technik von Siedle

98Schalterund Gebäude-automation

R U B R I K E N

6

E I N B I L D

5 0

K L E I N E W E R K E

5 1

S O N D E R F Ü H R U N G

5 8

U N T E R W E G S

8 2

A R C H I T E K T U R & M A N A G E M E N T

1 0 3

I M P R E S S U M + V O R S C H A U

1 0 4

P O R T F O L I O :

F E N S T E R , T Ü R E N , T O R E

11 4

M A I L A N . . .

Jörn Frenzel ist Berliner Strate-gieentwickler und Architekt. Er ist Mitbegründer von vatnavinir (friends of water) – einer Platt-form, die sich mit Landschafts-entwicklung und Strategien rund um die heißen Badequel-len in Island befasst. Für uns sprach er Pálmar Kristmundsson in Reykjavík.

Die „Wasserwelt“ in Braun-schweig hat für uns Juliane Demel besucht. Sie hat dort und in Auckland Architektur studiert und ist – über einen Exkurs unter anderem nach Peking für ein Postgrad-Exchange – inzwi-schen im Büro Henning Larsen beschäftigt.

Fragen Lösungen

70Wo spielt die Musik in München?

74Brauchen wir den Wohnungsbau dritter Klasse?

76Die Flüchtlingskrise als Chance?

80Wie viel Gebäude-automation macht Sinn?

82Wie gestalten wir den Stadtumbau?

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as Büro von PK Arkitektar liegt in einem der wenig verdichteten Innenstadtviertel von Reykjavík am Rande der Altstadt, wo die Gebäude kaum älter sind als 100 Jahre. Das Bauen in Island hat sich hier von einfachen und naturverbundenen Torfhäusern zu gro-ßen Stahl-Glas-Beton-Bauten entwickelt, die Reykjavík bis zur großen Krise 2008 zu einer internationalen Metropole der Finanz-wikinger machen sollten – einer Art Luxem-burg des Nordens mit einer mobilen, inter-nationalen und designaffinen Einwohner-schaft. Darunter befindet sich der Turm von Höf!atorg aus der Feder von Pálmar Krist-mundsson – einem Architekten, der die Jah-re des Aufschwungs und besonders die 2000er Jahre in Island wie kaum ein anderer geprägt hat. Pálmar Kristmundsson wuchs in dem abge-legenen, doch aufgrund der Fischerei sehr internationalen Dorf "ingeyri in den West-fjorden Islands auf. Die Wirtschaft misst sich damals noch in Tonnen Fisch, und der Alltag in den Docks ist geprägt von harter Arbeit und rauen Seeleuten. Die Mechaniker und Schmiede des Orts sind für Kristmundsson bis heute wahre Erfinder – und die Land-schaft, das Meer und die Materialien seiner gebauten Umgebung prägen ihn früh. Es spricht für die Sensibilität seiner Architektur für Material und Detail, wenn er erzählt: „Als sie die alten Holzpiers im Hafen mit Stahl er-neuerten, wollte ich das Holz aufkaufen und wiederverwenden. Aber sie haben es ver-brannt.“Früh kam Kristmundsson hier auch mit Ja-pan in Kontakt, wo er später gut zwei Jahre studierte und arbeitete. In seiner Monogra-fie findet sich eine Kindheitsanekdote: Pál-mar fing mit seinen Freunden Tintenfische, indem sie am Strand ein Feuer entfachten, von dem die Tiere angelockt wurden und ih-nen so ins Netz gingen. Ein japanischer See-mann bat sie um einen Teil ihres Fangs. Zu ihrem großen Erstaunen benutzte er den Tin-tenfisch nicht als Köder zum Fischen, son-dern aß ihn. Es war damals unüblich in Is-land, Tintenfisch zu essen, und dann auch noch roh! Pálmar freundete sich mit dem Fremden an – und der zeigte ihm das Bild ei-nes typisch japanischen Raums mit Tatamis. Dieses Bild hinterließ einen tiefen Eindruck bei dem Jungen und war wohl ein erster Im-puls, Architektur zu studieren.

Erste Projekte

Nach dem Architekturstudium in Aarhus und Kopenhagen ging Kristmundsson mit einem Monbusho-Stipendium nach Tokio und blieb

DZwischen Natur und Kommerz

Reykjavík ent-wickelte sich in den 2000er Jahren zur inter-nationalen Metro-pole der Finanz-wikinger. Der isländische Architekt PálmarKristmundssonhat die Stadt während deswirtschaftlichen Aufschwungsgeprägt wie kein anderer.

Text:Jörn Frenzel

W E I T E R

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17Köpfe 4Rechts:

Pálmar Kristmundsson

gründete das Büro

PK Arkitektar 1986.

Mittlerweile führt er

es gemeinsam mit

dem Brasilianer Fer-

nando de Mendonca –

sie beschäftigen

15 Mitarbeiter.

Links und links oben:

Das Wohnhaus in

Brekkuskógur sieht

nicht nur grün aus – es

hat auch eine fast

makellose CO2-Bilanz. PO

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18 Köpfe 4Oben: der 19 Stock-

werke hohe Höf!atorg-

Komplex. Das Gebäu-

de entstand vor und

nach der Bankenkrise

von 2008 – und wurde

zu einem der kontro-

versesten Bauprojekte

Islands.

Die Kreativstation

Steypustö!din befindet

sich in den Westfjorden

Islands, wo Krist-

mundsson aufgewach-

sen ist. Der versiegelte

schwarze Kieselboden

im Innenraum scheint

in den schwarzen

Strand überzugehen. FOTO

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Page 7: Baumeister 03/2016

19danach noch fast zwei Jahre. Die Zeit in Ja-pan wurde – wie die Kindheit in "ingeyri – prägend für den Architekten, was sich in ei-ner minimalistischen Formensprache, hoher Präzision im Detail, dem Sinn für reine Mate-rialien und einer engen Beziehung des Ge-bäudes zu seiner Umgebung widerspiegelt. Das Gebäude B63 von 1999 auf Brunasta!ir ist eines der ersten Häuser, die Kristmunds-son auf diese Weise umsetzte. Der städti-sche Masterplan dieses Einfamilienhaus-viertels hatte eigentlich Garagenriegel als Schutz vor dem Nordwind mit dahinterlie-genden Wohnhäusern ohne nennenswerte Aussicht vorgesehen. Der Architekt drehte dieses Prinzip um, und somit erfreut sich das Haus am Ende der Sackgasse eines weit-schweifenden, völlig unbeeinträchtigten Blicks auf den Kollafjör!ur und die karge vulkanische Landschaft mit dem dramati-schen Hausberg Reykjavíks, dem Esja, im Hintergrund. Die präzise an den Ecken auf Gehrung geschnittene Basaltverkleidung des Hauptkörpers, die verzinkten Dachkan-ten und die vollverglaste, spiegelnde Nord-fassade integrieren das Gebäude in die windig-raue Landschaft. Im Kontrast zur dra-matischen Umgebung ist das Innere schlicht gehalten: Weiße Putzflächen setzen sich von Sichtbetonflächen und Iroko-Holzböden ab.

Auf dem Höhepunkt Viele Gebäude von PK Arkitektar haben seither in Island Standards gesetzt, wenn es um vollendetes, minimalistisches Design und Landschaftsbezug ging. Der schützen-de Betonpanzer des vielfach veröffentlich-ten Àrborg-Hauses steht hier mit an erster Stelle. Es darf mithin zu den modernen Ar-chitekturklassikern Islands gezählt werden. Das geschwungene Oberflächendetail, das an das allgegenwärtige Wellblech isländi-scher Hausfassaden erinnert, ist hier in Be-ton gegossen und findet sich auch am Tre-sen der Isländischen Botschaft (als Teil der Nordischen Botschaften) in Berlin.

ie eleganten, mit Liparit akzentuierten Vil-len für die zahlungskräftigen Klienten der Boomjahre führten schließlich auch zu dem bis dato größten Projekt des Büros, das Krist-mundsson mit seinem Partner, dem brasilia-nischen Architekten Fernando de Mendon-ca, ausführte: dem Höf!atorg-Komplex. Das Büro entwarf hierbei auch den Masterplan, auf dessen Grundlage zunächst der gläser-ne Büro- und Gewerbeturm Turninn Höf!a-torgi H1 und mittlerweile auch ein mit Alumi-nium verkleideter Hotelkomplex errichtet

wurden. Der Turm H1 ist durch sein Entstehen vor und nach der Bankenkrise 2008 und durch seine Höhe von 19 Stockwerken inklu-sive einer siebengeschossigen Basis zu ei-nem der ambitioniertesten, aber auch kon-troversesten Bauprojekte Islands geworden. In politischer Hinsicht ist das kommerzielle Bauprojekt großen Maßstabs, dessen Bau während der Rezession zunächst stillstand und erst 2010 fertig gestellt wurde, für viele Isländer zum Symbol zügelloser und überzo-gener Investoreninteressen geworden.

tädtebaulich wird der fortschreitende Ver-lust der dicht gewebten und (mit Ausnahme der Hallgrimskirkja) vorwiegend niedrig be-bauten Altstadtstruktur beklagt. Der Turm orientiert sich städtebaulich und gestalte-risch nicht an der niedrigen Stadtstruktur, sondern an seinem weiteren geografischen und topografischen Kontext: dem Meer, dem Himmel und den Bergen im Hinter-grund mit dem Berg Esja als Reykjavíks na-türlicher Landmarke.Die Fassade des Turms versucht, diese Umgebung durch Lichtrefle-xe und Brechungen einzufangen sowie gleichzeitig seine Großmaßstäblichkeit zu brechen. In der Curtain Wall wechseln sich 1,5 x 3 Meter große Festverglasungen mit versetzten, vertikalen Glasschlitzen mit wechselnden Rücksprüngen ab und brin-gen somit Bewegung in die Fassade. Eine rau behauene Betongiebelwand des Sockelgebäudes kontrastiert direkt mit der glatten Glasoberfläche. Die Interieurs bie-ten unvergleichliche Ausblicke und sind sel-ber einfach gehalten: Holz- und Betonfuß-böden mit Besenstrich sowie die polierten Betonoberflächen des Kerns kontrastieren mit Trennwänden aus Glas und leuchtend weißen Putzwänden. Insgesamt ergeben sich Innenräume, die – wie bei Kristmunds-sons Einfamilienhäusern – Behaglichkeit und Schutz vor den nordischen Elementen in einer harten, widerstandsfähigen Schale bieten.Mittlerweile hat die isländische Konjunktur wieder Fahrt aufgenommen und PK Arkitek-tar haben verschiedene größere Projekte auf dem Tisch: Das Produktions- und Büro-gebäude für die Gentechnikfirma Alvogen nahe des Campus der Universität Islands befindet sich kurz vor Fertigstellung und weitere Gebäude im In- und Ausland sind in Arbeit. Auch kleinmaßstäblichere Projekte, welche den Bezug zur Natur und das bauli-che Erbe Islands wieder stärker suchen, wie die Ferienhütten der isländischen Akademi-kervereinigung in Brekkuskógur am See Laugarvatn, wurden 2015 abgeschlossen.

Überschüssiger Erdaushub dient hier als Schutzwall für Außenterrassen, und die Be-grünung geht in die Dächer über, wodurch die Hütten in der Landschaft „verschwin-den“. Die Fassaden sind mit angekohltem Hartholz, wie es zum Beispiel in Japan Ver-wendung findet, verkleidet, und das Ge-bäude hat mit seiner geothermischen Be-heizung eine fast makellose CO2-Bilanz.

Zurück in "ingeyri

Dieser Trend einer wieder verstärkten Hin-wendung zur Natur und den eigenen Wur-zeln in den Westfjorden ist nicht zufällig und zu einem gewissen Teil der Einsicht ge-schuldet, dass jeder künstlerische Gestal-tungswille des Einzelnen letztlich vor den Naturgewalten dieser Insel im Nordatlantik und dem Erfindertum und Überlebenswil-len seiner Bewohner zurücktreten muss. In diesem Sinne hat sich Pálmar Kristmunds-son ein kleines Ferienhaus auf dem Gelän-de einer ehemaligen Betonfabrik nahe sei-ner Heimatstadt gebaut und ist damit zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er hat die einfachste aller Strukturen, ein bestehen-des Betonhäuschen mit Satteldach, auf die ihm eigene Weise umgebaut: minimalis-tisch in den architektonischen Mitteln, sen-sibel dem Kontext gegenüber und durch-dacht bis in kleinste Detail. Steypustö!din – oder auch Kreativstation – ist eine mit Cortenstahl verkleidete Klause, die in der windumtoßten Landschaft am Dyrafjör!ur immer weiter verwittert und im Innenraum vorwiegend auf die Landschaft verweist: der versiegelte schwarze Kieselboden scheint durch das Panoramafenster hin-durch in den schwarzen Strand überzuge-hen, und weiter bis zum anthrazitfarbenen Ozean und den Tafelbergen dahinter. Es ist ein post-industrieller Ort der Verschmel-zung von Architektur und Natur und ein Ort der Heimkehr; oder in Pálmar Kristmunds-sons eigenen Worten: „Die Betonfabrik bei Sandasandur ist einer dieser missachteten Orte. Sie war einige Jahre verlassen und ging mir nicht mehr aus dem Sinn als einer der faszinierendsten und aberwitzigsten Schauplätze für Kreativität.“ D

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60 Ideen 5

Ein dreigeschossiger Neubau mit gotisch angehauchten Lichtschlitzen begrenzt nun einen Hof – als Pendant zum gegenüberliegenden Kloster.

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Neues Herz für

Colmar

Drei Jahre war es geschlossen, nun hat das Musée Unterlinden in Colmar wieder seine Tore geöffnet. Das „Schatzkästlein“ mit dem berühmten Isen-heimer Altar wurde für 44 Millionen Euro von den Baslern Herzog & de Meu-ron umgebaut und durch Neubauten erweitert: Es präsentiert sich in einem neuen städtebaulichen Kontext als kleines Museumsquartier.

Architekten:Herzog & de Meuron

Kritik:Karin Leydecker

Fotos:Ruedi Walti

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62 Ideen 5

Diesseits und jenseits des wieder ausgegrabenen Bachs: das Museum als städtebauliche Klammer

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Die Ausstellungsebenen werden über zwei imposante Wendeltreppen erschlossen.

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74 Fragen 2

Philipp Meuser plädiert für ein undogmatisches Vorgehen beim Bau von neuen Wohnungen, wenn der gegenwärtige Zuzug von Flücht-lingen als Chance für den Immobi lienmarkt genutzt werden soll.

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Brauchen wirden Wohnungsbau

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Erstaufnahme von Flüchtlingen im ehemaligen Flughafen Berlin Tempelhof

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Seien wir ehrlich: In den vergangenen Jah-ren ist der Wohnungsbau durch ordnungs-politische Vorgaben und Lobbyarbeit zu ei-nem Wirtschaftszweig verkommen, der von Finanzdienstleistern, Rechtsanwälten und Gutachtern dominiert wird. Das Ergebnis: exklusiver Wohnungsbau mit Quadratme-terpreisen von 4.000 Euro und mehr befrie-digt die Renditeerwartung anonymer Anla-gefonds. Sozialpolitisch sind sie ein Desas-ter, weil der Wohnungsbau für die untere Mittelschicht völlig zum Erliegen gekom-men ist. Es fehlen die Anreize für die freie Im-mobilienwirtschaft, Wohnungen im unteren Preissegment anzubieten. Das Wirtschaftsri-siko des Bauträgers ist bei niedrigeren Ver-kaufspreisen ungleich höher, selbst wenn der Gewinn gleich bleibt. Und welcher Ar-chitekt würde sich mit einer anspruchsvol-len Planung engagieren, wenn das Honorar bei gleichbleibender Komplexität der Auf-gabe auch monetär in den Bereich der Selbstausbeutung fällt? Wenn es in diesem Beitrag um die Forderung nach einem Wohnungsbau dritter Klasse geht, dann haben Sie sich nicht verlesen! Damit soll ein Neubaustandard gemeint sein, der das Angebot von frei finanziertem und sozial gefördertem Wohnungsbau um ein Segment ergänzt, das auf Eigenleistung und freier Entscheidung über den Ausbau basiert. Heißt im Klartext: Ich ziehe mit ei-nem kleinen Geldbeutel ein und entscheide im Laufe der Jahre, wie ich meine Wohnung nachrüste. Alles auf Basis von Eigentumsbil-dung, aber unterhalb des Sozialbaustan-dards. Die eigentliche Revolution und Vor-teil dieses Segments: Die Eigentumswoh-nung könnte schon für weniger als 1.000 Euro pro Quadratmeter verkauft werden. Wenn es gestalterisch gelingt, die Wohnein-heiten auf 30 Quadratmeter zu reduzieren, würde eine solche Wohnung weniger kosten als ein Mittelklassewagen mit Sitzheizung und Alufelgen. Da die Immobilienfinanzie-rung heute etwa 40 Prozent Eigenkapital for-dert, würden also 10.000 Euro für die Befrei-ung vom Mieterdasein ausreichen. Die Rest-summe dürfte sich finanzieren lassen. Auf dem Automobilmarkt funktioniert dies ja reibungslos mit konzerneigenen Banken.

Zugegebenermaßen reden wir hier über den Typus der Kleinstwohnung für Alleinste-hende mit (vorläufigem) Niedrigstandard, der aber durch Kombination mit anderen Einheiten im Handumdrehen familientaug-lich und nach eigenen Ausbauleistungen durchaus komfortabel werden kann. Wer in eine solche Wohnung einzöge, würde mög-l icherweise ein neues Verständnis von Wohnkultur entwickeln, und die Do-it-your-self-Kultur, die uns von Hornbach bis Ikea vorgelebt wird, hätte eine zusätzliche Ziel-gruppe. Vor allem aber wäre die Frage nach dem Ausbaustandard unabhängig von Ver-mietervorgaben oder Förderungsrichtlinien vom Bewohner zu beantworten. Wenn wir zu einem Planen und Bauen zurückfinden wol-len, das die Mindestanforderungen an ein würdevolles Wohnen erfüllt, dann wäre das ein Anfang. Würdevoll hieße hier, zu gerin-gen Kosten frei über die eigenen vier Wände entscheiden zu dürfen. Es geht keineswegs um Eichenparkett und Marmorbad! Besonders die zuzugsstarken Ballungszent-ren benötigen dringend zusätzlichen Wohn-raum, und diesen vor allem im Niedrigpreis-segment. Darüber sind sich alle Beteiligten einig, über den Weg dorthin wurde jedoch stark diskutiert. Wenn wir den gegenwärti-gen Zuzug von Flüchtlingen als Chance für den Immobilienmarkt nutzen wollen, brau-chen wir ein undogmatisches Vorgehen beim Bau von neuen Wohnungen. Das soll nicht bedeuten, dass die eingefahrenen, vielleicht auch etwas verstaubten Mecha-nismen kritisiert werden sollen. Wenn wir jetzt Wohnraum für mindestens eine Million Menschen schaffen müssen, dann ist das auch für die Entwicklung der deutschen Städte eine große Chance! Jetzt haben wir Entwicklungsdruck, jetzt können wir die grundsätzlichen Fragen stellen: Welche Vi-sion haben wir, wie wohnen wir im 21. Jahr-hundert? Es geht um Einkommensgruppen, die bis-lang in einer Debatte über Eigentumsbil-dung überhaupt nicht berücksichtigt wur-den. Familien oder Lebensgemeinschaften, die auf Wohnfläche und Standards verzich-ten zugunsten einer Unabhängigkeit von Vermietern und Altersarmut. Wir sprechen also von einem Wohnungsmarkt mit Einhei-ten von etwa 30, 60 oder 90 Quadratmetern – im Lebenszyklus zusammenschaltbar oder lebensabschnittsweise einzeln zu nutzen. Klar ist, dass sich Flüchtlinge und Migranten der ersten Generation diese Wohnungen nicht unbedingt leisten können. Aber die Gesamtlage würde sich entspannen, weil auch die untere Mittelschicht eine eigene Wohnung kaufen könnte, eben mit einem relativ geringen Standard. Unser kulturelles Verständnis vom Immobilienkauf gibt das aber gar nicht her. Wir brauchen eine Dis-kussion über Wohnungsstandards. Da ha-ben wir Architekten wegen des aktuellen Handlungsdrucks doch mal eine Chance!

Ziel muss eine Senkung der Standards sein: weniger Fläche, geringere Ausbauqualität, mehr industrielle Vorfertigung.Vielleicht können wir von anderen Ländern lernen, von China oder Russland. Wer dort eine Wohnung kauft, kauft in der Regel ei-nen Rohbau mit Heizung und Anschlüssen für Wasser, Strom und Gas. Der Ausbau liegt in der Verantwortung des Käufers. Wenn wir dahin kommen, dass Wohnungen nicht nur schlüsselfertig sondern vermehrt zum ei-genverantwortlichen Selbstausbau ange-boten werden, wäre ein erster Schritt getan. Wenn wir uns dann noch vorstellen, ein pri-vater Fernsehsender würde eine neue Serie für Heimwerker produzieren, würde auch das Wohnen dritter Klasse zum Teil unserer Wohnkultur werden. Nicht umsonst hat Mer-cedes seiner Kleinstwagenserie den Namen Smart gegeben. Intelligentes Bauen könnte zukünftig also bedeuten, die Kleinstwoh-nung wie beim Monopoly Schritt für Schritt aufzupimpen und durch Hinzukäufe in eine Wohnung der Oberklasse zu veredeln. Wir müssen also eine Diskussion führen über neue Typologien und Finanzierungsmodelle des kostengünstigen Wohnungsbaus.

Text:Philipp Meuser

Philipp Meuser,

Architekt und Verleger,

forscht derzeit unter

anderem zu den

Anwendungsmöglich-

keiten des industriellen

Wohnungsbaus. Sein

„Zeit“-Interview im

Herbst vergangenen

Jahres mit dem pro-

vokanten Titel „Ja zur

Platte!“ hat in der

Flüchtlingsdebatte

die Frage nach einer

Renaissance des

Plattenbaus wieder

auf die Tagesordnung

gebracht. Meuser,

geboren 1969, lebt und

arbeitet in Berlin.