Der Reiz des Neuen - Klüsener - Hausarbeit

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Hausarbeit Titel: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. Seminar: Der Reiz des Neuen bei: Dr. Philipp Schulte vorgelegt von: Ferdinand Klüsener (3. Semester MA ATW) / 2012 Ferdinand Klüsener Landgrafenstraße 4 35390 Gießen Tel.: 01732409993 Mail: [email protected]

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Hausarbeit Titel: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen.

Seminar: Der Reiz des Neuenbei: Dr. Philipp Schulte

vorgelegt von: Ferdinand Klüsener (3. Semester MA ATW) / 2012

Ferdinand Klüsener

Landgrafenstraße 435390 Gießen

Tel.: 01732409993Mail: [email protected]

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung! 3

I Das Neue und seine Kollateralschäden! 4

I.I Das Neue zwischen Moderne und Postmoderne! 4

I.II Das kinetische Subjekt des Aufbruchs! 5

I.III Der kinetische Überschuss des Neuen! 8

II Das Neue zwischen Archiv und Anarchiv! 10

II.I Das Neue und das Archiv! 10

II.II Das Anarchiv Internet! 11

II.III Das Neue jenseits der Archive und Anarchive !?! 14

III Von Valorisierungen und Zwischenräumen! 16

III.I Das Neue und seine Ökonomie! 16

III.II Der Ort des Neuen! 18

III.III Das Valorisierte und das Neue! 20

Abschlussbemerkung / Fazit! 21

Quellenverzeichnis ! 23

Literatur! 23

Onlinepublikationen! 24

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Einleitung

Die Hausarbeit nimmt ihren Ursprung in der ersten Sitzung des Seminars Der Reiz des Neuen. Recht rasch hatte ich festgestellt, dass mich an den Begriffen und Konzepten, die sich aus dem ominösen Feld, dass mit „neu“ umschrieben werden kann am vornehmlichsten eine, wenn man so will, postkoloniale Perspektive interessiert. Diese Perspektive ließ sich vermutlich auch, da ich mich noch nicht ordentlich in das Thema eingelesen hatte, nur schwerlich bis gar nicht in den Seminardiskurs integrieren. Ich habe mir diese Hausarbeit zum Anlass genommen meine offenen Fragen und auch mein Anliegen bezüglich dieses Problemkomplexes anzugehen. Mein Interesse wurde geweckt von einem sehr spezifischen literaturwissenschaftlichen Aufsatz von Jörn Etzold, der sich auf reizvolle Weise dem Neuen als emblematische Erscheinung der Moderne nähert und postkoloniale Kritik daran übt.Zweiter Strang dieser Hausarbeit ist das Buch Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie von Boris Groys. Einige Seiten aus Boris Groys dienten als einleitende Lektüre zu Seminarbeginn und haben mich in ihrem, vielleicht larmoyanten Ton, dazu angeregt, dass Buch ganz zu lesen, um in Form dieser Hausarbeit den Versuch einer Kritik zu unternehmen. Während der Recherche und während der Lektüre haben sich drei Bereiche des Gedankenkomplexes von Groys herauskristallisiert, die meiner Einschätzung nach eine zentrale Stellung in diesem Text einnehmen. Die Hausarbeit setzt in drei Kapiteln an diesen drei Komplexen an. Diese Hausarbeit häuft Material an und stellt Fragen. Im Idealfall sollte die Hausarbeit etwas über das Neue herausfinden und Kritikpunkte an Groys Über das Neue zur Disposition stellen. Bei diesen drei Diskussionsgegenständen handelt es sich zu einem, um die Rolle des Neuen in der Moderne, zum anderen um die Rolle des Archivs im Hinblick auf einen Begriff des Neuen und im weiteren um die tatsächliche Verortung des Neuen (Wo hat das Neue eigentlich zu sein ?).

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I Das Neue und seine KollateralschädenI.I Das Neue zwischen Moderne und Postmoderne

„Die Produktion des Neuen ist die Forderung, der sich jeder unterwerfen muß, um in der Kultur die Anerkennung zu finden, die er anstrebt - andernfalls wäre es sinnlos, sich mit den Angelegenheiten der Kultur auseinanderzusetzen. Das Streben nach dem Neuen um des Neuen willen ist ein Gesetz, das auch in der Postmoderne gilt, nachdem alle Hoffnungen auf die neue Offenbarung des Verborgenen und auf den zielgerichteten Progreß verabschiedet worden sind. [....] Es gibt keine Möglichkeit, die Regeln des Neuen zu brechen, denn ein solcher Bruch ist genau das, was die Regeln erfordern. Und in diesem Sinne ist die Forderung nach Innovation, wenn man will, die einzige Realität, die in der Kultur zum Ausdruck gebracht wird.“ 1

Dem obigen Zitat ist zu entnehmen, dass das Neue ein Instrument ist, um Anerkennung zu erlangen, dass es sich im Zentrum der Kultur befindet, und dass es in der Postmoderne fortbesteht. Boris Groys legt in seinem Buch Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie nahe, dass das Neue in der Moderne die Zukunft impliziert und Gegenwart und Vergangenheit beendet. Jegliche traditionelle Forderung nach dem Erhalt kultureller Werte sei in der Moderne von einem Imperativ zur Innovation abgelöst worden.2 Das Neue, so Groys, sei Resultat der „Regeln, die das Funktionieren unserer Kultur bestimmen“.3

Groys unternimmt die Betrachtung und Differenzierung des Neuen unter den Fixsternen Moderne und Postmoderne.4 Im einführenden Zitat definiert er das Neue als ein Gesetz, dass sich von Offenbarungen und Teleologie losgesagt hat. Von der Essenz oder ontologischen Qualität, dem modernistische Streben nach der Wahrheit spricht er das postmoderne Neue frei. Groys schreibt: „Diese so verbreitete und scheinbar sogar unverzichtbare Glorifizierung des Neuen als Wahren und Zukunftsbestimmenden bleibt wesentlich an das alte Kulturverständnis gebunden[...]“.5 Das Streben nach kultureller

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1 Boris Groys: „Einführung“, in: ders.: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Carl Hanser Verlag 1992, S. 9 - 20, hier: S. 11f.

2 Vgl. ebenda S. 10.

3 Ebenda S. 11.

4 Die Begriffe Moderne und Postmoderne sind stark miteinander verschränkt und haben eine schwer aufzulösende Begriffsgeschichte. In seiner Überblicksdarstellung Postmoderne verweist Roger Behrens zum einen auf die kritische Haltung der Postmoderne gegenüber der Moderne und definiert im Weiteren Postmoderne wie folgt: „Postmoderne ist ein ambivalenter Begriff, der genauso ambivalent ist wie die postmoderne Zeit, die schließlich die Postmoderne hervorgebracht, verbreitet und zur Mode erklärt hat. Die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition der Postmoderne ist zugleich ihre einzig mögliche Definition.“ (Roger Behrens: „Zum Anfang: Nach der Postmoderne ist vor der Postmoderne.“, in: ders.: Postmoderne. 2. korr. Auflage, Hamburg: europäische Verlagsanstalt 2008 [2004], S. 6 - 11, hier S. 8. ) Die Arbeit am Begriff der Moderne ist gewissermaßen Gegenstand der Arbeit. Der Begriff der Postmoderne wird in den entsprechenden Abschnitten entsprechend der zitierten Autoren verwendet, um der von Behrens angesprochenen Mehrdeutigkeit Rechnung zu tragen.

5 Boris Groys: „Einführung“, S. 11.

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Anerkennung habe sich in der Postmoderne vom modernen Streben nach der Abbildung einer verborgenen Wahrheit abgelöst.6 Das Neue sei allerdings nicht bloßer Selbstzweck.Groys bestimmt das Neue abseits der kunsthistorischen Diskurse um Moderne und Postmoderne vor Allem als ökonomische Praxis im Wechselspiel kultureller Werthierachien. Das Neue ist für Groys im Kern ökonomisch. Die Rolle des Alten ist die des Ausgestoßenen oder unter dem Neuen subsumierten. Es kann für Groys nur Gegenstand der Verachtung oder nichtexistent sein: Es wird nicht bevorzugt, oder es erscheint im glücklichen Moment seiner Bevorzugung als radikal distinguierte Bewegung der Neuerer. Die Bevorzugung des Alten sei eine äußerst Neue Haltung und stelle auch nur einen Bruch der Regel dar. 7

I.II Das kinetische Subjekt des Aufbruchs

„Ich komme nun zur Frage der Moderne. Harvie Ferguson schreibt, dass die >>Moderne eine neue Form der Subjektivität<< sei. Da, wie wir gesehen haben, Fergusson auch feststellt, dass das ewige Symbol der Moderne die Bewegung ist, folgt, dass die Moderne ihre Subjekte anruft, um sie als emblematische Darstellung ihres Wesens zu konstituieren: Mobilität. Die Subjektivität der Modernen ist ihre Bewegung[...].“ 8

André Lepecki liefert in >>Die politische Ontologie der Bewegung<< eine Darstellung einer

Debatte bezüglich der Ontologie der Moderne, die Boris Groys Verständnis von Moderne

und Postmoderne zu hinterfragen hilft.9

Lepecki beginnt seine Ausführungen mit der Darstellung einer imaginären Ontologie des

Tanzes, die an diesen die unabdingbare Forderung der flüssigen Bewegung herantrage.10

Lepecki fragt sich warum das Ausbleiben rhythmisch auf und ab springender Körper von

Kritikern und Rezipienten als vehemente Bedrohung empfunden werde.11 Er beantwortet

diese Frage vor Allem mit Verweisen auf Teresa Brennan12, Harvie Fergusson und Peter

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6 Vgl. ebenda S. 11.

7 Vgl. ebenda S. 12.

8 André Lepecki: „Einführung. Die politische Ontologie der Bewegung“, in: ders.: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Aus dem Englischen von Lilian Astrid Geese, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2006, S. 8 - 34, hier: S. 19.

9 Das Buch Exhausting dance. Performance and the politics of movement bzw. dessen deutsche Übersetzung OPTION TANZ. PERFORMANCE UND DIE POLITIK DER BEWEGUNG hat zunächst eine tanzwissenschaftliche Intention verweist allerdings auf eine Debatte, die nicht nur tanzwissenschaftliche Relevanz hat.

10 Vgl. ebenda S. 10.

11 Vgl. ebenda S. 13.

12 Brennan schreibt eine an der Psychoanalyse Lacans und an den christlichen Schriften von Augustinus orientierte Kritik der Moderne. (Vgl Teresa Brennan: Exhausting Modernity. grounds for a new economy, New York: Routledge 2000.) So wie Lepecki hervorhebt, dass er sich an ihrem Buch orientiert hat, um seine Arbeit zu betiteln, so habe ich mich für die Betitelung dieser Arbeit an den Büchern der beiden Wissenschaftler orientiert. Nach Exhausting Modernity und Exhausting dance wäre der adäquate Titel also so etwas wie Exhausting das Neue gewesen. Ich habe mich dann für die Übersetzung entschieden, für die sich auch Lepeckis Übersetzerin in den Anmerkungen zur Titelgestaltung entschieden hat, d..h. Das Neue ausloten (Vgl. André Lepecki: „Einführung. Die politische Ontologie der Bewegung“, S. 17.).

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Sloterdijk. Er arbeitet die flüssige Bewegung des Tanzes schließlich als emblematische

Figur eines umfangreiches Phänomens heraus. Die Bewegung an sich sei das Emblem

der Moderne.13 Er betont Slotedijks Rede von der Moderne als kinetischer Epoche bzw.

der Kinetik als ontologischer Basis der Moderne14 und verweist auf dessen Bestimmung

der Moderne als Sein-zur-Bewegung.15

Die Schriften von Peter Sloterdijk bestimmen das Phänomen der Bewegung und des

Aufbruchs oder, wie er schreibt der kopernikanischen Mobilmachung, in der Diskussion um

Moderne und Postmoderne. Sloterdijk schreibt:

„Es kommt anders, als man denkt, weil man die Rechnung ohne die Bewegung gemacht hat. Es kommt unweigerlich anders, weil man beim Herbeidenken und Herausbringen dessen, was kommen soll, immer auch etwas ins Laufen bringt, was man nicht gedacht, nicht gewollt, nicht berücksichtigt hat. Das läuft dann mit gefährlichem Eigensinn von selbst. Wir haben uns umstellt mit einer Epinatur aus Handlungsfolgen, die unserer >>geschichtemachenden<< Praxis wie eine sekundäre Physis entgleiten. Die selbstläufigen Folgen des modernen Weltprozesses, so sehen wir mit anschwellendem Unbehagen, übergreifen die kontrollierten Projekte;“ 16

In vormodernen Zeiten, so Sloterdijk, waren die Götter die Lenker des Geschicks. Die Moderne aber ist, wie er betont, das Zeitalter des Neuen, eines Neuen dessen Hervorbringung menschengemacht ist. Und das Subjekt der Moderne bzw. das Subjekt des Neuen gestaltet entsprechend dem eigenen Vorhaben und nach dem eigenen Willen.17 Sloterdijk schreibt: „Es ist der Wille zur Macht des Selberkönnens, der in moderner Zeit den Weltlauf laufen macht.“18 Für Sloterdijk handelt es sich um die Einrichtung der Welt durch den westlichen Menschen.19 Dessen Vorhaben formuliert er als kinetische Utopie der Moderne. Sloterdijk merkt an: „die gesamte Weltbewegung soll Ausführung unseres Entwurfs von ihr werden.“20 Wie er hervorhebt, werden so Geschichte und vor Allem Natur zum Gegenstand der menschlichen Planung und Gestaltung.21 Doch die Bewegung hat für Slotedijk auch Schattenseiten. Sie trägt immer ein gewisses Volumen an unvorhergesehenen Kollateraleffekten mit sich herum, die das gewollte

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13 Vgl. ebenda S. 16.

14 Vgl. ebenda S. 11.

15 Vgl. ebenda S. 16.

16 Peter Sloterdijk: „Neuzeit als Mobilmachung“, in: ders.: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 1989, S. 21 - 96, hier: S. 24.

17 Vgl. ebenda S. 22.

18 Ebenda S. 22.

19 Vgl. ebenda S. 22.

20 Ebenda S. 23.

21 Vgl. ebenda S. 23.

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übersteigen, unterlaufen oder begleiten und das Kontrollierbare als nur bedingt kontrollierbar entlarven. Mobilität wird zu polydirektionaler Heteromobilität.22 Hierbei sei die kinetische Utopie der Moderne offensichtlich geplatzt.23 24

Die postmoderne Perspektive ist für Sloterdijk das Passiv zum modernen Aktiv im Rahmen seines Vorhabens eine zeitgemäße kritische Theorie zu entwickeln, die der Moderne oder Postmoderne bzw. wie er schreibt >>Neuzeit<< Herr werden kann und „die stolzen Aktivsätze der Moderne in Passivsätze oder in unpersonale Wendungen umformt.“2526 Die Postmoderne versteht Sloterdijk hierbei als eine zweite Passivität, die sich allerdings von der vormodernen Passivität, die das Lenken den Göttern überließ unterscheidet, da sie aus einer Überforderung geboren wird, die aus den überraschenden Kollateralschäden der

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22 Vgl. ebenda S. 24.

23 Vgl. ebenda S. 26.

24 Sloterdijk verweist im zentralen Kapitel seines Buches Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung auf die Bedeutung von Nikolaus Kopernikus und dessen empirischer Untersuchungen an Hand derer er belegt habe, das die Erde nicht das Zentrum des Universum sei. (Vgl. Peter Sloterdijk: „III. Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung.“ , in: Peter ders.: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 1987, S. 49 - 76, hier S. 56.) Die Verarbeitung dieses „kopernikanische[n] Schocks“, (Ebenda S. 56.) dieser spontanen Ablösung einer sinnlich körperlichen Weltgewißheit, sieht er bis heute fortdauernd am Werk. Als entscheidendes Merkmal dieses kopernikanischen Schocks betont Sloterdijk, dass Welt und Sinne sich insofern aus ihrer symbiotischen Verbindung gelöst hätten, als das sich das Verhältnis von Welt und Sinneseindruck nun als Übersetzungsleistung gerierten. (Vgl. ebenda S. 57.) Sloterdijk schreibt: „Die Erde wälzt sich im leeren Raum um sich selbst nach vorn, wobei der irreführende Eindruck entsteht, wir sähen die Sonne aufgehen.“ (Ebenda S. 57) Diese Opposition der Seinsregime benennt Slotedijk mit der Begriffsopposition Ptolemäismus und Kopernikanismus. Das Fortschreiten des Prozesses der Kopernikanisierung sieht Sloterdijk hierbei hin zu einem freien Fall durch Entsubstantialisierung. (Vgl. ebenda S. 58.) Sloterdijk benennt die kantsche Kritik der Urteilskraft als Einführung der „kopernikanischen Reflexionsbrillen“ (Ebenda S. 59.) in die Philosophie und fügt seiner Aufzählung der kopernikanischen Unternehmungen die Tiefenpsychologie sowie die Analyse der Liebe als chemische Reaktion im Körper an. Als exponiertesten Vertreter dieser schockhaften Entlarvungsbewegung sieht Sloterdijk den ästhetischen Modernismus. Sloterdijk gibt an: „ Der ästhetische Modernismus verweigert die Unterstellung, daß es eine identifizierbare Natur gebe, die man nachahmen oder der man folgen können.“ (Ebenda S. 61.) Diese beschreibt er als zweite Geburt der Kunstgeschichte. Alles fühle sich „von >>Augenschein<< und >>Naturklang<<„ (Ebenda S. 61.) freigestellt, erneut an wie zum ersten Mal. (Vgl. ebenda S. 61.) Er bestimmt dies als permanenten Revolution und als permanente Auflösungsbewegung, die sich in dem Bewegungsvolumen und Beschleunigungen, die sie freisetze, selbst übersteige. Sloterdijk legt uns nahe diesen Siegeszug des Kopernikanismus mit Kriegsmetaphern (Und verweist damit auf eine Tradition, die der Begriffswelt der Moderne inhärent ist. So verweist u.a. Roger Behrens in dem Buch Postmoderne auf den Begriff Avantgarde. Der Begriff Avantgarde sei ein militärischer und bezeichne eine kleine Gruppe, die als Vorhut in feindliches Gebiet vorstößt . (Vgl. Roger Behrens: „Ästhetik nach der Kunst“, in: ders.: Postmoderne. 2. korr. Auflage, Hamburg: europäische Verlagsanstalt 2008 [2004], S. 49 - 53, hier S. 49. )). Sloterdijk legt uns nahe diesen Siegeszug des Kopernikanismus mit Kriegsmetaphern zu zu beschreiben und benennt ihn als kopernikanische Mobilmachung, da alles bis in den ekstatischen Schwindel durcheinandergewirbelt werde. (Vgl. Peter Sloterdijk: „III. Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung.“ S. 63.) Sloterdijk formuliert: „Mit Schwindel blickt das moderne Vorstellen der Welt in sein eigenes Können“ (Ebenda S. 63.) Als Gegenbewegung schlägt Slotedijk die „ptolemäische Abrüstung“ (Ebenda S. 65.) vor, dass heißt den Rückgang aus dem kopernikanischen Seinswirbel. Für Sloterdijk ist das „grundbegriffliche Gewebe“ der Kopernikanisierung oder Modernisierung von „Aufrüstungskategorien durchschossen“ (Ebenda S. 65). Er schlägt vor, sich dieser kriegerischen Mobilmachung durch eine Abrüstung zu widersetzen, die er als „Schule der Wahrnehmung, Lehre von Abrüstung, [...] und des Umgangs mit Kunst, Technik der Entbrutalisierung der Technik, ästhetische Ökonomie, Logik der Schonung, Wissenschaft vom Unterlassen“ (Ebenda S. 66.) versteht, da der kopernikanische Zustand des Schwindels und der Überforderung auf seine Art nur eine andere Form des Unwissens sei, wie es der Ptoelmäer vor den Entdeckungen von Kopernikus gefühlt habe. (Vgl. ebenda S. 66f.)

25 Peter Sloterdijk: „Neuzeit als Mobilmachung“, S. 28.

26 Entsprechend Behrens Überblicksdarstellung findet Sloterdijk sich mit den zitierten Veröffentlichungen von 1987 und 1989 auf der Höhe der Zeit. Wenn nicht sogar ein wenig verspätet. Behrens schreibt bezüglich der achtziger Jahre: „Alles spricht für die Krise der Moderne und ein endgültiges Ende des Fortschrittsoptimismus[...]“ (Roger Behrens: „Die postmodernen Jahre.“, in: ders.: Postmoderne. 2. korr. Auflage, Hamburg: europäische Verlagsanstalt 2008 [2004], S. 67 - 72, hier S. 68.) Behrens diagnostiziert im Hinblick auf Tschernobyl, ökologischen Raubbau und eine sich abzeichnende Klimakatastrophe. Er versteht die Postmoderne an dieser Stelle als kritische und historische aus den Zeichen der Zeit geborenen Positionierung gegenüber dem Aufbruchsoptimismus der Moderne.

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Moderne geboren wird.27 Als für ihn fundamentale Grundlage für eine Kritik hebt er hierbei die Kinetik hervor. Eine kritische Theorie müsse, laut Sloterdijk, das Augenmerk im Besonderen auf das legen, was die ambitionierten Vorhaben der Moderne unterschlügen. Dies sei zum einen der kinetische Imperativ und zum anderen seine Kollateralschäden. Der Seiteneffekt des ,mehr an Bewegung“ produziere einen kinetischen Überschuss. Dieser ist es, der für Sloterdijk die Geschichte aus dem Ruder laufen lässt. Dieses kinetische Kapital führe zu einer Postmoderne im Bewegungstaumel, der ökologische Faktoren und moralische Faktoren einfach hinwegsprenge. Sloterdijk gibt an: „Das kinetische Kapital sprengt alte Welten in die Luft - es hat nichts gegen sie, es ist nur sein Prinzip, sich nicht aufhalten zu lassen.“28 Er bestimmt mit Fergusson die Moderne als neue Form der Subjektivität und konstatiert im Hinblick auf Althussers Theorie der Anrufung die Subjekte der Moderne als Subjekte der Motilität und Bewegung.29 Dies laufe auf den Imperativ hinaus sich ständig in Bewegung zu befinden.30

I.III Der kinetische Überschuss des Neuen

Dort wo Sloterdijk die Kinetik als Essenz der Moderne ausmacht, mokiert sich Groys über die essentiellen Orientierungen der Moderne und empfängt die Postmoderne als verschmutztes (bzw. von Essenzen gereinigtes) Spiel des Neuen, dass nun endlich dessen Orientierung an Ökonomie und Werthierarchien zu Tage treten lässt. So intensiv Groys auch in seiner Betonung der ökonomischen Faktoren des Neuen zuzustimmen sein mag, so stark divergiert sein Begriff der Postmoderne von dem Sloterdijks. Betont Sloterdijks Postmoderne doch gerade die Brüche und Stauungen, als auch den Energieüberschuss der Moderne, der in der Postmoderne zum Vorschein kommt. Die Frage, die entsprechend Sloterdijks Überlegungen an Groys Text gestellt werden muss, ist also zunächst: Ist Groys Verständnis der Postmoderne tatsächlich eines, dass die Moderne hinter sich lässt, oder lässt Groys Postmoderne den Imperativ der Bewegung und damit die Subjektivierungsstrategien der Moderne vielmehr in Reinform zu Tage treten? Und inwiefern unterschlägt Groys die Kollateralschaden der Raserei?

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27 vgl. Peter Sloterdijk: „Neuzeit als Mobilmachung“, S. 28f.

28 ebenda S. 30.

29 vgl. André Lepecki: „Einführung. Die politische Ontologie der Bewegung“, S. 19.

30 vgl. ebenda, S. 19.

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Es scheint als zeige sich in diesen divergierenden Begriffen von Postmoderne zum einen spätkapitalistische Fixierung auf Waren- und Fetischcharackter des Neuen (Groys) im Kontrast zu einer kulturkritischen Verlangsamungsutopie (Sloterdijk). Unabhängig von der Möglichkeit diese Opposition in einem gestellten Streitgespräch auf der Bühne dieser Arbeit aufzulösen, scheinen Sloterdijks kultur- und kapitalismuskritischen Ausführungen eine Frage an Groys Begriff des Neuen heranzutragen, die hierbei verschiedene Strata eröffnet, die sich durch Wissensgebiete ziehen, die bis hierhin nur bedingt, mit diesem, Groys Konzept des Neuen verbunden sind. Es handelt sich um das mehr an Bewegung und den hierdurch verursachten Kollateralschaden, der bei Groys Überlegungen offensichtlich unter den Tisch fällt. So gelingt es ihm schließlich auf Seite 81 die Landnahme Amerikas durch Europa mit fast zynischer Nonchalance als Beleg seiner Theorie zu werten, wohingegen die „teilweise Vernichtung“ ganzer Völker ihm genau diese kurzen zwei Wörter wert ist und hinter den Innovationscharakter das Neuen zurücktritt. Es geht hier nicht darum in esoterischer Manier das Leid der Welt als Argument aufzuführen. Vielmehr dürfte dennoch deutlich werden, dass die Unterschlagung dessen, was die Bewegung an Überschuss oder Kollateralschaden produziert, das Licht auf jenes, ohne das die Kultur und die Arbeit der Kulturschaffenden nach Groys Ansicht sinnlos ist, zumindest verfärbt, und seine euphorische Situierung des Neuen im ökonomischen Spiel der Werthierachien ins Licht der Kritik rückt.31 32

Anbei stellt sich die Frage warum es denn nicht möglich sein kann, dass das Neue und das Alte einfach im Modus des, wie Jean Luc Nancy es nennt Mit-Seins, friedlich koexistieren (genauso im übrigen wie das Schnelle und das Langsame) ohne sich in das Verhältnis des Ab- und Aufwertens setzten zu müssen. Es erschließt sich auch nicht, warum es nicht kulturelle Werte geben kann, die nicht für das ewigen Überdauern die Eintragung ins Archiv anstreben.33

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31 Genauso nonchalant im übrigen, wie Groys in seiner neusten Publikation Google: Words beyond Grammar / Google: Worte jenseits der Grammatik den Google zugrunde liegenden Dispositiv des Zugriffs auf im Internet gespeicherte Worte für einen adäquaten Ersatz für poststrukturalistische Theorie hält. Es ist nicht so, dass einem Groys Strategie der Ironie entgehen könnte (Vgl. Groys, Boris: Google: Words beyond Grammar / Google: Worte jenseits der Grammatik, Ostfildern: Hatje Cantz 2011.)

32 Es ist offensichtlich, dass es merkwürdig anmutet, Groys verhältnismäßig aktuelle Ausführungen mit Texten aus den neunziger Jahren zu begegnen, damit also Texten, die gerade nicht mehr Neu sind. Dennoch hat Lepecki diesen Diskurs mit seiner ungleich neueren Veröffentlichung wieder Salonfähig gemacht. Im weiteren könnte man eine bestimmte historische Analogie bzw. Naturkatastrophen, erstarkenden ökologischen Bewegungen usw. konstatieren.

33 Jean Luc Nancy schreibt: „Aber die Rose wächst grundlos, weil sie zusammen mit der Reseda, der Hekkenrose und der Distel - dem Kristall und dem Seepferdchen, dem Menschen und seinen Erfindungen wächst. Und das Ganze des Seienden, Natur und Geschichte, ergibt kein Zusammen, dessen Totalität ohne Grund oder nicht ohne Grund ist. Das Ganze des Seinenden ist sein eigener Grund [...] Es ist seine eigene Dis-Position als Pluralität von Singularitäten.“ (Ebenda S. 134)

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II Das Neue zwischen Archiv und AnarchivII.I Das Neue und das Archiv

„Zugleich läßt sich gerade in unserer Zeit eine allmähliche weltweite Universalisierung und Formalisierung der kulturellen Archive feststellen. Ein Einheitssystem aus Museen, Bibliotheken und anderen Einrichtungen zur Aufbewahrung von kultureller Information sondert sich immer mehr von den konkreten nationalen Kulturen ab und begründet einen gemeinsamen Fundus dessen, was als kulturell wertvoll und bewahrenswert gilt. Nur im Kontext dieser werthierarchich aufgebauten Archive kann man wirklich sinnvoll über das Neue sprechen.“ 34

Für Boris Groys ist das Archiv von fundamentaler Relevanz für das Neue. Abseits des Archivs könne man nicht mal vom Neuen sprechen. Groys betont hierbei die hierarchische

Struktur sowohl der Kultur als auch der Archive bzw. der sie betreuenden Institutionen.

Auch wenn er die Existenz von Subkulturen und die Heterogenität der Kulturen zur

Kenntnis nimmt, ließe sich eine zunehmende Universalisierung und Globalisierung der

Archive beobachten.35 36

Das Neue sei hierbei das, wovon man nur im Hinblick auf die Archive sinnvoll sprechen

könne, da es die Integration ins Archiv sei und von Wert künde. Erst wenn der Erhalt der Kultur gesichert sei (und das Archiv sei Garant dieser Sicherung), erwacht für Groys das Interesse am Neuen. Daher sei das Archiv das Fundament, in dem das Neue sich in zyklischen Rhythmen aufbäumen kann.37 Ohne Archive liege der Fokus auf der Weitervermittlung der „intakten Tradition“38. Genealogisch betrachtet gäbe es Interesse am Neuen erst, wenn „die Erhaltung des Alten technisch und zivilisatorisch gesichert zu sein scheint“39 Groys distanziert seinen Begriff des Neuen hierbei explizit vom „bloß“ anderen. Denn es gäbe das beachtete Andere der Tradition und das unbeachtete Andere der Tradition. In

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34 Boris Groys: „Innovationsstrategien“, in: ders: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Carl Hanser Verlag 1992, S. 53 - 116, hier: S. 55.

35 vgl. ebenda S. 55.

36 Sowohl Isabelle Graw als auch Hito Steyerl bestätigen diese Einschätzung von Groys. Bei Steyerl erfährt sie aber auch eine Historisierung. Graw schreibt 2005: „Das macht ihre Aktualität aus, denn wir befinden uns heute in einer Situation, in der das ehemalige Galeriensystem mit seinen typischen Einzelhandelsstrukturen durch Machtkonglomerate im großen Stil, zum Beispiel bei Hauser & Wirth & Zwirner oder Gagosian abgelöst wurde.“ (Graw, Isabelle: „Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art, in: dieselbe (Hg.): Texte zur Kunst. Heft Nr. 59, Berlin: Texte zur Kunst Verlag GMBH & CO. KG September 2005. / online: http://www.textezurkunst.de/59/jenseits-der-institutionskritik/ abgerufen: Sonntag 29. April 2012 20:01). Hito Steyerl hingegen historisiert diese Beobachtung in ihrer Aufarbeitung der Wellen der Institutionskritik. Für sie dürfte Groys Beobachtung in ihre zweite Welle der Institutionskritik fallen, die sich für Steyerl dadurch auszeichnete, dass der nationale Kulturbereich auf Grund der Globalisierung zunehmend an Bedeutung verliert. Dies ist für Steyerls 2006 veröffentlichten Text >>Die Institution der Kritik<< allerdings nicht der momentane Stand der Entwicklung. (Hito Steyerl: „Die Kritik der Institutionen“, in: europäisches Institut für progressive Kulturpolitik / http://eipcp.net/transversal/0106/steyerl/de, aufgerufen: Sonntag 29. April 2012 / 22:07 Uhr.)

37 vgl. Boris Groys: „Das Neue im Archiv“, in: ders.: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Carl Hanser Verlag 1992, S. 21 - 52, hier: S. 23.

38 Ebenda S. 23.

39 Ebenda S. 23.

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diesem Unterschied sieht er auch das Kriterium für die Aufnahme des Neuen in das Archiv40. Das Archiv, dass sind „Bibliotheken, Museen, Filmotheken“41 und auch „ein ideologisch neutrales, rein technisches System, in dem ein bestimmtes Kontingent an kultureller Information aufbewahrt, verbreitet und an die Zukunft weitergegeben wird.“42 Das Entstehen des Neuen sei hierbei kein passiver Akt der Selbstvergessenheit, sondern eine aktive Unternehmung. Diese Unternehmung sei ein vergleichender Tauschakt und es sei das Archiv, welches den Tauschakt als „historische[n] Vergleich“43 ermögliche. Für Groys ist Kultur die ökonomische Logik des Neuen selbst. Daher sei es auch die Aufnahme in das Archiv, dass einen hohen Wert und eine gute Markposition garantiere.44 Um dies näher zu erläutern differenziert Groys zwischen Archiv und profanem Raum. Der

profane Raum sei hierbei entgegen dem hierachisierten und sortierten Archiv heterogen.

Der valorisierende Vergleich sei der Akt, der etwas in das Archiv integriere, und somit dem

heterogenen profanen Raum entreißen könne.45 Die kulturellen Werte einer Kultur seien

die Momente dieser Umwertungen und auch das Subjekt des valorisierenden Tauschs

verändere seinen Status vom profanen Subjekt zum kulturell relevanten Subjekt,46 sowie

ihm die Erschaffung des Neuen und die Eintragung des Neuen eine säkularisierte Form

der Unsterblichkeit gewähre.

Groys beschreibt die Archive als säkularisierte Kirchen und die Eintragung der Kunst als

Opfer. Sie ersetze die Religion mit einer säkularisierten Form der Transzendenz und der

individuellen Unsterblichkeit.47 Kunstwerke seien Opfer, die für die Unsterblichkeit

gebracht werden müssen.48

II.II Das Anarchiv Internet

Arlette Farge entfaltet ihren Archivbegriff zu Beginn ihres Textes Der Geschmack des

Archivs und betont dessen einzigartige Materialität, die sie mit Hilfe den Metaphern der

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 11

40 Vgl. ebenda S. 31.

41 Ebenda S. 31.

42 Ebenda S. 41.

43 Ebenda S. 35.

44 Vgl. ebenda S. 37.

45 Vgl. ebenda S. 56.

46 Vgl. ebenda S. 62.

47 Boris Groys: „Der innovative Tausch“, in: ders.: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Carl Hanser Verlag 1992, S. 117 - 164, hier: S. 134.

48 Vgl. ebenda S. 135.

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Flut, der Lawine, des Tauchens und des Ertrinkens umschreibt.49 Sie beschreibt das

unfassbare und überschäumende des Archivs im Bezug auf die Akten des Gerichts, doch

zumindest die Wahl ihrer Metaphern dürfte für jede Form des Archivs ein beachtliches

Potential als Bildspender entfalten. Nicht zuletzt verweist das Archiv auch immer auf das

Labyrinth und den ihm inhärenten Orientierungsverlust.50 Hiermit sind zwei Pole des

Archivs benannt: Ordnung und Unordnung. Die Welt strebt zur Unordnung. Das Archiv

strebt zur Ordnung. Doch hat diese Ordnung vielleicht die Form eines Labyrinths?

Alf Lüdtke diagnostiziert in seinem Aufsatz >>Archive und Sinnlichkeit<< das

konjunkturbedingte Schrumpfen der klassischen Archive.51 Das Internet, so Lüdtke, sei

hierbei eine Entwicklung in Richtung Geschwindigkeit und Verfügbarkeit und

Zugänglichkeit.52 Besonders betont er Pluralisierung von Informationen und

ihre ,unlöschbare‘ Erinner- und Verfügbarkeit.53 Auch in der Argumentation von Wolfgang

Ernst spielt das Internet eine große Rolle. Ernst vertritt hier die These, dass die mediale

Entwicklung das Archiv als Emblem alteuropäischer Speicherprivilegierung durch eine vom

Internet begünstigte „Medienkultur der permanenten Übertragung“54 abgelöst werde.

Hierbei betont er, dass eine Typologie des Archivs, die zwischen „Archiv, Bibliothek und Museum“55 unterscheidet im Hinblick auf elektronische Speichermedien hinfällig werde.

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 12

49 Vgl. Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs. Übersetzt von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Gött ingen: Wallstein Verlag 2011, S. 9.

50 Wolfgang Ernst: „Am Ende: digitale Anarchi(v)e“, in: ders.: Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 129 - 141, hier: S. 129.

51 Lüdtke befindet sich hiermit in dieser Veröffentlichung von 2011 auf einer argumentativen Linie mit Groys, Graw und Steyerl. (Vgl. hierbei Alf Lüdtke: „Archive und Sinnlichkeit“, in: Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs. Übersetzt von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke. Mit einem Nachwort von Alf Lüdtke, Göttingen: Wallstein Verlag 2011, S. 101 - 116, hier vor Allem S. 110.) Dieser Umstand wird von allen Autoren mehr oder weniger auf ein neoliberales wirtschaftliches Klima zurückgeführt und auch mehr oder weniger aus unterschiedlichen Motivationen begrüßt. Dort wo Groys die Ökonomie als metaphysisches Gesetz der Kunstwelt analysiert und die Kunstwelt daher auch gleich als gutes Beispiel für alle anderen Kategorien und Welten anführt, begrüßt Lüdtke die Entdeckung anderer unkonventionellerer Archive (Flohmärkte, Latrinen, die Antarktis, vgl. ebenda S. 101ff.) und deren Relevanz für die Geschichtsschreibung.

52 Lüdtke betont die klassische Funktion des Archivs als Institution mit Monopolanspruch (vgl. Alf Lüdtke: „Archive und Sinnlichkeit“, S. 110.). Im absolutistischen Staat habe es eine hegemoniale fast monolithische Stellung inne gehabt und ein Geheimnis um sich gemacht habe. Entsprechend auch Ernst, der auf Akten und Archive als ein Machtinstrument im Absolutismus verweist, dass nur Herrschern, Forschern aber nicht zugänglich war. (vgl. Wolfgang Ernst: „Mechanisierung des Archivs“, in: ders.: Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 1116 - 129, hier: S. 121.) Ernst betont die machterhaltende und machtorganisierende Funktion des Archivs: Er zeichnet hierbei eine Genealogie des Archivs, die dass vormoderne Archiv als Arbeitsspeicher der Macht begreift, auf die auch nur diese Zugriff hat. Die Öffnung der Archive für den Historiker und wissenschaftliche Zwecke sei, so Ernst, eine Sache der Moderne. (Wolfgang Ernst: „Die Mutter der Archive: Rom“, in: ders.: Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 68 - 73, hier: S. 69.) Heutzutage sei diese monolithische Form des Archivs aber „nurmehr eine unter anderen Formen des Archivs“ (Alf Lüdtke: „Archive und Sinnlichkeit“, S. 108.)

53 Vgl. ebenda S. 112.

54 Wolfgang Ernst: „Das Archiv transitiv schreiben“, in: ders.: Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 12 - 15, hier: S. 14.

55 Ebenda S. 13.

Page 13: Der Reiz des Neuen - Klüsener - Hausarbeit

Die arché56 des Archivs sei das Ordnen der Unordnung und der Überlebenswille dessen was vergehen muss.57 Doch diesen Impetus hält er im Hinblick auf das zukünftige mediale Sein für unfruchtbar.58 59

Wolfgang Ernst unterstreicht an Hand von Beispielen, wie der Bastille oder dem Vatikan in

Rom, dass Archive nicht nur Bollwerke des Gedächtnisses, sondern auch der Macht

sind.60 In Machtfragen habe das Archiv dem Staat hierbei als Arbeitsspeicher gedient, der

evtl. benötigte Rechtstitel und Unterlagen zur Verwendung bereit zu halten hatte. Diese

Verwendung des Archivs führt Ernst zu der Frage was ein Archiv wäre, dass keine so klare

Verwendung habe: „Was aber wäre Speicherung ohne Hierarchie, ohne Orientierung auf

ein Oeuvre - eine Art totale Reserve?“61 Er beantwortet diese Frage mit dem Internet, dass

er als dynamisches und chaotisches Archiv benennt.62 Dem Internet sei eine

„anarchivische Signatur“63 64 bereits eingeschrieben. Durch das Internet navigieren

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 13

56 Er nutzt den Begriff arché auch in seinem Text „Das Archiv als Gedächtnisort“. In diesem Text erläutert er die Herleitung von Martin Heidegger: „Martin Heidegger ermuntert uns, das griechische Wort >>arché<< im vollen Sinne zu verstehen. >Er nennt dasjenige, von woher etwas ausgeht. Aber dieses >von woher< wird im Ausgehen nicht zurückgelassen, vielmehr wird die >arché< zu, was das Verbum >archein< sagt, zu solchem, was herrscht.< Tragen und Durchherrschen bilden das mediale Dispositiv des Archivs.“ (Wolfgang Ernst „Das Archiv als Gedächtnisort“, in: Knut Ebeling, Stephan Günzel: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos Verlag 2009, S. 177 - 200, hier S. 177.) Auch Derrida verweist auf die arché am Boden des Archivs. In seiner Auseinandersetzung mit dem Wort, dem Begriff seiner Etymologie und seiner Genealogie verweist Derrida auf die Archonten, lateinische Magistratsangehörige, die das Recht hatten das Gesetz „geltend zu machen oder darzustellen“ ((Derrida, Jacques: „Dem Archiv verschrieben“ [Auszug aus Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann + Bose 1997], in: Knut Ebeling, Stephan Günzel: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos Verlag 2009, S. 177 - 200, S. 29 - 60, hier S. 32.) Ihr Haus hätte als Depot wichtiger Dokumente fungiert, über die diese Archonten die Interpretationsgewalt zum Zweck des Gesetzes innegehabt hätten (vgl. ebenda 32f.).

57 Bis hierhin argumentieren Groys und er auf einer Linie.

58 vgl. Wolfgang Ernst: „Das Archiv transitiv schreiben“, S. 13.

59 Eine ähnliche Ansicht teilt Derrida im Hinblick auf die E-Mail in einem Vortrag von 1994: „Doch privilegiere ich das Merkmal der E mail noch aus einem wichtigeren und offensichtlicheren Grunde: weil die elektronische Post heute mehr noch als das Fax dabei ist, den gesamten öffentlichen und privaten Raum der Menschheit und zunächst die Grenze zwischen dem Privaten, dem (privaten und öffentlichen) Geheimen und dem Öffentlichen oder Phänomenalen zu verwandeln. Es ist nicht nur eine Technik, im geläufigen und begrenzten Sinn dieses Ausdrucks: in einem unerhörten Rhythmus, gleichsam augenblicklich, muß diese instrumentelle Möglichkeit der Hervorbringung des Eindrucks, der Bewahrung und der Zerstörung des Archivs zwangsläufig von juridischen und folglich politischen Veränderungen begleitet werden.“ (Derrida, Jacques: „Dem Archiv verschrieben“, S. 29.)

60 vgl. Wolfgang Ernst: „Die Mutter der Archive: Rom“, S. 68.

61 Wolfgang Ernst: „Mechanisierung des Archivs“, S. 122.

62 Vgl. ebenda S. 120.

63 Wolfgang Ernst: „Am Ende: digitale Anarchi(v)e“, S. 131.

64 Der Anarchivbegriff beschreibt die individuelle Unordnung als Ordnung. Die prägnanteste Formulierung, der ich zum Thema Anarchiv begegnet bin, wird von dekonstrukte.de vorgeschlagen. Dort steht geschrieben: „Das Anarchiv überantwortet sich der wandernden Intuition des Intellektuellen, der zitierender Wegelagerer, plündernder Archäologe oder bergender Flaneur sein kann. Das solcherart entstehende Gedächtnis schreibt sein anarchisches Potenzial vom Wissen um die Zerbrechlichkeit jeder Tafel her. Da ein Gesetz des Gedächtnisses aber unhintergehbar bleibt, sei für das Anarchiv das folgende benannt: Bestandsaufnahme dessen, was darauf besteht, den Bestand zu verweigern.“ (Sebastian Dieterich, Leonhard Fuest, Johanna Langmaack, Matthias Mauser: „Anarchiv“, in: Leonhard Fuest: Dekonstrukte. Internetadresse: http://www.dekonstrukte.de/dekonstrukte/index.php?option=com_content&view=section&layout=blog&id=3&itemid=4 aufgerufen: Sonntag 29. April 2012 / 23:35 Uhr.)

Page 14: Der Reiz des Neuen - Klüsener - Hausarbeit

bedeute „sich in einem Labyrinth verirren zu lernen [...] [als] Kulturtechnik [...] als Form

einer Reise, deren Ziel man erst kennenlernen muß [...]“65.

Das Internet ist für Ernst eine topologische Struktur, die die Zeitlichkeit des Erlebten, dass

sich in der Archivierung niedergeschlagen hat anders spatialisiert als die, wie er schreibt,

europäische Papierkultur. Das Internet, so Ernst, sei kein Raum wie z.B. eine Bibliothek,

auf deren Bestände mit Hilfe von Siglen zugegriffen wird. Der Zugriff im Internet werde

stattdessen mit Adressen generiert. Derart geriere sich das Navigieren durch das World

Wide Web eher als dynamische Verknüpfungen an Knotenpunkten einer topologischen

Struktur. Das Internet sei kein Behälter, an dem Wissen klar räumlich angeordnet werde,

wie in einer Bibliothek, sondern eine topologische Struktur, die sich aus der Navigation

geriere.66 Ernst konstatiert hier eine veränderte Verfügbarkeit von Kulturwissen,67 die sich

durch Dynamik, Fluidität und vor Allem auch Partizipation auszeichne. Die von Ernst

durchaus auch utopisch idealisiert beschrieben wird: „am Ende steht seine Wiedergeburt

als Komponente einer Informationstheorie, welche die Unordnung selbst kultiviert.“68

II.III Das Neue jenseits der Archive und Anarchive !?

„So können in gewissen Situationen allein die Infragestellung der vorherrschenden Kanons, der Angriff auf den akzeptierten Konsens, das hartnäckige Festhalten an nicht ökonomischen Kriterien, die Verweigerung unterkomplexer kritischer Begrifflichkeiten, das Aufzeigen der Instrumentalisierbarkeit der Kritik oder das Verlassen dessen, was Bourdieu den "Raum des Möglichen" nannte, Horizonte des tatsächlich Machbaren und Denkbaren eröffnen und erweitern. Natürlich vermögen solche Formen der Kritik der Maschinerie keinen Einhalt zu gebieten. Was jedoch möglich ist: mit dem Glaubenssystem zu brechen, dessen Teil man zugleich ist - sei es nun der Glaube an "die Ökonomie" oder der nicht weniger dubiose, emphatische Glaube an Kunst. Beides pflegt davon abzulenken, dass in bestimmten künstlerischen Arbeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich etwas auf dem Spiel steht.“ 69

Dieses Zitat von Isabelle Graw steht am Beginn des abschließenden Abschnitts dieses Kapitels, weil es sich sowohl vom Glauben an die Ökonomie als auch vom Glauben an die Kunst distanziert und stattdessen empfiehlt, sich neben dem Raum des Möglichen zu platzieren. Das Zitat gibt hiermit die Stoßrichtung des Arguments, dass mit diesem Kapitel >>Das Neue zwischen Archiv und Anarchiv<< skizziert werden sollte, vorgibt.

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 14

65 Wolfgang Ernst: „Am Ende: digitale Anarchi(v)e“, S. 132.

66 Vgl. ebenda S. 131f.

67 Im abschließenden Kapitel seines Buches differenziert er zwischen Internet und ,klassischem‘ Archiv mit u.a. folgenden Attributen: permanente Evaluation und Redaktion vs. Drucklegung. überwiegend generative Lektüre vs. überwiegend read only. dynamisches Archiv vs. totes Archiv. Verfügbarkeit von Vorstufen und Entwürfen vs. konkreter medialer Körper. Algorithmische Informationsgenerierung vs. im Speicher festgelegte Datenkombinationen. Nahtlose Verknüpfbarkeit vs. lineare Struktur. Gedächtnis der Verarbeitungsprogamme vs. kollektives Gedächtnis im anthropologischen Sinn. rigide in der Tiefenstruktur69 vs. rigide an der Oberfläche. mnemotechnische Dynamik vs. druckbasiertes kulturelles Gedächtnis. Gedächtnisprozess vs. Gedächtnisobjekte (vgl. ebenda S. 129ff.).

68 Ebenda S. 141.

69 Isabelle Graw: „Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art“.

Page 15: Der Reiz des Neuen - Klüsener - Hausarbeit

Jenseits der Utopien des totalen Marktes oder des totalen Chaos sollte deutlich geworden sein, dass Groys Ausführungen mehr Hegemonie- oder Ironieanspruch ausstrahlen als Überzeugungskraft. Groys Überlegungen lassen sich auch entsprechend Fussnote 53 als eine bestimmte Bewegung in der Auseinandersetzung mit den Institutionen und der entsprechenden Kritik bzw. Affirmation historisieren.In der Gegenüberstellung beider Modelle sollte entsprechend deutlich geworden sein, dass Groys Archivbegriff sicherlich vieles ist, nur nicht auf der Höhe der Zeit. Denn selbst, wenn das Internet nicht das totale Anarchiv ist, wie es sich in den Überlegungen von Wolfgang Ernst geriert, konnte aufgezeigt werden, dass unterschiedlichste Autoren zur Kenntnis geben, dass das Internet den Umgang mit Informationen, ihrer Produktion, Distribution und Anordnung verändert hat und immer noch verändert. Auch macht der Groyssche Archivbegriff sich zumindest solange angreifbar, wie er ohne konkrete Analysen des Archivs, als das vielleicht der gesamte Kunstmarkt und seine Interessenkonglumerate bezeichnet werden müsste, auskommt.70 Solange Groys ohne diese spezifischen Nachweise auskommt, können seine Behauptungen sehr gut durch Gegenbehauptungen außer Kraft gesetzt werden. Als Archiv einfach nur Museen und Bibliotheken zu begreifen,

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 15

70 Steyerl stellt in ihrem Text „Die Institution der Kritik“ die Frage nach dem Verhältnis von Kritik und Institution und liefert zu diesem Zweck auch eine kurze Darstellung, dessen was bis heutehin Institutionskritik gewesen sei. (vgl. Steyerl, Hito: „Die Kritik der Institutionen“ Die ganze Fußnote bezieht sich auf den Text von Steyerl. Da es keine Seitenzahlen gibt, verzichte ich auf weitere Verweise) In ihren Ausführungen fragt sie nach der Rolle der jeweiligen Funktionen, der Position der Kritiker, der Verhältnisse zum öffentlichen Raum, sowie den produzierten Subjektivitäten. Steyerl betont, dass Institutionskritik spezifische „politische, soziale oder individuelle Subjekte“ produziert. Die erste Welle der Kulturkritik habe sich hierbei gegen die Autorität kultureller Institutionen im Nationalstaat gerichtet. Sie betont, die Rolle des Museums in der Narrativierung und Fundierung der kolonialer Nationalstaaten und die damit einhergehende „autoritäre Legitimation des Nationalstaats durch die kulturelle Institution“ Entsprechend dem demokratischen Anspruch der Nationalstaaten betrafen die Forderungen der ersten Kritikwelle die Demokratisierung der Kulturinstitutionen und damit die Integration von Diskriminierten und Minderheiten. Angestrebt war laut Steyerl insofern die Präsenz in der kulturellen steuergeldlich finanzierten Institution „als eine mögliche Öffentlichkeit“ gewesen. Steyerl bestimmt diese erste Welle der Kritik als soziale Bewegung innerhalb des Kunstfeldes.Bezüglich einer zweiten Welle der Kritik der Kulturinstitutionen gibt Steyerl zu Protokoll, dass eine Form der rechtsbürgerlichen Kritik die Kulturinstitution als öffentlichen Raum akzeptierte, ihn aber zugleich in einen ökonomischen Raum transponierte, wobei die Kritik an der autoritären Struktur der Institution weiterhin bestanden habe. Steyerl schreibt: „Die Bourgeoisie hatte gewissermaßen beschlossen, dass in ihrer Sicht eine kulturelle Institution eine ökonomische Institution war und daher den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen sei.“ Steyerl argumentiert, dass der nationale Kulturbereich auf Grund der Globalisierung zunehmend an Bedeutung verloren habe. Die Kulturinstitutionen hätten ihre Relevanz im Hinblick auf den Zusammenhalt der Nation verloren. Die nationale Identität sei im Prozeß der Globalisierung mehrheitlich als attraktiver Markwert relevant. Die Kritik sei in dieser zweiten Welle hauptsächlich als symbolisches Kapital begriffen worden und symbolisch in die Institutionen integriert worden, ohne tatsächliche strukturelle Folgen zu zeitigen. In Folge dessen beobachtet Steyerl für die zweite Welle eine Umbesinnung auf Repräsentationskritik. Hierbei sei der gesamte Raum der Repräsentation als öffentlicher Raum verstanden worden, und der Kampf um die Hegeomonialstellung und Zersplitterung dieses Raumes der Darstellung habe zu „Fragmentierung von Öffentlichkeiten, Märkten, zur Kulturalisierung von Identität usw.“, geführt. In diese Phase sei zudem auch die zunehmende Auflösung der materiellen Verbindung von Staat und Institution zu Tage getreten. Letztlich habe dies zur Folge, dass die Kritik der zweiten Welle hauptsächlich symbolisch integriert worden sei (entgegen der ersten Welle). Das Subjekt dieser Kritik sei letztlich das Subjekt der Diversifizität. Produziert habe es hauptsächlich ein „allgemeines Spektakel der ,Differenz‘ - ohne allzu viel an struktureller Veränderung zu bewirken“.Damit wären wir so Steyerl im heute angekommen. Sie versteht die heutige Periode als Erweiterung der zweiten Welle. Hierbei beobachtet sie bei den zeitgenössischen Künstlern avancierte Techniken mit den Paradoxien, Ambivalenzen und Sackgassen der Institutionskritik umzugehen. Den Institutionen gegenüber diagnostiziert sie hingegen, dass es ihnen schwer falle sich zwischen nationalem Kulturbereich und zunehmend globalisiertem Kulturmarkt zu positionieren, da sie sich sowohl von nationalistischen Forderungen als auch vom international neoliberalem Markt unter Druck gesetzt sähen. Steyerl sieht allerdings keine Option darin, in die Verhältnisse des vorglobalisierten Protektionismus der Kulturinstitutionen durch den Nationalstaat zurückzukehren. Eine potentielle Alternative sei die Entwicklung zur Herstellung eines öffentlichen Raums als Markt durch neoliberale Kritikspektakel allerdings auch nicht, da diese Entwicklung nur die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse begünstige. Von nun an scheint die Kritik für Steyerl nur noch die Integration ins Prekariat zu begünstigen und zu bedingen.

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diese dann plötzlich mit einem abstrakten Dispositiv zu ersetzen (vgl. S. 10 dieser Arbeit) scheint nicht auszureichen, um daraus eine Deutungshoheit für vielleicht modische Erscheinungen abzuleiten. Zugleich eröffnet die Konfrontation der beiden Modelle und die daraus entstehende Frage nach der Validität von Groys unkritischem Archivbegriff die Frage nach dem Ort des Neuen, wenn denn das Archiv streitbar wird oder zumindest zerfasert. Aber diese Frage ist Gegenstand von Kapitel III.71

Bezüglich des Archivs als Institution der Kunst oder der Institutionen der Kunst als Archiv möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels noch auf die abschließenden Vorschläge und Analysen verweisen die Isabelle Graw, und Hito Steyerl an das jeweilige Ende ihrer Texte gestellt haben: Steyerl sieht in den prekären, multiplen und ambivalenten Subjekten, die der gegenwärtige (ein Text von 2006) Kulturmarkt produziere, die Chance Institutionen hervorzubringen, die den Anforderungen und Bedürfnisse dieses Kulturprekariats entsprächen.72 Die Empfehlung die Graw gibt, ist, wie es bereits aufgezeigt wurde, aus dem Raum des Möglichen auszubrechen ohne unterkomplex zu werden.73

III Von Valorisierungen und ZwischenräumenIII.I Das Neue und seine Ökonomie

„So war zum Beispiel die Entdeckung Amerikas für die Europäer die Erschließung und Aufwertung eines neuen profanen Raums. Für die damaligen Kulturen Amerikas bedeutete dieses Geschehen den Einbruch der Profanität in ihre kulturellen Archive, d.h. die Profanierung und teilweise Vernichtung. Die Innovation ist deswegen oft auch Handel zwischen zwei oder mehreren Werthierarchien, die füreinander profane Räume bilden.“ 74

Innovation bezieht sich für Groys auf Grenzen und auf deren Transgression. Groys

versteht Kulturen und kulturelle Positionen als ganz topographisch: Es gibt den

valorisierten Raum und es gibt den profanen Raum. Zwischen diesen Räumen zirkulieren

die Objekte und werden valorisiert, profaniert, revalorisiert oder reprofaniert. Wobei es in

Klüsener: Das Neue ausloten. Versuch einer Kritik an Boris Groys Begriff des Neuen. ❘ 16

71 Natürlich ist meinen Überlegungen die Frage inhärent, ob Kunst das ist wofür Geld bezahlt wird und Kunst dass ist was auf dem internationalen Kunstmarkt zur Geltung kommt, genau ist die Frage inhärent, ob das Archiv nur dass sein kann was zur Geltung kommt, oder ob es sich mit einem wie auch immer geartetten öffentlichen und partzipativen Raum verknüpfen muss. Zugleich die Überzeugung, dass es sich hierbei vielleicht vornehmlich um Fragen und weniger um Antworten handelt.

72 Steyerl schreibt: „Während kritische Institutionen durch neoliberale Institutionskritik abgebaut werden, produziert die Institution der Kritik heute ein ambivalentes Subjekt, das multiple Strategien entwickelt, um mit seiner Entortung umzugehen. Auf der einen Seite wird es an die Anforderungen immer prekärerer Lebensbedingungen angepasst. Auf der anderen Seite scheint es selten mehr Bedarf nach Institutionen gegeben zu haben, die mit den [...] Bedürfnissen und Begehren umgehen könnten, die dieses [...] kollektive Subjekt erfinden wird.“ (Steyerl, Hito: „Die Kritik der Institutionen“) / Ich habe aus diesem Zitat zweimal das Wort neu gekürzt. Ich habe diese Kürzung vorgenommen, weil ich es fragwürdig finde, dass Zitat Boris Groys Vorstellungen des ökonomischen Tauschs anheimzugeben. Eine Diskussion bezüglich der Deckungsgleichheit der Bedeutungen und der Benutzung unterschiedlicher Semantiken bezüglich „neu“ wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit.

73 Vgl. Isabelle Graw: „Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art“.

74 Boris Groys: „Innovationsstrategien“, S. 56.

Page 17: Der Reiz des Neuen - Klüsener - Hausarbeit

dieser Theorie auch ein perspektivistisches Element gibt, denn ein Raum kann in der

Gegenüberstellung für einen anderen sowohl profan als auch valorisiert sein, und

umgekehrt können, wie es das obige Zitat darstellt, Räume für einander in juxtaposition

profan sein. Daher ist es für sein Argument auch außerordentlich relevant die

Globalisierung und Zentralisierung der kulturellen Institutionen zu betonen, denn nur so

kann dieses Neue funktionieren.

Als Gegenargument versteht Groys vornehmlich die Annahme der Differenzierung. In dem

Kapitel >>Das ökologische Argument dagegen<< setzt sich Groys mit zwei dieser

Annahme entsprechenden Argumenten auseinander, die sich gegen seine These richten.

Groys schreibt, dass der kulturelle Bereich von Einigen als radikal differenziert empfunden

werde, d.h. eine „Gleichheit in der Andersartigkeit“75 behauptet werde, hierbei allerdings

das Meiste weder in den kulturellen Institutionen noch in den Massenmedien Beachtung

erfahre. Stattdessen handle es sich um die Situation einer tatsächlichen Zentralisierung

und Institutionalisierung. Obwohl dieses Argument ihm an sich schon schlagend genug

erscheint, bemüht er sich auf zwei ökologische Argumentationstrategien, die an diesem

Punkt ansetzen, genauer einzugehen.

Die erste Argumentationsstrategie lege ihren Schwerpunkt darauf, dass alles Profane mittlerweile in den valorisierten Raum übergetreten sei. Groys gibt an: „In der ersten Version wird das ökologische Problem der gegenwärtigen Kultur somit als Problem der Erschöpfung ihrer profanen Ressourcen beschrieben.“76 Es betone, „die liberale, tolerante und demokratische Beschaffenheit der gegenwärtigen Kultur“77, für die vordergründig alles valorisiert werden könne. Hierbei unterschlage das Argument allerdings die tatsächliche Beschaffenheit des valorisierenden Tausches, der diese Objekte oder Theorien zur Tradition ins Verhältnis setzte und sich nur auf einige ihrer Merkmale konzentriere. Valorisiert werden könne nur das Andere des bereits Valorisierten und die Definitionsmacht hierüber falle der Tradition zu. Die Profanität ginge tatsächlich nicht verloren, da es sich bei Valorisierungen um Interpretationen handle, die nur das Bezugssystem des Profanen verändern würden. Die Valorisierung sei immer um taktische Überlegenheit im ästhetischen Kampf um die Vormachtstellung bemüht. Diese sei nahezu konstitutiv für „Thesen der Philosophie“ und „Phänomene der Kunst“. Dies ist der zentrale Punkt von Groys Widerlegung des ersten Arguments, denn der Machtanspruch des

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75 Ebenda S. 94.

76 Ebenda S. 97.

77 Ebenda S. 98.

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Profanen könne niemals ausgeschöpft werden und sei vor Allem immer profan. Er schreibt: „Keine kulturelle Valorisierung schöpft das Profane schon allein deshalb aus, weil es seinen profanen Machtanspruch nicht integrieren kann.“78

Das zweite Argument geht davon aus, dass es keinen tatsächlich profanen Raum mehr gebe, da dieser mittlerweile „nach bestimmten kulturellen Vorbildern umgestaltet sei“.79 Dieses Argument übersähe aber das Grundsätzlichste: Das Valorisisierte, dass den profanen Raum überzieht, so Groys, werde einfach profan. Das Valorisierte, dass seinen elitären Status einbüße, verlöre an Wert. Dieses Neue zeigt sich als Machtspiel im Hinblick auf Werthierarchien, die sich für Groys

letztlich auf fixe Institutionen bzw. Kultureinrichtungen bzw. das kulturelle Gedächtnis

konzentrieren und sich als Landnahme und Integrierung profaner Machtansprüche oder

auch als Unterwerfung des Profanen verstehen. Nachdem an dieses Verständnis im

letzten Kapitel bereits die Parzellierung und Individualisierung der Gedächtnisse und

Kulturverständnisse durch das Internet herangetragen wurde, möchte ich nun nach dem

Ort des Neuen fragen.

III.II Der Ort des Neuen

Jörn Etzold macht in einem Aufsatz auf einige Assoziationen aufmerksam, die das Neue

positionieren. Etzold bestimmt mit Hilfe von Paulus, Johannes und Dante das Neue Leben

als gleichwohl katholische Grundfiguration moderner europäischer Bestrebungen. Er

betont hierbei die Verknüpfung des Motivs des Neuen Lebens mit dem apokalyptischen

Drang „sich zu ent-orten, zu verlassen und zu vervielfältigen.“80 Das Neue Leben müsse

hierbei als Augenblick der Wiedergeburt verstanden werden, der verbunden sei mit der

Rückkehr zum Verlorenen, Unverdorbenen. Seine Manifestation erführe es hierbei in der

Entdeckung und Landnahme Amerikas durch Europa, die sich zugleich darstelle als

„Ausbruch aus der Stagnation der feudalen Gesellschaft“81 und als Assimilierung,

Unterwerfung und Auslöschung des ihr Anderen.82 Auch Homo Bhabha betonte nach

Varela und Dhawan, dass Ausbeutung und Sklaverei, befindlich am Fundament einer

durch Europa initialisierten Moderne, nicht genügend berücksichtigt worden seien. Diese

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78 Ebenda S. 101.

79 Ebenda S. 104.

80 Jörn Etzold: „Schreiben der Stagnation. Juan Carlos Onetti und das Neue Leben.“, in: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer, Zürich-Berlin: Diaphanes 2007, S. 127 - 137, hier: S. 128.

81 Ebenda S. 130.

82 Vgl. ebenda S. 130.

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manifestiere unaufgearbeitete Überbleibsel einer nicht vollendeten Moderne in einer

Postmoderne, die die Moderne nicht hinter sich lassen kann. 83

Bhabha fragt zu Beginn des Textes >>Wie das Neue in die Welt kommt<< nach „Minoritätsdikursen“84 im „Alltagsleben der westlichen Metropole“85 im Hinblick darauf „die postmoderne Stadt als Migranten oder Minoritäten“86 zu betreten. Bhabha stellt die Frage nach dem Neuen also im Kontext des Migranten und dessen Positionierung in der postmodernen Metropole bzw. auch bezüglich der Fragen, die dessen Integration in das Alltagsleben der Großstadt betreffen. Die Fragen des Migranten in der postmodernen Metropole sind für Bhabha Fragen, die auf Theorien der Deplatzierung und der Grenzfiguren verweisen.87 Sie erhalten für Bhabha in der postmoderne eine exzeptionelle Tragweite im historischen Sinne als transitorische Realitäten und „,transnationale‘ Erscheinung“88, abseits von abstrakter Differenzphilosophie.89 Er setzt seine Überlegungen in Bezug zu Walter Benjamins >>Die Aufgabe des Übersetzers<< und benennt hierbei, das, was von Benjamin als nicht übersetzbar beschrieben wird, als Liminalität und als Zentrum des Grenzerfahrung des Migranten.90 Das, was nicht übertragen werden kann, unterläuft für Bhabha sowohl den Traum der vollständigen Assimilation als auch die reine Essenz in einem „ambivalenten Prozeß der Spaltung und Hybridität“91. Das Subjekt kultureller Differenz, d.h. der Migrant, ist also faktisch das Subjekt kultureller Nicht-Übersetzbarkeit.92

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83 Vgl. María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 96.

84 Homi Bhabha: „Wie das Neue in die Welt kommt“, in: ders.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2010, S. 317 - 352, hier: S. 332.

85 Ebenda S. 332.

86 Ebenda S. 332.

87 Vgl ebenda S. 333.

88 Ebenda S. 333.

89 Bhabha verweist auf Lukrez und Ovid, an Hand derer sich ein bestimmtes Problem der Migration aufzeigen lässt. Für Ovid behalte die Seele unter all ihren Veränderungen und Einflüssen ihre Identität, wie Bhabha betont, wohin gegen Lukrez eine Position beziehe, die gegen eine Essenz des Selbst opponiert (vgl. ebenda S. 334f.) Bhabha betont die Spannung zwischen Polen Ovid/Lukrez als Spannung zwischen „nationalistische[m] Atavismus“ und „postkoloniale[r] metropolitane[r] Assimliation“ (Ebenda S. 335).

90 Vgl. ebenda S. 335.

91 Ebenda S: 335.

92 Diese Form der Neuverortung ist blasphemisch. Blasphemie ist für Bhabha ein transgressiver Akt. Es handelt sich um Blasphemie, weil sie die wahre Bedeutung der Wörter disseminiert, da heißt auch verbindliche religiöse Lektüren unterwandert (vgl. ebenda S. 336f.). Und dies geschieht im Prozess kultureller Übersetzung. Als Beispiel dienen Bhabha Die Satanischen Verse als Roman, der eine Kritik am Koran, in der in der arabischen Welt nicht verbreiteten Romanform veräußert, und damit eine heilige Auseinandersetzung in einer äußerst profanen Form angeht (vgl. ebenda S. 337f.) Es handelt sich um eine Relativierung der Position der Autorität und der Authentizität, da in der kulturellen Übersetzung offensichtlich wird, dass es andere, fremde und nicht hegemoniale Positionen gibt, die eingenommen werden können. Der Ort dieses Akt sei die disjunktive Verknüpfung, der Zwischenraum zwischen zwei Kulturen (vgl. ebenda S. 338).

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Der Akt der liminalen Übersetzung erscheint als Akt des Überlebens.93 94 Bhabha bemüht sich die Spannung zwischen fundamentaler Substanz und fundamentalem Substanzverlust als pragmatische Frage des Überlebens zu formulieren. Er schreibt: „[E]s handelt sich weder um den nostalgischen Traum der Tradition noch um den utopischen Traum des modernen Fortschritts; es ist der Traum der Übersetzung als ,Überleben‘“95. Dies ist für Bhabha der Akt des Migranten sein Leben auf der Grenze zu leben, die diesen in einen „initiatorischen Zwischenraum“96 versetzt. Dies ist für Bhabha der Moment, in dem das Neue in die Welt kommt. Ein Bezug zur Dokumentation (bzw. auf das Archiv) des Neuen gibt es bei Bhabha nicht. Das Neue ist ein Abfallprodukt einer Frage des Überlebens. Bhabhas Neues ist ein unbeabsichtigtes Neues und eine Umschreibung in actu, die „Übersetzung ist die performative Natur kultureller Kommunikation“97, die durch die Anpassung des Migranten in der postmodernen Metropole entsteht.98 Mit einer Rückkehr zum Unverdorbenen oder einem Ausbruch aus einer feudalen Gesellschaft hat dies zunächst wenig zu tun.

III.III Das Valorisierte und das Neue

Bemüht man sich um einen Vergleich der beiden skizzierten Theorien kann angegeben werden, dass für Groys das Neue bei Tauschakten in Werthierarchien von variablen, profanen und valorisierten Räumen zu Tage tritt. Neu ist es nur wenn es archiviert werden kann und wenn es sich in Bezug zur Tradition setzt. Für Bhabha ist das Neue eine bloße Frage des Überlebens und gewissermaßen der Unfall der Übersetzung von etwas, dass nicht übersetzt werden kann. Beide Theoretiker betonen ein transgressives Moment, den Überschritt von einem kulturellen Bereich in den anderen. Grundsätzlich sollte nicht unterschätzt werden, wie ähnlich die Positionen der beiden Theoretiker gelesen werden kann. Auch Homi Bhabhas Ausführungen bezüglich der Hybridisierung als Resultat einer

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93 Vgl. ebenda S. 338.

94 Diese Begriffsbildung geschieht im Bezug auf Benjamin. Sieht man dort nach, liest man: „So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht aus seinem Leben so sehr denn aus seinem >Überleben<. Ist doch die Übersetzung später als das Original und bezeichnet sich doch bei den bedeutenden Werken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium ihres Fortlebens.“ (Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV/1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 9 -21, hier S. 10.)

95 Homi Bhabha: „Wie das Neue in die Welt kommt“, S. 339.

96 Ebenda S. 339.

97 Ebenda S. 342.

98 Was im übrigen nicht heißt, dass es nicht ökonomisch verwertbar ist, und dass es sich hierbei um keinen ökonomischen Prozess handelt. (Wie auch variable Kritiken aufzeigen) Und auch Bhabha entwickelt sein Argument an einem berühmten Buch, dass sich als ikonoklastische Geste in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat.

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derart liminalen Übersetzungsleistung hat letztlich zum einem, wie Kien Nghi Ha es formuliert, „Hybe um Hybridisierung“99 geführt, der sicherlich so manche ökonomische Valorisierung mit sich gebracht hat. Gleichwohl bleibt die Ahnung, dass sich ein Unterschied finden lässt, der grundlegender ist, als einfach festzustellen, dass Bhabha im Gegensatz zu Groys die Narration nicht als bloße Siegesgeschichte schreibt, die sämtliche Kollateralschäden in ein abstraktes Modell integrieren kann und sich eigentlich auch nicht für diese interessiert. Derart die Ökonomie für Groys im übrigen auch etwas ist, was im Obskuren verbleibt und über das man nicht sprechen kann.100

Der Unterschied, der zur Kenntnis gegeben werden kann, dürfte sich auf den Ort des Neuen beziehen, der für Groys das Archiv ist. Nachdem die Parzellierungen, Partiziparierungen und sonstigen Pluralisierungen des Internets bereits auf die Bühne dieser Arbeit geführt worden sind, lässt sich Bhabha Vorschlag, den Ort des Neuen als Zwischenraum zu verstehen, hier auch gegen Groys Hegemonialarchiv anführen. Bhabhas Begriff des Neuen scheint hierbei ohne Archiv auszukommen und entsprechend im profanen Raum zu verharren. Vielleicht ist diesem Neuen nicht einmal Wert beizumessen und vielleicht empfiehlt es sich noch einmal auf das erste der beiden ökologischen Argumentationstrategien einzugehen auf die Groys verweist.101 Für Groys zeichnet sich das Profane hier durch einen Machtanspruch aus. Für Bhabha stellen sich bereits im profanen Raum Fragen des Überlebens. Um diesen Punkt abzuschließen möchte ich noch darauf verweisen, dass es hierbei nicht um die pathetische Formulierung geht, sondern einen Blick, der sich bereit erklärt bereits den profanen Raum in die Analyse miteinzubeziehen.

Abschlussbemerkung / Fazit

Die Arbeit hat folgendes Resultat: Allgemein ist das Neue entsprechend den

Untersuchungen dieser Arbeit einhellig eine Erscheinung, die sich zu etwas, das vorher

schon da ist, durch Abgrenzung in Bezug setzt. Die Autoren, auf die verwiesen wird, sind

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99 Ha schreibt: „Ihre Laufbahn [die Laufbahn der Hybridisierung F.K.] als aufgehender Stern am kulturellen Firmament ähnelt dem eines kulturindustriell protegierten Popstars“ (Kien, Nghi Ha: Einleitung, hier: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeldt: transcript Verlag 2005, S. 11 - 16, hier S. 13. ) Ha war zunächst davon ausgegangen, dass es sich bei Hybridisierung und Hybridität um eine potentiell kritische Praxis handelt, musste dann aber die Explosion des Begriffsgebrauchs in allen Bereichen, sowie die Vereinnahmung durch den Spätkapitalismus zur Kenntnis nehmen.

100 vgl. Groys

101 Abgesehen davon, dass sich der Kulturbegriff der beiden Autoren stark unterscheidet. Für Groys ist Kultur offensichtlich Hochkultur und die in sie integrierte Minoritätsdiskurse, für Bhabha zunächst auch einfach nur der Minoritätsdiskurs, den er auf die postmoderne Großstadt bezieht.

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sich darüber einig, dass es sich mit dem Neuen um eine transgressive Erscheinung

handelt.

Die Kritikpunkte, die bezüglich Groys Überlegungen aufgetreten sind, sind diese: Das

Neue bei Groys nimmt wahllose Kollateralschäden in Kauf, insofern es sich weiterhin auf

dem gründet, was Peter Sloterdijk als kinetischen Imperativ der Moderne bezeichnet hat.

Der Archivbegriff, den Groys zur Anwendung bringt, um hierauf sein Neues zu formulieren

scheint nicht auszureichen, um Diskussionen über das Internet abzudecken, außer

natürlich, er behaupte die zunehmende Zentralisierung des Internets auf einige wenige

Seiten. Aber auch im Falle dieser Behauptung müsste angegeben werden, dass er die

grundsätzlich veränderten Wissensstrukturen des Internets nicht genügend berücksichtigt.

Hinzu hat die Untersuchung ergeben, dass sein Begriff des Neuen sehr eng ist und es ihm

unmöglich ist von einem Neuen zu sprechen, dass keinen Wert hat bzw. wäre es für ihn

einfach kein Neues. Allerdings gibt es hier auch Autoren, die anderer Meinung sind.

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