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Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR Georgi Arbatov en Willem Oltmans Vertaald door: Georg Krähmer bron Georgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR (vert. Georg Krähmer). Rogner & Bernhard, München 1981 Zie voor verantwoording: http://www.dbnl.org/tekst/arba001sowj01_01/colofon.php © 2016 dbnl / erven Georgi Arbatov / Willem Oltmans Stichting

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Der sowjetische Standpunkt. Über dieWestpolitik der UdSSR

Georgi Arbatov en Willem Oltmans

Vertaald door: Georg Krähmer

bronGeorgi Arbatov en Willem Oltmans, Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR

(vert. Georg Krähmer). Rogner & Bernhard, München 1981

Zie voor verantwoording: http://www.dbnl.org/tekst/arba001sowj01_01/colofon.php

© 2016 dbnl / erven Georgi Arbatov / Willem Oltmans Stichting

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Vorwort

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte meine Familie nachSüdafrika aus, während ich an der Yale University in den USAmit dem Studium derInternationalen Beziehungen begann. Wir verließen Europa, weil wir alle fest daranglaubten, daß eine sowjetische Invasion bevorstünde.Mein Professor, ArnoldWolfers,Vorstand des Pierson College, betonte zum Beispiel, daß das wichtigste Ergebnisdes Zweiten Weltkriegs nicht die Zerschlagung Nazi-Deutschlands gewesen sei,sondern der Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht.Nachdem ich Anfang der fünfziger Jahre Journalist geworden war, vermied ich

es im allgemeinen, Aufgaben in sozialistischen Ländern zu übernehmen, bis ichschließlich 1971 zum ersten Mal in die Sowjetunion reiste. Ich bereitete für dasholländische Fernsehen einen Dokumentarfilm vor, der sich mit dem vom Club ofRome publizierten Bericht ‘Grenzen des Wachstums’ befaßte. Für diesenDokumentarbericht interviewte und filmte ich sowohl Georgij A. Arbatow, Direktordes Instituts zum Studium der USA und Kanadas der Sowjetischen Akademie derWissenschaften, als auch Dr. Dscherman M. Gwischiani, stellvertretenderVorsitzender des Ausschusses für Wissenschaft und Technik beim Ministerrat derUdSSR.In den folgenden neun Jahren reiste ich noch dutzende Male als Journalist in die

Sowjetunion, und wann immer es sein Terminkalender zuließ, traf ich bei diesenGelegenheiten mit Professor Arbatow zusammen, um mit ihm über dieOst-West-Beziehungen zu diskutieren.Professor Arbatows Ansichten und Gedanken zu den amerikanisch-sowjetischen

Beziehungen sind bislang nur in gelegentlichen Interviewsmit ausgewähltenMedienoder in Leitartikeln in der Prawda dargelegt worden. Allmählich gewann ich dieÜberzeugung, daß der Versuch unternommen werden sollte, diese Überlegungeneinem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Schließlich gilt Professor Arbatowneben Anatoli Dobrynin als der wichtigste Berater und Spezialist des Kremls indiesen Fragen.Zur Vorbereitung dieses Buches suchte ich zahlreiche Persönlichkeiten auf wie

Dr. Philip Handler, Präsident der National Academy of Sciences in Washington,frühere und gegenwärtigeMitarbeiter desWeißenHauses,Wissenschaftler in Harvard,Stanford, Yale und anderen Hochschulen, so bekannte Vertreter einer hartenpolitischen Linie gegenüber der UdSSRwie die Rostow-Brüder, Paul Nitze, AdmiralElmo Zumwalt jr.,

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Generalmajor George J. Keegan jr., Richard V. Allen (Ronald Reagens derzeitigeraußenpolitischer Sprecher) und viele andere.Wir begannenmit der Arbeit an diesemBuch Ende 1979, als es zu den unerwarteten

Ereignissen in Afghanistan und im Iran kam und sich zugleich auch die gesamteinternationale Lage verschlechterte. Diese Geschehnisse haben selbstverständlich inunsere Diskussionen Eingang gefunden und so demDialog eine ganz neue Dimensionhinzugefügt.Auch wenn Arbatow einige meiner Eihwände für unannehmbar hielt, sie mitunter

sogar als verletzend empfand, so sah er darin jedoch nie einen persönlich gemeintenAngriff, wußte er doch, daß sich viele Menschen imWesten diese und andere Fragenstellen. In einigen Fragen, die wir erörterten, konnten wir uns nicht einigen, was nurnatürlich ist. Dennoch herrschte bei unserer Arbeit im allgemeinen eine Atmosphäre,die geprägt war von gutem Willen, von gegenseitigem Verständnis und von demWunsch beider Seiten, das Buch möge zu einem besseren Verständnis der Problemebeitragen. Tatsächlich zeigt die Arbeit, die wir jetzt abgeschlossen haben, alleinschon durch ihr Zustandekommen, daß die friedliche Koexistenz sehr wohl möglichist.Ohne Zweifel herrscht in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ein

zunehmendes Informationsdefizit über die gegenwärtigen Anschauungen, die in denhöchsten Regierungskreisen der anderen Seite vorherrschen. In Abwandlung einesWortes von James Reston könnte man sagen: Wir sehen uns selbst selten so, wie unsdie anderen sehen oder wie wir wirklich sind. Aus diesemGrand hoffe ich, daß dieseDarstellung der Ansichten eines überragenden Spezialisten der anderen Seite dazubeitragen wird, uns ein genaueres Bild darüber zu verschaffen, mit welchen Augenman die USA, und vielleicht den Westen ganz allgemein, in der Hauptstadt desgrößten Landes der Welt sieht.Gewiß ist unsere Erörterung unvollständig, wie wahrscheinlich jedem Vorhaben

dieser Art gewisse Grenzen gesetzt sind. Viele Fragen bleiben für mich wie wohlauch für den Leser weiterhin offen.Nichtsdestoweniger waäe zu hoffen, daß dieser unvollkommene Beitrag zum

Ost-West-Dialog hilft, das Verständnis zwischen zwei großen Nationen wie auchdas Verständnis unter allen Menschen, denen der Frieden ein besonderes Anliegenist, zu vertiefen und zu erweitern.Ich sollte noch hinzufügen, daß sich während meiner monatelangen Arbeit an

diesem Manuskript in Moskau zwischen einer Reihe von Mitarbeitern ProfessorArbatows und mir eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre entwickelte. Für die Hilfeund die Ermutigung, die ich dadurch erfuhr, möchte ich an dieser Stelle herzlichdanken.

New York, 31. Januar 1981Willem Oltmans

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I) Leidensweg der Entspannung

Die siebziger Jahre waren das Jahrzehnt der Entspannung. Werden die achtzigerdas Jahrzehnt des zweiten Kalten Krieges werden?

Wir sollten nicht so fatalistisch sein, gleich das ganze Jahrzehnt verloren zu geben.Aber so, wie es jetzt aussieht, hat sich die gesamte internationale Lage ernsthaftverschlechtert. Es ist noch gar nicht so lange her, da schien die Welt einen Weg ausden Feindseligkeiten und Dummheiten des Kalten Krieges gefunden zu haben, undes sah so aus, als wäre Entspannungspolitik zum Normalzustand geworden. Dochnun hat es den Anschein, daß für einige Leute die Entspannung zu einervorübergehenden, wenn auch willkommenen Abweichung von dem düsterenNormalzustand des Mißtrauens, der Feindschaft und der Konfrontation wird, die dieinternationalen Beziehungen in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem ZweitenWeltkrieg bestimmten.

Was wäre denn der ‘ideale’ Normalzustand?

Ich würde allzugem ganz eindeutig sagen, daß das Abnehmen der Spannungenzwischen denVölkern, dieWeiterentwicklung der Zusammenarbeit sowie Fortschrittebei der Rüstungskontrolle der Normalzustand ist und wir derzeit eine Abweichungvon diesemNormalzustand erleben. Aber ich zögere, das so auszudrücken, zumindestbevor wir nicht genau definiert haben, was der Begriff ‘Normalzustand’ bedeutet.Wenn wir unter ‘normal’ einen natürlichen Zustand verstehen, wie z. B. die

‘normale’ Körpertemperatur, und damit zumAudruck bringen, daß der Körper gesundist und nichts seine Gesundheit bedroht, dann ist sicherlich die Entspannung derNormalzustand und nicht der Kalte Krieg.Man kann ‘normal’ aber auch als ‘allgemein üblich’ definieren, als einen Zustand,

der so natürlich ist, daß es keiner besonderen Mühe bedarf, ihn aufrecht zu erhalten.Es ist z. B. ‘normal’, daß ein Korken an der Wasseroberfläche schwimmt. Will

man ihn unter Wasser drücken oder ihn aus dem Wasser

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heben, so bedarf das einer Anstrengung; sobald man diese Anstrengung unterläßt,kehrt der Korken in seine normale Ausgangslage zurück. In diesem Sinn ist dieEntspannung leider noch nicht der Normalzustand der internationalen Beziehungengeworden. Es bedarf immer noch besonderer Anstrengungen, sie aufrecht zu erhalten,während man Spannung allein schon dadurch erzeugen kann, daß man überhauptnichts tut.

Mit anderen Worten, geriet die Entspannung in Nöte, weil sich die Anstrengungen,die zu ihrer Aufrechterhaltung unternommen wurden, als unzureichend erwiesen?

Nein, dem würde ich nicht zustimmen. Sicherlich haben einige Leute mehr für dieEntspannung getan als andere, aber es war nicht nur Trägheit, gegen die dieEntspannung ankortimen mußte. Was wirklich den Ausschlag gab, war die starkeMobilisierung jener Gegenkräfte, die in der Entspannung eine gefährliche Irrlehresahen. Insbesondere wurde die Entspannung durch den Kurswechsel derUS-Außenpolitik Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre untergraben.

Amerikaner werden über eine solche Feststellung in Zorn geraten, denn sie sindüberzeugt, daß die entscheidende Ursache der derzeitigen VerschlechterungAfghanistan war.

Ich bin mir darüber sehr wohl im klaren, daß unser Vorgehen in Afghanistan imWesten dazu benutzt wurde, einen Sturm der Emotionen und Denunziationen zuentfesseln. Politische Urteile sollten aber auf Tatsachen beruhen und nicht aufEmotionen.Das offizielle Argument der Amerikaner, demzufolge die Ursache der

gegenwärtigen Verschlechterung die Ereignisse in Afghanistan sind, ist nichtstichhaltig, weil die prinzipiellen Entscheidungen, die die Basis der neuen Politikder USA darstellen und die hier in der Sowjetunion als ein gewaltiger Schritt zurückzum Kalten Krieg verstanden werden, lange vor den Ereignissen in Afghanistangetroffen wurden.

An welche Entscheidungen denken Sie dabei?

An den Beschluß der Nato, während der nächsten 15 Jahre die Rüstungsetats jährlichzu erhöhen (Washington, Mai 1978), an die Entscheidung des US-Präsidenten füreinen ‘Fünfjahresplan’, der weitere militärische Programme und Rüstungsaufgabenin nie dagewesener Höhe vorsieht (November 1979), und an den höchst gefährlichenNachrüstungsbeschluß der Nato, neue amerikanische Mittelstreckenraketen

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zu bauen und in Europa zu stationieren (Brüssel, Dezember 1979).Außerdem haben die USA noch vor den Ereignissen in Afghanistan die

Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung praktisch zum Stillstand gebracht. DieRatifizierung des SALT II-Abkommens war bereits im September/Oktober 1979äußerst ungewiß.Darüber hinaus geschah die überstürzte Annäherung an China auf eindeutig

antisowjetischer Basis, und hinzu kam, daß die USA Ende 1979 einen ganzenSchwarm von Kriegsschiffen samt Flugzeugen und Nuklearwaffen in den PersischenGolf entsandten. Wir konnten nicht recht glauben, daß das nur der Befreiung derGeiseln in Teheran dienen sollte und nicht Teil eines generellen Kurswechsels deramerikanischen Außenpolitik und ihrer militärischen Positionen war.Deshalb ging man in Moskau bereits Mitte Dezember 1979 davon aus, daß die

Vereinigten Staaten einen scharfen Kurswechsel eingeleitet hatten.

Mit anderenWorten - die amerikanische Politik hat sich auf das sowjetische Vorgehenin Afghanistan ausgewirkt?

Sie war ein wichtiger Faktor.

Falls die Entspannung sich normal weiterentwickelt hätte und die von Ihnengenannten Probleme nicht aufgetreten wären, hätte die Sowjetunion also keineTruppen nach Afghanistan entsandt?

Sehr gut möglich. Verstehen Sie mich bitte richtig: Die Entsendung der Truppen warkeine ‘Bestrafung’ der USA oder des Westens für schlechtes Betragen. Sie hat mehrmit unserer neuen Einschätzung der durch die USA und die Nato geschaffenenSituation zu tun.Wie der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, im Januar 1980 in einem

Interview mit der Prawda sagte, war uns die Entscheidung, ein begrenztesmilitärisches Kontingent nach Afghanistan zu schicken, nicht leicht gefallen.1 Dieafghanische Regierung hatte uns schon lange vor Ende des Jahres 1979 wiederholtum Hilfe gebeten, aber wir haben diese nicht gewährt.Ende 1979 mußte jedoch die Lage in Afghanistan zwangsläufig im Kontext der

ständig wachsenden internationalen Spannungen auf der ganzen Welt wie auchspeziell in dieser Region bewertet werden. In diesemRahmen gewann die Bedrohungder aus der Revolution hervorgegangenen afghanischen Regierung wie auch dieBedrohung unserer eigenen Sicherheit sehr viel mehr Bedeutung, als das zu Zeitender Entspannung der Fall gewesen wäre.

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Die Ereignisse in Afghanistan haben die Amerikaner und ihre Verbündeten vor allemdeshalb so verwirrt,weil sie sich über die sowjetischen Absichten im unklaren waren.Präsident Carter sagte ausdrücklich, er könne bezüglich der sowjetischen Absichtenkein Risiko eingehen.2Der Grund für einen abrupten Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik

liegt möglicherweise darin, daß man eine wachsende sowjetische Bedrohungfestzustellen glaubte, und zwar lange vor Aghanistan, und sich dutch diese Eteignissenur bestätigt sah.

Ehrlich gesagt: Wenn ich das Gerede von der ‘sowjetischen Bedrohung’ höre, undzwar nicht aus dem Munde des manipulierten Mannes von der Straße, sondern vonverantwortlichen Politikern und Experten, dann drängt sich mir der Eindruck auf,daß diese Leute in Wirklichkeit nicht so sehr die Sowjetunion und deren Macht undAbsichten meinen, sondern die Vereinigten Staaten, die amerikanische Politik unddie Rolle Amerikas in der Welt.Es ist ganz einfach bequemer, die phantastischsten Ansprüche und Forderungen

im Bereich amerikanischer Politik und militärischer Macht zu erheben, indem mandie Sowjetunion als Provokateur erscheinen läßt, auf den die Amerikaner reagieren.Aus unserer Sicht hat jedoch niemand Amerika dazu provoziert, eine härtere

Außenpolitik zu betreiben. Vielmehr steigerten sich die USA bereits seit geraumerZeit systematisch in eine Haltung hinein, die zur gegenwärtigen Einschätzung ihrerBeziehungen zur UdSSR und der Welt ganz allgemein führte.

Sie können aber nicht bestreiten, daß die Sowjetunion im Laufe der Jahre ihremilitärische Stärke ungeheuer ausgebaut hat.

Ja, unser Stärke hat zugenommen. Wir hatten gute Gründe, uns um unsereVerteidigung zu kümmern. Und manchem, der sich so lautstark über die sowjetischemilitärische Bedrohung beklagt, muß gesagt werden, daß die Aufrüstung derVerteidigung dient und nicht der Vorbereitung einer Aggression.

Die Nato behauptet aber immer wieder, die sowjetische Aufrüstung überschreite das‘legitime Verteidigungsbedürfnis’.

‘Warum siehst du nur den Splitter im Auge deines Bruders, nicht aber den Balkenim eigenen Auge?’ Ich frage mich oft, wie amerikanische Generäle und Politiker ihr‘legitimes Verteidigungsbedürfnis’ wohl bemessen würden, wenn nördlich vonMichigan ca. eine Million Solda-

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ten des Warschauer Paktes und ungefähr 700 Nuklearwaffen stehen würden undgleichzeitig Texas nicht an Mexiko grenzen würde, sondern an ein Land, das voneinerMilliardeMenschen bewohnt wird, das mit Nuklearwaffen ausgerüstet und vonmessianischem Sendungsbewußtsein erfüllt ist, sowie auf einen erheblichen Teil desSüdens der USA Anspruch erhebt.Ausdruck der offiziellen amerikanischen Heuchelei über die strategische Position

der Sowjetunion ist das jüngst zur politischen Mode gewordene Schlagwort vomsogenannten ‘Arc of Crisis’. Dieser Begriff, von ZbigniewBrzezinski geprägt, beziehtsich auf das südwestliche Asien und den Nahen Osten. Dieses Gebiet wurde zu einerder ‘vitalen Interessensphären Amerikas’ erklärt. Ist wohl irgend jemand, der diesenGedanken des ‘Bogens’ übernommen hat, dabei auch aufgefallen, daß dieser ‘Bogen’in fast seiner gesamten Länge direkt an unseren Grenzen wie auch denen unserersüdlichen Nachbarn entlang verläuft und es sich mithin um ein Gebiet handelt, dasvon äußerster Wichtigkeit für die nationale Sicherheit der Sowjetunion ist, also eineZone wahrhaft vitaler Interessen für die UdSSR?

Wenn es keine sowjetische Bedrohung gibt, wie Sie sagen, was waren denn IhrerMeinung nach die Gründe für die neue harte Linie der Amerikaner?

Meiner Meinung nach gibt es da zwei Kategorien von Ursachen: einmal die, diebewirkt haben, daß sich die Stimmung und das Kräftegleichgewicht innerhalb deramerikanischen Machtelite verändert hat, zum anderen jene, die eine politischeAtmosphäre im Land geschaffen haben, in der es möglich war, solche Veränderungenin praktische Politik umzusetzen.Was die Elite angeht, so scheinen mir die hauptsächlichen Gründe für einen

Umschwung deren Schwierigkeiten zu sein, sich den neuen Gegebenheiten derWeltlage anzupassen.Diese Gegebenheiten haben sicher Probleme für die USA geschaffen, da sie eine

sehr grundlegende Neuorientierung der Außenpolitik verlangten. In der Tat erfordertees einen Bruchmit den Richtlinien, Neigungen undMaßstäben politischenVerhaltens,wie sie für eine ganze Epoche charakteristischwaren. Eine außergewöhnliche Epoche,nicht zuletzt wegen der Lage, in der sich die Amerikaner direkt nach dem ZweitenWeltkrieg befanden, aus dem sie als die reichste undmächtigste Nation hervorgingen,die weder Verwüstungen erlitten noch größere Opfer gebracht hatte.Diese Situation ließ damals den Eindruck entstehen, daß die USA na-

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hezu alles und jeden kaufen und diejenigen, die nicht käuflich waren, dank derüberlegenen Macht unterdrücken oder gar vernichten konnten. Diese historischeSituation war einzigartig und nicht von Dauer. Viele Amerikaner sahen darin balddie natürliche und ewige Ordnung der Dinge.

Aber glauben Sie nicht auch, daß viele Amerikaner diese Illusionen begraben haben?

Ja, aber das hat unsägliche Mühen gekostet. Das zeigte sich wieder einmal beimWahlkampf 1980 mit seinem nostalgischen Motto des ‘American Dream’. Es fälltder Elite auch schwer zu glauben, daß ein Abnehmen der internationalen Spannungenden politischen Willen der USA nicht schwächt.Ich möchte dazu eine Episode aus dem Jahr 1972 in Erinnerung rufen, als das erste

Gipfeltreffen gerade zu Ende gegangen war und der Präsident der USA nachWashington zurückkehrte. Was war der vorherrschende Gedanke in den Köpfen deramerikanischen Politiker? Wie Kissingers Memoiren besagen, war es nicht Freudeund Genugtuung, sondern die Angst und die Sorge, es werde fortan viel schwererfallen, die öffentliche Unterstützung für Rüstungsprogramme zu gewinnen und diealte Politik weiterzuverfolgen.3

So hat man bereits 1972 reagiert. Die Ereignisse in der zweiten Hälfte der siebzigerJahre machten alles noch wesentlich schwerer. Dadurch wurde das amerikanischeEstablishment anscheinend so verschreckt, daß sich der Anpassungsprozeßverlangsamte und schließlich zum Erliegen kam.Die Mißerfolge Amerikas in Indochina, im Iran und anderswo wurden von vielen

Amerikanern für die Folge einer vermeintlichen Scheu der USA vorGewaltanwendung gehalten.Hierher rührten dann die neubelebten Forderungen nach Aufrüstung und einer

Überprüfung der militärischen Doktrin. Die wahren Motive für eine wachsendeUnzufriedenheit innerhalb der amerikanischen Machtelite mit den Entwicklungenin der Welt liegen jedoch tiefer, glaube ich.

Woran denken Sie?

Nun, ein Faktum, mit dem die USA sich besonders schwer abfinden können, ist derVerlust der strategischen Überlegenheit und die Herstellung des Kräftegleichgewichtszwischen der UdSSR und den USA.Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende Abhängigkeit der amerikani-

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schen Wirtschaft von anderen Ländern. Das sind die Amerikaner nicht gewöhnt.Jahrelang war viel von ‘Interdependenz’ die Rede, doch als sich herausstellte, daßdas auch in einem gewissen Grad die Abhängigkeit Amerikas von anderen bedeutete,beklagte man lautstark die ‘Verwundbarkeit’.

Meinen Sie die amerikanische Abhängigkeit von Ölimporten?

Öl ist ohne Zweifel ein ganz wichtiger Faktor. Sind doch die USA heute abhängigervom Öl aus dem Nahen Osten als je zuvor. Diese Abhängigkeit wurde aber nichtvon den Ölproduzenten geschaffen. Hinzu kommt, daß die Abhängigkeit von andereneinem keinerlei besondere Rechte auf deren Eigentum gibt. Andernfalls hätten wires mit dem Gesetz des Dschungels zu tun.

Welche weiteren Faktoren haben nach Ihrer Auffassung zu der Kursänderung deramerikanischen Politik beigetragen?

Der Faktor China hatte großes Gewicht. Um genauer zu sein: die illusorischenHoffnungen auf eine rasche Verschiebung des globalen Kräftegleichgewichtszugunsten der USA durch das Zusammengehen mit China. Zuvor hatten die USAihre Wiederannäherung an China viel behutsamer betrieben, um dieamerikanisch-sowjetischenBeziehungen, denenman für die amerikanischen Interessensehr große Bedeutung beimaß, nicht zu gefährden.Washington schien auch sorgfältigdarauf zu achten, daß nicht ein Punkt erreicht wurde, an dem man unliebsameVerpflichtungen auf sich nehmen mußte, die weniger China vor den amerikanischenKarren spannen würden als vielmehr die USA vor den chinesischen. Heute hat esden Anschein, als sei dieser Punkt bereits erreicht.Ich würde noch auf einen wichtigen innenpolitischen Faktor in Amerika hinweisen.

Auf den Wahlkampf?

Über den Wahlkampf 1980 können wir auch sprechen, aber der Faktor, an den ichdenke, hat längerfristige Auswirkungen. Ich meine die sich mehrenden Klagen desamerikanischen Establishments darüber, daß Amerika ‘unregierbar’ werde: derMangel an Konsens, die Zersplitterung politischer Intistutionen, das ‘Übermaß’ ansozialen Forderungen, die an das System gestellt werden, ein ‘Zuviel’ an Demokratie,usw. Aber es ist nicht vergessen, daß während des Kalten Krieges die USA

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eine besser organisierte, diszipliniertere Gesellschaft gewesen sind, was die Aufgabedes Regierens vereinfachte. Viele derer, die angesichts der ‘Unregierbarkeit’verzweifeln, habe ich im Verdacht, daß sie erwarten, daß die Amerikaner bei einerverschärften internationalen Lage gefügiger werden.Alle diese Faktoren zusammen bewirkten meiner Meinung nach bei wesentlichen

Teilen der amerikanischenMachtelite eine Art Übereinstimmung. Demnach galt derAusbau der militärischen Stärke Amerikas und die Bereitschaft sowie der Wille, sieanzuwenden, als ein Weg, sowohl die Macht und den Einfluß Amerikas in der Weltzu fördern, als auch die Instabilität im eigenen Land zu verringern.Zusätzlich sollte die wirtschaftliche Stärke Amerikas direkter und skrupelloser

angewendet werden, um einige unter Druck zu setzen und andere wiederumeinzuschüchtern.Natürlich ist das eine sehr grobe Skizzierung der Lage. Die Wirklichkeit ist

komplexer.

Das hört sich wie eine Einschränkung an.

Nun, ichmöchte die Situation nicht zu sehr vereinfachen undOrdnung und Systematikdort unterstellen, wo das eine wie das andere fehlt. So könnte ich zwei hauptsächlicheEinschränkungen anführen. Zum einen ist die Art, wie die Machtelite der USA zumKonsens gelangt und Entscheidungen trifft, so beschaffen, daß der Präsident nichtunbedingt auf ein großes Maß an Übereinstimmung angewiesen ist. Tatsächlich mages sogar einfacher sein, eine stärker aufgesplitterte Elite ohne einheitlicheOrientierungzu führen, als eine, die eng miteinander verbunden und selbstsicher ist. Zum zweiten:Obwohl an der Spitze des politischen Systems in Amerika Konsens aufzukommenscheint, bleiben, glaube ich, ernste Zweifel an dieser neuen Außenpolitik der USA.Sie wird in Frage gestellt, weil viele ihr Scheitern befürchten und glauben, sie seifür die USA selbst sehr gefährlich.

Was hat die politische Atmosphäre im Land verändert?

Dazu bedurfte es enormer Anstrengungen der traditionellen Gegner der Entspannung.Die öffentlicheMeinung in Amerika unterstützte die Entspannung sehr nachdrücklich.Aber es gab auch extreme Frustrationen aufgrund einiger außenpolitischerEntwicklungen während der letzten 10 Jahre. Die Falken waren mit ihrer Propagandavon der ‘sowjetischen Bedrohung’ und mit Parolen wie ‘Amerika läßt sich nichtherumsto-

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ßen’ sehr erfolgreich darin, diese Frustrationen in die gewünschte Richtung zu lenken.

War ein plötzlicher Ausbruch von Patriotismus vielleicht das Ergebnis des TeheranerGeiseldramas?

Man darf diesen Ausbruch nicht mit dem rechtfertigen, was der amerikanischenBorschaft in Teheran und deren Diplomaten widerfahren ist, sondern dieamerikanische Reaktion auf diese Ereignisse scheint mir eher Chauvinismus undHurrapatriotismus zu sein.

Lieben denn nicht auch die Russen ihr Vaterland?

Natürlich, aber wir erweisen auch dem Patriotismus anderer Nationen unsere Achtungund Wertschätzung. Wir sehen darin eine starke moralische Kraft, die in Zeitennationaler Krisen eine entscheidende Rolle spielen kann. Wahrer Patriotismus abersetzt auch eine rationale Haltung gegenüber dem eigenen Land voraus, und sogareine kritische, wenn es Fehler begeht. So übrigens hat Lenin Patriotismus verstanden.Man muß Patriotismus und nationalistischen Eifer, der die Völker schon so oftirreleitete, auseinanderhalten. Diese Art von Patriotismus hatte Samuel Johnson, derenglische Lexikograph des 19. Jahrhunderts, vor Augen, als er ihn ‘die letzte Zufluchtder Schurken’ nannte.

Sehen Sie noch andere Ursachen für den Kurswechsel der US-Politik?

Ja, die allgemeine politische Haltung der Carter-Administration. Im Februar 1980zitierte Time einen hohen Beamten des Außenministeriums, der sagte, Brzezinskihabe ‘endlich seinen Kalten Krieg bekommen’. ‘Es kam einigen außenpolitischenExperten wie Ironie vor’, fährt Time fort, ‘daß Brzezinskis ständiges Eintreten füreine harte Linie anscheinend durch eine Kriste gerechtfertigt wurde, diemöglicherweise durch seine Argumente, seine Politik der Nadelstiche gegenüberMoskau und seine Wendung nach Peking mitverursacht wurde.’4 Natürlich istBrzezinski nicht der einzige.Der Präsident und die gesamte Administration steuerten einen Zickzackkurs und

betrieben bei sehr wichtigen Fragen eine wankelmütige Politik. Dadurch wurde dasFundament der Entspannung in den USA beträchtlich geschmälert und die Positionihrer Gegner gestärkt.Unter den Falken inWashington ist es derzeitMode, die Entspannung zu verhöhnen

und in ihr die Ursache dafür zu sehen, daß Amerikas Willenskraft undEntschlossenheit der Welt gegenüber geschwächt sind.

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Sollte es wirklich an Willenskraft und Entschlossenheit auf irgendeinem Gebietgemangelt haben, dann war das Washingtons Haltung gegenüber derRüstungskontrolle, der Förderung gegenseitigen Vertrauens und dem Abbau derSpannungen.

Und schließlich die Präsidentschaftswahlen 1980. Sogar prominente Analytiker desWestens, wie Oberst Jonathan Alford, stellvertretender Direktor des InternationalInstitute for Strategie Studies in London, halten es für ‘in der Tat sehr, sehrbedauerlich‘, daß die ganze Welt verharrt und darauf warten muß, bis der Zirkusder Präsidentschaftswahl in Amerika vorüber ist. Alford sagte zu mir: ‘Das ist nichtnur ungeheuer bedauerlich, sondern möglicherweise auch ziemlich gefährlich.’

Die Zeit des Wahlkampfs in Amerika ist tatsächlich eine schlechte Zeit für gutePolitik und eine gute Zeit für schlechte Politik. Das ist in gewisserWeise verständlich.Bevor man ein ausgezeichneter oder ein miserabler Präsident wird, muß manüberhaupt erst einmal Präsident werden. Aber manchmal wundert man sich, warumes jedesmal aufs neue den Anschein hat, als hätten sich die Kandidaten verschworen,demMilitarismusVorschub zu leisten und dasWettrüsten und antisowjetischeGefühlezu fördern. Der bekannte amerikanische Wissenschaftler Jerome Wiesner erinnertein einem Artikel in der New York Times am Ende des letzten Wahlkampfes daran:‘Während eines jeden Präsidentschafts-wahlkampfes werden wir mit von hysterischerAngstmacherei geprägten Schätzungen der drohenden strategischen Überlegenheitder Sowjets bombardiert, begleitet von demRuf nach einer wesentlichen Verstärkungunserer Nuklearstreitkräfte.’5 Nach Wiesner läßt sich die Geschichte diesergefährlichen Tradition bis 1948 zurückverfolgen. Es gab seitdem in der Tat eineganze Reihe von Wahlkämpfen, die in dieser Hinsicht wirklich schlimm waren.Doch der Wahlkampf 1980 war wahrhaftig ein Unglück von internationalem

Ausmaß. Es wurden keine Debatten über die tatsächlichen Probleme, denen Amerikagegenübersteht, geführt. Auch wurde kein Versuch unternommen, die nationalenInteressen neu zu bewerten und vernünftige Wege zu finden, die diesen Interessendienlich sind. Was haben wir stattdessen erlebt? Ohrenbetäubendes Säbelrasseln, einheftiges gegenseitiges Überbieten in den Forderungen nach gesteigertenMilitärausgaben, ein feuerwerkartiges Kommandounternehmen im Iran und dieAnkündigung einer neuen, ziemlich gefährlichen Nukleardoktrin. Das Land befandsich im Zustand einer künstlichen Krise, weil nach Auffassung mancher Amerikanerder Präsident die einzige Rettung vor einer Wahlniederlage in einer Krisensituationsah.

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Was hätte die Alternative sein können?

Im Idealfall - obgleich ich selbst nicht recht daran glauben kann - könnte einWahlkampf als Mittel der politischen Bildung dienen und als ein Instrument, dasAnstöße für Korrekturen der Politik der Regierung gibt. Doch die Mechanismen despolitischen Prozesses waren solchen demokratischen Zwecken nicht förderlich. Ichmeine, Senator Edward Kennedy hatte recht, als er sagte, 1980 seien die politischenProzesse in Amerika einer Geiselnahme zum Opfer gefallen.

In einem Artikel der Prawda vom März 1980 haben Sie den Kurswechsel in deramerikanischen Außenpolitik als einen Versuch charakterisiert, einen weiteren KaltenKrieg zu beginnen.

Ja, denn es gibt eine ganze Reihe von Parallelen. Wir beobachten, daß man erneutzu militärischer Stärke das bevorzugtem Instrument der Außenpolitik zurückkehrt.Das ist genau das, was den ersten Kalten Krieg charakterisierte, als militärischeStärke das Haupt-Fundament, wenn nicht gar der Ersatz für Außenpolitik war. Diegegenwärtige Wende hin zum Kalten Krieg bedeutet erneut das Streben nachmilitärischer Überlegenheit der USA sowie eine ganz erhebliche Steigerung desWettrüstens und der Militärausgaben und ein Einfrieren der Gespräche zurRüstungsbegrenzung.Weiter zeigt sich eine Rückkehr zu einer aktiven Interventionspolitik. Mit der

Entsendung von Truppen zu drohen, ist in der amerikanischen Diplomatie wiedergang und gäbe geworden. Sogenannte mobile Eingreifreserven werden alsSpezialtruppen aufgebaut, um binnen kürzester Zeit an beliebiger Stelle militärischeingreifen zu können.Übrigens habe ich gelesen, daß solche Einheiten zum erstenMal Ende der fünfziger

Jahre von Henry Kissinger in einer Studie der Rockefeller-Stiftung vorgeschlagenwurden. Später, in den sechziger Jahren, wollte Lyndon B. Johnson sie, konnte aberden Kongreß nicht dafür gewinnen. Gegen diese Idee sprach sich ausgerechnet derVorreiter der Falken unter den Senatoren, Richard Russell aus Georgia, mit Nachruckaus, weil nach seiner Ansicht das bloße Vorhandensein solcher Truppen die USA inein zweites Vietnam verwickeln würde.Eine weitere Parallele liegt in einer Wendung hin zur Konfrontation in den

Beziehungen mit der Sowjetunion. Ein recht hysterischer Kurswechsel, nebenbeigesagt.

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Gehen wir möglicherweise einem neuen Kalten Krieg entgegen?

Das Entscheidende dabei ist, daß die zweite Auflage des Kalten Krieges sehr vielgefährlicher wäre. Da die Vernichtungswaffen inzwischen ein ganz neues Niveauerreicht haben, wäre bei einer Rückkehr zu offener Feindseligkeit und Konfrontationein militärischer Konflikt wahrscheinlicher und zugleich verheerender in seinenAuswirkungen. Darüber hinaus würden in den achtziger Jahren weit mehr Länder inden Sog des Kalten Krieges geraten als seinerzeit. Je größer aber die Zahl derBeteiligten an einem internationalen Konflikt ist, desto größer sind auch die Risiken,besonders natürlich, wenn einige der Beteiligten dazu neigen, auf der Weltbühneunbesonnen und unverantwortlich zu agieren.

Meinen Sie damit China?

Ja, hauptsächlich, aber nicht nur China. Bei einer Rückkehr zum Kalten Krieg wäredie Weiterverbreitung von Nuklearwaffen nicht zu vermeiden.Es gibt noch eine andere wichtige Seite. In den kommenden Jahrzehnten werden

weltweite Problemewie die Erschöpfung von Rohstoffen, die Umweltverschmutzungoder der Hunger noch dringlicher werden. Entspannung, Rüstungskontrolle undinternationale Zusammenarbeit würden die Chancen, diese Probleme zu lösen,erhöhen, während sie sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges sehr schwerlösen lassen würden.

Patrick Caddell, ein Berater Präsident Carters, sagte in einem Interview mit demPlayboy: ‘Ein kleiner Krieg ist sehr hilfreich, was die Wählerstimmen anbelangt.Daraus, daß es keinen Krieg gibt, läßt sich dagegen kein politisches Kapital schlagen.Jeder Präsident kann das Land mit überzeugenden kriegerischen Aktionen dazubringen, sich um ihn zu scharen. Eisenhower hatte Korea und den Libanon, Kennedyhatte Kuba und Vietnam, und Johnson, Nixon und Ford hatten ebenfalls Vietnam.’

Eine bezeichnende Illustration für die ‘Moral’ des Weißen Hauses: Krieg wird alsein akzeptables Mittel diskutiert, wenn es daraum geht, einen ganz normalenMachtwechsel zu verhindern. Deutet Caddells Außerung nicht auf einen ernsthaftenDefekt in einem politischen System hin, in dem der Krieg zum politischen Erfolgbeiträgt und deshalb willkommen ist?

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Caddell hört sich vielleicht zynisch an, aber solches Verhalten wurde in derVergangenheit oftmals an den Tag gelegt.

Ja, es ist seit langem ein Grundzug amerikanischer Politik, daß es die Politiker inschwierigen Zeiten einträglicher und sicherer finden, nach rechts zu driften, denstarken Mann zu spielen. Aus irgendeinem Grund wird eine solche Haltung immernoch für besonders patriotisch gehalten, obwohl gerade sie im Atomzeitalter dieschlimmsten Folgen für ein Land haben kann. Aus ebenso unerfindlichen Gründenwird eine solche Haltung auch als besonders realistisch angesehen, wenngleich esheutzutage die größte Illusion ist, Sicherheit durchWettrüsten und Gewaltanwendungerlangen zu wollen.Der Cowboy, der aus der Hüfte schießt, ist nach wie vor eine populäre Symbolfigur

in Amerika, doch es muß für diese Einstellungen noch gewichtigere psychologischeGründe geben. Eine davon könnte Denkfaulheit sein, die Unfähigkeit, alte, aus demKalten Krieg übernommene Vorstellungen abzuschütteln. Vorstellungen, die wegenihrer verführerischen Einfachheit stark verwurzelt bleiben.

Was meinen Sie mit Einfachheit?

In einer Welt des Kalten Krieges läuft alles in der Art eines billigenWestern ab. Manhat einen konkreten Feind, der die Ursache allen Übels ist. Man hat ein glasklaresZiel: den Feind zu erledigen. Je mehr Schaden man der anderen Seite zufügt, destobesser ist man selber dran. Man hat auch Mittel gefunden und erprobt, um es ohneschlechtes Gewissen zu tun. Man kann an atavistische Gefühle appellieren wieHurrapatriotismus, Feindseligkeit undMißtrauen gegenüber Leuten, die anders lebenund anders aussehen und damit dem starken Verlangen nach nationaler ÜberlegenheitAusdruck verleihen. Man befindet sich in einerWelt mit zwei Dimensionen: schwarzund weiß. Und, was ziemlich wichtig sein kann, man kann seinen politischen Standortzur kostbarsten Fernsehzeit innerhalb einer einzigen Minute umreißen.Die Denkkategorien der Entspannung sind dagegen viel ausgefeilter und

schwieriger zu begreifen. Man muß einen weiten Horizont haben und entsprechendtolerant sein, um zu verstehen, daß Koexistenz und Zusammenarbeit möglich undwünschenswert sind, auch wenn die Gesellschaftssysteme der einzelnen Länder, diepolitischen Institutionen, dieWerte und die Sympathien und Antipathien weitgehendverschieden sind. Es wäre dazu auch notwendig einzusehen, daß Beziehungenzwischen Ländern nicht rechnerisch aufgehen und eine Seite genauso viel gewinnt,wie die andere verliert, und daß trotz aller Differenzen und

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Schwierigkeiten dennoch die gemeinsamen Interessen bei weitem überwiegenwerden.Was noch schwieriger ist: Man muß einsehen können, daß die Schuld an einem

Problem nicht immer der andere hat, sondern oft auch die eigenen Fehler und daseigene falsche Handeln schuld sind, ganz zu schweigen von Ereignissen und Kräften,die niemand unter Kontrolle hat. Weiter muß man einsehen, daß Eigenschaften wieZurückhaltung,Mäßigung und Kompromißbereitschaft, die sowohl ein größeresMaßan Klugheit als auch mehr politischen Mut erfordern, vorzuziehen sind gegenüberSelbstgerechtigkeit, Arroganz und der Neigung, den starken Mann zu spielen.Schließlich sollte man versuchen, die andere Seite zu verstehen. Wie erscheint dieeigene Politik dem anderen?Welche Empfindungen erweckt die eigene Politik beimanderen?

Sind Sie enttäuscht? Hat sich Entspannung als zu kompliziert erwiesen, als daß diebreite Öffentlichkeit sie begreifen könnte?

Sehen Sie, es handelt sich um einen Prozeß. In den fünfziger Jahren verstanden nursehr wenige Leute die komplizierten politischen Zusammenhänge in der modernenWelt. In den sechziger Jahren wuchs die Zahl derer, die die Situation begriffen, raschan. Und in den siebziger Jahren wurden schließlich bestimmte Einsichten in diemoderne Welt bereits von Millionen von Menschen geteilt. Ich hoffe immer noch,daß die Idee der Entspannung in den achtziger Jahren die Oberhand gewinnen wird.

Sie haben gesagt, daß es große Mühe kostet, die Entspannung aufrechtzuerhalten,die Spannungen dagegen von allein entstehen. Wollten Sie damit zum Ausdruckbringen, daß Entspannung ein Netz komplizierter intellektueller und psychologischerVerflechtungen ist, verglichen mit den gefährlich vereinfachenden Formeln desKalten Krieges?

Ja, aber nicht nur das. Schwerfälligkeit spielt eine wichtige Rolle. Die Entspannungist erst ein paar Jahre alt, während der Kalte Krieg, der ihr vorausging, mehrereJahrzehnte gedauert hat. Diese Jahrzehnte haben nicht nur eine Unzahl vorgefaßterMeinungen und Vorurteile hinterlassen, sondern auch gewisse darin begründeteMechanismen. Ich spreche von Mechanismen wie demWettrüsten, den bestehendenmilitärischen und politischen Allianzen und auch von anderen Teilen einer riesigenInfrastruktur, die im Dienste des Kalten Krieges geschaffen wurden, wie z. B.Bürokratien und Organisationen für psychologische Kriegsführung, für subversiveTätigkeiten und andere ähnliche Dinge. Alle diese

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Mechanismen trachten danach, ihr Überleben und ihr Fortbestehen zu sichern. Dasbedeutet, sie müssen internationale Spannungen schaffen, die Rivalität aufmilitärischem Gebiet anspornen und Mißtrauen und Haß gegen den ‘äußeren Feind’säen.Diese Mechanismen werden in den USA noch verstärkt durch bestimmte

‘Transmissionsriemen’, durch die sie mit bedeutenden Teilen desWirtschaftssystemsund mit sehr einflußreichen etablierten Mächten verbunden sind.

Wird es je dauerhafte Entspannung geben?

Es spricht sehr vieles für die Entspannung. Sie besitzt eine starke vitale Kraft. DasHauptargument für Entspannung ist, daß es keine akzeptable Alternative gibt, wennwir den Weltuntergang vermeiden wollen.

Was genau versteht die UdSSR unter Entspannung?

Lassen Sie mich die offizielle sowjetische Definition von Leonid Breschnew zitieren:‘Entspannung bedeutet in erster Linie die Überwindung des Kalten Krieges und denÜbergang zu normalen, reibungslosen Beziehungen zwischen den Staaten.Entspannung bedeutet die Bereitschaft,Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeitennicht mit Gewalt, Drohungen oder mit Säbelrasseln zu lösen, sondern mit friedlichenMitteln am Verhandlungstisch. Entspannung setzt ein bestimmtes Maß an Vertrauenvoraus, sowie die Fähigkeit, die Interessen der anderen Seite mit einzubeziehen. Dasist, kurz gesagt, unsere Auffassung von Entspannung.’6

Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky sagte zu mir, seiner Meinung nachstelle der Österreichische Friedensvertrag aus dem Jahr 1955 den allersten Schritteiner Politik der Entspannung in Europa dar.

Die Unterzeichnung des Österreichischen Friedensvertrages war seiner Natur undseinen politischen Konsequenzen nach unzweifelhaft ein Akt der Entspannung. Aberich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich als den ersten Schritt dieses politischenProzesses betrachten können.

Die internationale Politik wird immer komplizierter. Nichtsdestoweniger spielen dieBeziehungen zwischen denUSA und der Sowjetunionweiterhin eine ausschlaggebendeRolle und bleiben der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Weltsystems.

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Sie haben recht. Obwohl es falsch wäre, jede Entwicklung auf der Erde unter demBlickwinkel dieser Beziehungen zu sehen, kann man ihre Bedeutung für dieMenschheit kaum überschätzen. Ich würde es so beschreiben: Eine Verbesserungder Beziehungen zwischen Moskau und Washington ist kein Allheilmittel für alleSchwierigkeiten; dagegen kann eine schrankenlose Feindseligkeit zwischen denbeiden zur Zerstörung der ganzen Zivilisation führen.

Ich fragte den Harvard-Psychologen B.F. Skinner, was heutzutage von absolutemVorrang sei. ‘Das Überleben!’ erwiderte er ohne zu zögern.

So einfach ist das. Das überragende gemeinsame Interesse der UdSSR und der USAist es tatsächlich, zu überleben. Deshalb ist die friedliche Koexistenz zwischen unsunabdingbar. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind auf diesem Planetenzusammengekettet. Keiner kann diesen Globus verlassen. Wir sind hier. DieAmerikaner sind hier. Wir müssen lernen, in Frieden miteinander zu leben. Gelingtes uns, so werden wir nicht nur überleben, sondern vielleicht auch imstande sein,Beziehungen aufzubauen, die für beide Seiten wie für die übrige Welt von Nutzensind.

Von Nutzen?

Unser Wohl und das Wohl der Welt hängen weitgehend davon ab, ob wir mehr fürfriedliche Zwecke ausgeben oder unsere Mittel für das Wettrüsten verschwenden.Die Zusammenarbeit zwischen den beiden größten wirtschaftlichen undwissenschaftlich-technischenMächten könnte für alle Seiten von ungeheuremNutzensein. Schließlich sehen wir uns mit wachsenden weltweiten Problemen konfrontiert,die nur in einer friedlichen Atmosphäre in Angriff genommen werden können.Wenn wir uns gestatten, uns in unkontrollierbare Feindseligkeiten zu verstricken,

steht uns bestenfalls eine trostlose, düstere Zukunft bevor, schlimmstenfalls aber dieatomare Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten.

Im Grunde genommen gibt es im herkömmlichen Sinn keine unmittelbarenKonfliktherde zwischen Moskau und Washington, wie z. B. Streitigkeiten überterritoriale Ansprüche.

Vor langer Zeit gab es vielleicht einmal einen potentiellen Zankapfel zwischenRußland und Amerika.

Alaska?

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Ja. Die Russen entdeckten das Gebiet schon lange vor der Gründung der VereinigtenStaaten. Aber die russische Regierung verkaufte es 1897 zu einem Preis von ca. fünfCents pro Hektar an Washington. Als Russe bedauere ich den Verkauf natürlich,weil es wirklich ein sehr schlechter Handel war. Andererseits hat uns der Verkaufaber vielleicht eine Menge Ärger erspart.

Offensichtlich sind die Schwierigkeiten in den gegenwärtigensowjetisch-amerikanischen Beziehungen ganz anderer Natur. Wir sprechen von denbeiden Hauptrivalen um die Einflußnahme in der Welt.

Gewiß, die Beziehungen zwischen den beiden größten undmächtigsten Ländern, diesich jahrzehntelang als die Hauptkontrahenten gegenüberstanden, zu verbessern, isteine unerhört schwierige Herausforderung. Aber die Realität des Atomzeitalterserfordert es.

Erwartungen, daß es zu besseren Beziehungen komme, werden ständig torpediert.Dies führt zu wachsender Hoffnungslosigkeit und zu Zynismus.

Unglücklicherweise ist das so. Es ist deshalb ein Unglück, weil in solch negativenEinstellungen gegenüber der Idee des Spannungsabbaus offensichtliche Gefahrenliegen.Wird dauernd eine solcheHaltung eingenommen, so werden es vieleMenschenfür selbstverständlich halten, daß nur Feindseligkeiten, ein unkontrolliertesWettrüstenund politische oder in der Zukunft vielleicht sogar militärische Auseinandersetzungenzu erwarten sind. Solche verzweifelten Stimmungen können zu sich - von selbst -erfüllenden Prophezeiungen werden.

Hat man die Ereignisse imWinter 1979/80 verfolgt, so kann man die Leute eigentlichnicht dafür tadeln, wenn sie solche Gefühle hegen.

Es ist dennoch falsch. Diese Ereignisse beweisen wohl kaum, daß eine Konfrontationund einWiederaufleben des Kalten Krieges unvermeidbar sind.Was wir erlebt haben,zeigt eher, daß die Prozesse, die auf eine Verbesserung unserer Beziehungen undeine Minderung der internationalen Spannungen abzielen, zum Stillstand gebrachtwerden können und eine Verschlechterung jederzeit provoziert werden kann. Es zeigtzugleich, daß vieles von dem, was in den letzten zehn Jahren von beiden Seiten untergroßen Anstrengungen undmit vielMühe behutsam aufgebaut wurde, nur allzu leichtzerstört werden kann. Anders gesagt: Wir haben gesehen, daß es nicht genug ist,bessere Beziehungen zu schaffen,

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sondern daß wir auch lernen müssen, sie zu bewahren und zu sichern. Das ist eineSchlußfolgerung, die wir in der Sowjetunion daraus ziehen.

Es wird viel von der Rivalität zwischen den USA und der UdSSR gesprochen. Diehöchsten Regierungskreise in Washington sagen, daß Rivalität die Hauptursacheder Probleme ist und auch weiterhin unter allen Umständen sein wird, selbst wennvielleicht eine begrenzte Zusammenarbeit hinzukommt.

Richtig, das ist die offizielle amerikanische Haltung. Während der letzten zwei bisdrei Jahre hat sich aus dem ‘Wettstreit und Zusammenarbeit’ ein ‘vorwiegendWettstreit’ entwickelt. Beide Elemente sind gewiß vorhanden. Die amerikanischenPolitiker haben damit nur Selbstverständlichkeitenwiederholt, als sie anfingen, davonzu sprechen.Wenn wir jedoch etwas verstehen wollen, anstatt auf eine weitere Plattitude

auszuweichen, sollten wir sehen, daß sich das relative Gewicht und die Bedeutungjedes dieser beiden Elemente in unseren Beziehungen - Wettstreit undZusammenarbeit - unter verschiedenen politischen Bedingungen beträchtlichunterscheiden können. Um ein bekanntes Zitat von Clausewitz abzuwandeln:Entspannung ist nicht die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen (d.h.vorsichtigeren und sichereren) Mitteln. Es handelt sich vielmehr um eine Politik, dieihrer Natur und ihren Zielsetzungen gemäß sich gegen den Kalten Krieg richtet, nichtjedoch darauf abzielt, bei Konflikten mit Mitteln, die bis an die Schwelle desAtomkriegs reichen, den Sieg zu erringen, sondern die Regelung und VermeidungvonKonflikten sowie denAbbau dermilitärischenKonfrontation und die Entwicklungder internationalen Zusammenarbeit zum Ziel hat.

Der US-Botschafter in Moskau, Malcolm Toon, sagte einmal - und das ist eineweitverbreitete Meinung in Washington -, daß es kein Jahrtausend der Freundschaftund des gegenseitigen Vertrauens geben könne ‘ohne einen grundlegenden Wandelder sowjetischen Denkweise und Weltanschauung’.

Man muß in übertrieben optimistischer Laune sein, um zu erwarten, es werde innaher Zukunft irgendwo auf Erden ein Jahrtausend der Freundschaft und desgegenseitigen Vertrauens anbrechen. Natürlich wäre es ideal, solch ein Jahrtausendzu schaffen, aber im Augenblick sollten wir zunächst viel einfachere Überlegungenanstellen, z. B. solche, die das schlichte Überleben betreffen.Die Vorstellung, eine spürbare Verbesserung der Beziehungen sei nur

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bei einem ‘grundlegendenWandel der sowjetischenDenkweise undWeltanschauung’möglich, ist einstweilen der sichere Weg zu noch größeren Spannungen. Das istgenau der Ansatzpunkt, von dem die USA seit mehr als einem halben Jahrhundertimmer wieder ausgegangen sind. Einziges Ergebnis war stets, daß unsere beidenLänder davon abgehalten wurden, ihre Beziehungen zu normalisieren. Keine Seitezog daraus Nutzen.Der wesentliche Kern der friedlichen Koexistenz ist, daß wir Seite an Seite leben

und normale Beziehungen - ja sogar gute Beziehungen - haben können und dochverschieden voneinander bleiben und nicht fordern, die andere Seite müsse wie wirwerden.

Aber die vorhandenen tiefen weltanschaulichen Unterschiede werden weiterhinungünstige Auswirkungen auf Beziehungen haben.

Nun, sie können solche Auswirkungen haben, aber das in diesen Unterschiedenenthaltene Potential hinsichtlich internationaler Konflikte sollte nicht übertriebenwerden.Stellen wir uns die rein hypothetische Situation vor, anstatt der Sowjetunion stünde

eine andere Supermacht den Vereinigten Staaten gegenüber, die den USA in jederWeise, also wie eine Kopie, gleicht: eine Supermacht mit der gleichen Denkweiseund Weltanschauung, dem gleichen wirtschaftlichen und politischen System, dengleichen politischen Gepflogenheiten einschließlich derer, die mit der Wahlzusammenhängen, mit einem ähnlichen Kongreß mit einer Reihe von schießwütigenPolitikern, mit dem gleichen Pentagon, dem gleichen militärisch-industriellenKomplex und den gleichen Massenmedien; eine Supermacht mit dem gleichenenergieverschwendenden Lebensstil und ganz ähnlichen Interessen am PersischenGolf, an Erdöl und anderen Bodenschätzen überall auf der Welt. Stellen wir uns vor,diese USA Nr. 2 sind genauso egozentrisch, selbstgerecht und voller messianischemSendungsbewußtsein wie Nr. 1, genauso voller Gelüste, die ganze Welt nach deneigenen Wünschen umzugestalten, um eine eigene Pax Americana zu begründen.Wäre unser Planet besser dran und ein sichererer Lebensraum als gegenwärtig, da

die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion nun einmal verschieden sind?

Augenblick mal. Wollen Sie damit sagen, die grundlegenden Unterschiede zwischenden USA und der UdSSR sind letztlich der Sache des Friedens dienlich?

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Nein, aber ich glaube, daß solche Unterschiede einen Krieg weder herbeiführenmüssen, noch erscheint es wahrscheinlich, daß es deshalb zum Krieg kommt. Undich glaube fest daran, daß die Existenz und die Politik der Sowjetunion der Sachedes Friedens förderlich sind.

Was wäre, wenn es eine UdSSR Nr. 1 und Nr. 2 gäbe?

Ich glaube, wir wären imstande, mit unserem Ebenbild viel leichter in Frieden zuleben.Aber lassen Sie mich fortfahren. Der ErsteWeltkrieg und ebenso zahllose kleinere

Kriege waren ja tatsächlich Zusammenstöße zwischen Staaten mit ähnlichenDenkweisen und sozio-ökonomischen Systemen, ähnlichen Zielen undWeltanschauungen. Im ZweitenWeltkrieg waren kapitalistische Länder untereinanderverfeindet, und einige waren Verbündete der UdSSR. Was densowjetisch-amerikanischen Wettstreit anbelangt, so würde ich sagen, daß es einnatürlicher Wettstreit bleibt, solange er keine Gefahr für den Frieden schafft und wirdas Ansteigen dermilitärischenRivalität unter Kontrolle haben, solangewir künstlicheKonflikte vermeiden und die vorrangigen gemeinsamen Interessen, dieZusammenarbeit verlangen, nicht vergessen.

Wie würden Sie ‘natürlichenWettstreit’ zwischen den zwei Supermächten definieren?

Es ist nicht so sehr ein Wettstreit zwischen zwei Supermächten als solchen, sonderneher ein Wettstreit zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen. NatürlicherWettstreit bedeutet, daß jedes System nicht nur seinem eigenen Volk, sondern auchder gesamten Welt zeigt, was es in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, in bezugauf Lebensqualität, Kultur, Ideen usw. hervorzubringen vermag. Solcher Wettstreitist unvermeidlich, aber er müßte nicht notwendigerweise zu politischen undmilitärischen Konflikten zwischen den Staaten führen.Ein erheblicher Teil der gegenwärtigenMißverständnisse wie auch der absichtlich

falschen Interpretationen der sowjetischen Anschauungen zu diesem Thema beruhenauf unterschiedlichen Vorstellungen von ‘Wettstreit’.Sowjetisch-amerikanischer Wettstreit wird in Amerika oft als Kampf zwischen

Gut und Böse dargestellt; zwischen Guten und Bösen, wobei die Amerikanerselbstverständlich die Guten sind.Jene, die versuchen, objektiver zu sein, oder wenigstens glauben, daß sie das sind,

denken vielleicht an eine Art Wettstreit zwischen zwei Weltreichen, wobei jedesvermutlich versucht, so viel wie möglich vom Kuchen

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an sich zu reißen und die Kontrolle über die Welt zu erlangen. Aber das ist nur fürdiejenigen eine ‘natürliche’ Betrachtungsweise, die von imperialistischem Denkendurchdrungen sind.

Die Vereinigten Staaten hatten 1945 das Schicksal der Welt in der Hand, haben aberdiese Position anscheinend verloren.

In unseren Augen hatte Washington nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesprochenimperiale und hegemonistische Ziele. Die Vereinigten Staaten waren wirtschaftlichtatsächlich stark dominierend und dank ihresMonopols auf Nuklearwaffen strategischweit überlegen. Sie glaubten, sie könnten die Welt nach ihrem Geschmack gestaltenund umgestalten, bzw. wenn man so will, die Welt ausbeuten.

Von einer solchen Stellung sind sie heute weit entfernt.

Ja, aber es ist nicht so, daß die USA aus freien Stücken oder aus Versehenweggegebenhaben, was sie einst in Händen gehalten hatten. Die Welt wandelte sich vielmehrgrundlegend, und die USA nehmen auf unserem Planeten nun einen bescheideneren,wenn auch immer noch bedeutenden Platz ein. Es hat sich jedoch für Washingtonals äußerst schwierig erwiesen zu lernen, mit diesen Veränderungen zu leben, alteIllusionen, falsche Vorstellungen und unbegründete Ansprüche loszuwerden. Inletzter Zeit sah es so aus, als ob diese überholten Ansprüche erneut WashingtonsAußenpolitik bestimmen würden.

Warum sollte nicht der Verdacht aufkommen, die UdSSR strebe nur danach, anstelleder USA diese überragende Position einzunehmen?

Eine solche Idee wäre unserer Denkweise und Weltanschauung vollkommen fremd.Es sollte auch daran erinnert werden, daß die sowjetischeWirtschaft für ihrWachstumnicht auf Expansion im Ausland angewiesen ist. Aber auch, wenn man das allesaußer acht ließe, gäbe es immer noch sehr stichhaltige praktische Gründe dafür, dieUSA in dieser Hinsicht nicht nachzuahmen.Ein Weltreich aufrechtzuerhalten, wird heutzutage immer kostspieliger, während

der Nutzen geringer wird. Sehen Sie sich die Probleme an, die Amerika in den letzten15 Jahren wegen seiner weltweiten Verwicklungen gehabt hat.Der momentane imperiale Zug kann nur dazu führen, daß Amerikas Probleme

noch weiter anwachsen. In der Welt von heute ist der Imperialismus einVerlustgeschäft. Er funktioniert einfach nicht.

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Wie beurteilen Sie gegenwartig die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen?

Je mehr ich mich mit den USA befaßt habe, desto vorsichtiger bin ich mit meinemUrteil geworden. Manchmal, wenn ich nach den amerikanisch-sowjetischenBeziehungen gefragt werde, fällt mir jener weise Mann ein, der auf die Frage ‘Wiegeht es deiner Frau?’ erwiderte: ‘Verglichen mit wem?‘. Nur wennman Beziehungenin einem Vergleich untersucht, kann man sowohl übertriebenen Pessimismus wieübersteigerten Optimismus vermeiden.Als Antwort auf Ihre Frage würde ich sagen, es gab schlechtere Zeiten in den

sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, aber es gab auch sehr viel bessere Zeiten.Genauer gesagt, da die Amerikaner 1980 so vieles getan haben, um unsereBeziehungen zu verschlechtern, haben diese Beziehungen nun den tiefstenPunkt-zumindest während der letzten 10 Jahre - erreicht.

Das ist eine ziemlich düstere Einschätzung.

Ich gäbe gern eine andere, doch was kann ich anderes sagen, nachdem sich dieCarter-Regierung buchstäblich austobte und dabei alles, was mit soviel Mühe undAnstrengung geschaffen wurde, zerschlug. Es hat den Anschein, als hätten einigeLeute von dieser Zerstörungsorgie seit langem geträumt und sich nur zurückgehalten.Die Rüstungskontrollgespräche wurden in Mitleidenschaft gezogen, wenn nicht

gar zunichte gemacht. Die Wirtschaftsbeziehungen sind fast völlig zum Erliegengekommen. Die kulturellen Beziehungen wurden unterbrochen. KonsularischeVerbindungen wurden ausgehöhlt. Das Abkommen über direkte Flugverbindungenwurde verletzt und viele Projekte wissenschaftlicher Zusammenarbeit wurdenabgebrochen. Es wurde eine Atmosphäre geschaffen, die antisowjetische Gmppenmit Erfolg zu kriminellen Handlungen ermutigte. Leider ist es viel leichter zuzerstören, als aufzubauen.

Erwarten Sie, daß die Beziehungen noch eine Weile auf diesem beklagenswertenStand bleiben?

Ich hoffe nicht. Wir waren und sind nach wie vor daran interessiert, geordnete undüberschaubare Beziehungen zu den USA zu unterhalten. Bei vielen Gelegenheitenhat die sowjetische Führung dieses Ziel in aller Deutlichkeit zumAusdruck gebracht.Es muß unterstrichen werden, daß wir es lieber hätten, unsere Beziehungen wärenwie 1972, als wir den

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Weg der Entspannung eingeschlagen hatten.Doch das hängt nicht allein von uns ab. Wie bei zwischenmenschlichen

Beziehungen kann einer allein einen Streit anfangen, wogegen Friede nur mit derZustimmung aller Beteiligten geschlossen werden kann.

Wie beeinflußt die Wahl Ronald Reagans die Aussichten für dieamerikanisch-sowjetischen Beziehungen in nächster Zeit?

Nun, zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man sich schlecht eine definitive Meinungdazu bilden. Und es wird geraume Zeit dauern, bis die Aussichten für unsereBeziehungen für die nächste Zeit klar zutage treten. Dies um so mehr, als jedeWachablösung in Washington dazu führt, daß Entscheidungen aus dem einfachenGrund verzögert werden, daß die neue Mannschaft Zeit braucht, um sich mit allenEinzelheiten vertraut zu machen. So wie es heute aussieht, stehen verschiedeneWegeoffen. Obwohl wir uns darüber im klaren sind, daß die während des Wahlkampfsgeführten Reden sehr oft wenig Hinweise auf die Politik nach derWahl geben, könnenwir dennoch manches von dem, was die Neulinge in WashingtonerSchlüsselpositionen vorher gesagt haben, nicht einfach beiseite schieben. Was siegesagt haben, spiegelte bis zu einem gewissen Grad ihre Ideologie wider, die eineAblehnung der Entspannung und eine starke Betonung der militärischen Stärke alsWerkzeug der Außenpolitik bejaht.Gleichzeitig weiß jeder, daß man sich dem Luxus, sich ganz und gar ideologischen

Auseinandersetzungen zu widmen, nur in der Opposition hingeben kann. Wie es einMitarbeiter Präsident Fords in seinen Erinnerungen ausdrückt, sieht es von ‘innen’noch einmal ganz anders aus. Wenn man an der Regierung ist, hat man es mit einerRealität zu tun, die sich häufig ganz wesentlich von der ‘Realität’ unterscheidet, dieman auf Festessen zur Finanzierung des Wahlkampfes darstellte. Und gegen Endedes Wahlkampfes, wie auch unmittelbar danach, konnte man Anzeichen feststellen,die auf den Umstand hinwiesen, daß die neue Führung, die sich der Mitte annäherte,bereit war, Mäßigung zu versprechen. So würde mich beides nicht überraschen -positive oder negative Entwicklungen.

Aber selbst, wenn Washington wünschte, die Beziehungen mit der Sowjetunion zuverbessern, blieben immer noch zahllose Hindernisse.

Ja, es gab schon immer Hindernisse, die einer Verbesserungsowjetisch-amerikanischer Beziehungen im Wege standen. Und viele davon gibt esauch heute. Aber die jüngste Geschichte, denke ich, hat deutlich

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genug gezeigt, daß es möglich ist, sie zu beseitigen, wenn beide Seiten begreifen,daß im beiderseitigen Interesse gewaltige Anstrengungen erforderlich sind. Trotzeiniger Enttäuschungen sind es diese Interessen meiner Meinung nach wert, dieBemühungen fortzusetzen.

Wir sprechen von Koexistenz. Drückt denn der berühmte Satz von Chruschtschow‘Wir werden euch begraben’ nicht immer noch die sowjetische Haltung angemessenaus?

Dieser Ausspruch wurde Gegenstand fieberhafter Spekulationen, als er vor zweiJahrzehnten fiel.Ich möchte die rhetorischen Qualitäten dieses speziellen Satzes nicht verteidigen,

aber lassen Sie mich aufzeigen, daß er alles andere als aggressiv oder kriegerischgemeint war. Vielmehr sollte damit unser Vertrauen in die historische Überlegenheitdes Sozialismus über den Kapitalismus ausgedrückt werden, die nach unsererÜberzeugung auf lange Sicht unweigerlich auf der ganzen Welt zum Sieg desSozialismus führen wird. Natürlich ist Sieg in dem Sinn zu verstehen, daß sich dieVölker in den kapitalistischen Ländern ohne Druck und Zwang von unserer Seitefür den Sozialismus entscheiden.Wir Kommunisten glauben daran. Sonst wären wir keine Kommunisten. Genauso,

wie ich annehme, daß die Verfechter des Kapitalismus oder des Systems der freienMarktwirtschaft, oder wie immer sie es auch nennen mögen, von der Überlegenheitihres Systems überzeugt sind und erwarten, daß früher oder später alle Länder ihmden Vorzug geben.Wir glauben aber nicht, daß uns unsere verschiedenen Überzeugungen und

Erwartungen davon abhalten sollten, miteinander auszukommen.

Wir im Westen glauben, die Kommunisten sind nicht einfach Zuschauer, was dieFrage sozialistischer Revolutionen angeht; sie betrachten es vielmehr als eine Pflichtdes Internationalismus, anderen Revolutionären beizustehen. Dadurch werden dannSituationen geschaffen, in denen für friedliche Koexistenz kein Platz bleibt.

Diese Überlegungen sind nur auf den ersten Blick plausibel. Uns ist der Ausgangdes Kampfes um den Sozialismus in anderen Ländern nicht gleichgültig, auchmachenwir kein Hehl aus unseren Sympathien. Aber wir halten daran fest, daß der einzigeWeg, sozialistische Revolutionen im Ausland zu fördern, der ist, ein Beispiel zugeben, indem wir in unserem Land eine bessere Gesellschaft aufbauen und die nochvorhandenen Probleme erfolgreicher lösen. Wir sind dagegen, anderen Ländern denSozialismus aufzuzwingen, gegen einen ‘Export der Revolution’.

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Zugleich aber widersetzen wir uns jedem Export der Konterrevolution, d.h., denVersuchen, vorrevolutionären Regierungen durch Einmischung von außen wiederin den Sattel zu verhelfen. Die Geschichte hat uns gezeigt, daß der Export derKonterrevolution eine weitverbreitete Praxis bleibt, d.h., die Feinde des Sozialismussind selbst keineswegs unbeteiligte Zuschauer.

Tut mir leid, aber das klingt wie Propaganda.

Uns ist es mit diesen Dingen sehr ernst. Tatsächlich war ja auch die erste ernsthafteAuseinandersetzung innerhalb unserer Partei, nach der Revolution von 1917, genaudieser Frage gewidmet, weil einige in der Partei - die Ultralinken, die Trotzkisten -darauf bestanden, wir sollten die Revolution mit dem Mittel des ‘revolutionärenKrieges’ über unsere Grenzen hinaus fortsetzen. Die Partei hat diese Idee entschiedenzurückgewiesen. Lenin beharrte darauf, daß es ‘ein vollständiger Bruch mit demMarxismus’ wäre, ein Land von außen zur Revolution zu drängen.7

Es gab anscheinend einen ähnlichen Konflikt zwischen Moskau und Peking.

Sie haben recht, das war eines der Hauptthemen, als in den späten fünfziger undfrühen sechziger Jahren erste Risse zwischen uns auftraten. Mao und seine Gruppeerklärten, die friedliche Koexistenz sei ein ‘Verrat der Revolution’, und sie beharrtendarauf, daß ‘die Macht aus den Läufen der Gewehre kommt’. Das war die gleicheunannehmbare Vorstellung, gegen die Lenin einst gekämpft hatte.Übrigens hat bislang anscheinend noch niemand versucht herauszufinden, welche

Rolle bei der rapiden Zunahme des Terrorismus in den sechziger Jahren und Anfangder siebziger Jahre diese Ideologie der Chinesen spielte (die in einer Reihe von Fällenpraktisch angewandt wurde, indem man zahlreiche Extremistengruppen im Auslandunterstützte).

Wie steht es mit Afghanistan? Hat die Sowjetunioh nicht seit 1978 einem kleinenNachbarn ihrenWillen aufgezwungen, sich nach und nach immer stärker eingemischt,bis zu einem Punkt, an dem sie heute das Land praktisch regiert. Das scheint einklassischer Fall des Exports des Kommunismus mit Waffengewalt zu sein.

Wir haben die April-Revolution 1978 nicht nach Afghanistan ‘expor-

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tiert’. Jeder, der die Lage dort kennt, weiß um diese Tatsache. Wir haben von derRevolution zuerst aus westlichen Medien erfahren.Tatsächlich mußte auch niemand die Revolution nach Afghanistan exportieren:

Die Situation im Land hatte einen Punkt erreicht, an dem eine radikale Änderungdes politischen und sozialen Systems für Afghanistan der einzige Ausweg aus dertiefen Krise war. Vergessen Sie nicht, daß Afghanistan zu den ärmsten undrückständigsten Ländern der Welt gehört. Es braucht dringend wirtschaftlicheEntwicklung, sozialen und kulturellen Fortschritt und eine sinnvolle Demokratie fürseine 17 Millionen Einwohner. Einige halbherzige Reformversuche gab es schonvor der Revolution, aber es gelang damit nicht, die sozialen und ökonomischenProbleme des Landes hinreichend zu verbessern. Eine Modernisierung durchallmähliche Entwicklung kam einfach nicht zustande, wogegen die Forderungennach Veränderung immer drängender wurden.Übrigens wurde der Umsturz, der imApril 1978 stattfand, vom alten Regime selbst

provoziert, als man nämlich versuchte, gegen die afghanische Linke einen Schlagzu landen und z. B. die Gewerkschaften, die Studentenverbände und die NationaleDemokratische Partei zu zerschlagen versuchte. Als Antwort auf eine Reihe vonMorden und Verhaftungen griffen die Nationalen Demokraten zu den Waffen undstürzten das alte Regime. Das war eine rein innerafghanische Entwicklung.

Aber die Sowjetunion hegte große Sympathien für die Revolutionäre.

Ja, richtig. Die Ziele der Revolution waren sehr edel und Ausdruck der wahrenBedürfnisse der Menschen: das Land denen zu geben, die es bebauen, den Hungerzu beseitigen, die Diskriminierung der Frauen und ethnischen Minderheiten zubeenden, das Volk zu bilden, das zu 90 Prozent aus Analphabeten besteht - kurzum:die elementaren Menschenrechte zu verwirklichen und soziale Gerechtigkeit zuschaffen. Wir haben nach der Revolution unsere wirtschaftliche und technischeUnterstützung für Afghanistan beträchtlich erhöht.

Auch die Militärhilfe?

Aber sicher. Die Revolution mußte sich verteidigen. Die ehedem herrschende Elite,die ihreMacht, ihren Landbesitz und ihre Privilegien infolge der Revolution verlorenhatte, unternahm alles, um die Macht wiederzuerlangen. Sie wurde dabei von denUSA, China, Pakistan, Saudi-Arabien und Ägypten aktiv unterstützt. Die neueRegierung in Kabul stand einer erschreckenden Reihe feindlicher Kräfte gegenüber.Man muß bedenken, daß ein Teil der afghanischen Grenze wegen der Wande-

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rungen der Nomaden praktisch offen ist. Beinahe vom ersten Tag der Revolution anwarAfghanistan fremden Einmischungen ausgesetzt. Bis diese schließlich dasAusmaßeines unerklärten Krieges erreichten. Mit anderen Worten, unsere Militärhilfe hattenicht zum Ziel, Afghanistan unseren Willen aufzuzwingen, sondern der Regierungzu helfen, der äußeren Einmischung Herr zu werden.

Auf Afghanistan sollten wir später zurückkommen. Wir sind abgewichen vom Themader friedlichen Koexistenz, die schließlich in hohem Maße davon abhängt, wie dieSowjetunion die Vereinigten Staaten einschätzt. Wie beurteilen Sie von Moskau ausdie Vereinigten Staaten?

Das ist eine komplizierte Frage. Amerika ist für die Sowjetunion von großemInteresse. Viele Bûcher und Artikel wurden dazu geschrieben. Es ist eine schwierigeAufgabe, eine substantielle und doch kurze Einschätzung zu geben. Ich will esversuchen, obwohl die Darstellung nur skizzenhaft sein kann.Ich möchte noch einmal wiederholen, daß die Menschen in der Sowjetunion

lebhaftes Interesse an Amerika haben. Das betrifft weite Kreise der Bevölkerung,ohne Ansehen des Alters, der Bildung oder des Berufs. Das ist meinerMeinung nachbei uns entschieden anders, verglichen mit dem Interesse der Amerikaner an derUdSSR.Wir sehen die Vereinigten Staaten als ein sehr starkes Land an, sowohl ökonomisch

als auch militärisch, als ein Land, das zu beobachten nie langweilig wird. Ganz privatwürde ich hinzufügen, daß es einen dennoch manchmal wütend machen kann.DieMenschen bei uns sind sehr an amerikanischer Kultur, Literatur und Filmkunst,

anMusik und Architektur interessiert. Die besten amerikanischen Arbeiten auf diesenGebieten sind weiten Kreisen bekannt. Unsere Spezialisten sind mit denErrungenschaften in der Technologie, der Industrie, der Medizin und derLandwirtschaft in Amerika bestens vertraut. Es herrscht Interesse und, insbesondereunter jungen Leuten, manchmal geradezu Enthusiasmus für bestimmte Merkmaledes ‘American way of life’, wie Popmusik, Jeans, Kaugummi, Pepsi Cola, Coca-Cola,den Wilden Westen, usw., usw.Zugleich ist die sowjetische Öffentlichkeit über die wachsenden Probleme, denen

Amerika gegenübersteht, gut informiert. Ich denke dabei in erster Linie anwirtschaftliche Probleme - Inflation, Arbeitslosigkeit, Energieprobleme, die Schwächedes Dollars usw. Ich denke auch an soziale Probleme, als da sind: dieLebensbedingungen der schwarzen Amerikaner, der Indianer und derspanischsprechenden ethnischenMinderheit; weiter die wachsenden Sorgen der altenstädtischen Zen-

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tren wie New York oder Cleveland, die Gesundheitsfürsorge, die für die Mehrheitder Amerikaner unzureichend ist, die Kriminalität und die Drogensucht und vielesandere.Schließlich denke ich an politische und geistige Probleme, die die amerikanische

Gesellschaft bedrängen.Wir sind überzeugt, und der Lauf der Geschichte bestätigt uns darin, daß in Amerika

die ausschlaggebendeMacht, die letzte Entscheidung über staatliche Angelegenheitenbei der Elite der Konzerne liegt, und diese Überzeugung bestimmt in ganz erheblichemGrad unsere Ansichten über die amerikanische Demokratie und den amerikanischenLebensstil.

Wie haben die Menschen in der UdSSR den Watergate-Skandal aufgenommen?

Sie fanden ihn höchst ungewöhnlich. Aber offensichtlich ging es den Amerikanernselbst so. Etwas Ähnliches hatte sich in der Geschichte der USA niemals vorhererreignet. Nebenbei gesagt, verschiedene Forscher unseres Instituts haben daraufgewettet, daß Nixon vorzeitig zurücktreten werde. Ebenso viele aber behielten nichtrecht; ich würde deshalb mit unseren prophetischen Gaben nicht prahlen wollen.

Ich möchte an Sie ein paar Fragen über das Institut zum Studium der USA undKanadas richten. Sie haben da, man muß schon sagen, ein prachtvolles Gebäudeaus dem 18. Jahrhundert, ich glaube, nicht einmal eine Meile vom Kreml entfernt.Würden Sie bitte erklären, was Sie und Ihre Kollegen dort tun?

Nun, Sie können mir glauben, daß wir unsere Zeit nicht nur damit verbringen,Wettenüber politische Ereignisse in den USA abzuschließen. Unser Institut ist eines vonvielen Forschungszentren, die die sowjetischeAkademie derWissenschaften unterhält.

Wann wurde es gegründet?

1968.

Was sind Ihre Studienschwerpunkte?

Amerikanische und kanadische Wirtschaftsprobleme, innerpolitische und sozialeProbleme, die politischen Parteien, die Vorgänge im Zusammenhang mit der Wahlusw. Wir untersuchen auch die Militärpolitik der USA, nicht das militärischeEstablishment als solches, sondern die

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Auswirkungen von Rüstungsausgaben und Rüstungsprogrammen sowie den Einflußvonmilitärischen Doktrinen und Gegebenheiten auf die amerikanische Außenpolitik,die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen natürlich eingeschlossen. Ebensobefassen wir uns mit Problemen der Rüstungskontrolle. Eine besondere Abteilungbetreibt Forschungen über allgemeine Probleme der US-Außenpolitik und ihrerregionalen Schwierigkeiten, wie die Politik der USA gegenüber Europa, Asien unddem Nahen Osten sowie gegenüber den Entwicklungsländern. Es gibt auch eineAbteilung, die die öffentliche Meinung, die Ideologie und Kultur in Amerikauntersucht.

Haben Sie viele Mitarbeiter?

Ungefähr 350, hinzu kommen 20 bis 30 Doktoranden. Unser Institut verleiht denDoktorgrad. Ein Großteil unserer Mitarbeiter wurde hier ausgebildet.

Wo erscheinen Ihre Veröffentlichungen?

Hauptsächlich veröffentlichen wir Bücher. Zu unseren letzten Veröffentlichungengehören z. B: ‘Neueste Konzepte der amerikanischen Außenpolitik’, ‘Kanada an derSchwelle der achtziger Jahre’, ‘Politisches Bewußtsein in den USA heute’ und ‘DieWirtschaft der USA: Probleme und Widersprüche’.Wir geben auch eineMonatszeitschrift heraus. Unsere Spezialisten sind sehr gefragt

für ein breites Bildungsprogramm; sie halten Vorlesungen, schreiben Artikel undtreten im Fernsehen auf.

Sicher gehen die Forschungsberichte auch an die Regierung?

Nun, sollten wir irgendwelche Erleuchtungen haben, so ist es kein Problem für uns,diese der Regierung zu Gehör zu bringen. Aber Erleuchtungen muß man erst malhaben. Wenn wir von Leuten aus der Regierung zu Themen, die unser Spezialgebietsind, gefragt werden, so antworten wir bereitwillig. Aber ich möchte betonen, daßunser Institut nicht als ständiger Zulieferer für die Außenpolitik fungiert. Das istAufgabe des Außenministeriums und unserer Botschaft in Washington UnsereAufgabe ist es, Langzeitprobleme und Tendenzen zu untersuchen und eineGrundlagenforschung zu betreiben, die dazu beiträgt, die Länder, die wir beobachten,gründlicher und verläßlicher zu verstehen.

Es müßte eigentlich entsprechende Einrichtungen in Amerika geben.

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Etwas, was dem direkt entspricht, gibt es nicht. Es gibt aber an vielen Universitätenkleine Zentren zur Erforschung der UdSSR, oder auch im Rahmen vonOrganisationen, die vom Pentagon gefördert werden, wie die RAND Corporationoder das Institute for Defense Analysis. Es gibt dann noch andere Zentren, wie z. B.das George Kennan Institute an der Smithsonian Institution in Washington.

Haben Sie regelmäßige Kontakte mit amerikanischen Forschern?

Ja, wir unterhalten viele Arbeitskontakte mit Universitäten, dem Council on ForeignRelations, der Brookings Institution, dem Stanford Research Institute und anderenZentren und Universitäten. Mit einigen führen wir gemeinsame Forschungsprojektedurch.

Tauschen Sie auch Wissenschaftler aus?

Ja, unsere Leute gehen dorthin, und wir laden unsererseitsWissenschaftler, Personendes öffentlichen Lebens, Prominente aus der Wirtschaft und andere zu uns ein.Daneben wenden sich viele Amerikaner an uns, wenn sie Moskau besuchen.

Können Sie ein paar Namen nennen?

Natürlich. Walter Mondale hat bei uns einen Vortrag gehalten, als er noch Senatorwar. Edmund Muskie besuchte uns, seinerzeit ebenfalls Senator. Averell Harrimanwar mehrmals Gast des Instituts.Wir haben auch Führer der kommunistischen Partei der USA, wie Gus Hall, Henry

Winston und Angela Davis zu Gast gehabt.Wen noch? Die Liste ist ziemlich lang: die Senatoren Kennedy, Biden, Baker,

Tower, Garn, den Kongreßabgeordneten Vanik u.a., Cyrus Vance und selbst ZbigniewBrzezinski, Harold Brown und Marshall Shulman, Michael Blumenthal, ArthurBurns, John K. Galbraith, George Kennan, Robert Pranger, Leslie Gelb, HaroldAgnew vom Los Alamos Nuclear Weapons Laboratory, Paul Doty und StanleyHoffman von Harvard, William Kintner, David Rockefeller, den Präsidenten derBank of America, A. Clausen, Tex Thornton und Roy Ash von Litton Industries,Paul Austin von Coca-Cola und Don Kendall von Pepsi Cola. Den oberstenBundesrichter Warren Burger, General a. D. James Gavin, Admiral a. D. GeneLaRocque, fast alle Mitglieder des Ausschusses des Repräsentantenhauses für dieStreitkräfte, sowie Buckley.

Welcher Buckley?

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Es waren sogar zwei Buckleys hier, wenn ich mich recht erinnere, William F. jr. undsein Bruder James.

Haben Sie aus all den Gesprächen mit diesen Besuchern und bei ihren eigenen Reisenin die Vereinigten Staaten nicht den Eindruck gewonnen, daß die Amerikaner oftdazu neigen, viel Aufhebens um ihre Probleme zu machen und zu übertreiben? Esmuß eine Art von masochistischem Zug im Wesen der Amerikaner geben.

Sehen Sie, jede Gesellschaft hat ihre eigenen Maßstäbe dafür, was ein Problem istund was nicht. DieseMaßstäbe ändern sich im Laufe der Zeit. Es stimmt, Amerikanerneigen dazu, sehr offen über manche ihrer Probleme zu sprechen, und ich halte dasfür ihre starke Seite. Ich glaube nicht, daß das Masochismus ist. Wir Kommunistennennen es Selbstkritik, und wir glauben, daß sie nur hilfreich dabei sein kann, eineGesellschaft weiterzuentwickeln.Gleichzeitig sollte die Selbstkritik der Amerikaner nicht immer für bare Münze

genommen werden, sie hat ihre sonderbaren Seiten.Die Amerikaner haben z. B. eine besondere Gabe dafür, ihre Probleme durch

‘Exorzismus’ auszutreiben, sie reden ihre Probleme hinweg, wenn ich so sagen darf.Oft scheint es, daß sie es für ausreichend erachten, ein Problem aufzuwerfen, zuerörtern, sogar in grelles Licht zu tauchen, ihr Unbehagen darüber laut zu bekunden- und schließlich alles wieder zu vergessen, um sich gleich darauf dem nächstenwunden Punkt zuzuwenden. Das wirkt dann so, als würde man aus einem KesselDampf ablassen.Eine weitere Eigenheit, die den Außenstehenden verblüfft, ist die Fähigkeit der

Amerikaner, die Übel ihrer Gesellschaft reinzuwaschen und damit zu leben. DieAmerikaner wissen z. B. genau, daß die Polizei von Baltimore - und nicht nur dort- korrupt ist, daß die Spielkasinos von derMafia kontrolliert werden, daß dieWerbungvoller Lügen ist, daß Politiker oft betrügen, um gewählt zu werden, und es mit ihrenVersprechungen nicht so genau nehmen, sobald sie erst einmal gewählt sind, daßwiderliche Dinge in der Politik und im Geschäftsleben geschehen, usw. Aber trotzallem kommt es zu keinem öffentlichen Sturm der Entrüstung. Weit gefehlt: Es siehtsogar aus, als würden einige Leute in diesen Dingen eine vergnügliche Unterhaltungoder eine Art Sport erblicken, und einige beneiden die Akteure sogar noch um derenGeschicklichkeit.Was nun den Masochismus anbelangt - derartige Klagen kann man in den USA

tatsächlich immer häufiger hören. Ich glaube nicht, daß das Zufall ist. In den letztenJahren kann man eindeutig beobachten, daß der

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Trend von der Selbstkritik wegführt und zur nationalen Selbstzufriedenheit hingeht;der Wunsch, die Probleme frontal anzugehen, wird dabei geschwächt.

Können Sie das genauer ausführen?

Viele Leute mit starkem Einfluß auf die öffentliche Meinung in den USA habenversucht, den Amerikanern einzureden, daß es ihnen noch nie so gut gegangen seiwie heute, bzw., daß es ihnen doch immer noch besser gehe als anderen Ländern,oder daß die Ursachen für ihre Probleme nicht im eigenen Land lägen. Diese Artintellektueller Feigheit und das Suchen nach Sündenböcken ist in meinen Augenheutzutage eines der ernsten geistig-politischen Probleme in Amerika. Es ist deshalbein wahrhaft ernstes Problem, weil es lähmend auf die Suche nach vernünftigenLösungen wirkt, und zwar gerade in demMoment, wo diese dringend geboten wären.Zugleich wächst die Gefahr, daß eine Nation ernste Fehler begeht.

Sie meinen also nicht, daß die Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten Selbstkritikübten, heute überholt sind?

Nein, das glaube ich nicht. Und sei es nur, weil die Suche nach Lösungen für diezahlreichen Probleme, vor denen das Land steht, noch längst nicht abgeschlossenist. MeineMitarbeiter und ich sind derMeinung, daß die amerikanische Gesellschafteine langwierige und vielschichtige Krise durchlebt hat, von der viele Bereiche desLebens betroffen sind. Eines wird immer deutlicher: Wenn in den USA nicht sehrernste und rationale Versuche gemacht werden, die amerikanische Politikeinschließlich der Außenpolitik den sich verändernden Gegebenheiten anzupassen,dann stehen Amerika eine Reihe sehr starker Erschütterungen bevor - womöglichschwerere, als je im Laufe seiner Geschichte auftraten.

Eine Revolution?

Keine Sorge, für die nächste Zeit ist der Zusammenbruch der gesellschaftlichen undpolitischen Institutionen in Amerika nicht zu erwarten.

Also keine kommunistische Machtübernahme im Jahre 1984?

Falls sich die Dinge in eine Richtung entwickeln, wie sie einige Leute

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prophezeien, könnten sich bis 1984 einige der Vorhersagen Orwells über den ‘GroßenBruder’ erfüllen, aber das wäre dann mit Sicherheit ein antikommunistischer ‘GroßerBruder’.

Wäre nicht eine Verschärfung der amerikanischen Probleme in Ihren Augen zubegrüßen, da sie doch für die Sowjetunion in dem historischen Wettstreit mit denUSA von Vorteil wäre?

Nun, jeder verspürt eine gewisse intellektuelle Genugtuung, wenn sich seinepolitischen Anschauungen und Theorien einmal mehr als richtig erweisen. AuchMarxisten machen davon keine Ausnahme. Doch das ist keineswegs Schadenfreude.In der UdSSR weiß man sehr wohl, daß nicht ‘Wall Street’ unter dem Niedergangder Städte, unter der Arbeitslosigkeit oder der Kriminalität auf den Straßen zu leidenhat, sondern der Durchschnittsamerikaner, der für seinen Lebensunterhalt arbeitenmuß, wenn er überhaupt Arbeit findet. Wie sollten wir uns über diese Problemefreuen können?Wenn Sie die Berichte unserer Medien über die sozialen Probleme im Westen

analysieren, werden Sie feststellen, daß wir weder Freudengesänge darüberanstimmen, noch uns dabei die Hände reiben. Wir bringen keinen Toast auf dieAutoschlangen vor amerikanischen Tankstellen aus oder berufen jedesmal einenParteitag ein, wenn wieder eine amerikanische Stadt Bankrott macht.Weitsichtigere Leute bei uns sind sogar über die Verschärfung gewisser Probleme

Amerikas besorgt - nicht weil sie das gegenwärtige amerikanische System gut fänden,sondern weil sie sich darüber im klaren sind, daß möglicherweise eine nationaleKrise tiefere Gründe haben kann als nur jeweils die, die auch von der breitenÖffentlichkeit erkannt und folglich bei Lösungsversuchen berücksichtigt werden.Sehen Sie, so kann es z. B. sein, daß Leute mit dem gegenwärtigen Zustandunzufrieden sind, sie aber bei der Suche nach den tatsächlichen Ursachen in die Irregeleitet werden. Sie hören dann vielleicht auf falsche Propheten und unterstützenScheinlösungen. Genau das geschah in den zwanziger Jahren in Italien und in dendreißiger Jahren in Deutschland. Schließlich hat dieselbe Weltwirtschaftskrise, dieFranklin Roosevelt in den USA an die Regierung brachte und dort zu den Reformendes ‘NewDeal’ führte, Hitler zum deutschen Führer gemacht und damit zum ZweitenWeltkrieg geführt.Ja, wir wollen den historischen Wettstreit mit dem Kapitalismus gewinnen, aber

wir möchten unseren Sieg nicht auf radioaktiven Trümmerhaufen feiern.

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Das Magazin Time veröffentlichte Zahlen, nach denen sozialistische Regierungen39 Prozent der Erdoberfläche kontrollieren, während 42 Prozent derWeltbevölkerungAnhänger des Marxismus sind.

Diese Zahlen mögen im einzelnen korrekturbedürftig sein, aber es ist für jedenoffenkundig, daß der Sozialismus, der Kommunismus, in weiten Teilen der Welt zurGrundlage des Lebens geworden ist.

Wie erklären Sie sich die Bemerkung Carters in seiner Rede in Annapolis, daß derKommunismus für die Völker zunehmend an ‘Anziehungskraft verloren hat, selbstfür jene marxistisch-leninistischer Färbung’?

Wir können solche Aussprüche nur alsWunschdenken desWeißen Hauses verstehen.Sie werden von den gerade genannten Zahlen widerlegt, zeigen diese doch, daß derTrend der Entwicklung in derWelt weggeht vomKapitalismus, einschließlich seineramerikanischen Spielart. Hat nicht Brzezinski in einem Artikel von 1976 mit derÜberschrift ‘Amerika in einer feindlichen Welt’ davor gewarnt, die USA könntenschon bald das einzige kapitalistische Land sein?Natürlich verläuft kein geschichtlicher Prozeß, keine Revolution je ganz

reibungslos. Sozialistische Länder mußten auch mancherlei Enttäuschungeneinstecken. Analysiert man aber objektiv, was in der Welt vor sich geht, so denkeich, der ehemalige amerikanische Präsident hätte vorsichtiger sein sollen.

Sie glauben nicht an eine Revolution in absehbarer Zeit in den USA. Halten Sie esaber ganz allgemein für möglich, daß es früher oder später zu radikalenVeränderungen in diesem Land kommt?

Warum nicht? Nachdem ich an eine sozialistische Zukunft für alle Völker glaube,sehe ich gemäß der marxistischen Auffassung keinen Grund dafür, warum die USAin dieser Hinsicht eine Ausnahme sein sollten. Vielleicht nicht in der nahen Zukunft- aber irgendwann einmal wird die amerikanische Gesellschaft zum Sozialismusübergehen. Es liegt allein beim amerikanischenVolk, darüber zu entscheiden, welchesSystem seinen Interessen am besten dient. Wenn die Zeit für eine sozialistischeRevolution in Amerika reif ist, könnte sich diese von anderen Revolutionen, die dieWelt bis jetzt erlebt hat, ganz wesentlich unterscheiden. Der amerikanischeSozialismus wird das Markenzeichen ‘Made in USA’ tragen.

1933 haben sich die Amerikaner für eine rationale Lösung ausgespro-

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chen, während die Deutschen den Weg ins Verderben einschlugen. Wer weiß, ob dieVereinigten Staaten nicht unbeabsichtigt in eine ähnliche Krise stolpern könnten?

Hoffentlich nicht, es spricht manches dagegen. Wenn ich eine Beobachtung machenkonnte, dann die, daß die Amerikaner erheblich dazugelernt haben in den letztenJahrzehnten. Stürmische Zeiten sind gewöhnlich bessere Lehrer als verschlafeneZeiten. Neben einem Mehr an geschichtlicher Erfahrung beobachten wir einendeutlichen Fortschritt, was die Bildung der breiten Schichten anbelangt. DieAmerikaner lesen heutzutage mehr. Es gibt geradezu einen Leseboom. Das Interessean wahrer Kultur hat ebenfalls erheblich zugenommen. Viele Amerikaner sind heutewahrscheinlich weniger empfänglich für amtliche Propaganda und eher geneigt, sichselbst ein Urteil zu bilden, als früher.Aber diese Entwicklung auf dem Weg zu einer realistischen Einschätzung der

Welt ist ziemlich langsam vorangegangen, fürchte ich. Immer noch gibt es eineMenge Unwissenheit und Leichtgläubigkeit im Lande. Die Situation ist heute sowohlin Amerika als auch anderswo sehr viel komplexer als 1933, und gleichzeitig wurdendie Techniken zur Manipulation der Massen mit Riesenschritten weiterentwickelt.Jene, die das Volk in die Irre führen wollen, sind raffinierter geworden. Aus diesenGründen kann meiner Meinung nach nicht ausgeschlossen werden, daß trotz dergewachsenen Aufgeklärtheit des Durchschnittsamerikaners in einer Krise ein falscherWeg eingeschlagen wird.

Tatsächlich hat man in Europa oft das Gefühl, die Amerikaner weigern sich einfacheinzusehen, daß Weltreiche heutzutage überholt sind. Wir Europäer haben dieseLektion gelernt. Jetzt sind die Amerikaner an der Reihe.

Ich gebe Ihnen recht. Es gibt noch viele Lektionen zu lernen, viele neue Realitätenzu begreifen. Bei den Amerikanern ist z. B. das Gefühl der absoluten Sicherheit tiefeingewurzelt, weil es über zwei Jahrhunderte hinweg durch die unüberwindbarenBarrieren der beiden Ozeane genährt wurde. Die strategische Überlegenheit, derersich die USA in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erfreuten, mußzu diesem Gefühl der absoluten Sicherheit beigetragen haben. Nun hat sich dieSituation aber drastisch verändert. Amerika muß sich nicht nur mit einem ungefährenmilitärischen Gleichgewicht abfinden, sondern ist auch genauso verwundbar undvon der Vernichtung bedroht wie wir und alle übrigen Länder, falls es zu einemKriegkommen sollte. Das ist für die Amerikaner eine neue psychologische Erfahrung. Esist gewiß nicht

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leicht, sich daran zu gewöhnen und damit zu Rande zu kommen. Dadurch wird einKlima gefördert, in dem sich mit dem Hinweis auf die ‘sowjetische Bedrohung’Panikmache betreiben läßt, und zugleich wird die ständige Versuchung geschaffen,jenen Gefolgschaft zu leisten, die ein Wunder - nämlich aufs neue dieUnverwundbarkeit früherer Jahre - versprechen, allein vorausgesetzt, es stehtgenügend Geld dafür zur Verfügung und es werden Waffen im entsprechendenUmfang produziert.Weiter muß man sehen, daß die Abgeschiedenheit, die fast vollständige

ökonomische Unabhängigkeit und die Isolation, in der Amerika sich lange befand,das Interesse an der übrigen Welt nicht gerade gefördert haben. Deshalb liegt es denAmerikanern auch nicht besonders, die Verwicklungen auf der internationalen Ebenezu erforschen. Das trägt mit dazu bei, daß die Außenpolitik nur allzu oft ein Opferder innenpolitischen Situation wird.

Welche Einstellung hat der Durchschnittsamerikaner, Ihren Eindrücken nach, zurUdSSR?

Nun, ich bin sehr viel Unwissenheit begegnet, unzutreffenden Vorstellungen,Mißverständnissen, Mißtrauen usw. Doch so gut wie nie bin ich Haß begegnet -weder gegenüber unserem Land, noch gegenüber den Russen. DerDurchschnittsamerikaner - das ist wenigstens der Eindruck, den ich bei Begegnungengewonnen habe - ist bereit, zuzuhören und zu lernen. Ich glaube auch, daß dienatürliche Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der meisten Amerikaner dabeisehr hilfreich ist.

1979 hat der für auswartige Beziehungen zuständige Ausschuß des Senats ein Buchüber die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen herausgegeben. Sie haben, nebenanderen, dazu einen Beitrag geleistet. Ich möchte, daß wir uns mit einigen der vonIhnen dort erörterten Fragen befassen. Eine davon ist, ob die amerikanischeÖffentlichkeit eine zutreffende Vorstellung von der Sowjetunion, ihren Menschenund ihren Führern hat.

Ich glaube nicht, daß das der Fall ist - nicht einmal, was die sowjetische Haltung zuden Problemen anbelangt, die auch für die USA selbst, für ihre nationalen Interessenund die Formulierung ihrer Außenpolitik von großer Bedeutung sind. DieUngenauigkeit vieler amerikanischer Vorstellungen von der Sowjetunion kann kaumüberraschen, wenn man davon ausgeht, daß das Bild der Amerikaner von derSowjetunion von so ausgesprochen einseitigen und verzerrten Informationen bestimmtwurde, wie es bei keinem anderen Land der Welt der Fall ist - zumal das auch nochüber einen so langen Zeitraum hinweg geschah. Das ist der

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Grund, warum die Vorstellungen geprägt sind von starker Voreingenommenheit undVorurteilen.

Eine andere Frage war damals: Auf welchen Informationen basiert in Amerika dieöffentliche Meinung über die Sowjetunion und Ausdruck welcher psychologischer,sozialer und politischer Kräfte ist sie?

Meine Antwort war damals folgende: Der Großteil der Informationen, die dieAmerikaner über die Sowjetunion erhalten, stammt aus zweiter Hand, wird demamerikanischen Publikum durch amerikanische Vermittler dargebracht (Journalisten,Experten, Politiker, CIA-Berichte und andere staatliche oder private Organisationen).Bis zu einem gewissen Grad ist das wahrscheinlich bei anderen Ländern ähnlich.Wenn es aber gilt, die amerikanische Öffentlichkeit über die Sowjetunion zuinformieren, zeigen diese Vermittler sehr oft eine besondere Voreingenommenheit.Dies ist das Ergebnis persönlicher ideologischer Vorurteile, wie sie in vielen Fällencharakteristisch sind, und ist zugleich Ausdruck des direkten oder indirekten Drucks,der von jenen Kräften des Establishments ausgeübt wird, in deren Interesse es liegt,ein verzerrtes Bild von der Sowjetunion zu schaffen.In wohl kaum einem Land der Erde haben diverse Interessen so starken Einfluß

auf die nationale Politik und die ihr zugrunde liegenden Konzeptionen, wievergleichsweise in den USA. Zu denen, die vitales Interesse daran haben, daß inAmerika verzerrte Vorstellungen über die UdSSR herrschen, gehören dermilitärisch-industrielle Machtkomplex, die ultrakonservativen Kräfte, die Gruppen,die vom Kalten Krieg profitieren, antikommunistische Emigrantenorganisationenaus Osteuropa, die Israel-Lobby und andere.

Hat die amerikanische Öffentlichkeit nach Ihrer Auffassung tatsächlich einen Einflußauf die US-Außenpolitik?

Ohne Zweifel beeinflußt die öffentlicheMeinung die offizielle Politik. Dieser Einflußkann zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen (z. B. vor Wahlen)in der Tat sehr wesentlich sein. Nachmeiner Auffassung nehmen jedoch die Exekutiveund der Kongreß normalerweise auf Stimmungen in der öffentlichenMeinungwenigerRücksicht als auf die der gut organisierten ‘pressure groups’. Natürlich geschieht esoft, daß die US-Regierung und Gruppen, die auf die Politik Einfluß nehmen wollen,anstatt den Empfindungen der Öffentlichkeit zumAusdruck zu verhelfen, versuchen,solche Empfindungen in der von ihnen gewünschten Art und Weise umzuformen.

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Unterscheidet sich das Bild, das in der öffentlichen Meinung von der Sowjetunionherrscht, wesentlich von dem der Experten?

Das ist wahrscheinlich der Fall, aber man darf nicht vergessen, daß es ruiter denUS-Experten selbst die unterschiedlichsten Auffassungen gibt. Lange Zeit nahm dieMehrzahl von ihnen eine äußerst feindselige Haltung gegenüber der Sowjetunionein. Das ist wahrscheinlich dem Umstand zuzuschreiben, daß die Studien über dieSowjetunion zur Zeit des Kalten Krieges einen Aufschwung erlebten und viele derExperten diesen politischen Zielen dienten. Der unverhältnismäßig hohe Anteilosteuropäischer Emigranten unter den US-Experten war ebenfalls ein Faktor. IhreEinstellung gegenüber der Sowjetunion mag in Verbindung mit den Veränderungen,zu denen es in ihren Heimatländern nach dem Zweiten Weltkrieg kam, von starkablehnenden persönlichen Gefühlen geprägt worden sein.Die Situation hat sich während der letzten Jahre bis zu einem gewissen Grad

geändert. Die USA haben inzwischen einen Kreis von Experten für die Sowjetunionhervorgebracht, die in Amerika geboren wurden und in ihren politischen Ansichtendas ganze Spektrum der amerikanischen Politik abdecken. Seien es nun Expertendes alten oder des neuen Schlages - die US-Politiker finden unter ihren Ansichtenfür praktisch jeden gewünschten Standpunkt eine Bestätigung.Das ist nicht als Aufforderung gemeint, den Experten zu mißtrauen. Ich meine

nur, daß erstens - selbst wenn Experten zur Verfügung stehen - die persönlicheKompetenz der politischen Führer unerläßlich ist; und daß zweitens diejenigen, diesich auf den Rat von Experten verlassen wollen, zuerst selbst Experten werden sollten,um zu wissen, wer aller Voraussicht nach eine objektive und gründliche Analyse derSowjetunion erstellen kann.

Wie sieht es mit der politischen Elite aus - ist sie Ihrer Meinung nach ausreichendaufgeklärt, um wirksam Politik betreiben zu können?

Hier haben wir es mit einem weiteren Paradoxon zu tun. Man kann nicht umhinfestzustellen, daß eine sehr starke Konzentration intellektueller Kapazitäten - vielleichtdie stärkste auf dieser Welt - im Dienst der US-Außenpolitik steht (oder zumindestbis jetzt stand). Die Administration war stets darauf bedacht, die besten und klügstenKöpfe dafür zu gewinnen, in der Regierung und für die Regierung zu arbeiten. EineUnzahl von Forschungsstätten innerhalb und außerhalb der Universitäten prüft Tagfür Tag aufmerksam alles, was der Beachtung überhaupt wert ist, und sogar Dinge,die solche Beachtung ganz und gar nicht verdienen.

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Das Pentagon, der CIA, das Außenministerium und andere Behörden haben riesigeSummen ausgegeben, um der Politik analytische Forschung als Entscheidungshilfean die Hand zu geben. Die Eliten werden ständig über die Schwierigkeiten derWeltpolitik und über dieWege zur Lösungmilitärischer, ökonomischer und politischerProbleme aufgeklärt und in diesen Bereichen weitergebildet.Aber sobald man die praktischen Ergebnisse dieser umfangreichen Aktivitäten

betrachtet, fragt man sich, in welchem Verhältnis Aufwand und Ertrag stehen. Dasgesamte intellektuelle Potential, das hinter der US-Politik steht, erwies sich alsunfähig, Amerika vor einer Reihe sehr gravierender Fehleinschätzungen und falscherSchritte zu bewahren, die vielleicht sogar schwerwiegender waren als die andererLänder.

Wie erklären Sie dieses Paradoxon?

Nun, ich glaube nicht, daß die Politiker einfach nicht auf die Forscher und Analytikerhören. Mag sein, daß sie manchmal nicht sorgfältig genug zuhören, und zudem sindvielleicht manchmal die Spezialisten nicht allzu gut. Aber die Ursachen für diepolitischen Fehlschläge liegen tiefer. Man muß verschiedene innenpolitischeMechanismen in Betracht ziehen, die die Politiker zu falschen oder gar irrationalenEntscheidungen drängen. Die Art und Weise, in der in den USA die politischeFührungsschicht ausgewählt wird, bringt mit sich, daß in manchen Fällen dieQualifikation dieser führenden Persönlichkeiten möglicherweise nicht den Aufgabenentspricht, die sie zu erfüllen haben. Die wichtigste Ursache aber ist dasVorhandensein bestimmter mächtiger Interessen des Establishments, die imWiderspruch stehen zu den Forderungen der Logik und der Vernunft und dieseverneinen.Stanley Hoffman hat einmal gesagt, daß die Ursachen für die Fehler in der

amerikanischen Außenpolitik nicht mit den Muskeln in Zusammenhang stehen,sondern mit dem Verstand. Das ist mit Sicherheit wahr. Wenn wir aber jetzt eineneue Welle politischer Kraftmeierei beobachten können, so nicht nur deshalb, weileinige Leute zu dumm sind, um die Situation zu verstehen. Es muß tatsächlich dasSystem selbst sein, das die Vernunft zügelt und ihr die Grenzen durch einen sehrengen und festen Rahmen setzt.

Welche Aspekte der amerikanischen Außenpolitik bereiten Ihnen das größteKopfzerbrechen?

Einige haben wir schon angesprochen, wie z. B. die Neigung, den äußerstkomplizierten Problemen der Sicherheit im Atomzeitalter auszu-

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weichen und stattdessen die Rüstungsausgaben weiter zu erhöhen und Berge vonWaffen anzuhäufen. Ein weiterer Aspekt ist der Vorrang, den politische Führerinnerpolitischen Erwägungen einräumen, und zwar auf Kosten eines beständigenKurses in der Außenpolitik. Schauen Sie sich dazu nur das Beispiel der US-Politikim Nahen Osten an.Die US-Außenpolitik zeigt einen Mangel an Kontinuität, der die USA zu einem

unbeständigen und unzuverlässigen Partner macht, selbst bei so wesentlichenBemühungen wie den Abkommen zur Rüstungsbegrenzung. Sehen Sie sich nur dietraurige Geschichte des SALTII-Vertrages an. Wir begannen die Verhandlungendarüber mit Präsident Nixon, mußten dann aber mit Ford und Carter fast wieder vonvorne beginnen. Und nun gibt es abermals Versuche, eine ‘Neuverhandlung’ desVertrages in die Wege zu leiten.Ich möchte auch auf deutlich spürbare Reste eines messianischen

Sendungsbewußtseins hinweisen.

Was meinen Sie damit genau?

Vielleicht handelt es sich dabei um ein Erbe der calvinistischen Vergangenheit. Injenen Tagen mußten die Pilgerväter, allein schon um des Überlebens willen, einfachdaran glauben, daß sie ein neues, auserwähltes Land gründeten, das frei von denSünden der Welt war. Möglich, daß dieses Gefühl, das dem eigenen Schutz diente,im Laufe der Zeit einen offensiven Charakter annahm und in Überzeugungen vonder ‘schicksalhaften Bestimmung’ und später dem ‘Jahrhundert Amerikas’ seinenAusdruck fand. Obwohl dieses Sendungsbewußtsein viel von seinem alten Schwungverloren hat, ist bis heute das tiefe, fast instinktive Verlangen unvermindert erhalten,andere, wenn möglich mit Worten, wenn nötig mit Gewalt, zu schulmeistern.In jüngster Zeit haben wir sogar die Wiedergeburt eines Enthusiasmus erlebt, der

von dem gleichen, immer wieder aufs neue auftauchenden Geist getragen wird.Das schlimmste dabei ist, daß dadurch ständig zweierlei Maß angelegt wird, was

sich auf die Aufrechterhaltung normaler Beziehungen zwischen denUSA und anderenLändern äußerst störend auswirkt.

Falls Sie an die ‘Menschenrechts-Politik’ denken - darauf werden wir zurückkommen.Lassen Sie uns im Augenblick bei der amerikanischen Außenpolitik verweilen.

Ein weiteres typisches Merkmal der US-Außenpolitik - wenngleich Amerika darinnicht einzigartig dasteht - ist die außergewöhnliche

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Hochschätzung vonMacht und Stärke. Soweit ich die amerikanischeHaltung begriffenhabe, ist ein schwaches Land für sie kein Partner, nur dem Starken begegnen sie mitRespekt. Davon sollten wir als Tatsache ausgehen, zumindest für die Gegenwart.Obwohl die vorherrschende amerikanische Klage der Stärke der Sowjetunion gilt,

ja sogar unserer angeblichen Überlegenheit (ob letzteres der Wahrheit entspricht, isteine andere Frage), glaube ich, daß Schwäche unsererseits zu keinen besserensowjetisch-amerikanischen Beziehungen geführt hätte. Ganz im Gegenteil. UnserLand wäre, was seine Beziehungen zu den USA anbelangt, in diesem Fall weitausschlechter dran als heute. Das gleiche gilt übrigens für viele andere Länder, die ihreUnabhängigkeit und Handlungsfreiheit nur gewinnen konnten, weil die Sowjetunionals ein Gegengewicht zur überwältigenden Macht Amerikas auf den Plan trat. Wennich das sage, so will ich die Amerikaner damit nicht als ein Volk darstellen, das schonvon Natur aus aggressiv ist. Dem ist einfach nicht so, wenn wir die Amerikaner alsEinzelwesen betrachten. Obwohl die USA gerne anderen Ländern eine besondereHochschätzung der Stärke unterstellen, trifft eine solche Wertschätzung doch amallermeisten für die USA selbst zu. Das haben wir mehr als einmal am eigenen Leibzu spüren bekommen.

Ihr Erstarken hat aber die Beziehungen zu den USA nun auch nicht gerade in eineRomanze verwandelt.

Nein, das nicht. Ich wollte auch nur betonen, daß Schwäche unsererseits dieseBeziehungen nur noch verschlechtert hatte. Dadurch wären die falschen Hoffnungen,uns nach amerikanischen Vorstellungen ummodeln zu können, nur noch verstärktworden. Wenn ich das feststelle, so habe ich nichtsdestotrotz die Hoffnung, daß sichdie Situation ändern wird, daß der Aspekt der Macht sowohl in der US-Politik wieauch in internationalen Beziehungen allgemein eine geringere Rolle spielen wird.Entspannung, Rüstungskontrolle und internationale Zusammenarbeit sollen uns jagenau auf diesen Weg bringen.

Während der zwanzig Jahre, in denen ich von Corpus Christi in Texas bis Sheboyganin Wisconsin Vorträge vor amerikanischem Publikum gehalten habe, ist es mir niegelungen, deutlich zu machen, was Krieg bedeutet, und die Furcht vor dem Krieg,wie wir sie während der Okkupation Hollands durch Nazi-Deutschland erlebten, zubeschreiben.

GunnarMyrdal hat jüngst festgestellt: ‘Daß die US-Bürger die Schrekken des Kriegesnicht aus eigener Erinnerung kennen, stellt für die USA

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wie für die übrige Welt eine Gefahr dar.’8

Es ist eine Tatsache, daß die beidenKriege, die Europa verwüsteten und die Haltungder Europäer zum Krieg so einschneidend veränderten, Amerika reicher machten.Während des Zweiten Weltkriegs, der 50 Millionen Tote forderte, betrugen dieamerikanischen Verluste ungefähr zwei Prozent der unseren. Auf dem LeningraderPiskarev Soldatenfriedhof ruhen allein schon mehr Gefallene, als die Amerikaner anallen Kriegsfronten zusammen zu beklagen hatten. Für unser Land bedeutete derZweite Weltkrieg die Vernichtung eines ungeheuren ökonomischen Potentials,während derselbe Krieg die Amerikaner aus der wirtschaftlichen Depression führte.In Korea und Südostasien waren die Verluste der Amerikaner nichts im Vergleichzu den Leiden der Koreaner, Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten.Natürlich mache ich Amerika daraus keinen Vorwurf, daß es weniger als andere

auf dem Altar des Krieges geopfert hat, noch fordere ich es zu größeren Opfern auf.Von dem Standpunkt der Moral aus betrachtet, könnte man von den Amerikanernaber eine weit weniger sorglose Haltung dem Krieg gegenüber erwarten. Was diepraktische Seite angeht, so stimme ich mit Myrdal darin überein, daß dadurch, daßin ihrer geschichtlichen Erfahrung Lücken bestehen, im Bewußtsein der Amerikanerein wichtiger Sicherheitsmechanismus fehlt.

Als Europäer würde ich sagen, das alles hängt sehr eng mit der typischamerikanischen Egozentrik zusammen.

Ich glaube, Sie haben recht. Ich habe oft erlebt, wie schwierig es für Amerikaner ist,sich in die Lage anderer Völker zu versetzen, ja auch nur die Folgen desamerikanischen Handelns für andere zu ermessen.Manchmal glaube ich, es sind nicht nur die dubiosen Absichten und etablierten

Interessen eines Teils der Amerikaner, die einige der brennendsten Probleme vonheute schaffen, auch ihre Unfähigkeit, das Leben durch die Brille der anderen Seitezu sehen, trägt dazu bei. Wir haben schon davon gesprochen, daß die USA z. B. beider Einschätzung der militärischen Stärke der Sowjetunion die tatsächlichenGefahrenignoriert, denen die Sowjetunion sich gegenübersieht, zugleich aber heftig die‘sowjetische Bedrohung’ beklagt.Ich glaube auch nicht, daß die USA ihre eigenen Verbündeten vollkommen

verstehen. Vor allem verstehen sie nicht, daß Europa für die Europäer nicht einvorgeschobener Außenposten ist, der das amerikanische Kernland bewacht, nichteine weitentfernte Bühne für taktische Schachzüge, sondern daß es ihr Lebensraumist - und zwar ihr einziger. Vielleicht hat Europa deshalb zur Entspannung und zueiner Verbesserung

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der Beziehungen zu der UdSSR eine andere Einstellung. Vonwestdeutschen Freundenhörte ich, daß Jimmy Carter fast die gesamten vier Jahre seiner Regierungszeitbrauchte, um zu begreifen, was die Ostpolitik wirklich für dieWestdeutschen bedeutet.Man kann nur hoffen, daß sein Nachfolger schneller lernt.Die amerikanische Ignoranz gegenüber der Dritten Welt ist sogar noch größer.

Ich glaube nicht, daß die Amerikaner überhaupt wissen, wie die Völker der DrittenWelt leben, was sie fühlen und was sie wollen - nicht einmal was Amerikas nächsteNachbarn betrifft, wie die Völker von El Salvador, Nicaragua, Guatemala und Panamaoder das übrige Lateinamerika.Oft scheint es mir so, als hätten die Amerikaner in ihrer Geschichte unerhörtes

Glück gehabt, vielleicht zu viel Glück, umVölker, derenGeschichte weniger glücklichverlaufen ist, verstehen zu können und für sie tiefe Sympathien zu hegen.

Was ist zu den vielgerühmten amerikanischen Wohltätigkeitsprogrammen undkostenlosen Hilfslieferungen zu sagen?

Zugegeben, es gibt viele caritative Institutionen, von denen manche bei derBeseitigung von Armut und anderem menschlichen Elend mithelfen. Aber was dieMildtätigkeit anbelangt, möchte ich nicht den üblichen Vorwurf wiederholen, eshandle sich dabei lediglich darum, das Gewissen zu beruhigen, um die eigene Sattheitum so mehr genießen zu können. In manchen Fällen sind die Motive ganz andere,in manchen Fällen sind sie edel. Aber die meisten Wohltätigkeitsprogramme sindmeilenweit von Idealen wie der Selbstlosigkeit und dem Teilen in christlicherNächstenliebe entfernt. Sie richten sich vielmehrweitgehend nach denwirtschaftlichenund politischen Interessen des amerikanischen Establishments.Nehmenwir die Ereignisse 1980 in Kamputschea. Einerseits behinderten die USA

die Lieferung von Hilfsgütern an die kamputscheanische Regierung, die den größtenTeil des Landes kontrollierte und einen verzweifelten Versuch unternahm, diesesvom Schicksal hart getroffene Volk vor Tod und Erniedrigung, welche die barbarischeHerrschaft Pol Pots über das Land gebracht hatte, zu retten. Andererseits pochtendie Amerikaner lautstark auf ihr Recht, den Resten der Pol-Pot-Armee nahe derthailändischen Grenze ‘humanitäre Hilfe’ zukommen zu lassen. Damit nicht genugdes Unrechts, lasteten die Amerikaner der kamputscheanischen Regierung auch nochan, sie stehe dem menschlichen Leid gleichgültig gegenüber.Man kann das amerikanische Verhalten in diesem Fall beim besten Wil-

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len nicht als Ausdruck humanitären Anliegens bezeichnen. Allerdings gewinnen dieVorgänge an Logik, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß einerseits die USA mitChina gemeinsame Sachemachen und Pol Pot ChinasMarionette war und andererseitsdie Gelegenheit zur Vergeltung an Vietnam bestand. Ferner wird oft im Eiferselbstgerechter Empörung übersehen, daß der Löwenanteil der Schuld anKamputscheas hartem Schicksal bei den Vereinigten Staaten liegt. Haben dochletztlich die USA den Weg für Pol Pot geebnet, indem sie 1970 militärisch gegendas damalige Kambodscha vorgingen und indem sie sich in die innerenAngelegenheiten einmischten und damit den Sturz der neutralistischen Regierungdes Prinzen Norodom Sihanuk erleichterten.

Um zu den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zurückzukehren: Glauben Sie,daß eine pluralistische, ungeordnete und bisweilen außer Rand und Band geratendeGesellschaft wirklich mit einer geordneten und zentralisierten Gesellschaft inKoexistenz leben kann?

Wenn eine Gesellschaft außer Rand und Band gerät, ist es, für wen auch immer,schwierig, mit ihr zu leben. Aber lassen wir Fälle nationalistischer Hysterie alsaußergewöhnliche Situationen hier einmal außer Betracht.Den amerikanischen ‘Pluralismus’ dafür verantwortlich zu machen, daß die

Entspannung in den letzten Jahren Rückschläge erlitten hat, würde nichts anderesbedeuten, als einen Sündenbock zu suchen. Wir wissen, daß die amerikanischeGesellschaft vielschichtig, heterogen und in gewisser Hinsicht dezentralisiert ist, undwir sind ganz und gar darauf vorbereitet, mit dieser Gesellschaft so in Koexistenzzu leben, wie sie wirklich ist.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn der US-Kongreß disziplinierter wäre und denPräsidenten z. B. in dringenden Angelegenheiten, wie dem SALT II-Abkommen,unterstützen würde.

Sicher wäre es sinnvoll. Aber wir müssen Realisten sein. Der Kongreß spielt impolitischen System der USA eine wichtige Rolle, und jetzt, nach all der Erfahrung,die wir mit ihm gemacht haben, verstehen wir die politischenVorgänge inWashingtongut genug.Allerdings, das muß ich eingestehen, zweifeln wir manchmal daran, ob

Verfahrensregeln weise zu nennen sind, die es einigen Senatoren, die eine kleineMinderheit vertreten, möglich machen, einen Vertrag zu blockieren, der vonhervorragender, ja entscheidender Bedeutung für die ganze Nation ist und der lautUmfragen von einer Mehrheit von über

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70 Prozent unterstützt wird, bei nur 10-15 Prozent Gegenstimmen. Aber solcheFragen wollen wir außer acht lassen, denn wir wissen, daß sie eine Frage derVerfassung sind, über die nur die Amerikaner selbst entscheiden können.Wir sind im übrigen der festen Überzeugung, daß die Entspannung einer ehrlich

geführten politischen Debatte in Washington standgehalten hätte, ja sogar gestärktdaraus hervorgegangen wäre.Nach unserer Auffassung waren es nicht die verfassungsmäßigen Rechte des

Kongresses, die zu den Problemen im Handel und beim SALT-Abkommen führten,genauso wenig, wie die Pressefreiheit für den dogmatischen Antisowjetismusverantwortlich ist, der in den amerikanischen Medien vorherrscht. Das Problembesteht darin, daß sich wohletablierte, festverankerte und weitverzweigte Kräfteinnerhalb der Machtelite - wie z. B. das militärisch-industrielle Macht- undInteressenkartell -, die daran interessiert sind, die Entspannung zu unterhöhlen unddie sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu stören, des Pluralismus in den USAauf sehr wirklungsvolle Weise bedienen.Jene, die andere Interessen haben, und auch jene, die die nationalen Interessen in

ihrer Gesamtheit wahren müssen, haben es diesmal nicht geschafft, sich diesenAngriffen wirkungsvoll zu widersetzen, so daß die Entspannung problematischgeworden ist. Ich möchte sogar behaupten, daß das im Kongreß nicht passiert wäre,wenn die Exekutive hartnäckiger und nicht so unentschlossen gewesen wäre.

Sie geben der Exekutive die Schuld?

Ja, vor allem, was die Debatte zum SALT II-Abkommen anbelangt. Niemand hätteden Vertragsgegnern mit mehr Autorität entgegentreten können als derRegierungsapparat. Nur die Regierung konnte der Öffentlichkeit nachweisen, daßes eine militärische Überlegenheit der UdSSR über die USA nicht gibt und daß diegrößte Bedrohung für die Sicherheit der USA nicht von der Sowjetunion ausgeht,sondern von einem unkontrolliertenWettrüsten. Die US-Regierung hätte auch besserals irgend jemand sonst die Öffentlichkeit über die tatsächliche Situation im Bereichdes sowjetisch-amerikanischen Handels und anderer wichtiger Themen aufklärenkönnen.Unglücklicherweise hat das Weiße Haus diese Chance nicht nur verpaßt, sondern

in entscheidenden Phasen der Kampagne gegen die Entspannung selbst mitgewirktund die positiven und realistischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung mitabgewürgt.

Was halten Sie von dem Argument, die USA könnten in einem mit vollem

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Einsatz geführten Wettstreit mit der Sowjetunion nicht ihre gesamten Resourcenaufbieten, da sie ein weniger straff geführtes Land sind?

Genau genommen ist dieses Argument die Kehrseite der Vorstellung, die Sowjetunionmüßte erst eine weniger straff geführte Gesellschaft werden, bevor die USA einerKoexistenz mit ihr zustimmen könnten. Die Liberalen bevorzugen in der Regel eine‘weniger straff geführte’ Sowjetunion, die Konservativen ein ‘straffer geführtes’Amerika. Die extreme Rechte will beides.Während die Amerikaner das Recht haben, die USA so zu ‘organisieren’, wie sie

wollen, müssen sie es uns überlassen, unsere grundlegendenHoheitsrechte auszuüben- unsere eigene Gesellschaftsordnung zu bestimmen.Hinzu kommt, daß all diese vereinfachenden Vergleiche an dem entscheidenden

Punkt, den ich schon erwähnt habe, vorbeizielen: Der eigentliche Wettstreit findetzwischen sozialen Systemen statt, d.h., zwischen ihrer Fähigkeit, den Menschen vonheute ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu ermöglichen. Es ist wichtig, das zubetonen, denn wenn die Amerikaner ‘Ressourcen mobilisieren’ sagen, meinen siewohl kaum mehr Geld für die Armen und Alten. Sie meinen nicht die friedlicheKoexistenz und den friedlichen Wettstreit. Die militärische Nebenbedeutung desWortes ‘mobilisieren’ ist nicht ohne Symbolik.

Sie würden also nicht verleugnen, daß die UdSSR für eine Auseinandersetzung mitden USA besser vorbereitet zu sein scheint, als es die Amerikaner für eineAuseinandersetzung mit den Russen sind?

Weil in unserer Gesellschaft größere Einmütigkeit herrscht und wir uns geschlossenerum eine nationale Sache sammeln, sind wir, glaube ich, besser dafür gerüstet, jedwedenationale Politik konsequent zu verfolgen - vorzugsweise eine Politik derEntspannung, aber im Fall der Konfrontation auch eine Politik mit den dannerforderlichen Maßnahmen. Gleichzeitig sollte man aber nicht die Fähigkeit derAmerikaner unterschätzen, solche gemeinsamenAnstrengungen zuwege zu bringen,bedauerlicherweise aber sind sie mit sehr viel mehr Bereitschaft bei der Sache, wennes um eine Auseinandersetzung geht, wenn die Trommeln des Patriotismus, ja desHurrapatriotismus ertönen und der Schlachtruf erschallt ‘Gib's ihnen, Harry!’ (oderJimmy, oder Ronnie) - ganz gleich, wer ‘sie’ nun gerade sind. Die späten siebzigerJahre und der Beginn der achtziger Jahre haben uns die Richtigkeit dieser Theseerneut demonstriert.Freilich dürfte heutzutage die Fähigkeit, alle Kräfte für eine Auseinan-

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dersetzung aufzubieten, nicht mehr von allzu großer Bedeutung sein. Wenn es nichtzum schlimmsten kommt und die Zeit der Konfrontation früher oder später abgelöstwird von einer neuen Periode der Entspannung, wird diese Fähigkeit keine großeRolle spielen. Kommt es aber zum schlimmsten Fall - ist es dann noch von Belang,ob sich eine Nation durch Bereitschaft, Geschlossenheit oder nationale Gefühleauszeichnete?

Reginald Bartholomew, ein ehemaligerMitarbeiter Brzezinskis und späterer Direktordes State Department Bureau of Political and Military Affairs, deutete in einemGespräch mit mir an, im Weißen Haus habe man mitunter den Eindruck, dieSowjetunion stelle Amerikas Mannhaftigkeit auf die Probe.

Ich muß mich häufig über die Besessenheit amerikanischer Politiker wundern, wennes um ihreMannhaftigkeit geht; nicht um die persönlicheMannhaftigkeit, die natürlichwichtig ist, sondern um die Mannhaftigkeit in politischer Hinsicht. Sie scheinen andieser Vorstellung von Männlichkeit Gefallen zu finden, daran, sich wie Matadorein der Arena zu gebärden.Effekthascherei kann aber in der Politik extrem gefährliche Folgen haben. Das

Ziel kann nicht und sollte auch nicht sein, bei jeder Gelegenheit der ganzen Weltseine Mannhaftigkeit zu beweisen. Eine solche Haltung führt zu falschen undunrealistischen Ansätzen in öffentlichen Angelegenheiten. Worauf es dagegen beimpolitischen Handeln wirklich ankommt, das sind Weisheit, Zurückhaltung, dieFähigkeit, die andere Seite zu verstehen, sowie das Auffinden möglicher undrealisierbarer Lösungen, denn Politik war immer die Kunst des Möglichen und wirdes auch immer bleiben. Dies sollte wirklich verstanden und für das Atomzeitalter alsbesonders wichtig erkannt werden.Aber vielleicht ist die Öffentlichkeit in diesen Belangen nicht ausreichend

aufgeklärt und informiert. Und Politiker, die versuchen, sich und ihre Politik derÖffentlichkeit zu verkaufen, sind versucht, solche Sehnsüchte nach übertriebenerMännlichkeit (die so sichtbar von Bombern, Flugzeugträgern und anderemmilitärischen Gerät symbolisiert wird), zu wecken, vor allem, weil das viel einfacherist und weniger geistige Fähigkeiten undMut verlangt; der Frage, wie unangemessensolches Verhalten ist, wird dagegen kaum Beachtung geschenkt. Unangemessen vorallem im Hinblick auf die wichtigsten Probleme wie Frieden, Inflation,Arbeitslosigkeit und Energiefragen.

Dieses einzigartige Syndrom übersteigerter Männlichkeit kann nicht nur

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in der amerikanischen Politik beobachtet werden, sondern ebenso in anderenBereichen, bei den Künsten, ja sogar bei der Popmusik.

Ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Kunst. Aber was die amerikanische Politikanbelangt, so gibt es womöglich eine verständliche Erklärung. Die lange Reiheaußenpolitischer Niederlagen hat in den letzten Jahren militante Gefühle geschürtund die Eitelkeit gekränkt. Allzuwenige versuchen den tatsächlichen Ursachen dieseroft verletzenden Niederlagen auf den Grund zu gehen, stattdessen schwingt manlieber wutentbrannt die Fäuste.

In der Teheraner Geiselaffäre hat ein Beobachter die USA mit einem Löwenverglichen, der verwundet wurde. In diesem Zustand sind Löwen gewöhnlich amgefährlichsten.

Im Dschungel ja. Aber wir sollten eigentlich in einer zivilisierten Welt leben undnicht im Dschungel.

Leslie Gelb hat die Ansicht vertreten, es sei höchste Zeit für die USA, ‘ein besseresGespür für die eigenen Interessen zu entwickeln und sie die Russen im voraus wissenzu lassen’. Er fuhr fort: ‘Das Zuckerbrot war das eine wie das andereMal erbärmlichund die Peitsche zwangsläufig unangemessen. Wir hatten zu wenig anzubieten undkeine ausreichenden Drohmittel.’9

Offen gesagt, bei allemRespekt vor Leslie Gelb, halte ich das Symbol von Zuckerbrotund Peitsche für eine allzu simplifizierende Ebene, um auf ihr die Probleme unsererZeit zu diskutieren. Woran Leslie Gelb gedacht haben muß, ist, daß die USA zuwenig Zuckerbrot angeboten haben und schon bald nur mehr ziemlich erbärmlicheKrümel übrig waren, bis die US-Regierung schließlich in einemAusbruch biblischenZorns auch diese wieder wegschnappte.Es gab auch nicht den großen Knüppel, abgesehen vom Krieg, der Selbstmord

bedeuten würde. Und die kleineren Knüppel, die die USA hatten, waren sehr schnellaufgebracht, wobei sich imweiteren Verlauf herausstellte, daß sie auch ihren Benutzertreffen können und somit den Vereinigten Staaten nicht weniger schaden als uns (z.B. das Getreideembargo, der Abbruch der Handelsbeziehungen und andere Dinge).In einigen Fällen ist nicht auszumachen, zu welcher Kategorie sie gehören - dem

Zuckerbrot oder der Peitsche. Nehmenwir den SALT II-Vertrag. Unabhängig davon,wie diese Frage letztlich geregelt werden wird, scheint die ganze Abmachung nundem wütenden Wunsch, die Sowjet-

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union ‘zu bestrafen’, zum Opfer zu fallen. Es werden jetzt unsere beiden Länderdarunter leiden, und zwar gleichermaßen. Gleichzeitig würde ich sagen, daß alleinschon die Idee, Zuckerbrot und Peitsche anzuwenden, in unserer Zeit nichtfunktionieren kann. Ich glaube nicht, daß irgendein Land bereit ist, eine solcheAbhängigkeit von Bestechungen und Drohungen zuzulassen, daß seine Politik vonder Hauptstadt eines anderen Landes aus gelenkt wird. Und gewiß haben sowohl dieUSA wie auch die Sowjetunion es bis jetzt vermieden, in eine solche Situation zugeraten, und werden dies auch weiterhin vermeiden.Mit anderenWorten: Zuckerbrotund Peitsche funktionieren nicht, weil es eine Art der Einflußnahme ist, die in unsererZeit kein souverändes Land dulden würde.

Weil es Ungleichheit voraussetzt. Aber folgt nicht aus dem Gesagten, daß dasinternationale Geschehen weniger steuerbar und chaotischer wird? Die Gefahreneines solchen Trends - falls es ihn gibt - scheinen offenkundig zu sein.

Die Außenpolitik eines Landes von außen zu steuern, wird in der Tat immer wenigerdurchführbar. Ob das gefährlicher oder weniger gefährlich ist, ist eine andere Frage.Denken Sie an die Zeiten, als die Welt in verschiedene Weltreiche aufgeteilt war,die als straffe Kontrollsysteme wirkten. Damals gab es endlose Kriege. Jeder warblutiger als der vorhergehende. Wir in der Sowjetunion glauben, daß die nationaleSouveränität und die Gleichberechtigung der Staaten notwendige Voraussetzungenfür den Frieden und die internationale Stabilität sind.Gerade auf diesem Fundament der Souveränität und der Gleichheit kann ein neues

internationales System errichtet werden, das die Außenpolitik der einzelnen Staatenüberwacht und kontrolliert, ein System, das bestimmte politische Verhaltensweisenausschließt und andere unterstützt. Die Kontrolle wird jedoch nicht in der Hand eineseinzelnen Landes oder einesMilitärblocks liegen. Dieses System kann nur durch dasVölkerrecht oder kollektive Sicherheitseinrichtungen wie die Vereinten Nationengewährleistet werden. Andernfalls würden wieder imperiale Zustände herrschen mitall den unvermeidlichen Brandherden.

Welche Belohnungen und Strafen kann es in einem solchen System geben?

Zu den Belohnungen würde eine Garantie der Sicherheit gehören, die es dembetreffenden Land gestattet, für seine interne Entwicklung mehr Ressourcenbereitzustellen. Was die Strafen anbelangt, so würde sich ein

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Land selbst bestrafen, wenn es sich durch sein Verhalten um die genannten Vorteilebringt und das bestehende Sicherheitssystem verletzt. Andere Formen der Strafewären die wachsende Kriegsgefahr und die Verurteiling durch dieWeltöffentlichkeit.In extremen Fällen könnten bestimmteArten kollektiverMaßnahmen zur Anwendungkommen, wie jene, die in der UN-Charta enthalten sind, und die Stabilität diesesneuen internationalen Systems würde auch noch durch eine Art weitgehendeUnabhängigkeit der Staaten gewährleisttet.

Was versteht der Westen und was versteht er nicht im Zusammenhang mit dersowjetischen Außenpolitik?

Ihre Frage bringt mich in Versuchung, ein Klagelied über all die Ungerechtigkeitenuns gegenüber anzustimmen. Obwohl es für solche Klagen mehr als genug Gründegäbe, ziehe ich es dennoch vor, mir eine solche Aufzählung zu versagen. Ich möchtelieber versuchen, die Hauptpunkte darzulegen.Das hauptsächliche Problem sind nicht Mißverständnisse oder ein Mangel an

Verständnis, sondern es sind allgemeine Haltungen. Lange Zeit hat sich der Westengeweigert, unsere Existenz überhaupt zu tolerieren, und es gibt Leute, die sich nochheute weigern, sie zu akzeptieren. Einige haben wahre Wahnvorstellungen über unsentwickelt. Diese starrsinnige Weigerung, die Realität anzuerkennen, ist sowohl dieWurzel der Schwierigkeiten als auch die Hauptursache für Mißverständnisse.Man kann beredter sein als Cicero, wenn es gilt, die Argumente von Leuten wie

Richard Pipes, Paul Nitze oder von Senator Henry Jackson zu widerlegen, dennochwerden sie sich nicht überzeugen lassen, weil ihre Ansichten von einem gußeisernenAnti-Sowjetismus bestimmt sind.Selbstverständlich stellen solche Leute heute eineMinderheit dar. Aber ihre Haltung

ist nur ein Extremfall, wogegen viele, auch wenn sie frei von solchem Extremismussind, immer noch mit den gleichen politischen Haltungen infiziert sind, die in ihrerlogischen Konsequenz die Idee einer friedlichen Koexistenz mit der UdSSR undanderen sozialistischen Ländern ablehnen. Natürlich gibt es im Westen auch andereführende Politiker, sonst hätte es die Entspannung überhaupt nie gegeben. DieseLeute denken in umfassenden zivilisierten Begriffen, sie beweisen Weitblick. Siesind vernünftig genug, die äußerste Dringlichkeit der Koexistenzmit der Sowjetunionzu begreifen, ob sie nun unsere Gesellschaft mögen oder nicht.

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Können Sie einige beim Namen nennen?

De Gaulle und Brandt sind vielleicht zwei der prominentesten Beispiele, was ihrenEinfluß auf die praktische Politik anbelangt. Es ist natürlich sehr schwierig, diesebeiden Männer in die gleiche Kategorie einzuordnen - unterschiedlich wie sie nuneinmal sind - sowohl in ihren politischen Auffassungen, als auch in anderer Hinsicht.Gemeinsam war ihnen aber die Fähigkeit, Vorurteile und Stereotype zu überwindenund die Dinge realistischer zu sehen als viele ihrer Zeitgenossen im Westen. Beideerkannten klar die fundamentalen Interessen ihrer eigenen Länder und versuchtennicht, die der Sowjetunion sowie deren Politik und wirkliche Ziele außer acht zulassen.Vielleicht waren ihre Erfahrungen aus der Kriegszeit ein Grund dafür, daß sie die

Realität begriffen. Brandt war von den Nazis aus Deutschland verjagt worden undnahm amKampf gegen sie teil. De Gaulle war ebenfalls ein entschlossener Kämpferfür die Befreiung Frankreichs von der Okkupation durch die Nazis.Diese Erfahrungen mögen eine Schlüsselrolle gespielt haben, ist doch unsere

Einstellung zum Krieg einer der wichtigsten Punkte, über die im Westen falscheVorstellungen von der Sowjetunion herrschen. Leute aus dem Westen, besondersAmerikaner, übersehen oftmals, was der Zweite Weltkrieg tatsächlich für dieSowjetbürger bedeutete. Wissen Sie, heutzutage kann man manchmal im WestenMeinungen wie diese hören: Da die Russen im letzten Krieg 20MillionenMenschenverloren haben, sind sie abgehärtet genug, um bei einem Atomkrieg ohne weiteresnoch einmal 20 oder sogar 40 Millionen Tote hinzunehmen.

Was steekt hinter solchem Denken?

Versuche, zu beweisen, daß die Aussicht auf große Verluste die Sowjetunion nichtdavor abschrecken kann, einen Atomkrieg zu beginnen. Genauso gut könnte manvon jemand, der bei einem Autounfall ernsthaft verletzt wurde, sagen, er werde inZukunft besonders leichtsinnig fahren, weil er an schwere Verletzungen gewöhntsei.Der Zweite Weltkrieg hat uns einen glorreichen Sieg beschert. Aber er hat die

Sowjetbürger auch gelehrt, den Frieden zu schätzen - mehr noch als je zuvor. Friedenist unser oberstes Ziel.

Haben Sie selbst am Zweiten Weltkrieg teilgenommen?

Ja. Ich war 18, als der Krieg begann, und nach ein paarMonaten Ausbildung an einerMilitärschule wurde ich als Offizier mit einer der ersten

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Einheiten unserer Raketenartillerie an die Front geschickt. Ich weiß, was der Kriegbedeutet. Aber die nachfolgende Generation, wie z. B. mein Sohn, die den Krieg nuraus Büchern und Filmen kennt, fühlt die gleiche tiefe Verpflichtung zum Frieden.Diese Verpflichtung ist ein sehr starker kultureller Zug in unserem Land. Das istauch der Grund, warum die Politik des Friedens und der Entspannung so einmütigeund breite Unterstützung bei unserem Volk findet, warum sie so tiefe geschichtlicheWurzeln hat.

Verkörpert Leonid Breschnew diese Friedenspolitik?

Generalsekretär Breschnew hat großen persönlichenAnteil an dieser Politik. Zugleichaber ist es die Politik der ganzen Partei. Es ist das Mandat verschiedener vom ZKder KPdSU durchgeführter Parteitage.Aber ich möchte noch etwas Wichtiges anfügen. Daß wir uns dem Frieden

verpflichtet haben, heißt nicht, daß wir uns irgendwelchem Druck beugen werden.Unsere Menschen hassen den Krieg, aber sie sind stolz und patriotisch gesonnen;wenn sie fühlen, daß jemand unsere Sicherheit bedroht, so sind sie bereit, sich dieserBedrohung zu widersetzen.Ich halte diese Mahnung für sehr wichtig, weil es den Anschein hat, als würde

derzeit in den USAwieder in wachsendemMaße die Illusion gehegt, man könne unsin die Knie zwingen, indem man uns in ein neues Wettrüsten verstrickt. Wir mögenein geringeres Bruttosozialprodukt als die USA haben, aber wir können größereEntbehrungen ertragen.Eine weitere Tatsache wird oft nicht richtig verstanden. Ich meine unsere

Empfindlichkeit gegenüber Einmischung von außen in unsere innerenAngelegenheiten. Während unserer ganzen Geschichte seit 1917 waren wir ständigVersuchen von außen ausgesetzt, unsere Entwicklung in der einen oder anderenWeise zu behindern und zu vereiteln. Um uns davon abzuhalten, den 1917eingeschlagenenWeg fortzusetzen, wurde ein umfangreiches Arsenal anMaßnahmeneingesetzt, angefangen bei bewaffneter Intervention bis hin zu raffinierter Propaganda.Das hat uns ungleich empfindlicher werden lassen für jedwede Einmischung in

unsere Angelegenheiten als jene, die nie eine wirkliche feindliche Umwelt zu spürenbekamen. Nicht, daß wir Angst haben, nein.Wir sind stark und zuversichtlich genug.Aber wir neigen leichter dazu, hinter jeglicher Einmischung Feindseligkeit undsubversive Ziele zu sehen.

Sprechen Sie hierbei von der Haltung der Führung oder von der breiten öffentlichenMeinung in der UdSSR?

Von beiden. Ihre Frage bringt uns übrigens zu einem dritten Bereich, in

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dem die sowjetische Politik mißverstanden wird: der Rolle der öffentlichenMeinungin der UdSSR.Im Westen ist die gängige Annahme die, daß die öffentliche Meinung in diesem

Land nichts zählt, bzw., daß die Haltung unserer Führung notwendigerweise imGegensatz dazu steht, was der gemeine Mann denkt. Genau das Gegenteil ist derFall. Die öffentliche Meinung spielt bei uns eine wichtige Rolle bei der Festlegungder sowjetischen Politik, wenngleich diese Einflußnahme auf ihre Weise geschiehtund sich vielleicht von dem, was wir in den USA beobachten, unterscheidet. Ganzgewiß fehlt ihr der amerikanische Hang zur Zurschaustellung, doch sie funktioniertbestens.Sehen Sie, manche Amerikaner scheinen davon auszugehen, daß einerlei, was sie

auch tun, die sowjetische Öffentlichkeit - ware sie nicht der Indoktrination vonoffizieller Seite ausgesetzt - ihnen allzeit zugetan sei. Das nehmen sie übrigens auchvon allen anderen Ländern an. Sie scheinen zu glauben, sie könnten sich heute wieGangster benehmen, und dennoch sei alles wieder in Ordnung und alles Schlechtevergessen, wenn sie morgen ein paar nette Dinge sagen und ein paar Türen öffnen.Das ist eine ungemein chauvinistische Haltung. Wir gehen nicht nur davon aus, daßdie öffentliche Meinung von unserer Außenpolitik überzeugt sein muß, wenn dieseSubstanz haben soll, sondern sie bringt auch auf vielfältigeWeise ihre Vorstellungenund Empfindungen zu wichtigen politischen Themen den Führern in Partei undRegierung gegenüber zum Ausdruck.Die USA erweckten in jüngster Zeit viel Mißtrauen in unserer Öffentlichkeit.

Einige Handlungen der Amerikaner im Verlauf des Jahres 1980 waren wahrlichbösartig, z. B. das miese Spiel, das man mit Flugzeugen der Aeroflot auf demKennedy-Flughafen getrieben hat, wobei das Leben vieler unserer Bürger in Gefahrwar. Oder, als weiteres Beispiel, die Ermutigung der Terroristen, die unsereUN-Vertretung attackierten. Oder der Bruch von Handelsvereinbarungen unter demVorwand, sie könnten für unsere Wirtschaft von Nutzen sein.

Eines der immer wiederkehrenden Themen im Verlauf unseres Gesprächs ist IhrAppell an die Amerikaner, die Sowjets so zu sehen, wie sie sind, ihre Vorstellungvon der Sowjetunion der Realität anzupassen.

Ja, ich glaube, daß im Bereich der internationalen Beziehungen die Vermischungvon Phantasievorstellungen und Wirklichkeit immer unnötige Schwierigkeitengeschaffen hat. Damit sind wir wieder bei der Egozentrik der Amerikaner. DieVereinigten Staaten haben in den Augen vieler Amerikaner das Monopol auf dasGute, sollte es aber etwas

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Schlechtes in Amerika geben, so nehmen sie an, das gleiche Übel existiere überall.Haben die USA z. B. Schwierigkeiten mit ihrem militärisch-industriellen Macht-

und Interessenkartell, so nimmt man automatisch an, in der Sowjetunion gäbe es einähnliches Problem. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß unserWirtschaftssystem nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und daß dasMaß an Freiheit, das dieses Kartell als spezielle Interessengruppe in den USA genießt,ein einzigartiges Charakteristikum der amerikanischen Gesellschaft und ihrespolitischen Systems ist.Die gängige Art imd Weise, in der der Westen auf bei uns bestehende Probleme

eingeht, ist ein weiteres Beispiel für Mißverständnisse. Dabei wird das Leben in derSowjetunion unentwegt als ‘ärmlich’, ‘schäbig’, ‘rückständig’ usw. diffamiert.

Nun, der sowjetische Lebensstandard ist ja auch offenkundig niedriger als in denmeisten kapitalistischen Ländern des Westens.

Wir wissen selbst, daß wir bestimmte Gegenstände, an die sich die wohlhabendenSchichten im Westen schon gewöhnt haben, immer noch nicht im Überfluß haben.Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Es macht mich aber wütend, wenn ich höre,wie flott und herablassend manche Amerikaner über die Russen daherreden. Ichmeine, unser Volk hat Anspruch auf Respekt angesichts dessen, was es trotz all derunermeßlichen Schwierigkeiten erreicht hat. Im übrigen steigt unser Lebensstandardauch an.

Im Westen beginnt sich eine harte Linie gegenüber der UdSSR abzuzeichnen, da nureine geschlossene Haltung der westlichen Verbündeten die Sowjets lehren könnte,daß sie Afghanistan nicht wiederholen sollten - z. B. im Falle Polens.

Meiner Meinung nach ist praktisch jedesWort Ihrer Frage eine Verdrehung. Ich sehedefinitive Versuche, eine geschlossene antisowjetische Front imWesten aufzubauenund zu stärken, aber ich bezweifle nicht nur ernsthaft die Wirklichkeitsnähe solcherPläne, sondern auch die Motive, die Sie dahinter sehen. Diese Motive sind offensiv,nicht defensiv. Ich habe bereits auf jene Tatsachen hingewiesen, die meinerMeinungnach beweisen, daß die intensivierten antisowjetischen Tendenzen in der Politik derUSA und einiger ihrer Verbündeten den Ereignissen in Afghanistan vorangingenund nicht durch diese verursacht sein konnten.Was die Ereignisse in Polen anbelangt,so rechtfertigen sie in keiner Weise

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Versuche, eine geschlossene Front der westlichen Verbündeten zu schaffen undauszubauen. Solche Versuche werden unvermeidlich die Spannungen und die Gefahreines Konflikts erhöhen, was keinem Land - weder im Westen noch im Osten, auchPolen nicht - nutzen würde.Gleichzeitig möchte ich betonen, daß die Sowjetunion, selbst wenn sie mit

feindseligenMaßnahmen der USA und der Nato konfrontiert wird, alles nur möglicheunternimmt, um Schritte zu vermeiden, die die Spannungen erhöhen und derEntspannung schaden würden.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum man von den Sowjets oft den Eindruckhat, ihnen sei mehr an Entspannung gelegen als dem Westen.

Wissen Sie, diese Auffassung ist zweischneidig. Einerseits betrachte ich es alsKompliment, wenn Leute sagen, daß wir in höchstem Maße an Frieden undEntspannung interessiert sind. Ich lasse mich lieber einenMann des Friedens nennenals einen Kriegstreiber. Andererseits wird dieser Auffassung natürlich nicht Vorschubgeleistet, um zu beweisen, wie friedliebend die Sowjets sind. Dahinter steckt eineoft finstere und zynische Absicht: Wenn die Russen auf die Entspannung stärkerangewiesen sind als der Westen, dann kann der Westen den Preis dafür erhöhen. Dasnennt man dann hartnäckig feilschen, harte Geschäfte nach amerikanischemMustermachen, usw.Aber wir sprechen nicht vom Verkauf vorzüglicher Medizin oder von Erdnüssen,

wenn wir die Grundlagen der Außenpolitik erörtern. Wir sprechen vom Überlebendes Menschen auf diesem Planeten. Händlermentalität ist hier fehl am Platz.

Sie glauben also, daß die sowjetische Einschätzung der USA eher zutrifft als dieamerikanische Einschätzung der UdSSR?

Ich würde eher sagen: weniger falsch. Es ist immer schwer, ein fremdes Land zuverstehen. Die richtige Einschätzung der jeweiligen Gegenseite bleibt ein ungeheuerwichtiges Problem für die sowjetisch-amerikanischeBeziehungen, weil sie unmittelbarim Zusammenhang steht mit dem gegenseitigen Verständnis und damit auch demgegenseitigem Vertrauen.Zutreffende Einschätzungen sind ein sehr wichtiger zusätzlicher Schutz vor einem

endgültigen Zusammenbruch der beziehungen, vor einemAtomkrieg. Ich übertreibenicht, denn solch ein Zusammenbruch kann keine vernunftgemäßeWahl sein, sondernkann nur auf groben Fehlern bei der Beurteilung bestimmter Faktoren, z. B. demVerhalten, den Absichten und den wahren Zielen der anderen Seite, beruhen.

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Ist Ihnen die neue Untersuchung der International Communication Agency über diesowjetische Einschätzung der USA bekannt?

Ja, ich habe den Untersuchungsbericht gesehen.

Er ist nicht allzu schmeichelhaft für die sowjetische Seite.

Er ist sehr unterschiedlich. Einige Teile, die unsere Einschätzung der amerikanischenAußenpolitik behandeln, sind ziemlich zutreffend. Viele andere, die das Verständnisder amerikanischen Gesellschaft betreffen, sind entweder naiv oder basieren aufVerzerrungen. Nehmen wir als Beispiel die Behauptung, unsere US-Experten hättennie von Dingen wie Arbeitslosengeld oder sozialer Sicherheit gehört, oder sie nähmenan, verborgene Planungsmechnismen, die angeblich ein ‘Staatsgeheimnis’ seien,kontrollierten die amerikanische Wirtschaft. Sogar unsere Schüler der Oberstufewissen weit besser Bescheid, als es hier unterstellt wird. Ich war wirklich überraschtüber solche Schlußfolgerungen, die sowohl denen zugeschrieben werden müssen,die den Bericht verfaßten, als auch den Quellen, auf die sie sich verlassen haben. Ichmöchte auch der Schlußfolgerung des Berichts entschieden widersprechen, daß inden letzten Jahren ‘ein Rückgang der Kenntnisse’ über die USA festzustellen sei,obwohl ich zustimmen würde, daß es aufgrund einer Reihe von Ursachen in letzterZeit für jedermann, vermutlich auch für die Amerikaner selbst, noch schwierigergeworden ist, die USA zu verstehen.

Gab es während der letzten Jahre nicht auch Fortschritte im gegenseitigen Verstehen?

Ich glaube, wir haben auf diesem Gebiet wesentliche Fortschritte gemacht. DieEntspannung hat natürlich eine Hauptrolle gespielt, da sie zur Entwicklung politischer,gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kontakte führte, sowie zu kulturellenVerbindungen, verstärktem Tourismus und Kontakten von Mensch zu Mensch. Dasaber waren nur die allerersten Schritte. Das Problem ist nicht behoben, es könntevielmehr als Folge der wachsenden Spannungen zwischen unseren Ländern noch anBedeutung gewinnen.

Wenn Einschätzungen so großes Gewicht zukommt, was kann man tun, damit siezutreffender werden?

Darauf gibt es keine leichten Antworten. Ich will es folgendermaßen ausdrücken:Wir müssen das Gleiche tun, was wir vorher auch getan ha-

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ben, aber wir müssenmehr tun und es konsequenter tun.Wir sollten auf die Schaffungnormaler politischer Zustände hinarbeiten, die eher eine rationale als eine emotionaleEinschätzung von Ereignissen erleichtert. Wir sollten uns darauf konzentrieren, hartan der Ausmerzung von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen zu arbeiten. Wirsollten eine objektive Einstellung zum anderen Land (oder besser gesagt - zu anderenLändern, da das nicht nur für die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten gilt)fördern, ebenso wie ein dauerhaftes Interesse an diesem Land, seinen Menschen,seiner Kultur und seinem politischen Leben erwekken. Und selbstverständlich solltenwir den Aufbau von Kontakten und die Entwicklung eines ständigen Dialogs aufverschiedenen Ebenen ermutigen.Mit anderen Worten, wir müssen mit dem fortfahren, was wir begonnen haben,

als wir denWeg der Entspannung einschlugen. Und wir müssen die Hindernisse, dieeinem Fortschritt bei diesen Bemühungen im Wege stehen, überwinden.

Eindnoten:

1 Prawda 13.1.19802 Rede vom 19. Februar 1980 vor Mitgliedern der American Legion in Washington D.C.3 Henry A. Kissinger, Memoiren, 1968-1973, München 1979, S. 1332ff.4 Time, 4. Februar 19805 New York Times, 10. Oktober 19806 Moscow News, 21. Januar 19797 ‘Die Gewalt ist wirksam gegenüber denjenigen, die ihre Herrschaft wieder aufrichten wollen.

Damit ist aber auch die Bedeutung der Gewalt erschöpft, und weiter kommt es schon auf denEinfluß und auf das Beispiel an. Man muß die Bedeutung des Kommunismus in der Praxis,durch das Beispiel, zeigen.’ (Zit. nach: W.I. Lenin, Werke, Dietz Verlag, Berlin, 1972, Band31, S. 452.)

8 San Francisco Chronicle, 2. Dezember 19799 The New York Times Magazine, 10. Februar 1980

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II) Die Geschichte der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, undwas sie uns lehrt, wenn wir nur wollen

Lassen Sie uns die Diskussion darüber fortsetzen, welche Möglichkeiten derKoexistenz es für Länder mit grundverschiedenen Gesellschaftssystemen gibt.

Wie ich schon sagte, glaube ich nicht, daß die Unterschiede zwischen unseren beidenGesellschaften unüberwindliche Schwierigkeiten für die Unterhaltung normaler undfruchtbarer Beziehungen darstellen.Erinnern wir uns der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen von

1917. Das alte Rußland und die USAwaren, was das gesellschaftliche und politischeSystem anbelangt, sehr verschieden voneinander. Nehmen Sie das späte 18.Jahrhundert: Auf der einen Seite finden wir das feudalistische, zaristische Rußland,auf der anderen Seite die junge amerikanische Republik, die aus einer der erstenbürgerlichen demokratischen Revolutionen in der Welt entstanden war. Und werunterhielt wohl die besten Beziehungen zu diesen neu entstandenen VereinigtenStaaten von Amerika? Es war Rußland. Diese Beziehungen beruhten auf richtigverstandenem gegenseitigem Interesse.Später, während des Bürgerkriegs in den USA, schickte der Zar sogar die Flotte,

um Rußlands Unterstützung für Präsident Abraham Lincoln zu demonstrieren.Russische Kriegsschiffe zeigten sich in New York und San Francisco. Offenkundigwar es nicht Mitgefühl mit dem traurigen Los der amerikanischen Sklaven, das denZaren dazu bewog. Er hatte seine eigenen außenpolitischen Ziele im Auge, die ihnveranlaßten, die USA zu unterstützen. Die Tatsache als solche bleibt davon aberunberührt.Leider kann ich nicht behaupten, die Amerikaner hätten diese Unterstützung

erwidert, als wir im Oktober 1917 unsere Revolution hatten.

Wie würde Sie die amerikanische Haltung zur Oktoberrevolution beschreiben?

Zu jener Zeit waren die meisten Amerikaner erheblich provinzieller, als sie es heutesind, und sie wußten überhaupt nicht, was bei uns geschehen

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war bzw. hatten nur sehr vage Vorstellungen davon. Unter den politisch bewußtenIntellektuellen und Arbeitern herrschte großes Interesse und Sympathie. Deramerikanische Journalist John Reed hat diese Haltung in seinem Buch über dieRevolution mit dem Titel ‘Zehn Tage, die die Welt erschütterten’ dargestellt. DieserAugenzeugenbericht ist noch immer eines der besten Bücher über jene historischenEreignisse. Was die Regierung der Vereinigten Staaten und die Mehrheit derpolitischen Elite in Amerika, einschließlich der Medien betraf, so war deren Haltungausgesprochen feindselig. Ganz zu schweigen von der amerikanischen Rechten.Selbst von den aufgeklärten Teilen der politischen Führung der Vereinigten Staatenwurde unsere, aus der Revolution entstandene Gesellschaft für ein uneheliches Kindgehalten, das dazu verdammtwar, für immer wie ein Bastard der Geschichte behandeltzu werden. Somit war der Grand gelegt für eine langfristige Haltung Amerikasgegenüber dem Sozialismus und Sowjetrußland.

Sie meinen, diese Haltung herrscht noch immer vor?

Ja, diese traditionelle Einstellung spielt in Amerikas Verhalten uns gegenüber immernoch eine Rolle.Ironischerweise war es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die schon

sehr früh und mit aller Entschiedenheit den Grundsatz vertrat, jedes Land habe einangestammtes Recht zur Revolution, das Recht, sich zu erheben und mit Waffen dieerforderlichen Veränderungen in seinem gesellschaftlichen und politischen Systemdurchzuführen. Doch 1917 hat man bei der Formulierung der Antwort der USA aufdie russische Revolution nicht auf die Weisheit der Gründerväter zurückgegriffen.Nun hätte es uns allerdings einerlei sein können, was die amerikanische Regierung

von unserer Revolution hielt, hätte sich ihre Feindseligkeit nicht fast augenblicklichin entsprechenden Handlungen ausgedrückt. Die Vereinigten Staaten spielten eineaktive Rolle innerhalb der Koalition der Länder, die versuchten, unsere Revolutionabzuwürgen. Sie beteiligten sich an der Invasion der nördlichen und östlichen Teileunseres Landes. Bedeutender noch - sie leisteten während des Bürgerkriegs unserenFeinden beträchtliche Hilfe, einschließlich der Gewährung von Darlehen und derLieferung vonWaffen. Sie unterstützten auch ganz offen konterrevolutionäre Führerwie Admiral Kolchak, Ataman Semjonow und andere. Ungefähr vier MilliardenDollar gaben die Vereinigten Staaten für den Versuch aus, die neue russischeRegierung aus dem Sattel zu heben.

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Einige Sowjetologen behaupten jedoch, daß diese neue Regierung westlicheFeindseligkeiten geradezu herausforderte, indem sie mit der Weltrevolution drohteund viele Beziehungen Rußlands mit der Außenwelt abbrach.

Was die Weltrevolution anbelangt, so habe ich bereits Lenins Ansichten zu diesemPunkt genannt. Was dagegen die Veränderung der russischen Auslandsbeziehungeninfolge der Revolution betrifft, so muß man bedenken, daß das zaristische Rußland,obwohl selbst eine Kolonialmacht, zugleich auch Halbkolonie des Westens war.Während des ErstenWeltkriegs opferte die EntenteMillionen von Russen der Rivalitätmit dem deutschen Kaiser und seinen Verbündeten als Kanonenfutter. Das russischeVolk hatte das untrügliche Gefühl, mißbraucht und ausgebeutet zu werden und füreine Sache zu sterben, die gänzlich ungerecht war und seinen vitalen Bedürfnissenund Interessen widersprach. Dieses Gefühl war einer der wichtigen Faktoren, die dieRevolution von 1917 auslösten.Aus diesem Grunde war eine der ersten Maßnahmen der Regierung Lenins das

Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg und die Abschaffung der halbkolonialenAbhängigkeit von Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern. Das bedeutetnicht, daß wir uns von der Welt abwandten oder uns weigerten, mit ihr in Beziehungzu treten, bevor sie nicht sozialistisch geworden wäre. Wir wollten mit der Welt - sowie sie war - Beziehungen unterhalten. Aber wir wollten diese Beziehungen auf derEbene der Gleichberechtigung, um uns die Souveränität über unsere eigeneWirtschaftund unsere Ressourcen zu sichern und um eine Außenpolitik auf der Basis unserernationalen Interessen betreiben zu können, anstatt einer Außenpolitik, die sich anden Kreditzinsen ausländischer Banken orientierte. Mit anderenWorten, wir strebtennach einer Demokratisierung unserer Beziehungen mit dem Westen. Wir ändertenauch unsere Beziehungen mit den Ländern Asiens. Unter anderem verzichteten wirauf die kolonialen Ansprüche, die die zaristische Regierung in Asien erhoben hatte.

Hat die Revolutionsregierung Rußlands ihren Wunsch, mit anderen LändernBeziehungen aufzunehmen, denn klar zum Ausdruck gebracht?

Gewiß. Gleich ganz am Anfang der Revolution - um genau zu sein, am zweiten Tag- richteten wir einen Appell an alle Länder, die USA eingeschlossen, den Krieg zubeenden und Friedensverhandlungen aufzunehmen. Bald darauf boten wir denVereinigten Staaten die Aufnahme normaler Beziehungen an. Diesem Ansuchenfolgte im Mai 1918 ein

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Vorschlag zur Aufnahme von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen auf der Basisgegenseitigen Nutzens. Lenin legte in einem Brief, den er durch den Vorsitzendender amerikanischen Rot-Kreuz-Mission in Rußland, Colonel Robbins, überbringenließ, seinen Plan für die Vergabe von Handelskonzessionen an die Vereinigten Staatensowie für die Aufnahmeweiterer Handelsbeziehungen dar. Eine Antwort blieb jedochaus.Unser Handelsbeauftragter für die Vereinigten Staaten, L. Martens, begann mit

amerikanischen Geschäftsleuten Verhandlungen über die wirtschaftlichenBeziehungen zwischen den beiden Ländern. Ende des Jahres 1919 hatte er bereitszu ca. 1000 Firmen in 32 amerikanischen Bundesstaaten Kontakte geknüpft. Martenshatte den Eindruck, ein erheblicher Teil der amerikanischenWirtschaftskreisewünscheden Handel mit Sowjetrußland. Eine Reihe von Verträgen wurde zwar unterzeichnet,aber die US-Regierung schritt dagegen ein, und Martens wurde als ‘unerwünschterAusländer’ aus Amerika ausgewiesen.

War das zu der Zeit, als Armand Hammer, der Vorstandsvorsitzende der OccidentalPetroleum Company, nach Rußland kam?

Ja, er war einer der ersten Amerikaner, die Geschäftsbeziehungen zu dem neuenRußland aufnahmen. Er kam aus eigenemEntschluß, undwir hießen ihnwillkommen.Später sprachen wir eine allgemeine Einladung an die amerikanischen Geschäftsleuteaus, zu uns zu kommen und Wirtschaftsbeziehungen mit uns aufzunehmen.Schätzungen besagten, daß sich der Handel mit ausländischen Firmen auf ein Volumenvon ca. drei Milliarden Dollar hätte belaufen können.

Das ist mehr als das jährliche Handelsvolumen zwischen der UdSSR und den USAwährend der letzten Jahre.

Ja, selbst wenn man außer acht läßt, daß der Dollar nur mehr einen Bruchteil dessenwert ist, was er damals wert war. Das Potential für unseren Handel mit dem Westenwar groß. Von den ersten Tagen unserer Revolution an war die Entwicklungwirtschaftlicher Beziehungen zu allen Ländern, einschließlich den USA, unsereerklärte Politik. Lenin hat sogar einmal betont: ‘Besonders mit den VereinigtenStaaten.’ Es gab verschiedeneGründe, warum er die USAmit besonderemNachdrucknannte. Die Größenordnung und Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industriewar ein wichtiger Gesichtspunkt. Daneben waren in jenen Tagen unsere Beziehungenzu Europa angespannter als die zu den Vereinigten Staaten. Ich glaube, daß Lenindabei auch an die politische Be-

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deutung gutentwickelter sowjetisch-amerikanischerWirtschaftsbeziehungen dachte,da er von ihnen erwartete, daß sie ein wichtiger Faktor für Stabilität und Frieden inder Welt werden könnten.

Welchen weiteren amerikanischenGeschäftsleuten wurden zu diesem frühen Zeitpunktvon der sowjetischen Regierung Konzessionen erteilt?

Das war eine ganze Reihe, einschließlich der Harrimans.

Hat der ehemalige Gouverneur W. Averell Harriman finanzielle Interessen in derSowjetunion gehabt?

Eine im Familienbesitz befindliche Firma besaß umfangreiche Schürfrechte fürMangan.

Dennoch blieb die Haltung der US-Regierung gegenüber Moskau unverändertfeindselig.

Ja, in der Tat. Die Vereinigten Staaten beteiligten sich an allen Koalitionen, dieversuchten,WinstonChurchills Rat zu befolgen, den jungen russischenKommunismusin seiner Wiege zu ersticken.Wenn die militärischen Interventionen nicht zum erhofften Ziel führten, griff der

Westen zu einer Politik des Wirtschaftsboykotts und der diplomatischenNichtanerkennung. Das war lediglich eine andere, wenn auch passivere Form deralten Haltung, nämlich den Sowjetstaat nicht zu akzeptieren. Die Grundeinstellungblieb die gleiche: Es kann keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und derSowjetunion geben, denn deren bloße Existenz, so behauptete damals derUS-Außenminister Colby, bedinge ‘den Sturz der Regierung in allen anderen großenzivilisierten Ländern’. Außerdem, so schrieb er, gäbe es keine übereinstimmendenInteressen, die die Errichtung normaler Beziehungen zu solch einem Gegnerrechtfertigen könnten.

Haben denn die Sowjetführer die Vereinigten Staaten nicht ebenso als Gegnerbetrachtet?

Gewiß hätten wir von der amerikanischen Feindseligkeit und Aggressivität gegenuns viel mehr Aufhebens machen können, aber die Sowjetregierung wurde nichtmüde in ihren Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zunormalisieren. Lassen Sie mich unseren damaligen Kommissar für auswärtigeAngelegenheiten, Georgij Tschitscherin, zitieren, der auf die FeststellungAußenminister Colbys ant-

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wortete: ‘Mr. Colby irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, daß unsere Länder nur normaleBeziehungen haben können, wenn ein kapitalistisches System in Rußland herrscht.Wir vertreten im Gegenteil die Ansicht, daß es trotz der Tatsache, daß diegesellschaftlichen und politischen Systeme Rußlands und Nordamerikas einandergenau entgegengesetzt sind, es im Interesse beider liegt, auch jetzt schon zwischenihnen untadelige, gesetzmäßige, friedliche und freundschaftliche Beziehungenherzustellen, wie sie auch für die Entwicklung des Handels zwischen beiden Ländernund für die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse erforderlich sind.’1

Immerhin sollte es noch eine Reihe von Jahren dauern, bis politische Führer inAmerika zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangten.

Das alles sah kaum wie der enthusiastische Anfang einer neuen Beziehung aus.

Ich habe von der offiziellen Politik gesprochen, die aber war nur Teil eines größerenGanzen. Wir waren uns dessen bewußt, daß viele Amerikaner davon abweichendeAuffassungen hatten. Es gab viele Beispiele des guten Willens Amerikas, Beispieleeiner realistischen Einstellung und echter Anstrengungen, um zu normalenBeziehungen mit uns zu gelangen. Einige dieser Bemühungen waren ausgesprochengroßmütig. Wir haben vom amerikanischen Volk sogar materielle Hilfe erhalten,und wir haben das nicht vergessen. In den frühen zwanziger Jahren, in einer Zeit desHungers und großer wirtschaftlicher Not in unserem Land, kamen ungefähr 10 000Amerikaner durch die ‘Society for Technical Aid to Soviet Russia’ in unser Land.Sie kamen, um beimWiederaufbau unseres Landes zu helfen. Sie halfen, Bauernhöfeund andere Betriebe wiederaufzubauen; amerikanische und sowjetische Arbeiter undSpezialisten arbeiteten Seite an Seite. Erhebliche Geldmittel wurden für diesen Zweckin den Vereinigten Staaten aufgebracht.

Wurde diesen Amerikanern ebenfalls mit dem Entzug ihrer Pässe gedroht?

Tatsächlich nahmen sie angesichts der antikommunistischen Hysterie, die in denUSA zu jener Zeit herrschte, große persönliche Risiken auf sich. Aber die Gefühleder Solidarität und das große Interesse an dem einzigartigen Experiment der russischenRevolution waren stärker.Zugleich fanden es immermehr amerikanische Geschäftsleute profitbringend, mit

der Sowjetunion Handel zu treiben.Wir haben ihnen Verträge zu guten Bedingungenangeboten, und sie kamen daraufhin. Insgesamt waren es fast 2000 amerikanischeGeschäftsleute, die damals mit

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uns Handel trieben. Zu Beginn der dreißiger Jahre hatten ungefähr 40 amerikanischeGesellschaften hier ihren Betrieb aufgenommen, darunter Giganten wie die FordMotor Co. und General Electric. Einige tausend amerikanische Arbeiter undSpezialisten arbeiteten hier. Zu jenen, die mithalfen, unsere erste großeAutomobilfabrik in Gorki zu errichten, gehörten auch Walter und Victor Reuther,die später in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung bekannt wurden. EinigeAmerikaner erhielten hohe Staatsauszeichnungen, wie H. Cooper, der uns half, unsererstes großes Wasserkraftwerk zu errichten.1931 gingen nicht weniger als 40 Prozent des gesamten amerikanischen Exports

an Ausrüstungsgütern für die Industrie in die Sowjetunion. Im gleichen Jahr suchtenwir ungefähr 4000 Spezialisten, die zu uns kommen und bei uns arbeiten sollten,worauf wir über 100 000 Bewerbungen erhielten. Es war wirklich ein strahlendesKapitel in der Geschichte unserer Zusammenarbeit. Gesunder Menschenverstandund übereinstimmende wirtschaftliche Interessen erwiesen sich als stärker als alleBestrebungen, sich in schweren Zeiten gegenseitig größtmöglichen Schadenzuzufügen. Letzten Endes halfen wir, die Schwierigkeiten während der Phase derWirtschaftskrise in den USA zu lindern, während amerikanische Geschäftsleute undSpezialisten zum Aufbau unserer Wirtschaft beitrugen.

Es gibt heute Millionen Arbeitslose in den Vereinigten Staaten. Warum suchen Sienicht mit einer Stellenanzeige in den New York Times Arbeitskräfte für Sibirien?

Ich kann mir vorstellen, welch einen Aufruhr ein solcher Schritt auslösen würde,angesichts dessen, was man im Westen mit ‘Sibirien’ verbindet. Aber allen Ernstes,unsere Vorschläge gehen sogar noch weiter.Wir möchten alle Hindernisse ausräumen,die einer angemessenen Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichenBeziehungen zwischen unseren beiden Ländern imWege stehen. Allein schon dadurchwürden Tausende von neuen Arbeitsplätzen in den USA geschaffen werden. Im Falleiner wirklichen Entspannung wäre eine Wirtschaft möglich, die nicht aufRüstungsproduktion ausgerichtet ist, wodurch der Beschäftigungsgrad ebenfallshöher wäre als unter den derzeitigen Gegebenheiten. In ihrer Gesamtheit gesehen,würden die wirtschaftlichen Folgen der Entspannung die allgemeineBeschäftigungsituation in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländernerheblich verbessern.Lassen Sie mich auf den geschichtlichen Ablauf zurückkommen. Der Auftakt in

den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einer zukünftigen Entspannung warvielversprechend, allein, er währte nicht sehr lan-

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ge. Das Jahr 1931 brachte eine Erschwernis der Handelsbeziehungen. In den USAwurde eine Kampagne für ‘Religionsfreiheit in der Sowjetunion’ gestartet. Sie glichdem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Ein weiterer Feldzug galt der‘Bedrohung durch sowjetische Dumpingpreise’; ihr folgte die Einführung gegen unsgerichteter, diskriminierender Handelsbestimmungen. Der amerikanisch-sowjetischeHandel ging daraufhin drastisch zurück.

Aber schließlich erfolgte 1933 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das warein Wendepunkt.

Ja, in zweierlei Hinsicht wenigstens. Zum ersten wurde die Grundlage für zukünftige,normale Beziehungen geschaffen, zum zweiten bedeutete das einen neuen Aufbruch,was die Haltung des Weißen Hauses anbelangte, das damit nach 16 Jahren derNichtanerkennung endlich aufhörte, so zu tun, als gäbe es die Sowjetunion überhauptnicht.

Die Amerikaner litten, was China betrifft, von 1949 bis 1972 unter der gleichengeistigen Blockierung.

Mag sein, daß man diesen Vergleich anstellen kann - ganz so einfach, wie es vielleichtscheint, ist es jedoch nicht. Aber darüber können wir noch später sprechen.Vorerst sollten wir zum Jahr 1933 zurückkehren. Als die diplomatischen

Beziehungen zwischen denUSA und der UdSSR aufgenommenwurden, gab es nocheinen interessanten Aspekt, der nahezu in Vergessenheit geraten ist, wenn er nichtgar von der amerikanischen Seite heute völlig ignoriert wird.Es gab nämlich einen Briefwechsel zwischen Präsident Franklin D. Roosevelt und

unseren Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Maxim MaximowitschLitwinow. Auf DrängenWashingtons gaben beide Seiten das feierliche Versprechen,sich nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen. Darüber hinausversprachen beide Seiten, alle von der jeweiligen Regierung kontrollierten oderabhängigen Organisationen von offenen oder verdeckten Handlungen abzuhalten,durch die dem inneren Frieden, derWohlfahrt und der Sicherheit des anderen LandesSchaden zugefügt würde. Zu diesen verbotenen Praktiken gehörten Agitation undPropaganda, die auf eine gewaltsameÄnderung der politischen und gesellschaftlichenOrdnung im jeweils anderen Land abzielten.Es ist interessant, sich dessen zu erinnern, weilWashington heutzutage subversive

Tätigkeiten gegen uns für ganz normal hält, so z. B. die Tätig-

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keit von Radio Liberty und Radio Free Europe. Die USA unternehmen eine ganzeReihe verdeckter oder halbverdeckter, gegen die Sowjetunion gerichteter Operationenund verletzen damit jene zweiseitige Übereinkunft, die die gegenseitige Anerkennungbetrifft.

Wollen Sie damit sagen, daß die Sowjetunion nichts derartiges gegen die USAunternimmt?

In voller Übereinstimmung mit den Verfügungen des Dokuments von 1933, das icherwähnte, unterstützen wir keinerlei Tätigkeiten, seien sie ‘offen oder verdeckt, dieauf irgendeine Weise dazu beitragen, den inneren Frieden, den Besitzstand, dieOrdnung oder die Sicherheit’ der Vereinigten Staaten zu gefährden. Noch betreibenwir ‘Agitation oder Propaganda, die die Verletzung der territorialen Integrität derVereinigten Staaten, ihrer Hoheitsgebiete oder Besitzungen zum Ziel hat, oder dieHerbeiführung einer gewaltsamenVeränderung der politischenOrdnung der gesamtenVereinigten Staaten bzw. irgendeines Teils...’2

Zitieren Sie aus dem Briefwechsel zwischen Roosevelt und Litwinow?

Ja. Meiner Meinung nach war der Hauptgrund für Roosevelt, die Sowjetunionanzuerkennen, seine Einschätzung der amerikanischen Interessen. Angesichts derwachsenden japanischen Aggressivität in Asien und des Aufstiegs desNationalsozialismus in Deutschland sah er richtig voraus, daß normale Beziehungenzwischen unseren beiden Ländern für beide Seiten später einmal von großem Interessesein könnten. Diese Ansicht hat sich während des Zweiten Weltkriegs bestätigt.

Der Zweite Weltkrieg begünstigte engere Beziehungen.

Ohne Zweifel. Der Krieg selbst war ein wirklich bemerkenswerter Zeitabschnitt inden sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Unsere beiden Völker kämpften Seitean Seite als Verbündete.Dies waren Jahre einer engen Zuammenarbeit unserer politischen Führer und

unserer Militärs, Jahre eines unvorhergesehenen Auflebens freundlicher, ja sogarbrüderlicher Gefühle zwischen unseren Völkern. Ich glaube, daß all das einen tiefenEindruck im Gedächtnis unserer Völker hinterlassen hat. Die Amerikaner, vor allemjene, die selbst an der Front standen, waren voller Anerkennung für die gewaltigenAnstrengungen der Sowjets in diesem Krieg. Ich erinnere mich an den Auszug auseinem Tagesbefehl eines amerikanischen Kommandeurs in Deutschland, den C.L.Sulzberger in seinen Memoiren zitiert: ‘Millio-

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nen russischer Soldaten und Zivilisten starben für unser Leben. Vergeßt das nie.Wenn euch die Propaganda einredet, die Russen zu hassen, so haltet inne und denktnach. Sie sind auch für euch gestorben.’3

Es hat eines jehrelangen kalten Krieges und intensiver antisowjetischerGehirnwäsche bedurft, um diese Gefühle auszulöschen.

Dennoch lagen auch Schatten über diesen Flitterwochen.

Selbstverständlich gab es Probleme und Schwierigkeiten. Trotz der zahlreichenVersprechungen wurde die Eröffnung der Zweiten Front in Westeuropa zwei Jahrelang hinausgezogen - ein Umstand, den viele Sowjetbürger mit dem Leben bezahlenmußten. Das trug zum Entstehen manch bitterer Gefühle in unserem Volk bei.Es gab hinter den Kulissen Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und

Nazi-Deutschland. Allen Dulles sprach mit den Nazis in Bern, und es bestandenweitere Kontakte in Ankara, wie einer unserer Historiker vor kurzem nachgewiesenhat. Rückblickend fällt es auch schwer, einfach mit einem Achselzucken darüberhinwegzugehen, daß man uns die Entwicklung der Atombombe verheimlicht hat.Dennoch war die Gesamtbilanz unserer Beziehungen ohne Zweifel positiv, und dashätte die Ausgangsbasis für verbesserte Beziehungen nach dem Zweiten Weltkriegsein können.

Statt dessen gerieten wir nur wenig später in den Kalten Krieg.

Der Kalte Krieg ist Gegenstand zahlreicher Bûcher, und viele weitere werden nochzu diesem Thema erscheinen. Es bleibt ein heißes Eisen, und unsere Perspektiveunterscheidet sich ziemlich stark von der bei den Amerikanern vorherrschendenAnsicht, derzufolge die Sowjetunion die Schuld am Kalten Krieg trägt.Wir denken, daß die Hauptverantwortung zu gleichen Teilen bei den USA und

bei Großbritannien liegt. Nebenbei bemerkt, wurde diese Tatsache in den USA inden letzten zwei Jahrzehnten von den sogenannten ‘revisionistischen’ Historikernumfassend dokumentiert.

Kennen Sie die neo-orthodoxe Kritik an dieser Schule?

Ja, alle Orthodoxien haben ein zähes Leben. Aber ich möchte mich nicht in diesenFamilienstreit der amerikanischen Historiker einmischen. Ich kann nur darlegen, wiesich die ganze Situation unter unserem Blickwinkel betrachtet ausnahm.

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Kam der Kalte Krieg nicht erst richtig auf Touren, als die Sowjetunion denMarshallplan zurückwies?

Von Moskau aus gesehen, fing der Kalte Krieg schon viel früher an. Schon imFrühjahr 1945, einige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stellten wirÄnderungen in der amerikanischen Politik fest. Präsident Harry S. Truman nahm invielen Bereichen der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eine andere Haltungein als Roosevelt. Lieferungen aufgrund des Leih-Pachtsystems4wurden auf den Taggenau mit dem Ende des Krieges abrupt eingestellt, einige Schiffe, die schon auf Seeund unterwegs in die UdSSR waren, wurden zurückbeordert. Das Versprechen, einumfangreiches Darlehen zum Wiederaufbau zu gewähren, wurde gebrochen.Natürlich war da auch noch der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und

Nagasaki, der nach unserer Ansicht nicht der letzte Kanonendonner des ZweitenWeltkriegs war, sondern viel ehrer der erste, der den Kalten Krieg ankündigte. Erwurde abgegeben, um sowohl die Feinde wie auch die Verbündeten einzuschüchtern.Oder, wie Kriegsminister Henry Stimson es in sein Tagebuch schrieb, ‘um Rußlandklarzumachen, daß es sich einzuordnen hatte’.Danach - auch das geschah noch vor dem Marshallplan - hielt Winston Churchill

seine berüchtigte Rede in Fulton im Bundesstaat Missouri, die nun tatsächlich dieförmliche Erklärung des Kalten Kriegs enthielt. Es sollte daran erinnert werden, daßChurchills Rede vom ‘Eisernen Vorhang’ in Anwesenheit des Präsidenten derVereinigten Staaten, Harry S. Truman, gehalten und von ihm öffentlich gebilligtwurde.Im Februar 1947 wurde dann die Truman-Doktrin verkündet, die zu einem

weltweiten antikommunistischen Kreuzzug aufrief.Das war also der politische Kontext, als der Marshallplan angekündigt wurde, und

dieser Kontext offenbart die wahre Absicht des Plans. Später wurde die Version inUmlauf gesetzt, wir hätten ‘ein faires Angebot’ zurückgewiesen und es statt dessenvorgezogen, den Kalten Krieg zu verstärken. Prüft man jedoch die kürzlichfreigegebenen amerikanischen Dokumente zum Marshallplan, so wird klar, daß dasAngebot absichtlich so gehalten war, daß die UdSSR es zurückweisen würde.Amerikanische Beamte sahen sogar mit Bangen einem eventuellen Beitritt derSowjetunion entgegen. In einem privaten Gespräch sagte damals James Forrestal:‘Das allerschlimmste wäre, wenn sie (die Russen) beitreten würden.’ Charles Bohlenbekannte sehr viel später: ‘Wir sind ein verdammt hohes Risiko eingegangen, alswir Rußland nicht ausdrücklich davon ausschlossen.’5

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Mit anderen Worten, für Sie stand fest, daß die Haltung der Vereinigten Staaten nach1945 feindselig war?

Es wurde uns klar, daß sich das Blatt gewendet hatte. Wir rechneten sogar allenErnstes mit einer Kriegsdrohung aus Washington.

InWesteuropa herrschte nach 1945 tatsachlich Angst vor einer sowjetischen Invasion.Aus diesem Grund wanderte meine Familie nach Südafrika aus, und ich ging 1948an die Yale University, um Vorlesungen über internationale Beziehungen zu hören.

Ich kannmir vorstellen, daß es Ängste dieser Art gab. Teilweise entsprangen sie demsehr labilen psychologischen Klima in einem Nachkriegseuropa, das zwischen 1939und 1945 furchtbare Prüfungen ausgestanden hatte. Hauptgrund für diese Ängstewar aber der Feldzug gegen ‘die sowjetische Bedrohung’, den man sofort nach demEnde des Zweiten Weltkriegs einleitete, um damit Gefühle des Wohlwollensgegenüber der UdSSR auszumerzen.Diese Gefühle waren echt und weitverbreitet - war es nicht schließlich die

Sowjetunion gewesen, die die entscheidende Rolle bei der Befreiung Europas vonden Nazis gespielt hatte.Eine sehr beunruhigende Parallele dazu sind die jüngsten Vorgänge im Westen,

wo viele irrationale Vorurteile und Ängste erneut für den gleichen Zweck und mitden gleichen Mitteln mißbraucht werden. Und wie damals auch, könnten diePanikmacher, die versuchen, die Öffentlichkeit und die Elite für einen antisowjetischenKonsens mobil zu machen, letzten Endes selbst diesen falschen Ängsten erliegen.Was die Einschätzungen der ‘sowjetischen Bedrohung’ in der Nachkriegszeit

anbelangt, so möchte ich betonen, daß wir, bei allem Verständnis für die Ängste imWesten, ungleich mehr Grund hatten, uns bedroht zu fühlen. Und diese Gefühlesollten sich später als wohlbegründet erweisen, als nämlich die wahren amerikanischenKriegspläne bekannt wurden.

Kriegspläne? Der Frieden hatte doch erst begonnen.

Nun, es kommt wie eine Offenbarung über einen und schmerzt noch heute, wennman schwarz auf weiß liest, daß selbst einige unserer schlimmsten Befüchtungenhinsichtlich der Absichten der USAmehr als gerechtfertigt waren. Bereits Ende 1949begannen höchste amerikanische Militärs einen Nuklearangriff auf die Sowjetunionvorzubereiten. 20 unserer größten Städte mit einer Gesamtbevölkerung von 13Millio-

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nen Menschen wurden zu Zielen bestimmt, auf die in einem ersten Schlag 196Atombomben abgeworfen werden sollten.

Davon wußten wir in Westeuropa nichts, und die meisten Leute dort wissen auchheute nichts von diesen Plänen.

Daß es sie dennoch gegeben hat, zeigen bestimmte, bis vor kurzem der Geheimhaltungunterliegende Regierungsakten, wie etwa der Bericht Nr. 329 des gemeinsamenAusschusses der Nachrichtendienste bei den Vereinigten Stabschefs vom Dezember1945. Dieser und noch folgende ähnliche Berichte dienten als Grundlage einerdetaillierten Kriegsplanung zwischen 1946 und 1949 unter Decknamen wie‘Charioter’, ‘Double Star’, ‘Fleetwood’, ‘Trojan’ und anderen.Die Kriegsvorbereitungen gipfelten 1949 in dem Plan ‘Dropshot’, der einen totalen

Krieg gegen die Sowjetunion unter Einsatz aller Nato-Streitkräfte vorsah, unterstütztnoch durch einige Länder des Nahen Ostens und Asiens. Das war tatsächlich derEntwurf für den Dritten Weltkrieg. ‘Dropshot’ war aber nicht nur ein Plan zuratomaren Zerstörung unseres Landes mittels ca. 300 Bomben - man nannte dasgewöhnlich ‘Atomisierung’ - sondern sah auch die Besetzung unseres Landes durchamerikanische Truppen und eine anschließende Auslöschung des sowjetischenSystems vor. Fleißige Strategen in Washington arbeiteten sogar Verhaltensregelnfür künftige Regime auf unserem Territorium aus.6 Für die Verbündeten von gestern,die mehr als 20 Millionen Menschenleben geopfert hatten, um die Welt vor demFaschismus zu bewahren, hatte man einen Frieden vorgesehen, der an ‘Karthago’erinnert.

Es klingt zwar wieWahnsinn, ist aber nichtsdestoweniger dokumentarisch bewiesen,daß der große Kriegsheld Winston Churchill damals vorgeschlagen hat, die UdSSRmit Nuklearwaffen auszuradieren.

Ja, das tat er, mindestens bei zwei Gelegenheiten. Das erste Mal machte er seinenVorschlag kurz nach dem Krieg, wie Alan Brooke in seinem Tagebuch festgehaltenhat.

Henry Cabot Lodge erwähnt in seinen Memoiren eine ähnliche Begebenheit.

In jenen Tagen erhielten wir viele solcher Signale, und wir mußten sie sehr ernstnehmen. Wie recht wir daran taten, sollte, vom heutigen Standpunkt aus gesehen,eigentlich ganz klar sein. Jene Drohungen waren nicht nur leere Worte.

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Könnten die zu Papier gebrachten unheilvollen Pläne nicht nur Wunschdenken derMilitärs gewesen sein?

Einige davonwarenWunschdenken, kein Zweifel. Aber daneben gab es die praktischePolitik, die deutlicher war als alle Worte. Es gab das gigantische Wettrüsten, denAufbau der Nato und die Einkreisung unseres Landes durchMilitärstützpunkte sowiedurch jene Bomberverbände, die einen ersten Schlag führen konnten.Daß diese grauenhaften Pläne nur Papier blieben, liegt nach unserer Auffassung

nicht so sehr daran, daß etwa die Vernunft in Washington die Oberhand behielt,sondern daran, daß wir ständig an Stärke gewannen, was vor allem in dem raschenEnde des atomaren Monopols der USA zum Ausdruck kam. Die US-Regierung sahin einem nuklearen Präventivkrieg gegen die UdSSR durchaus einen denkbarenWeg,mußte aber davon Abstand nehmen, als klar wurde, daß sie ihn nicht gewinnenkonnte. 1949 wurde der ‘Trojan’ genannte Plan für einen ersten nuklearen Schlagvom Strategischen Luftkommando der Vereinigten Staaten als unrealistisch beiseitegelegt. Das Dokument Nr. 68 des Nationalen Sicherheitsrats (NSC-68) kam zu demSchluß, ein Präventivkrieg gegen die Sowjetunion könne unmöglich gewonnenwerden. ‘Man könnte einenmachtvollen Schlag gegen die Sowjetunion führen’, heißtes darin, ‘aber es ist anzunehmen, daß diese Maßnahmen allein den Kreml nichtveranlassen oder zwingen würden, zu kapitulieren...’7 Im Hinblick auf ‘Dropshot’hatte man ebenfalls schwere Zweifel.

Vielleicht haben die Amerikaner gedacht, daß sie nicht genügend solcher Bombenhätten.

Nicht nur das. Es gab auch starke Befürchtungen, daß die Vereinigten Staaten anstatteines nuklearen Blitzkriegs einen endlosen und auszehrenden Krieg führen müßten,der die ganze Welt zerstören würde. So hätte es eigentlich schon zu der Zeit klarwerden müssen, daß ein militärisches Übergewicht im Nuklearzeitalter nur vonbegrenztem Wert ist.

Anscheinend ist das bis heute nicht klar.

Nun,Washington entschloß sich damals, die Methoden der Politik des Kalten Kriegsetwas abzuändern, aber die Ziele blieben die gleichen. Es ließ die Idee einesPräventivkriegs vorläufig fallen und wählte die Doktrin der Eindämmung, die‘Containment’-Politik, als Basis der US-Politik gegenüberMoskau. Imwesentlichenwar das eine Strategie, die unser politisches System dadurch zerstören wollte, daßman ständig an al-

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len Punkten Druck ausübte. So hielt man neben anderen Druckmitteln dasWettrüstenfür geeignet, um die Sowjetunion in die Knie zu zwingen.Da ich mit den Schöpfern dieser Doktrinen kaum konkurrieren kann, was deren

anschauliche Darstellung anbelangt, will ich einfach einige Schlüsselstellen aus deroffiziellen Bibel der ‘Containment’-Politik zitieren, nämlich aus jener Direktive desNationalen Sicherheitsrates, die 1950 als Dokument NSC-68 entstand und seit 1975nicht mehr der Geheimhaltung unterliegt.Das wichtigste Instrument dieser Politik sollte eine überwältigende militärische

Überlegenheit sein. ‘Ohne überlegene, geballte militärische Stärke, sowohl tatsächlichvorhandener als auch jederzeit mobilisierbarer’, so stellt das Dokument freimütigfest, ‘ist eine Politik der Eindämmimg, die letzten Endes eine Politik des kalkuliertenund abgestuften Zwanges ist, nicht mehr als ein politischer Bluff.’8Weiter wird darinfestgestellt, daß, bis eine solche Überlegenheit erreicht ist, jegliche Verhandlungenmit der Sowjetunion ‘allenfalls eine Taktik sein können... wünschenswert... umöffentliche Unterstützung für das Programm (der Aufrüstung) zu erlangen’.9

Zu den weiteren Mitteln, die vorgeschlagen und auch tatsächlich angewandtwurden, gehörten die ‘offene, psychologische Kriegführung, die auf einen breitenLoyalitätsschwund gegenüber dem sowjetischen System hinarbeitet, die Intensivierungangezeigter, unterstützender Maßnahmen und Operationen mit verdeckten Mitteln,sowohl auf dem Gebiet der wirtschaftlichen als auch der politischen undpsychologischenKriegsführung, in der Absicht, in ausgewählten strategischwichtigenSatellitenstaaten Unruhen und Revolten anzustiften und zu unterstützen...’10

Pläne bleiben oftmals Pläne. Nicht immer besteht die Absicht, solch verrückte Ideenauch notwendigerweise auszuprobieren.

Sicher nicht. Das waren ganz gewiß keine bloßen Phantasien, sondern Richtlinien,die auch in Kraft waren. Die Vereinigten Staaten haben uns während der fünfzigerJahre diese Art der Behandlung angedeihen lassen.Ein weiterer interessanter Aspekt des erwähnten Dokuments NSC-68 war die fixe

Idee, sich ein unschuldiges, defensives Aussehen zu bewahren, während man diesenaggressiven Kurs verfolgte. ‘Bei jeder politischen Verlautbarung und bei denangewandtenMaßnahmen sollte’ - so rät NSC-68 seelenruhig - ‘der imwesentlichendefensive Charakter mit Nachdruck betont und sorgfältig darauf geachtet werden,ungünstige

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Reaktionen im In- und Ausland soweit wie möglich zu vermeiden.’ Alle dieseMaßnahmen dienten dem einen letzten Ziel: der Zurückdrängung des sowjetischenEinflusses und ‘einer fundamentalen Umgestaltung der Natur des Sowjetsystems’.11

Zbigniew Brzezinskis Diplomatie schien darauf ausgerichtet gewesen zu sein, Einflußauf die innere Entwicklung in der Sowjetunion zu nehmen.

Brzezinskis Ruf als hartnäckiger Verfechter einer solchen Politik hatte seine gutenGründe. Er trug zu ihrer Formulierung in der Vergangenheit bei und hat - das darfwohl unterstellt werden -, als er im Amt war, von solchen Bemühungen nichtabgelassen. Dieses Generalthema des ‘Umformens’ des Sowjetstaatesmit denMittelnder Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, das in demDokument NSC-68zur Doktrin erhoben wurde, zog sich wie ein roter Faden durch vieleWorte und Tatender Carter-Administration.

Botschafter Anatoli Dobrynin hat gegenüber Henry Kissinger angedeutet, daßzwischen 1959 und 1963 eine Reihe von Gelegenheden versäumt wurde, um dieBeziehungen zwischen den Supermächten zu verbessern.12

In den späten fünfziger Jahren, nach dem Sputnik, wurde vielen Amerikanern klar,daß ein Nuklearkrieg unvorstellbar sei - schlichtweg Selbstmord. Es wurden Schritteunternommen, um das Eis des Kalten Kriegs zu brechen. Ich denke an den Besuchvon Ministerpräsident Chruschtschow in den Vereinigten Staaten im Jahre 1959,dem 1960 ein Besuch Präsident Dwight D. Eisenhowers in der UdSSR folgen sollte.Unglücklicherweise zerschlugen sich diese Bemühungen.

Sie meinen, infolge des U-2-Zwischenfalls, bei dem Gary Powers mit seinemAufklärungsflugzeug über der UdSSR abgeschossen wurde. Dieser Zwischenfallwurde von einigen Analytikern als der absichtliche Versuch des Geheimdienstes CIAbezeichnet, einen Erfolg des geplanten Treffens zwischen Eisenhower undChruschtschow in Paris zu verhindern.

Mir ist nichts von dahingehenden Plänen des CIA bekannt, außer daß, wie kürzlichberichtet wurde, Aufklärungsvorrichtungen an Bord der Präsidentenmaschineinstalliert wurden, für den Fall, daß Eisenhowers Besuch in Moskau zustande käme.Der U-2-Aufklärungsflug war vom Präsidenten selbst genehmigt worden, der dannauch einen sehr plumpen Versuch machte, dies zu vertuschen und so die geplantePariser Gipfelkonferenz zum Platzen brachte.

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Die ganze Episode war, obwohl sie etwas albern zu sein scheint und beinahe wie einZufall aussieht, doch sehr bezeichnend: Die Administration maß derRoutineaufklärungmehr Gewicht zu als der Chance, die Beziehungenmit der UdSSRzu verbessern.So wurde diese günstige Gelegenheit vertan, obwohl sie zu bedeutenden

Fortschritten hätte führen können.Weitere Gelegenheiten wurden während der ersten beiden Jahre der

Kennedy-Administration versäumt, als sich diese durch ihre eigene Parole von der‘Raketenlücke’ und durch das kubanische Abenteuer in der Schweinebucht selbstweitgehend um ihren Handlungsspielraum brachte. Es bedurfte des Schocks, den dieRaketenkrise um Kuba auslöste, damit die Kennedy-Administration schließlichbegann, ihre im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion eingenommene Position neuzu überdenken. Das Ergebnis war der Abschluß des Teststop-Vertrags und einigeweitere positive Schritte.Dieser Prozeß wurde dann aber durch die Ermordung des Präsidenten abrupt

unterbrochen.Letzten Endes gibt es keine vernünftige Alternative zur friedlichen Koexistenz.

Die Außenpolitik kann es sich nicht leisten, dieses fundamentale Prinzip zu ignorieren.Jeder Rückschlag bei der Befolgung dieses kardinalen Faktums der internationalenBeziehungen kann ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Erfahrungen aus densechziger Jahren sind ein deutlicher Beweis dafür. In den frühen siebziger Jahrengelang uns in unseren Beziehungen der Durchbruch, den wir ohne Erfolg währendder späten fünfziger und frühen sechziger Jahre gesucht hatten. Jedoch war ein ganzesJahrzehnt verlorengegangen - ein Verlust, der sehr kostspielig war, bedeutete er docheine ungeheure Aufrüstung. Die kubanische Raketenkrise führte die Menschheit anden Rand des Krieges.

‘Auge in Auge’, wie Dean Rusk sagte.

Ja. Dann begann der Krieg in Südostasien, der nicht nur in den Vereinigten Staateneine nationale Krise hervorrief, sondern auch die internationale Situation für langeZeit aus dem Lot brachte.Schließlich war noch der Sechstagekrieg im Nahen Osten im Jahr 1967. Seit 13

Jahren schon haben wir mit den Folgen dieses Konflikts zu leben. Der Nahe Ostenbleibt eine Brutstätte ständiger Konflikte, und noch ist nichts in Sicht, was eineannehmbare Lösung verspricht.Es gab noch weitere kleinere Krisen. Viel davon hätten in einer Atmosphäre der

allgemeinen Entspannung vermieden werden können.

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Aber nach den Spannungen in den sechziger Jahren verbesserte sich doch dieSituation in den frühen siebziger Jahren?

Sicherlich war das der Fall. Ich möchte die Bedeutung dieser Ereignisse nichtherunterspielen. Das war tatsächlich ein Augenblick derWahrheit für die Außenpolitikder Vereinigten Staaten.Das ganze Gebilde der Politik, wie es in den späten vierziger und frühen fünfziger

Jahren entworfen worden war, zeigte allmählich ernsthafte Schwächen: Es war vonder Realität zu weit entfernt, allzu untauglich für die tatsächlichen Probleme, denensich die Vereinigten Staaten und die Welt gegenübersahen. Vielen Amerikanernbegann es in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zu dämmern, daß dieAußenpolitik der Vereinigten Staaten nur zu oft das Gegenteil von dem erreicht hatte,was sie eigentlich wollte.

Nach diesen Schwankungen in den beiderseitigen Beziehungen hat es 1981 tatsächlichden Anschein, als wären wir erneut in die Tage des Kalten Kriegs der fünfziger Jahrezurückversetzt.

Ja, manchmal hat man den Eindruck, als würde alles noch einmal beginnen. Nachall den traumatischen Erfahrungen, die eigentlich jedermann eine nachhaltige Lektiongewesen sein sollten, haben wir den Eindruck, daß einflußreiche Leute in denVereinigten Staaten versuchen, die gleiche Sprache zu sprechen und das gleicheSpiel noch einmal von vorne zu spielen.Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Ich bin sicher, daß sich die Geschichte

nicht wiederholen wird und nicht wiederholen kann.Wir können es uns nicht leisten,so zu handeln, als ob wir die Erfahrungen der Vergangenheit vergessen hätten, ganzzu schweigen davon, daß wir sie nicht ignorieren dürfen.

Eugene Rostow, früherer Unterstaatssekretär im Außenministerium und frühererDekan der Yale Law School, erklärte mir, daß Amerikas Macht in der Tatabgenommen habe, was so weit gehe, daß Präsident Eisenhower 1958 nochMarine-Korps in den Libanon schicken konnte, während Washington heuteaußerstande wäre, solch einen Einsatz zu wiederholen.

Daß die Vereinigten Staaten diese Möglichkeit heute nicht mehr haben, liegt nichtan einer Abnahme ihrer militärischen Stärke. Die militärische Stärke hat seit 1958ständig zugenommen. Die tiefgreifendenVeränderungen der internationalen Situationund der Situation in Amerika selbst

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haben solche Unternehmungen jedoch allzu kostspielig werden lassen. DerVietnamkrieg hat das klar und deutlich gezeigt. Heute aber sehen wir, ungeachtetder Klagen von Rostow, eine ganz andere Tendenz. Enorme Anstrengungen werdenunternommen, um die Lehren des Vietnamkriegs rückgängig zu machen undmilitärischen Interventionismus wieder als ein Instrument der Politik der VereinigtenStaaten neu zu beleben.

Vielleicht wurden damals die Lehren daraus gezogen, aber man glaubt nun, es seidie Zeit gekommen umzudenken, weil eine ganze Reihe von neuen Ereignissen füreine Neueinschätzung spreche. Diesmal nicht notwendigerweise zur Freude derSowjetunion.

Genau das versuchen die neuen Kalten Krieger zu beweisen, doch ihre Argumentesind außerordentlich schwach. Die neuen Gegebenheiten, der historische Trend, anden sich die Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren anzupassen versuchten, sindweit davon entfernt, wieder zu verschwinden, sie sind sogar noch gewichtigergeworden.

Woran denken Sie dabei besonders?

Amerikas Politik des Kalten Kriegs, die jetzt wieder neu belebt wird, wurde in denspäten vierziger und frühen fünfziger Jahren formuliert, angeblich als Erwiderungauf die behauptete ‘Bedrohung’ der amerikanischen Interessen - damals feierlich denInteressen der ‘Freien Welt’ gleichgesetzt -, die von einem einzigen Feind ausging,nämlich der Sowjetunion. Washington erklärte es zu seinem Ziel, die ‘Bedrohung’einzudämmen, und sprach sogar vom ‘roll back’. Das Ziel sollte erreicht werden mitdenMitteln desWettrüstens, mit Hilfe vonMilitärstützpunkten undMilitär-Allianzen,durchWirtschaftsblockade gegen uns sowie durch psychologische Kriegführung undandere subversive Tätigkeiten. Alle diese anmaßenden Schritte waren von Anfangan fehl am Platz, denn die ‘sowjetische Bedrohung’ war eine Täuschung. Mit derZeit erkannten viele Leute in Amerika, daß ihre wahren Probleme sehr wenig mitder Sowjetunion zu tun hatten.Heutzutage, da sich diese Probleme vervielfacht haben, taucht erneut das alte

primitive Bild von der UdSSR als Hauptquartier des Teufels und als Ursprung allerProbleme Amerikas auf. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick davon ausgehen,daß die Vereinigten Staaten den denkbar feindseligsten Kurs gegen uns steuernwürden. Würde dadurch ein weiterer Iran oder ein weiteres Nicaragua verhindertwerden? Würde dadurch das Energieproblem gelöst oder der Dollar gestärkt bzw.die Infla-

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tion gestoppt werden? Amwichtigsten aber:Würde eine solche Politik zur Sicherheitder Vereinigten Staaten beitragen?

Von welchen ‘neuen Gegebenheiten’ sprechen Sie unter anderem?

Es ist eine unverrückbare Tatsache, daß die militärische Überlegenheit der VereinigtenStaaten über die Sowjetunion für alle Zeiten der Vergangenheit angehört. Deshalbist es einfach bestürzend zu sehen, daß die offizielle amerikanische Politik solcheÜberlegenheit erneut zu ihrem Ziel erklärt.Eine weitere Realität, die sich nachdrücklich bemerkbar machen wird, hängt mit

den Konsequenzen der wissenschaftlichen und technischen Revolution imRüstungsbereich zusammen. Die Entwicklung immer neuer Mittel zurMassenvernichtung hat viele traditionelle Auffassungen über den Haufen gestoßenund die Vorstellung, militärische Stärke für vernünftige politische Zweckeeinzusetzen, tatsächlich in Frage gestellt.Daneben hat die Tatsache, daß unabhängige Länder Asiens, Afrikas und

Lateinamerikas als Teilnehmer am Weltgeschehen in Erscheinung traten, dieinternationalen Beziehungen wahrhaftig zu einer weltweiten Angelegenheit gemacht.In der Vergangenheit war allenfalls eine Handvoll Großmächte in diese Beziehungenverwickelt, wobei die kleinen Länder eher die Objekte denn die Subjekte derinternationalen Beziehungen waren. Heute sind sie fast alle souveräne Partner, waszur Folge hat, daß die großeMehrheit derWeltbevölkerung an derWeltpolitik teilhat.Wo dieser Zustand noch nicht erreicht oder gänzlich verlorengegangen ist, dort gibtes einen fortwährenden Kampf, um ihn herzustellen. Diese Entwicklung hatte in derVergangenheit und hat auch weiterhin starke Auswirkungen auf die amerikanischeAußenpolitik, die auf eine so durchgreifende Demokratisierung nicht zugeschnittenwar.Schließlich gibt es auch in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu ihren

Verbündeten auf lange Sicht eine Veränderung. Die Verbündeten Amerikas sindwirtschaftlich viel stärker geworden und politisch weniger abhängig vonWashington.Sie fordern, daß ihre Interessen berücksichtigt werden. Und einige der überseeischenAbenteuer, die die Vereinigten Staaten unternommen haben, führten zu ernstenBefürchtungen unter ihnen.

Vietnam?

Das war nur eines dieser Abenteuer, aber es hatte sehr ernste Konsequenzen. Kürzlichhaben wir starke Zweifel und Widerstreben unter den

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Verbündeten bei der Unterstützung der amerikanischen Politik, zum Beispielgegenüber dem Iran, erlebt.

Henry Kissinger betont jedoch, daß kein westdeutscher Staatsmann es sich leistenkönnte, eine Politik zu betreiben, die Washington scharf mißbilligen würde.13

Ich würde darüber mit Kissinger nicht streiten wollen. Tatsächlich erfreuen sich dieUSA innerhalb der Nato einer Art Vormachtstellung. Aber hat nicht der gleicheKissinger in den gleichen Memoiren beschrieben, wie behutsam sich Washingtongegenüber Willy Brandts Ostpolitik verhalten mußte, obwohl die Amerikaner diesePolitik nicht gerade schätzten? Natürlich haben sich Amerikas Beziehungen zu seinenVerbündeten gravierend verandert. Während die Amerikaner früher einfach befehlenkonnten, müssen sie jetzt zu Mitteln der Politik und Diplomatie greifen.

Ohne Zweifel fiel in die Amtszeit Richard Nixons und Henry Kissingers mancherRückschlag, was die Beziehungen mit anderen westlichen Staaten angeht.

Ja, und als Carter sich um die Präsidentschaft bewarb, machten er und sein Team eszu einem zentralen Wahlkampfthema, daß die Republikaner bei denWest-West-Beziehungen versagt hätten. Es stellte sich aber heraus, daß auch dieCarter-Administration in dieser Hinsicht ebenfalls nicht sehr erfolgreich war.Die Carter-Administration setzte die Verbündeten in noch größerem Maß unter

Druck als ihre Vorgänger. Dies zeigte sich z. B. 1979 während derNato-Beschlußfassung zu den Pershing 2-Raketen und den Marschflugkörpern inaller Deutlichkeit. Das wurde sogar noch deutlicher, nachdem Washington seineneue politische Marschrichtung gegenüber Moskau eingeschlagen hatte.Die Verbündeten waren keineswegs darauf versessen, Carter in einen zweiten

Kalten Krieg zu folgen. Sie legten zwar Lippenbekenntnisse ab, um Washingtonzufriedenzustellen, doch ließen sie im allgemeinen nur widerstrebend praktischeMaßnahmen folgen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß das Vertrauen der Verbündetenin die Vereinigten Staaten geschwunden ist. Die Carter-Aministration hat zu dieserSituation erheblich beigetragen. Gewiß, es handelt sich immer noch um eine ungleicheBeziehung. Falls die Vereinigten Staaten dies wirklich wollen oder für erforderlichhalten, können sie die Verbündeten wahrscheinlich zum Gehorsam zwingen. Darinhat Kissinger recht, obwohl dergleichen Ver-

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suche in Zukunft für die USA und die Allianz als Ganzes immer kostspieliger werdendürften.

Faßt man Ihre Analysen zusammen, so gehört zu den Entwicklungen, an die dieVereinigten Staaten sich anzupassen versucht haben, der Verlust der militärischenÜberlegenheit, die neue Rolle der Dritten Welt und Veränderungen in denWest-West-Beziehungen.

Ich würde noch eine weitere Entwicklung hinzufügen: die Veränderungen, die inAmerika selbst stattfanden. Vom Beginn der vierziger bis zur Mitte der sechzigerJahre hatte von allen öffentlichen Angelegenheiten unbestritten die Außenpolitikden Vorrang. Das war in gewisser Hinsicht logisch, denn mit Beginn dieser Periodehatte auch die Rolle Amerikas in der Welt eine neue Qualität und ein neues Ausmaßerlangt. Nach der Politik des ‘NewDeal’ und nach dem ZweitenWeltkrieg bestimmteder Prozeß des Aufbaus und Unterhalts dieses Weltreichs weitgehend den Kontextder amerikanischen Politk. Dieser Drang nach außen hatte vorübergehend eineberuhigende Wirkung auf die inneramerikanische Lage. Aber nicht für lange Zeit.Anstatt Amerika zu stabilisieren, wurde der Kreuzzug des Kalten Krieges ab einemgewissen Zeitpunkt zum Katalysator für eine große innere Krise.Die Probleme im eigenen Land erforderten schnelle, ungeteilte Aufmerksamkeit

und verlangten eine Neuverteilung der Ressourcen, ein Abrücken von weltweitenVerpflichtungen und eine vernünftigere Außenpolitik. Die inneren Krisen in denspäten sechziger und frühen siebziger Jahren bestimmtenmaßgeblich denHintergrundfür die Neuüberlegungen zur Außenpolitik. Es kam zu keinem tatsächlichen Konsensin Form eines konkreten, politischen Rezepts, doch die generelle Richtung diesesDenkens war unmißverständlich. Die amerikanische Politik mußte sich wandeln.

Und Nixon fing an, sie zu verändern. Aber wollen Sie damit sagen, daß es keinegroße Rolle spielte, ob 1969 ein Republikaner oder ein Demokrat ins Weiße Hauseinzog, nachdem eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten ohnehin unvermeidlichwar?

Nun, jeder President hätte auf die eine oder andereWeise diese Anpassung versuchenmüssen. Ich stimme mit der Auffassung überein, daß es in politischer Hinsicht keinegroße Rolle spielt, ob der Präsident der Vereinigten Staaten ein Republikaner oderein Demokrat ist, obgleich einige selbstkritische Demokraten, wie z. B. John K.Galbraith, glauben, daß die Republikaner einen besseren Ruf haben, was ihr Geschickim

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Umgang mit der Sowjetunion anbelangt. Es sieht so aus, als gäbe es manchmal unterden Republikanem bzw. unter den Demokraten größere politische Differenzen alszwischen den beiden Parteien selbst.Die generellen Wechselbeziehungen der politischen Kräfte sind sehr wichtig, und

diese Wechselbeziehungen waren damals der Entspannung förderlich.Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß man die Persönlichkeit dessen nicht in

Betracht ziehen muß, der an der Spitze der Regierung steht, vor allem kann mannicht die individuellen Besonderheiten des Präsidenten außer acht lassen: seinepolitischenAnsichten, seineWertordnung, psychologischeAspekte seinermoralischenHaltung, sogar sein Temperament. Alle diese Dinge können oftmals wichtiger alsseine Parteizugehörigkeit sein, vor allem heutzutage, da die traditionellenUnterschiedezwischen den Parteien verwischt sind.

Messen denn Marxisten der Persönlichkeit überhaupt besondere Bedeutung bei?

Aber gewiß. Nach marxistischer Auffassung wird der Lauf der Geschichtegrundsätzlich und auf lange Sicht von objektiven Faktoren und Bedingungen, z. B.wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art, usw., bestimmt. Wird jedoch bei dentagtäglichen Entscheidungen auf höchster staatlicher Ebene innerhalb des weiten,objektiv gegebenen Rahmens der eine oder andere Weg gewählt, so kann diePersönlichkeit dessen, der die Politik macht, eine bedeutende, manchmal sogarentscheidende Rolle spielen. Ich kann mir Situationen vorstellen, wo diese Faktorenüber Krieg oder Frieden entscheiden können.

Hat es Sie überrascht, daß ausgerechnet Richard Nixon, dessen gesamte politischeKarriere sich auf den Antikommunismus gründete, als Präsident die Politik derEntspannung betrieb?

Ohne versuchen zu wollen, mir und meinen Mitarbeitern in Moskau mehr Weitblickzu attestieren als wir haben, würde ich sagen, daß wir es in gewisserWeise erwarteten.Lassen Sie mich daran erinnern, daß wir unsere Arbeit an diesem Institut gerade erstbegonnen hatten, als sich Nixon 1968 um die Präsidentschaft bewarb. Ich erinneremich an die ersten Artikel und analytischen Arbeitern, die Mitarbeiter des Institutserstellten. Es herrschte unter unseren Wissenschaftlern die einhellige Meinung - dieauch von Spezialisten der Regierung geteilt wurde -, daß bei densowjetisch-amerikanischen Beziehungen bedeutsame Veränderungen bevorstanden,einerlei, wer in Washington an die Macht käme.

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Wie waren Sie zu diesen Schlußfolgerungen gelangt?

Nun, wir haben die wichtigsten objektiven Faktoren, auf die ich schon hingewiesenhabe, analysiert, d.h., die Veränderungen sowohl der internationalen wie auch derinneramerikanischen Situation. Unter den sich deutlicher abzeichnendenEntwicklungen schien uns die Art, in der sich die Politik der Republikaner in denJahren 1967-1968 entfaltet hatte, weiterreichende Schlüsse zu erlauben. Hier handeltees sich um eine Partei, die in den frühen sechziger Jahren durch ihren scharfenRechtsruck die Kulisse für Lyndon B. Johnsons Politik einer Eskalation desVietnamkriegs geschaffen und dieser Politik den Weg bereitet hatte. Als jedoch klargeworden war, daß der Krieg nicht gewonnen werden konnte, begannen vieleRepublikaner - unter ihnen Nixon, der eigentliche Erbe der Goldwater-Bewegung -,nach Alternativen Ausschau zu halten.Was die praktische Politik betraf, so erkanntensie allmählich, daß der Ausweg aus der Krise in einer Neugestaltung des umfassendenKontexts der Ost-West-Beziehungen lag, in dem Versuch also, diesen Kontext mitder Sowjetunion auszuhandeln. Dieser Umschwung im Denken der Republikanerwar ein Anzeichen dafür, daß in der Machtelite der Vereinigten Staaten ein breiterKonsens im Entstehen war, der einen wichtigen Kurswechsel begünstigte. Was dieAttraktivität der Politik für den Wähler betraf, so war sich die GOP14 sehr wohldarüber im klaren, daß sie nur als ‘Partei des Friedens’ darauf hoffen konnte, dieMacht wiederzugewinnen.

Dennoch bleibt es sonderbar, daß der Beginn der Entspannung, der erste Besucheines amerikanischen Präsidenten in der UdSSR, das erste SALT-Abkommen undähnliche Entwicklungen mit Nixons Namen verbunden sind.

Der Versuch abzuschätzen, was die Persönlichkeit eines einzelnen nun genau zueinem gegebenen historischen Ereignis beigetragen hat, ist eine der schwierigstenAufgaben für einen Historiker. Es blieb Nixon und Kissinger vorbehalten, dieRegierung der Vereinigten Staaten zu führen, als es zu ersten Fortschritten auf demKurs der Entspannung kam. Wir erkennen ihre Verdienste an.Natürlich gab es in Amerika eine ganze Flut von Kommentaren dazu, wie paradox

es doch war, daß kein anderer als Richard Nixon, der Kommunistenfresser undHexenjäger, der den McCarthyismus bereits praktizierte, bevor McCarthy selbst inErscheinung trat, daß ausgerechnet dieser Nixon in den Beziehungen zwischen denVereinigten Staaten und der Sowjetunion den Umschwung einleitete, der von derKonfrontation

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zu einer Politik der Verhandlungen führte. In gewisser Weise hat Nixons Ruf denUmschwung zur Entspannung ohne Zweifel erleichtert, denn kein vernünftigerMensch konnte je den Verdacht hegen, ‘Dick Nixon’, der Scharfmacher imAlger-Hiss-Fall15 und der ‘kitchen debater’16 1959 inMoskau, würde den AusverkaufAmerikas betreiben.Hubert Humphrey wäre möglicherweise nicht in der Lage gewesen, die

Konservativen so erfolgreich zu beschwichtigen, wäre er 1968 gewählt worden. Dasheißt aber nicht, daß es einen ‘neuen Nixon’ gegeben hat. Davon sind wir nieausgegangen. Nixon blieb derselbe, es ist die Situation, die sich gewandelt hatte. Ichglaube, Nixon war immer in erster Linie und in jeder Hinsicht auf politischen Erfolgaus: Er wollte gewählt und wiedergewählt werden und einen hervorragenden Platzin der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einnehmen.Während der späten vierziger und während der fünfziger Jahre sah Nixon denWeg

zum Erfolg in fanatischem Antikommunismus und Antisowjetismus. In den spätensechziger und in den frühen siebziger Jahren war er dagegen Realist genug, um zuerkennen, daß ein neues Vorgehen angezeigt war, wollte er je ins Weiße Hausgelangen. Dieses Mal ging es um ‘Verhandlungen statt Konfrontation’, ‘eineGeneration des Friedens’ und Entspannung mit der Sowjetunion und anderensozialistischen Ländern.

Nixon war clever genug zu erkennen, daß er eine andere Gangart einlegen mußte.Kam er erfolgreicher als seine Nachfolger mit den großen Veränderungen auf deminternationalen Schachbrett zurecht?

Geht man von den Ergebnissen aus, dann war er ganz gewiß erfolgreicher, und seies auch nur, weil ihn die politische Situation in den USA sehr stark in diese Richtungdrängte. Doch auch dann verlief der Prozeß der Anpassung noch keineswegsreibungslos, und die Hinnahme der neuen Grenzen amerikanischer Macht fiel allesandere als leicht. Nicht selten hat man sich halsstarrig widersetzt, ein falsches Spielgetrieben und versucht, Zeit zu gewinnen. Nixon kam aufgrund seines Versprechens,den Krieg in Vietnam zu beenden, an die Macht, verlängerte diesen Krieg aber umweitere fünf Jahre und weitete ihn durch die Invasion in Kambodscha sogar nochaus. Es bedurfte der Opfer vieler Vietnamesen, Kambodschaner und Amerikanerund zahlreicher Unruhen in der amerikanischenGesellschaft, umNixon zur Erfüllungseines Versprechens zu zwingen.Allgemein gesprochen, folgte Nixons Politik gegenüber dem größten Teil der

Dritten Welt dem Grundmuster des Kalten Krieges. Lateinamerika und vor allemChile sind deutliche Beispiele dafür.

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Der Iran ist ein weiterer anschaulicher Fall.

Natürlich, die aktive EinmischungAmerikas in die Angelegenheiten des Iran begannbereits 1953, als der CIA mithalf, die verfassungsgemäße Regierung des PremiersMossadegh zu stürzen. Es fiel aber genau in die Zeit Nixons und Kissingers, daß dieUSA daraningen, durch ungeheure Waffenverkäufe und mit anderen Mitteln denIran in ein Bollwerk der amerikanischen Macht im Nahen Osten zu verwandeln.Damit legten die Vereinigten Staaten buchstäblich eine Zeitbombe unter ihre eigenenStellungen in diesem Teil der Welt, die früher oder später losgehen mußte. DieRevolution im Iran war das unvermeidliche Ergebnis des Machtmißbrauchs, den dieVereinigten Staaten jahrelang nach gewohnten Muster im Iran und ganz allgemeinim Nahen Osten betrieben haben. Das Erstaunliche ist, daß das Scheitern der Politikdes Kalten Krieges im Iran nun als Vorwand dafür dient, um die gleiche, bankrottePolitik aufs neue zu beleben. Geht man die frühen siebziger Jahre zurück, so gab esdamals in der amerikanischen Außenpolitik viele Anzeichen dafür, daß man desKalten Krieges müde war. Es gab aber auch in der amerikanischen Einschätzung derWeltlage einenwichtigenUmschwung, und allmählich auch in der praktischen Politik.

Und Vietnam spielte die entscheidende Rolle, als es zu diesem Umschwung kam.

Das Scheitern der Amerikaner in Vietnam spielte eine sehr ernstzunehmende Rolle.Der Prozeßwar aber nachmeinerMeinung komplizierter und langwieriger. Anzeichenfür eine neue globale Situation, die auch das Ende der amerikanischenÜberlegenheitzur Folge hatte, sowie die Notwendigkeit, sich mit den neuen Gegebenheiten zuarrangieren, gab es schon lange vor dem Vietnamfiasko in großer Zahl. Nehmen wirals Beispiel die Kubakrise im Jahre 1962. Obwohl damals kein strategischesGleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestand, zeigtedie Krise ganz klar, daß die Vereinigten Staaten nicht einfach ihre Bedingungendiktieren und tun konnten, was immer sie wollten. Die Situation in Europa entwickeltesich ebenfalls in einer Weise, die von den Amerikanern größere Zurückhaltung undFlexibilität verlangte.Wäre die Politik der Vereinigten Staaten nicht so vielen Traditionen und Vorurteilen

verpflichtet gewesen und - am wichtigsten - nicht jenen mächtigen Interessen, dieAmerika so oft davon abgehalten haben, die Realität zu erkennen, so hätte eineNeueinschätzung vor dem Vietnamkrieg stattfinden und dieser dadurch vermiedenwerden können.

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Leider bedurfte es jedoch der Tragödie Vietnams, um sowohl der Öffentlichkeit wieauch den maßgeblichen Politikern gewisse Wahrheiten unübersehbar deutlich zumachen.

Werwird aus sowjetischer Sicht für den eindrucksvollsten amerikanischen Präsidentendes letzten halben Jahrhunderts gehalten?

Ich würde sagen, Franklin D. Roosevelt.

Weil er die Sowjetunion diplomatisch anerkannte und ihr Verbündeter in derantifaschistischen Koalition während des Zweiten Weltkriegs wurde?

Das sind natürlich einige der Gründe. Jedes Land, wie auch jedes menschlicheWesen,pflegt andere danach zu beurteilen, wie es von ihnen behandelt wird. Das magbesonders in diesem speziellen Fall zutreffen, handelt es sich doch dabei um dieHaltung gegenüber der Sowjetunion und ihrenMenschen während der schwierigstenZeit ihrer Geschichte. Daß Roosevelt nach unserem Dafürhalten der überragendePräsident der letzten Jahrzehnte ist, läßt sich dennoch nicht allein mit dem Einflußbegründen, den er auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hatte -Beziehungen, die während seiner Präsidentschaft ihren Höhepunkt erreichten. Inunserem Land wurde eine ganze Menge über diese Periode der amerikanischenGeschichte geschrieben, einschließlich einer Anzahl von Büchern über Rooseveltpersönlich. Viele Menschen hier sind mit seinem Leben und seinem Wirkenwohlvertraut. Ich glaube, er wird auch wegen seiner Politik des New Dealhochgeschätzt, da sie die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise entstandene Not desamerikanischen Volkes spürbar linderte. Und selbstverständlich genießt er wegenseiner generellen, konsequent antifaschistischen Politik während des ZweitenWeltkriegs hohes Ansehen.

Aber falls Roosevelt etwas länger gelebt hätte, so würde der Kalte Krieg währendseiner Amtszeit begonnen haben, und er würde in der Sowjetunion vielleicht andersbeurteilt werden. Die sowjetische Haltung Winston Churchill gegenüber ändertesich nach 1945.

Churchill wurde während des ganzen Zweiten Weltkriegs anders eingeschätzt alsRoosevelt. Er hatte eine lange antisowjetische Vergangenheit hinter sich. Rooseveltdagegen stand bei uns immer in sehr viel höherem Ansehen. Und ich bin mirkeineswegs sicher, daß sich die Situation - hätte Roosevelt länger gelebt - genau soentwickelt hätte, wie es der Fall war.

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Ohne Zweifel mußten sich unsere Beziehungen nach demSieg, als unser gemeinsamerFeind vernichtet war, ändern. Viele Schwierigkeiten,Widersprüche und Spannungenwaren unvermeidbar angesichts unserer abweichendenAnsichten über dieNeuordnungder Welt nach dem Krieg und angesichts unterschiedlicher Haltungen gegenüberdem Prozeß revolutionärer Veränderungen, der durch die Zerschlagung desFaschismus unterstützt wurde.Dennoch glaube ich persönlich, daß der Kalte Krieg vermeidbar war. Und falls es

einen westlichen Staatsmann gegeben hat, der in der Lage gewesen wäre, zu einersolchen Entwicklung der Ereignisse beizutragen, dann war das Franklin D. Roosevelt.Das ist jedoch nur eine Vermutung, die nie überprüft werden kann. Die Geschichteläßt keine Wenn und Aber gelten.

Wie beurteilen Sie Harry S. Truman?

Ich würde sagen, er gilt hier als einer der schlimmsten NachkriegspräsidentenAmerikas, was verständlich ist, wenn man an den scharfen Kurswechsel denkt, derunter seiner Präsidentschaft in der Politik der Vereinigten Staaten vollzogen wurde.

Carter hatte auf seinem Schreibtisch im Weißen Haus den gleichen Spruch stehenwie Truman: ‘Hier kann man sich vor der Verantwortung nicht drücken.’ MancheAmerikaner halten Harry für einen der Größten.

Ich hatte bei meinem ersten Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahre 1969 dengleichen Eindruck. Das hat mich dann etwas verwirrt. Zuerst war ich geneigt zuglauben, der amerikanische Slogan ‘Gib's ihnen, Harry’ sei populär, weil er dieübliche amerikanischeArroganz ausdrücke. Aber dann gelangte ich zu der Auffassung,daß diese Haltung gegenüber Truman aus der Nostalgie heraus entstanden sein könnte,die die Amerikaner mit jenen einzigartigen frühen Nachkriegsjahren verbanden.Alles schien den Amerikanern in jenen Tagen so einfach und klar, so dauerhaft underreichbar zu sein. Nur wenige ahnten, daß eine solche Situation nur aufgrundvorübergehender und außergewöhnlicher Umstände entstanden war.

Wer ist in der Sowjetunion der zweitpopulärste amerikanische Präsident?

Ich würde sagen, John F. Kennedy.

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Trotz der Operation Schweinebucht und der Raketenkrise?

Ja, und sogar trotz einer weiteren wahnsinnigen Runde imWettrüsten, die unter demfalschen Vorwand einer ‘Raketenlücke’ in Gang gesetzt wurde. Ja, diese schwerenFehler wurden alle begangen, aber Kennedy war Staatsmann genug, um, angeregtdurch die Krise in den Jahren 1961-1963, zu erkennen, daß die Konfrontation in denamerikanisch-sowjetischen Beziehungen Verhandlungen zu weichen hatte. Daherdie bemerkenswerte Rede, gehalten an der American University, in der zum erstenMal seit vielen Jahren eine neue Einstellung zurWeltpolitik und zu den Beziehungenzur Sowjetunion postuliert wurde.17 Das war im wesentlichen das Konzept, das fastein Jahrzehnt später allgemein Entspannung genannt wurde.Auf diese historische Rede folgte 1963 der Teststopvertrag, der erste bedeutende

Schritt auf dem Weg zu einer Rüstungskontrolle. Es handelt sich hier zwar um eineweitere Hypothese, aber viele Leute in der UdSSR sind überzeugt, daß durch dieErmordung Kennedys ein größerer positiver Umschwung in densowjetisch-amerikanischen Beziehungen verhindert wurde. Das war, wie bereitserwähnt, nicht die einzige verpaßte Gelegenheit in den amerikanisch-sowjetischenBeziehungen. Auch heute noch glaube ich, wir hätten unter Dwight D. Eisenhowerviel mehr erreichen können. Manchmal frage ich mich, ob man damit diesemPräsidenten gerecht wird, zumindest was seine Außenpolitik anbelangt. Natürlichstand er während des größten Teils seiner Präsidentschaft im unheilvollen Schattenvon John Foster Dulles, dem antikommunistischen Kreuzzügler Nummer eins undgroßen Moralprediger, der es zugleich schätzte und verstand, einen politischen Kursam Rande des Abgrunds zu steuern. Ein Teil der Verantwortung dafür, daß dieAnstrengungen, die internationale Situation zu verbessern, wieder zunichte wurden,liegt bei Eisenhower selbst, einschließlich der Verantwortung für das zu ungelegenerZeit unternommene U-2-Abenteuer. Nichtsdestoweniger wurden während seinerAmtszeit und unter seiner Mitwirkung die ersten Versuche unternommen, das Eisdes Kalten Krieges zu brechen.Es ist sehr bemerkenswert, daß der Berufssoldat Eisenhower, dessen ganzes Leben

demMilitär gewidmet war, der erste und bis jetzt einzige Staatsmann der VereinigtenStaaten war, der das Land vor den Gefahren des Militarismus warnte. Tatsächlichwurde sein politisches Testament zu einer Warnung an die Nation vor demmilitärisch-industriellen Komplex.

Glauben Sie, daß das, was schließlich als Entspannung bezeichnet wurde,

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schon in den letzten Jahren der zweiten Amtszeit Eisenhowers hätte beginnen können?

Hier stehen wir vor einer weiteren, letztlich nicht klärbaren, hypothetischen Fragezu einer historischen Situation. Aber die von Ihnen angedeuteteMöglichkeit erscheintmir durchaus plausibel. Und wenn es dazu gekommen wäre, hätten die sechzigerJahre ganz anders ausgesehen.

Präsident Nixon muß von den Russen hoch geschätzt werden.

Ja, fand doch zu Nixons Zeit und unter seiner persönlichen Mitwirkung einUmschwung von der Konfrontation zu Verhandlungen, vom Kalten Krieg zursogenannten Entspannung statt. Aber es ist möglicherweise noch verfrüht, einendgültiges Urteil über Nixon zu fällen, da der Ruf eines Politikers oft weniger aufden eigenen Leistungen beruht, als vielmehr auf dem Vergleich dieser Leistungenmit denen seiner Nachfolger. Ein Nachfolger könnte sich als so erbärmlich erweisen,daß sogar ein mittelmäßiger Politker zu einer eindrucksvollen historischen Gestaltwird. Und umgekehrt: Ein recht erstklassiger Staatsmann kann von einemNachfolgermit noch größeren Leistungen in den Schatten gestellt werden.

Die zuletzt genannte Möglichkeit gefährdet Nixons Rang bislang wohl nicht?

Falls Sie dabei an Carter denken, so haben Sie recht. Und es ist noch viel zu früh,über Reagan zu sprechen. Aber lassen Sie uns wieder zu Nixon zurückkehren.WissenSie, Nixon ist für mich immer noch ein Rätsel. Aufgrund persönlicher Erfahrung imUmgang mit Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in Amerika habe ichden Eindruck gewonnen, daß diese, sobald sie aus ihren öffentlichen Ämternausscheiden, dazu neigen, weiser, ausgeglichener, vorausschauender undstaatsmännischer zu werden, oder wenigstens diesen Eindruck erwecken. Vielleichtlassen die Regierungsämter den natürlichen Fähigkeiten der Leute nur einen sehrbegrenzten Spielraum. Nixon und viele der führenden Mitarbeiter aus seinemehemaligen Stab liefern jedoch ein Beispiel für die Ausnahme von dieser Regel. Inihrem Fall erleben wir das Gegenteil. Soweit dies Nixon betrifft, glaube ich, daß essich um mehr handelt als nur um das psychologische Trauma, das Watergate undder erzwungene Rücktritt hinterließen. In Nixons Amtszeit als Präsident fiel einhistorischer Augenblick, der eine starke, zwingende Logik für sich hatte. Diese Logikbewirkte, daß er einige wichtige und realistische Entscheidungen

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traf. Mit anderen Worten, es könnte gut sein, daß die Geschichte Nixon über sichselbst und über seine Vergangenheit hinauswachsen ließ. Später aber, nach seinemAbschied vom Weißen Haus, löste er sich von der geschichtlichen Rolle und nahmwieder seine ursprünglichen Dimensionen an - intellektuell, politisch und persönlich.Die Entspannung ist der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn gewesen, aber jetzthat er damit begonnen, sie lächerlich zu machen, so als versuche er, sich für das zuentschuldigen, was er getan hat. Manchmal scheint er sogar seine eigeneVergangenheit revidieren zu wollen, um sich für irgendwelche politischen Aufgabenin der Zukunft zu empfehlen.

Sie glauben nicht, daß Nixon als ein großer Präsident in die Geschichte eingehenwird?

Die Geschichte spielt manchmal sehr seltsame Streiche, was den Ruf von Politikernanbelangt. Lassen wir deshalb diese Art von Spekulationen beiseite. Aber es wärefair, denke ich, wenn die Geschichte festhalten würde, daß er sein Land durch einesehr schwere Zeit geführt und einen ziemlich bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat,die Rolle Amerikas in der Welt neu und realistischer zu definieren.Ich spreche selbstverständlich nur von der Außenpolitk, obgleich Nixons

Vergangenheit sogar in diesemBereich widersprüchlich ist. Was Nixons Innenpolitikbetrifft, so ist das eine ganz andere Geschichte, die ihre Krönung durch Watergateerfuhr, wobei jedoch der Trend zu einer imperialen Präsidentschaft nicht erst mitNixon begann, sondern in der amerikanischen Geschichte eine lange Tradition hat.

Nixon bereiste im Frühjahr 1980 Europa, um für sein neuestes Meisterwerk mit demTitel ‘The Real War’18 zu werben. Darin stellt er z. B. fest, daß sich während seinerganzen Amtszeit Amerika ‘im Krieg mit der Sowjetunion’ befand.

Wo ist diese ‘Generation des Friedens’, von der er nach dem Gipfeltreffen 1972 inMoskau sprach, geblieben? Er war so stolz auf das von ihm Erreichte, daß er sogarvon Kissinger wegen seiner ‘Euphorie’ kritisiert wurde.All das ist nur ein weiterer deutlicher Ausdruck dessen, was wir vorher besprochen

haben. Ich erinnere mich an den Nixon des Jahres 1974, während seines letztenGipfeltreffens mit unserer Führung, als er bei jeder Gelegenheit öffentlich seinefreundliche Haltung der UdSSR gegenüber und seine persönliche ‘Freundschaft’ mitunserem Generalsekretär betonte.

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Bis zu einem gewissen Grad bedauere ich die Erklärungen, die er jetzt von sich gibt.Auf eineWeise tut er mir nämlich leid, weil er die eine große Leistung seines Lebens- den Übergang zur Entspannung - jetzt selbst untergräbt, herabsetzt und sie kleinererscheinen läßt, als sie in Wirklichkeit ist. Was sonst noch von seinen politischenLeistungen wird in der Geschichte bleiben? Seine Alger-Hiss-Affäre? Oder dieCheckers-Rede?19

Im Mai 1980 erklärte Nixon in Westdeutschland, daß Afghanistan nichts anderes alseine Phase des Dritten Weltkriegs sei.

Ich frage mich, wie Leute, die einst so hohe Ämter in ihrer Gesellschaft ausübten,so leichtfertig mit Worten um sich werfen. Wenn man jede Entwicklung aufintemationaler Ebene, die man mißbilligt, gleich als Beginn des Dritten Weltkriegsbezeichnet, verliert man mit der Zeit jeglichen Realitätssinn, obwohl es eineunabdingbare Voraussetzung für eine vernünftige Außenpolitik bleibt, die Welt sowahrzunehmen, wie sie wirklich ist.

Wie beurteilt man in der Sowjetunion die Rolle von Präsident Ford?

Wir anerkennen Präsident Fords ernstzunehmende politische Leistung, die 1974 inWladiwostok erzielte Übereinkunft über SALT II. Sobald ihn jedoch die Rechteunter Druck setzte, begann er wieder auf eine Politik der harten Linie zurückzugreifen.Ich denke dabei an Maßnahmen wie etwa das Einfrieren der SALT-Gespräche, dieAnnahme von Programmen zur Aufrüstung und sogar den Versuch, das WortEntspannung aus demEnglischen zu verbannen. Später, nachdem er dieWahl verlorenhatte, soll er der Ansicht gewesen sein, daß die Panikmache, die angesichts desDrucks vom rechten Flügel erfolgte, ein Fehler und möglicherweise einer der Gründefür seine Niederlage war. Leider muß man sagen, daß Fords Verhalten zur Wahlzeitkeine Ausnahme in der politischen Praxis in Amerika darstellte.

Wie würden Sie die Auswirkungen der Carter-Administration auf dieamerikanisch-sowjetischen Beziehungen bewerten?

Im Hinblick auf das, was sich bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen von1979 bis 1980 abgespielt hat, ist man versucht, ausschließlich in dieser Regierungdie alleinige Quelle alien Verdrusses auf diesem Gebiet zu sehen. Aber je öfter manheutzutage Nixon, Kissinger oder Ford hört, desto leichter ist es, dieser Versuchungzu widerstehen. Und

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ich möchte fair sein. Die negativen Tendenzen in unseren Beziehungen nahmen langevor Carter ihren Anfang.Erste Angriffe auf die Entspannung waren bereits 1972 zu beobachten. Später, in

den letzten Monaten der Regierungszeit Nixons, schränkte das Pentagon diediplomatische Handlungsfreiheit des Präsidenten sehr stark ein, mit dem Ergebnis,daß er 1974, was SALT II anbelangt, nur mit sehr wenigen substantiellenVerhandlungsvorschlägen nach Moskau kam. Ende des Jahres 1974 brachte derKongreß das sowjetisch-amerikanische Handelsabkommen zum Scheitern. Späterverhärtete Präsident Ford die amerikanische Verhandlungsposition bei denSALT-Gesprächen und leitete ein wichtiges Aufrüstungsprogramm ein. Weit davonentfernt, den Trend umzukehren, hat Carter dem sogar noch kräftig nachgeholfen.Aber am Anfang der Präsidentschaft Carters gingen die Entwicklungen noch nichtso ausschließlich in eine Richtung.

Welche Haltung nahm man in der UdSSR anfangs zu Carter ein?

Da Carter praktisch in seinem eigenen Land unbekannt war, was wollte man da vonuns erwarten?Wir hatten natürlich einige Informationen über ihn und, wie in solchenFällen üblich, gab es einige Dinge, die zur Besorgnis Anlaß geben konnten, genausowie andere Dinge als hoffnungsvolle Anzeichen interpretiert werden konnten.Nachdem Carter Präsident wurde, hielt es die sowjetische Regierung für angebracht,unmißverständlich klarzustellen, daß sie weiterhin bereit war, die Beziehungen zuden Vereinigten Staaten zu verbessern und in Bereichen von gemeinsamem Interessezusammenzuarbeiten. Aber unsere Haltung wurde nicht erwidert.Wiederum möchte ich die Situation nicht vereinfachen. Es gab damals heftige

Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischenMachtelite um die Außenpolitik.Carter gab den Falken zu einigen Hoffnungen Anlaß, aber bei ihrem Antritt war dieAdministration in ihrer Gesamtheit nicht von vornherein darauf festgelegt, dieRüstungsbegrenzung und die Entspannung zu zerstören. Daraufhin begann die Rechte,Carter als liberal hinzustellen und neue Gruppierungen zu schaffen, um Druck aufdie Administration auszuüben, wodurch versucht werden sollte, jeden positivenSchritt bei den sowjetisch-amerikanischenBeziehungen zu blockieren und gleichzeitigfür Carter Anreize zu schaffen, nach rechts zu rücken. Das ‘Committee on the PresentDanger’ wurde fast wie ein Schattenkabinett aufgebaut, ausgestattet mit der starkenRückendekkung der Elite, mit engen Verbindungen zu den Machtzentren und einerinsgesamt ‘achtbaren’ Fassade. Die älteren Gruppierungen der Falken wurden aktiver.

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Was, glauben Sie, hat Carter bewogen, diesem Druck nachzugeben?

Wenn sich die Carter-Administration einhellig der Entspannung verschrieben hätte,hätte sie solchemDruck widerstehen können und eine konstruktive Führungsfunktionsowohl im Kongreß wie auch auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung erfüllenkönnen. Aber das Problem war erstens, daß sowohl bei diesen wie auch bei anderenProblemen Carter selbst weder eine eindeutige Position hatte, noch eine Richtungdeutlich zutage trat. Zweitens, das Lager der Entspannungsgegner hatte ziemlichnamhafte Vertreter innerhalb der Administration, wie ZbigniewBrzezinski und JamesSchlesinger. Drittens hat Carter seine Fähigkeit, einen breiten Konsens herbeiführenzu können, der alle Gruppen zufriedengestellt hätte, überschätzt. Das Ergebnis war,daß Carters außenpolitischer Ansatz anfänglich durch Versuche gekennzeichnet war,in seine Politik wichtige Elemente beider Positionen, also der Verfechter wie derGegner der Entspannung, einzubeziehen. Diese Ambivalenz hat nicht nur densowjetisch-amerikanischenBeziehungen geschadet, sondern auch den gerechtfertigtenEindruck erweckt, Carter habe tatsächlich keine zusammenhängende Außenpolitik.Hat man erst einmal einen solchen Eindruck erweckt, so darf man sich nicht wundern,warum man für sein Vorgehen keine Unterstützung finden kann.

Sie erwähnten, Carter habe Signale der Sowjets erhalten.

Noch vor der Amtseinführung nahmCarter Kontakte mit der sowjetischen Regierungauf. Offenbar hatte man ihn glauben gemacht, wir würden versuchen, ihn in der Zeitzwischen seiner Wahl und der Amtseinführung bzw. in den ersten Wochen seinerPräsidentschaft zu testen. Er schien sehr besorgt zu sein, und man konnte merken,daß er eine Menge schlimmer Dinge über uns gehört hatte. Nun, er erhielt von unssehr positive Antworten, z. B., daß er unbesorgt sein könne, daß wir nicht die Absichthätten, den neuen Präsidenten zu testen, und daß wir bereit seien, auf eineVerbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hinzuarbeiten. Tatsächlichhat die Sowjetunion auch darauf geachtet, während des Übergangs von einerAdministration zur anderen auf demwichtigen Gebiet der sowjetisch-amerikanischenBeziehungen keinerlei Schwierigkeiten zu schaffen.

Dann kam Leonid Breschnews Rede in Tula, im Januar 1977, am Vorabend derAmtseinführung des amerikanischen Präsidenten.

Ja, der Generalsekretär sprach von den enormen Anstrengungen, die

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unternommen worden waren, um die Entspannung Wirklichkeit werden zu lassen,von der Notwendigkeit, das Kapital, das auf dem Gebiet der Entspannungangesammelt worden war, nicht zu vergeuden. Er sagte, ‘wir sind bereit, zusammenmit der neuen US-Administration einen neuen großen Schritt vorwärts in denBeziehungen zwischen unseren Ländern zu tun’. Er rief zu einer raschenÜbereinkunftüber den SALT II-Vertrag auf, der schnellstens Gespräche über SALT III folgensollten, zu neuen Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen undzur Einigung bei den Wiener Gesprächen über die beiderseitige Abrüstung undTruppenreduzierung in Mitteleuropa. Er stellte einige wichtige Punkte imZusammenhangmit der sowjetischenMilitärdoktrin undmit militärischenKonzeptenklar, die in den USA zum Gegenstand heißer Diskussionen geworden waren.Die sowjetische Regierung sagte, daß derWeg zu besseren Beziehungen offenstehe,

daß wir bereit seien, die Entspannung fortzusetzen. Aber die Erwiderung ausWashington, die ein paar Wochen später erfolgte, war ganz anderer Natur.

Sie denken an die Menschenrechtskampagne. Aber Schutte wie die Benutzung desamtlichen Briefpapiers des Weißen Hauses für einen persönlichen Brief an denDissidenten Sacharow wurden auch in USA weithin kritisiert, so auch von demMagazin Time, James (Scotty) Reston von der New York Times und vielen anderen.

Aber es gab den Brief nun einmal, und die nachfolgenden Ereignisse haben gezeigt,daß er nicht als ein isolierter Schritt betrachtet werden konnte.

Dem folgte übrigens im Juni 1977 ein weiterer persönlicher Brief, dieses Mal vonder neunjährigen Amy Carter an einen russischen Dissidenten, der noch dazu inParis lebt.

Noch wichtiger als jene Briefe war die Tatsache, daß die plötzliche‘Menschenrechtskampagne’ Hand in Hand einherging mit einem jähen Wechsel derpolitischen Position der Vereinigten Staaten gegenüber der UdSSR. AußenministerCyrus Vance besuchte im März 1977 Moskau, und die Vorschläge, die er hierbei zuSALT II unterbreitete, stellten einen ganz erheblichen Bruch mit der Übereinkunftvon Wladiwostok von 1974 dar.

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War das ein Schock für Sie?

Nun, wir hatten Hinweise darauf, daß sich die Dinge in diese Richtung entwickelten.Aber das hat die Sache nicht sehr viel einfacher gemacht. Ich erinnere mich an jeneTage sehr genau.Mein Eindruck damals war, daß unsere Vertreter bei den Gesprächenmit Cyrus Vance und seinen Begleitern bis zum letzten Augenblick seinesMoskau-Aufenthalts erwarteten, daß Vance schließlich doch noch Realistischeresauf den Verhandlungstisch legen würde, mindestens als Ausgangsmaterial für dienächste Verhandlungsrunde. Es fiel ihnen schwer zu glauben, daß das anfänglicheVerhandlungspaket schon alles gewesen sein sollte, was er zu bieten hatte, daß erdie weite Reise nach Moskau gemacht habe, um uns Vorschläge zu unterbreiten, dieso unverhüllt einseitig waren und so offen darauf abzielten, einseitige Vorteile fürdie Vereinigten Staaten zu erlangen. Bald wurde klar, daß der erste Besuch vonAußenminister Vance in Moskau zum Scheitern verurteilt war.

Könnten Sie sich denken, daß sich Kissinger auf solch eine vergebliche Reiseeingelassen hätte?

Ich hatte es von Vance genauso wenig erwartet - er persönlich verdient Hochachtungals Staatsmann und Diplomat. Offen gesagt, sogar heute verstehe ich noch nicht, wiedas alles geschah.Was Kissinger anbelangt, wenn Sie mich vor einigen Jahren gefragthätten, hätte ich wahrscheinlich gesagt, nein, er hätte es nicht getan. Aber heute,angesichts seiner neueren Reden und schriftlichen Äußerungen, fange ich an, das zubezweifeln.

Henry Kissinger kommt aus dem Schoß des riesigen Finanzimperiums derRockefellers, genauso wie Vance, Brzezinski und andere aus der Rockefellerschar,und was die Regierung Carter anbetrifft, so galt das für mehr als die Hälfte derwichtigsten Mitarbeiter.

Ich kenne keine einzige amerikanische Administration der letzten Jahrzehnte, dienicht irgend jemand in ihren Reihen hatte, der auf die eine oder andere Weise mitden Rockefellers verknüpft war, bzw. mit Organisationen, in denen diese eine aktiveRolle spielten, wie z. B. dem ‘Council on Foreign Relations’ oder der ‘TrilateralCommission’.Doch das gilt nicht nur ausschließlich für die Rockefellers, sind diese doch nur

der sichtbarste und bekannteste Teil der Elite der amerikanischen Konzerne, derunserer Meinung nach das in der Außenpolitik tätige Establishment zu Diensten ist.

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So erwiesen sich also die allerersten Gespräche, die die Carter Administration indie Wege geleitet hat, als ein Reinfall.

Ja, sie waren ein Fehlschlag. Die Gespräche hinterließen hier sehr große Enttäuschung.Am wichtigsten jedoch - wir sahen uns zu größter Sorge gegenüber dem gesamtenVerhalten der neuen Administration und ihrer zukünftigen Politik veranlaßt. Schondie allerersten Monate der Präsidentschaft Carters warfen die Frage nach derKontinuität der US-Politik auf. Die vorhergehende Regierung hatte eine Reihe vonAbkommen mit der Sowjetunion geschlossen. Aber würde Carter diese Abkommenfür verbindlich erachten? Oder würde die neue Adminstration alles von vornebeginnen wollen? Das waren die Fragen, die wir uns zu stellen hatten. Bald wurdedeutlich, daß es in unseren Beziehungen ständig zu Schwankungen kam.

Aber offen gesagt, imWesten empfindet man es genau umgekehrt, nämlich, daß dieseTaktik der ständigenWechselbäder typisch ist für die von der Sowjetunion betriebeneAußenpolitik.

Die sowjetische Außenpolitik war über die Jahre hinweg in hohem Maß beständig.Ich glaube, daß wir sogar im Westen in dieser Hinsicht einen guten Ruf genießen.Was die amerikanische Politik - speziell unter Carter - anbelangt, so sprechen die

Tatsachen für sich.Das Jahr 1977 fing schlecht an, aber im späten Frühjahr und im Sommer verbesserte

sich die Lage ein wenig, und im Oktober waren wir imstande, Einvernehmen überSALT II und den Nahen Osten zu erzielen. Wenige Tage später wurde dieÜbereinkunft, die den Nahen Osten betraf, praktisch widerrufen, und 1978 ging esinsgesamt erneut bergab. Dieses Mal nahm die Sache sogar eine noch ernstereWendung durch Brzezinskis Besuch in China und das Nato-Treffen im Mai inWashington. Im Sommer waren die Beziehungen wahrscheinlich schlechter als jezuvor in den siebziger Jahren...

Glauben Sie nicht, daß Brzezinskis Einfluß in hohem Maß für jene Schritte derCarter-Administration verantwortlich war, die zu der allgemeinen Verschlechterungder sowjetisch-amerikanischen Beziehungen führten?

Offensichtlich, er hatte Einfluß und hat ihn für negative Zwecke genutzt. Aber nachmeiner Ansicht war Brzezinski innerhalb der Regierung nicht so sehr der Urheberantisowjetischer Bestrebungen, sondern sein Ein-

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fluß war vielmehr Ausdruck ihres Vorhandenseins. Die für seine BerufungVerantwortlichen konnten sich über seine Geisteshaltung und seinen Ruf nicht imUnklaren gewesen sein, da diese sowohl in den USA als auch imAusland seit langembekannt waren. So ist für mich das Maß an Freiheit, das Brzezinski bei derBeeinflussung der amerikanischen Außenpolitik hatte, ein Zeichen für dievorherrschende politische Stimmung innerhalb dieser Administration.Ich denke jedoch, daß, solche Leute wie Brzezinski in hohen Regierungsämtern

zu haben, ein Luxus ist, den sich Amerika nur zu Zeiten der Entspannung leistenkann. Dieser Luxus kommt aber schon bald unerhört teuer zu stehen und wirdgefährlich, weil diese Leute die Entspannung sehr schnell und wirksam untergraben.Was Brzezinski an der Chinesischen Mauer sagte, war lächerlich, wenn auch

weniger lächerlich als dann eineinhalb Jahre später am Khyberpaß, an der Grenzezwischen Pakistan und Afghanistan. Er hat eine Art Komplex, immer zur falschenZeit vorpreschen zu müssen, das steht außer Zweifel.

Tatsächlich ist also während der Regierungszeit Carters die Entspannung raschdahingeschmolzen.

Seit 1977 verloren die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zunehmend anStabilität. Jede neue Runde erwies sich als noch abträglicher für die Entspannungals die jeweils vorhergehende.Was ebenfalls sehr schädlich für unsere Beziehungen war, das war der zunehmend

hysterischer werdende antisowjetische Ton, nicht nur in denMassenmedien, sondernebenso in offiziellen Verlautbarungen und in der Propaganda.Indem sie diese Kampagne anstiftete, ließ die Carter-Administration des weiteren

einen wesentlichen Zusammenhang in unseren Beziehungen außer acht - dieWechselwirkung zwischen Substanz und Atmosphäre. Dieser Zusammenhangwurdevon Kissinger treffend beschrieben, der schon 1974 warnte, ‘... wir können dieAtmosphäre der Entspannung nicht ohne die Substanz haben. Es ist gleichermaßenklar, daß die Substanz der Entspannung in einer Atmosphäre des Mißtrauens und derFeindseligkeit verlorengehen wird.’20

Das Ergebnis war, daß wir am Ende weder die Atmosphäre noch die Substanz derEntspannung hatten.Ich bin der Meinung, daß Carters Rede vom Juni 1978 in Annapolis besondere

Bedeutung hatte, war sie doch ein Indikator für die neuen gefährlichen Tendenzenin der amerikanischen Außenpolitik.

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Was an dieser Rede hat Sie so bedenklich gestimmt?

Verschiedene Aspekte. Carters Angebot an die Sowjetunion, zwischen Konfrontationund Kooperation zu wählen, und seine Feststellung, die USA seien bereit, jedendieser beiden Wege einzuschlagen, konnte nur bedeuten, daß Washington von dergemeinsamen Verpflichtung abrückte, die die beiden Länder in dem Dokument von1972 über die grundlegenden Prinzipien ihrer Beziehungen eingegangen waren,ebenso wie in der Vereinbarung zur Verhinderung eines Nuklearkriegs aus dem Jahre1973. Ich meine damit die Erklärung, die besagt, daß es im Atomzeitalter keineAlternative zur friedlichen Koexistenz geben kann. Die antisowjetischenSchmähungen in der Rede von Annapolis haben kaum eine Parallele in irgendeineranderen offiziellen amerikanischen Verlautbarung seit den schlimmsten Tagen desKalten Krieges.

Ein Leitartikel der Prawda faßte die sowjetische Reaktion zusammen.

Ja, das war eine detaillierte Analyse der Politik Carters, die die sowjetische Besorgniszu dieser Zeit wiedergab.Sie enthielt eine ernsthafteWarnung, daß die Ereignisse eine gefährlicheWendung

nehmen könnten. Gleichzeitig aber wiederholte der Leitartikel unsere Bereitschaft,für den Frieden und die internationale Sicherheit einzutreten, und wies - wie es darinhieß - die Einladung zurück, ‘dabei mitzuwirken, die Entspannung zu Grabe zutragen’.Als im Juli 1978 in Genf das nächste Treffen zwischen Gromyko und Vance

stattfand, begann sich die Lage erneut ein wenig zu bessem, und im Herbst 1978 sahes so aus, als würde SALT II bald unterzeichnet werden; doch mit dem Gefühl, dieskönnte bald geschehen, hatten wir noch während des ganzen langen Winters von1978 auf 1979 zu leben.

Dann kam schließlich Wien.

Ja, der Salt II-Vertrag wurde schließlich im Juni 1979 in der österreichischenHauptstadt unterzeichnet. Das war in der Tat ein sehr wichtiges Ereignis. Es warnicht nur ein Schritt vorwärts, was die Rüstungskontrolle als solche anbelangte,sondern ein allen Widrigkeiten zum Trotz erzielter Fortschritt, der positiveAuswirkungen auf die übrigen Rüstungsbegrenzungsgespräche und die allgemeinepolitische Atmosphäre haben konnte. Aber der Vertrag mußte erst noch ratifiziertwerden, und es war klar, daß es in Washington um die Ratifikation zu erbittertenAuseinandersetzungen kommen würde. Die darauf folgenden Ereignisse sind nochso frisch in Erinnerung, daß sie wohl kaum erwähnt wer-

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den müssen. Alles in allem würde ich sagen: Wenn es überhaupt eines historischenBeispiels dafür bedarf, wie ein wichtiger Vertrag zunichte gemacht werden kann -hier ist es.

Hat SALT II noch immer eine Chance?

Hoffentlich. Aber jeder Monat weiteren Aufschubs, vor allem, wenn er begleitetwird von einem ständigen Wachstum des Militärbudgets und der InbetriebnahmeneuerWaffensysteme, schmälert nicht nur die Chancen für eine Ratifikation, sondernauch den Wert des Vertrags.

Ronald Reagan scheint die Absicht zu haben, entweder den SALT II-Vertrag neu zuverhandeln, oder ihn ganz fallenzulassen und gleich zu SALT III überzugehen.

Die Sowjetunion hat bereits zum Ausdruck gebracht, daß sie die Idee einerNeuverhandlung des Vertrages zurückweist. Ich hoffe, wir werden auf dieses Themazu einem späteren Zeitpunkt unserer Unterredung in Zusammenhang mit einerausführlicheren Erörterung des Wettrüstens und der Rüstungskontrollezurückkommen.Um wieder auf Carter zurückzukommen - bei dem Versuch zu analysieren, was

geschah, könnte man zynisch werden und die recht plausibel klingende Theseaufstellen, daß die Unterzeichnung von SALT II für Carter ein notwendiger Schachzugwar, um sich gegen die Angriffe der Liberalen in den USA und in Europa zu schützen.Bei einer Ratifizierung jedoch wäre er den Angriffen der Rechten ausgesetzt

gewesen.

Sind Sie selbst dieser Auffassung?

Ich glaube nicht, daß Präsident Carter 1976 gelogen hat, als er sein Eintreten für dieIdee der Rüstungskontrolle und eine Verringerung der Verteidigungsausgabenversprach und es sogar zu seinem obersten Ziel erklärte, die Abhängigkeit vonNuklearwaffen gänzlich abzuschaffen. Auch zweifle ich nicht an seiner Aufrichtigkeit,als er einige entschlossene Befürworter der Rüstungskontrolle in seinen Stab aufnahm.Aber offensichtlich war er nicht weniger aufrichtig, wenn er bei anderenGelegenheiten ziemlich gegenteilige Ansichten äußerte. Und was vielleicht sogarnoch mehr als seine Aufrichtigkeit gezählt haben mag, war sein Verlangen, diepolitische Unterstützung, die er erfuhr, zu festigen und seineWiederwahl als Präsidentzu sichern. Vergleiche ich den Carter von 1976 mit dem Carter von 1980, so fälltmir unweigerlich der altbekannte

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Spruch von den guten Vorsätzen ein, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert ist.Zusammenfassend würde ich sagen, daß das gesamte Gefüge dersowjetisch-amerikanischenBeziehungen ausgehöhlt wurde, was zu Beginn des Jahres1980 in einer offenen Kehrtwendung von der Entspannung zum Kalten Krieg seinenHöhepunkt fand.

Aber dieser Prozeß der Aushöhlung begann, wie Sie selbst bereits an früherer Stellesagten, schon bevor Carter Präsident wurde.

Richtig. Die Möglichkeiten, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen positiv zuentwickeln, waren seit etwa 1974 geringer geworden. Das erste Bindeglied in denBeziehungen, das verlorenging, war der Handel. Nicht in dem Sinn, daß der Handelgänzlich eingestellt wurde Oder daß keine Aussicht bestünde, die Situation eventuellzu verbessern. Jedoch gait von 1972 bis 1973 der Handel als ein sehrvielversprechender Bereich der gegenseitigen Zusammenarbeit, gleichzeitig sah mandarin eine Angelegenheit von großer politischer Bedeutung. Schließlich wurde dasJackson-Vanik-Amendment21 vom US-Kongreß angenommen, und die Situationverschlechterte sich. Seit dieser Zeit stagnierte der amerikanisch-sowjetische Handel,bis ihm die Carter-Administration Anfang 1980 praktisch den Todesstoß versetzte.

Kissinger behauptet, daß das Jackson- Vanik-Amendment eindeutig eine Reaktionauf die plötzlich von Ihrer Regierung erhobene Steuer für jüdische Emigrantengewesen sei. Die Annahme des Amendments überraschte offensichtlich ihn selbstwie auch Nixon aufs äußerste.

Soweit ich mich erinnere, gab es zu der Zeit, als das Jackson-Vanik-Amendmentangenommen wurde, die Frage der Auswanderungssteuer nicht mehr, und sie standdeshalb in keinem direkten Zusammenhang mit der Entscheidung des Kongresses.Was die Auswanderungssteuer selbst anbelangt, so war sie der Versuch, eines derProbleme zu lösen, die in Zusammenhang mit einer neuen Entwicklung auftauchten- nämlich demAnstieg der Zahl der Emigranten. Das Problem hing damit zusammen,daß der Staat enorme Summen für die Ausbildung jener Leute ausgab, die dann dasLand verließen. Dieses Themawurde gründlich diskutiert, und schließlich wurde dieEntscheidung getroffen, jene Summen nicht einzutreiben.Nun, nachdem der Handel als Bindeglied ernsthaft geschwächt war, folgte als

nächstes Glied der Kette der Gesinnungswandel bezüglich Europa. Vor 1975 nahmendie Amerikaner konstruktiv, wenn auch nicht sehr aktiv, an den Bemühungen teil,die Sicherheit und Zusammenarbeit

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in Europa zu erhöhen. Nach 1975 erfuhr ihre Position jedoch eine drastischeVeränderung. Man könnte sogar sagen, daß sie tatsächlich Versuche starteten, denProzeß derWiederannäherung in Europa zu sabotieren. Diese Haltung trat in Belgradund später inMadrid so überaus deutlich zutage, daß sogar bei den westeuropäischenVerbündeten der Vereinigten Staaten eine gewisse Verstimmung hervorgerufenwurde. Dadurch, daß sich die amerikanische Delegation auf das Thema derMenschenrechte konzentrierte, sollte der Mangel an konstruktiven US-Vorschlägenzu anderen wichtigen Themen elegant verschleiert werden.Nach Europa kam die Wende in der Nahostfrage. Wie ich schon sagte,

veröffentlichten Andrej Gromyko und Cyrus Vance im Oktober 1977 ein Dokumentüber die Prinzipien eines gemeinsamen Vorgehens bei den Nahostproblemen. Daswar ein überaus bedeutender Schritt und das Ergebnis beharrlicher Anstrengungen,durch die unsere Ansichten einander angenähert werden sollten. Aber nur wenigeTage später brachen die USA ihr Versprechen, mit der Sowjetunion bei der Lösungdes Problems zusammenzuarbeiten.

Warum, glauben Sie, haben die USA die gemeinsame Haltung aufgegeben?

Einer der Gründewar die von einigenBeratern des Präsidenten geäußerte Befürchtung,daß ein solches Vorgehen das Verhältnis der Administration zu einflußreichen Teilender jüdischen Gemeinde komplizieren würde.

In noch jüngerer Zeit wurden wir Zeugen eines ähnlichenMeinungsumschwungs desWeißen Hauses, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Resolutiondie neuerrichteten Siedlungen amWestufer des Jordans verurteilte. Ein sogenanntes‘Mißverständnis’ mit dem Botschafter bei den Vereinten Nationen, McHenry.

Ja, das ist zu einem weitverbreiteten Verhaltensmuster geworden, was einmal mehrzeigt, wie schwierig es ist, mit den Vereinigten Staaten partnerschaftlich zu verkehren.Aber lassen Sie mich zum Jahr 1977 zurückkehren. So kam es also dazu, daß dieCarter-Administration ein weiteres Glied der sowjetisch-amerikanischenBeziehungenzunichte machte - nämlich die gemeinsamenAnstrengungen, einen der gefährlichstenregionalen Konflikte zu lösen. Als diese Gemeinsamkeit wegfiel, schwanden auchdie Hoffnungen auf eine erfolgreiche Lösung der Probleme in dieser Region - derlabilsten überhaupt auf dieser Erde.

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Auf diese Weise kamen wir allmählich an einem Punkt an, wo nur mehr einbedeutendes Bindeglied übrig blieb: die Rüstungsbegrenzung, die gemeinsamenBemühungen, das Wettrüsten einzudämmen, vor allem im strategischen Bereich -also die Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Waffen.Selbstverständlich ist das zugleich das wichtigste Bindeglied, das direkt inZusammenhang stehtmit demHauptziel der sowjetisch-amerikanischenBeziehungen:der Verhinderung eines Atomkriegs. Aber aufgrund negativer Entwicklungen aufanderen Gebieten war auch dieses Glied ernsthaft geschwächt, und als schließlichalles sozusagen nur nah an einem Faden hing, waren die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen fast ausschließlich von SALT abhängig, ohne daß viel übrigblieb, wasdiesen Beziehungen oder SALT und der Rüstungsbegrenzung selbst hätte förderlichsein können.

Heißt das, das nunmehr politisch isolierte SALT-Abkommen ist viel leichter verletzbargeworden?

Ja. Ich hatte gehofft und ich bin sicher, daß viele diese Hoffnung teilten, daß - fallsdie Dinge den richtigen Verlauf genommen hätten, der Vertrag also ratifiziert wordenwäre und Amerika seine Verpflichtungen erfüllt hätte - dann eine schrittweiseWiederherstellung der beschädigten Bindeglieder ermöglicht worden wäre. Aberunglücklicherweise haben sich diese Hoffnungen bis jetzt nicht erfüllt.Sobald wir - falls es dazu kommt - anfangen, die sowjetisch-amerikanischen

Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen - und ich hoffe, das geschieht in nichtallzu ferner Zukunft -, sollten wir diese Lehren in Erinnerung behalten. DemWettrüsten Einhalt zu gebieten, wird natürlich die wichtigste Aufgabe bleiben. Aberandere Bereiche im Rahmen der Beziehungen sollten nicht gering geachtet werden,einmal um ihrer selbst willen nicht, zum anderen deshalb nicht, weil ohne sie auchjeglicher Fortschritt bei der Rüstungsbegrenzung schwieriger zu erzielen ist.Andererseits wird eine Beschleunigung des Prozesses der Rüstungskontrolle, diewährend der letzten Jahre unnötigerweise so sehr verzögert wurde, eine ganzwesentliche Voraussetzung sein für eine Stärkung der Entspannung insgesamt.

Das hört sich wie Kissingers Vorliebe für politische Verknüpfungen an.

Ich bin gegen Verknüpfungen im Sinne Kissingers, weil damit gemeint war, daß dieLösung eines komplizierten Problems abhängig zu machen ist von der Lösung einesanderen noch komplizierteren Problems, was nirgendwohin führt. Und ich bin gegeneine Beendigung oder eine Un-

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terbrechung der Anstrengungen bei der Rüstungskontrolle, weil wir schon anderswogenug Probleme haben. In diesem Sinne sollten die Verhandlungen zurRüstungsbegrenzung so gut wie möglich von allen anderen Problemen getrenntwerden.Aber es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß alle Bereiche in unseren

Beziehungen bis zu einem gewissenGrad voneinander abhängen und dieVerbesserungder Beziehungen in einem Bereich zu mehr gegenseitigem Vertrauen führt sowieganz allgemein eine bessere Atmosphäre schafft, die hilfreich ist für die Verbesserungder Beziehungen auch auf anderen Gebieten.

Das hört sich so ähnlich an wie die Forderungen von Reagan, SALT könne nur dannerfolgreich fortgeführt werden, wenn die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistanzurückzieht, ihre Politik in Afrika ändert, usw.

Nein, die Sowjetunion stimmt einer solchen Haltung nicht zu, und dies nicht nurdeshalb, weil darin Forderungen enthalten sind, die wir als absolut ungerechtfertigtbetrachten. Diese Haltung ist von Grund auf verkehrt. Sie beruht auf dem erwähntentraditionellen Konzept der Verknüpfungen (‘linkage’ concept), wodurch unsereBeziehungen in einer ausweglosen Sackgasse landen. Nach der Logik dieses Konzeptswird jeglicher Fortschritt in den Verhandlungen zur Rüstungskontrolle nur in demMoment möglich - und zwar nur dann -, wenn die Beziehungen zwischen unserenbeiden Ländern ungetrübt sind. Mit einer solchen Haltung würden wir jedoch nieFortschritte bei der Rüstungskontrolle erzielen, vor allem wenn man bedenkt, daßdas gegenwärtige Wettrüsten selbst einen Hauptgrund für die spannungen und fürdas gegenseitigeMißtrauen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen darstellt,es somit aus sich selbst heraus ständig die Gefahr der Konfrontation und des Konfliktsschafft.Nebenbei gesagt, solch ein wesentlicher Durchbruch bei der Rüstungskontrolle,

wie es SALT I war, erfolgte nicht gerade in der Atmosphäre einer allgemeinen Idylle.Heute sind es nicht nur die Vereinigten Staaten, die über manche Aspekte der Politikder anderen Seite Unmut verspüren. Die Sowjetunion hat mehr als genug Gründe,mit der amerikanischen Politik unzufrieden zu sein. Folgt man der Logik der ‘linkage’,so sollten beide Seiten den Dialog einstellen, oder ihn zumindest auf den Austauschgegenseitiger wütender Anschuldigungen beschränken, wobei man Problemevorwegnimmt, die zur allgemeinen Unzufriedenheit beitragen, und darauf hofft, daßsich die Probleme von selbst lösen. Aber das wird nie geschehen.

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Das, woran ich denke, hat mit ‘linkage’ nichts zu tun. Es dreht sich hierbei nicht umForderungen undUltimaten, sondern um einenAufruf, die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen auf breiter Front zu entwikkeln. Anders ausgedrückt, es sollte ganzklar erkannt werden, daß eine Verbesserung der politischen Atmosphäre und desgegenseitigen Verständnisses einen Fortschritt auf demGebiet der Rüstungskontrollewesentlich erleichtern und größere Gewähr für den Frieden bieten würde, dieserwichtigsten Dimension der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen also großerNutzen erwachsen würde.

Präsident Nixon hat die Gepflogenheit jährlicher Gipfeltreffen mit den Sowjetführernins Leben berufen. Carter hat auch diese Entwicklung vereitelt und abgebrochen.

Ja, die schon zur Gewohnheit gewordene Praxis eines Zusammentreffens der Führerunserer beiden Länder war drei Jahre lang unterbrochen. Und das warselbstverständlich nicht sehr hilfreich. Gleichzeitig würde ich aber sagen, obwohlsie unerhört wichtig sind, sind Gipfeltreffen nicht der einzigeWeg, um das politischeKlima zu verbessern.

Nach der Konferenz der Blockfreien in Belgrad 1961 wurden Nehru, Sukarno,Nkrumah und Keita als Emissäre nach Moskau und Washington entsandt, um aufsolche regelmäßigen ausführlichen Aussprachen zwischen den Supermächten zudrängen.

Gipfeltreffen sind wichtig, ja. Aber je gewichtiger ein Instrument der internationalenPolitik ist, mit um so größerer Sorgfalt und Präzision sollte es zur Anwendungkommen. Andernfalls können die Ergebnisse andere als die erwünschten sein. EinGipfeltreffen, das unzureichend geplant und ungeschickt durchgeführt wird, kanngefährliche Konsequenzen haben. Gipfeltreffen, die zu leerer Routine werden, setzendie gesamte Struktur der bestehenden Beziehungen aufs Spiel. Wir sind fürGipfelgespräche mit tatsächlichem Gehalt.

Sowohl Nixon wie auch Kissinger vertreten in ihren Memoiren die gleiche Ansicht.

Selbstverständlich muß man dann nach einem erfolgreichen Gipfel auch dieeingegangenen Verpflichtungen einhalten. Das Gipfeltreffen von Wladiwostok von1974 brachte sehr vielversprechende Ergebnisse. SALT II nahm 1975 einen günstigenVerlauf. Niemand bei uns hätte erwartet, daß die Amerikaner so lange brauchenwürden, um sich zur Un-

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terzeichnung zu entschließen. Und jetzt, nach einem weiteren Gipfel in Wien undabermals im Widerspruch zu dem erzielten Ergebnis, wurde die Ratifizierung aufunbestimmte Zeit verschoben.

Welchen Eindruck hatten Sie beim Lesen der Memoiren Kissingers?

Mein Eindruck ist ein etwas ambivalenter. Für den, der sich mit den VereinigtenStaaten befaßt, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Der Autor schreibt oftmals rechtbeeindruckend und manchmal gar brillant. Man muß aber hinzufügen, daß der Autorso berühmt und anerkannt ist, daß er sich meiner Meinung nach hätte leisten können,einige der Verzerrungen zu unterlassen, besonders, was die sowjetische Außenpolitikbetrifft. Versuche, die Geschichte nachträglich umzuschreiben, sind immerenttäuschend. Könnte es seinem Wunsch entsprungen sein, seinen Lebenslauf nachder neuesten politischen Mode und für seine erkennbar werdenden politischenAmbitionen ‘aufzufrischen’? Ich frage mich. Allzu oft hat man den Eindruck, diegegenwärtige harte, antisowjetische Haltung würde auf die jüngste Vergangenheitprojiziert werden.

Kissinger stellt sich selbst in seinen Memoiren als überaus erfolgreich dar.

Nun, Memoiren werden nie in der Absicht geschrieben, den Ruf des Autors zuschmälern. Die Frage ist, wie man Erfolg in diesem speziellen Fall definiert. Ichkann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Kissinger fast entschuldigt fürdie Entspannung und dadurch seine Erfolge so darstellt, als hätte er die Russenausgetrickst und manipuliert, einseitige Vorteile für Amerika erlangt, etc. Ich binmir sicher, daß er bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen überhaupt nichtsvon Wert erreicht hätte, wäre das seine hauptsächliche Arbeitsweise gewesen.Kein Zweifel, Henry Kissinger kann erhebliche Leistungen für sich verbuchen.

Aber sie kamen durch seinen Sinn für die Realitäten zustande, durch seine Fähigkeit,Bereiche gemeinsamen Interesses aufzuspüren und auszuloten und dann im Rahmendieser Interessen für beide Seiten akzeptable Lösungen zu suchen. Persönlichbeeindruckt mich der Staatsmann Kissinger mehr, der 1974 feststellte: ‘Es kann keinefriedliche internationale Ordnung geben ohne ein konstruktives Verhältnis zwischenden Vereinigten Staaten und der Sowjetunion’, als der Politiker Kissinger, der einpaar Jahre später in seinenMemoiren versucht, die Bedeutung dessen, was in unserenBeziehungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erreicht wurde, herabzusetzen.Und natürlich fesselt mich - sowohl als politische Gestalt, wie auch alsWissenschaftler - weit

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mehr der Henry Kissinger, der nachweist, daß sich militärische Macht heute nichtmehr in politischen Einfluß umsetzt und daß ‘die Aussicht auf entscheidendemilitärische Vorteile, selbst wenn diese theoretisch möglich waren, politisch nichtakzeptabel ist, da keine Seite einemassive Verschiebung des atomarenGleichgewichtstatenlos hinnehmen wird’, als der Kissinger, der dazu beitrug, daß eine neue Rundeim Wettrüsten zur Vorbedingung für eine Ratifikation des SALT II-Vertrags erklärtwurde, womit man darauf abzielt, militärische Überlegenheit zu erlangen.

Welche besonderen Ungenauigkeiten haben Sie in seinen Memoiren festgestellt, wasdie sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft?

Ich hatte während der ersten Gipfelgespräche den Eindruck, daß sich Kissingeraufrichtig und überschwenglich über die Erfolge bei diesen Gesprächen freute, undich habe starke Zweifel, ob die Beschreibung dieser Ereignisse in seinen Memoirenmit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nach meiner Erinnerung unterschied sich dieStimmung der amerikanischen Delegation beim Gipfeltreffen 1972 ganz erheblichvon dieser ziemlich zynischen, selbstsicheren Haltung, wie sie Kissinger beschreibt.Die Amerikaner sahen unserer Antwort auf die Bombardierung Hanois und dieVerminung des Hafens von Haiphong, die sie einigeWochen vorher befohlen hatten,nervös entgegen, ebenso wie auch einem denkbaren Zusammenbruch des Gipfels,da dies ein besonders schwerer Schlag für die Nixon-Administration gewesen wäreangesichts der inneren Unruhen und der Präsidentschaftswahlen in jenem Jahr. Undals schließlich deutlich wurde, daß sich unsere Führung - obwohl sie jene Handlungender Amerikaner verurteilte - verantwortungsbewußt und mutig genug zeigte, um zuerkennen, daß es nicht an der Zeit war, Auge umAuge und Zahn um Zahn Vergeltungzu fordern, wohl aber an der Zeit, einen größeren Durchbruch bei unserenBeziehungen zu erzielen, da zeigten sich die Amerikaner tief beeindruckt. Ich erinneremich an einen von ihnen, der in einem persönlichenGespräch nachdenklich bemerkte,der Gang der Geschichte sei während des ersten offiziellen Empfangs imGranowitaja-Saal des Kremls spürbar geworden. Sogar diese hartgesottenen Leuteaus der Nixon-Administration fühlten, daß sich eine bedeutende historische Wendeereignete, und waren voller Hoffnung für die Zukunft. Das war ein sehrbemerkenswertes und charakteristisches Gefühl, aber es fehlt in den Memoiren fastgänzlich.

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Wie beurteilen Sie Carters Außenpolitik im Vergleich mit Kissingers Haltung?

Kissinger versuchte in der Tat, das Verhaltensmuster des Kalten Krieges zuüberwinden, wenn auch die Versuche bisweilen unzulänglich und begrenzt gewesensein mögen durch die herkömmliche Vorstellung vom Gleichgewicht der Kräfte.Selbstverständlich haben einige Leute aus dem Team von Carter alles in ihren KräftenStehende getan, um sich von der Politik Kissingers zu unterscheiden, aber letztenEndes gelang es ihnen nicht, eine realistische Alternative zu entwickeln. Es ist nahezuunmöglich, ein durchgehendes Raster in Carters Außenpolitik festzustellen. AmAnfang gab es konzeptionelle Neuerungen, die das Nord-Süd-Verhältnis, dieRüstungsbegrenzung und neue Prioritäten im Bereich der amerikanischenAußenpolitik betrafen, danach lief nach vielen Schwankungen und sprunghaftenVeränderungen alles auf eine zusammengestümperte Politik der Konfrontation hinaus,wobei all jene Lehren, die Kissinger in den frühen siebziger Jahren aus der jüngstenGeschichte zu ziehen versuchte, vollkommen außer acht gelassen wurden.Damit sind wir wieder bei der vorrangigen Herausforderung, der die amerikanische

Außenpolitik heute gegenübersteht - der Anpassung an die neuen Gegebenheiten derinternationalen Lage, an die sich verändernden Bedingungen im In- und Ausland,die auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluß nehmen. Mitunter kann dieserProzeß der Anpassung verzögert oder gehemmt werden, wie es auch jetzt der Fallist, aber die grundlegende Tendenz ist nicht umkehrbar und wird sich wiederdurchsetzen.

Was ist Ihrer Ansicht nach bei einem Vergleich Kissingers mit Brzezinski derHauptunterschied zwischen diesen Managern der Diplomatie?

Selbst wenn man ihre sehr unterschiedlichen intellektuellen und politischenMöglichkeiten außer acht läßt, so bleiben dennoch, glaube ich, einige wichtigeUnterschiede, was den Stil betrifft. Der wichtigste Punkt dabei ist, daß Kissinger inallererster Linie ein Jünger der Schule der Realpolitik ist, ein Realist in dem Sinn,daß er nur die greifbareren Faktoren der Politik beachtet, wogegen Brzezinski einIdeologe ist, dessenAnsichten in hohemMaße von Ideen und Einstellungen beeinflußtsind, die einem vorgefaßten ideologischen Konzept entspringen.

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Und welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen?

Eine Folge ist, daß aus Kissingers Sicht die Sowjetunion lediglich ein weitererMitspieler auf der internationalen Bühne ist, der, je nach Umständen, alles sein kann,vom unversöhnlichen Feind über einen traditionellen Rivalen, bis hin zum Partner.Nach Brzezinski ist die UdSSR in allererster Linie eine ‘illegitime’ Form derGesellschaft, mit der normale dauerhafte Beziehungen unmöglich sind, Solange nichtgrundlegende interne Veränderungen stattgefunden haben.Ich glaube, das geht über die persönlichen Unterschiede dieser beiden Männer

hinaus; was wir hier vorfinden, ist in Wirklichkeit das Spiegelbild der beideneinflußreichen Schulen des politischen Denkens in Amerika.

Kissinger schien sich vor allem mit Ost- West-Beziehungen zu befassen, wogegeneinige der Auffassung sind, Brzezinski konzentrierte sich auf West-West- undNord-Süd-Probleme.

Richtig, die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die West-West- undNord-Süd-Beziehungen war eine der bevorzugten Ideen Brzezinskis im Rahmen desTrilateralismus.Zwar war alles hinter harmonisch klingender Rheotrik versteckt, aber der

tatsächliche Kern war unmißverständlich; es ging darum, für einen Stillstand imEntspannungsprozeß - also bei den Ost-West-Beziehungen - rationale Gründevorzuschieben, ebenso wie für den Rückzug von den Bemühungen, die in diesemBereich dringendsten Probleme zu lösen. Das Ergebnis war, daß weder dieWest-West-Beziehungen noch die Nord-Süd-Beziehungen, von denWest-Ost-Beziehungen erst ganz zu schweigen, von solch einer Konstruktionprofitierten.Unter der Carter-Administration gab es keinen wesentlichen Fortschritt bei den

Nord-Süd-Beziehungen, da der anfängliche Flirt mit den Entwicklungsländernschrittweise durch eher traditionelle, militärisch-interventionistischeKonzepte ersetztwurde. Gleichzeitig, nach nutzlosen Versuchen, die Ost-West-Beziehungen in ihrerPriorität zurückzustufen, wurden diese wieder an die Spitze der Tagesordnung in deramerikanischenAußenpolitik gestellt, doch unglücklicherweisewar dieAdministrationnicht imstande, diese Politik in einemKontext der Entspannung zu verfolgen, sonderntat dies im Kontext der Konfrontation.Das hat seinerseits die gesamte Struktur der US-Außenpolitik verzerrt. Es war,

als wenn man mit einem Kompaß Unfug treibt, anstatt ihn anzeigen zu lassen, waser entsprechend den Gesetzen des Magnetismus an-

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zeigen muß. Das vorhersehbare Ergebnis war der Verlust der Orientierung in derAußenpolitik.Wenn ich das sage, dann keineswegs in der Absicht, auf irgendeine Weise die

Bedeutung der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit Westeuropa und Japan oderanderen Teilen der Welt zu schmälern. Auch streite ich nicht ab, daß jedermann -die USA eingeschlossen - das Recht hat, das System von Beziehungen aufzubauen,das seinen jeweiligen Interessen am besten entspricht.Was ich aber damit betonen will, ist, daß - gleichgültig wie wichtig die übrigen

Faktoren sein mögen - man nicht die Ost-West-Beziehungen an das Ende derPrioritätenliste abschieben kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, einen ungeheuerfolgenschweren Fehler zu begehen. Sehr ernste und drängende Probleme müssen imRahmen der Ost-West-Beziehungen gelöst werden.

Die Sowjetunion ist ohne Zweifel das zentrale und grundlegende Thema, für das sichKissinger in seinen Memoiren interessiert.

Sie sagen mir das so, als ob mir das schmeicheln sollte. Aber das ist nicht eine Frageder Eitelkeit oder des Verlangens, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zustehen, ganz zu schweigen davon, daß das Interesse an uns ganz verschiedeneAspektehaben kann. Im Rückblick würde ich sagen, daß wir, angefangen bei der Interventionder Alliierten von 1918/1919, in vielen Fällen die völlige Nichtbeachtung undGleichgültigkeit dem damals starken amerikanischen Interesse an unserem Landvorgezogen hätten. Offensichtlich hatte Brzezinski, als er die übersteigerteAufmerksamkeit beklagte, die die Ost-West-Beziehungen fanden, nicht die Vorteilesolch ‘wohltuender Vernachlässigung’ im Auge. Bei ihm hörte sich das nach einerAufforderung an, die Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen und zurLösung der Probleme zu verlangsamen, bzw. sie ganz einzustellen. Aber diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen sind angesichts der mit ihnen für dieMenschheit verbundenen Gefahren wie auch Chancen in der Tat eine Angelegenheitvon höchster Priorität. Auch ist die Bedeutung, die sie in diesem Rahmen haben,keine Frage, über die wir zu entscheiden hätten, und sie ist auch unabhängig vonVorlieben.Wir sind auf beiden Seiten ganz einfach verpflichtet, unseren Beziehungenzueinander unsere ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ob wir das wollenoder nicht. Die wichtigsten gegenwärtigen Probleme von intemationalemRang habenihren Dreh- und Angelpunkt in den Ost-West-Beziehungen, das gilt auch für dieProbleme imBereich derWest-West- und Nord-Süd-Beziehungen. Sie hängen immernoch weitgehend ab von der Beziehung zwischen so-

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zialistischen und kapitalistischen Ländern - einschließlich der Beziehung zwischenden beiden Großen, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, natürlich.

Hegel hat einmal gesagt, daß die Menschen nichts aus der Geschichte lernen. Läßtsich dieser Ausspruch auch auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungenanwenden?

Hegel hat ein großartiges Gedankengut hinterlassen, wogegen mein Gedächtnisoftmals Lücken aufweist. Ich erinnere mich an andere Gedanken aus seinerPhilosophie, die nachdrücklich das Gegenteil betonen: die Fähigkeit der Vernunft,die Geschichte zu verstehen und daraus zu lernen. Ich bezweifle aber nicht, daß diesergroße Dialektiker auch Gedanken der von Ihnen erwähnten Art hervorgebracht hat.Ich glaube, man kann für beide Standpunkte Argumente anführen, reflektieren siedoch jeweils eine Seite des komplexen Verhältnisses der Menschheit zu ihrerGeschichte. Wären die Menschen gänzlich unfähig gewesen zu lernen, dann gäbe eswohl überhaupt keine Geschichte. Wären sie jedoch begabte und fleißige Schülergewesen, die die Lehren der Geschichte gründlich studiert hätten, wäre die Geschichtewohl ganz anders verlaufen. DieMenschheit würde dann schon seit langem in einemReich fortwährenden Friedens, absoluter Sicherheit und völliger Gerechtigkeit leben.Doch beide - sowohl die Geschichte wie die Menschheit - bewegen sich irgendwo

zwischen diesen Extremen. Offensichtlich trifft das auch auf diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu. Unsere beiden Länder haben überlebt,was allein schon ein Beweis für ihre Fähigkeit ist, etwas zu lernen. Aber sie lebenin großer Gefahr und unter schlimmeren Umständen als nötig wäre. Und das heißtunter anderem, daß nicht immer Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Dasvergangene Jahrzehnt hat viele positive Veränderungen in densowjetisch-amerikanischen Beziehungen mit sich gebracht - dennoch, so wie ich esheute beurteile, glaube ich, daß wir es insgesamt ein Jahrzehnt der versäumtenGelegenheiten nennen können. Was die jüngsten Entwicklungen in unserenBeziehungen anbelangt, so kann man sich wirklich fragen, ob die Geschichteüberhaupt verstandenwird, eingeschlossen die Lehren des KaltenKrieges, des Kriegesin Vietnam und viele andere, die vor einem Jahrzehnt zu einer Neueinschätzunggeführt haben.

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Wird die neue Administration geeignete Lehren ans der Geschichte ziehen?

Ja, diese Frage wird wieder äußerst akut. Aber so wichtig die Geschichte auch ist,genügt es nicht, aus der Vergangenheit zu lernen. Jede Generation muß neuenHerausforderungen trotzen, für die die Vergangenheit keine Anhaltspunkte bietet,Herausforderungen, die von dieser Generation allein gemeistert werden müssen.Einige der Aufgaben, denen wir Zeitgenossen gegenüberstehen, sind historischeinzigartig, und es gibt bei dem Versuch, sie zu lösen, keinen Spielraum fürFehlentscheidungen. Die wichtigste Aufgabe ist natürlich die Verhinderung desKrieges.Die Generation unserer Eltern, die Augenzeuge des Ersten Weltkriegs wurde und

in diesemKrieg gekämpft hat, hat einen tragischen Fehler begangen, als sie versäumte,die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen und dadurch zuließ, daß es zumZweiten Weltkrieg kam. Ich sage es noch einmal, das war eine echte Tragödie. AberdieMenschheit als biologische Spezies und auch die einzelnen Länder, die ammeistendarunter gelitten haben, haben es geschafft zu überleben. Sollte dieser tragischeFehler wiederholt werden, so wird es höchstwahrscheinlich niemand mehr geben,der daraus eine Lehre ziehen könnte.In diesem Sinne hat unsere Generation wahrhaftig das Schicksal der Menschheit

in der Hand.

Eindnoten:

1 Dokumenti wneschnej politiki SSSR (Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR), Band 3,Moskau 1959, S. 176-177

2 ‘Foreign Relations of the United States’, 1933, Bd. II, Washington, GPO 1949, S. 8063 C.L. Sulzberger, A Long Row of Candles, New York 1969, S. 307-3084 Mit dem Lend Lease System versorgten die USAwährend des ZweitenWeltkriegs die Alliierten

mit Kriegs- und Hilfsmaterial ohne Barzahlung. Aufgrund des Leih-Pacht-Gesetzes (Lend LeaseAct) erhielt allein die Sowjetunion bis zu seiner Aufhebung am 21. 8. 1945 für rund 11MilliardenDollar Lieferungen. (Anm. d. Übers.)

5 Zitiert nach D. Yergin, Shattered Peace, The Origins of the Cold War and the National SecurityState, Boston 1977, S. 315

6 ‘Dropshot’, The United States Plan for War with the Soviet Union in 1957. Hrsg.: A. Brown,New York 1978, S. 45

7 ‘Containment’: Documents on American Policy and Strategy 1945-1950, Hrsg.: T. Etzold, J.Gaddis, New York 1978, S. 431

8 Ibid. S. 4029 Ibid. S. 423, 42410 Ibid. S. 435, 43611 Ibid. S. 434, 48912 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968-1973, München 1980, S. 12513 Ibid. S. 56614 Grand Old Party, traditioneller Name der Republikanischen Partei (Anm. d. Übers.)15 Gegen Alger Hiss wurde Ende der vierziger Jahre der Vorwurf erhoben, er habe während seiner

Tätigkeit im Statedepartement (1936-1947) Geheimdokumente an die Sowjetunionweitergegeben. Richard Nixon, zu jener Zeit Kongreßabgeordneter, unterstützte dieAnschuldigungen und trug somit zu der überhitzten politischen Atmosphäre bei, in der derProzeß gegen Hiss geführt wurde. (Anm. d. Übers.)

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16 Während des Besuchs einer Ausstellung der Vereinigten Staaten in Moskau, 1959, gerietenMinisterpräsident Nikita Chruschtschow und der damalige Vizepräsident Richard Nixon ineinen heftigen Wortwechsel. Der Ort des Gesprächs, die Küche eines ausgestelltenamerikanischen Musterhauses, gab dem Ereignis dann den Namen. (Anm. d. Übers.)

17 Washington, 10. Juni 196318 Richard Nixon, So verlieren wir den Frieden, Hamburg, 198019 Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde gegen Nixon der Verdacht erhoben, er habe Spendengelder

veruntreut. In einer Fernsehrede verteidigte sich Nixon gegen diesen Vorwurf und behauptete,das einzige Geschenk, das er je angenommen habe, sei ein Cockerspaniel namens ‘Checker’.(Anm. d. Übers.)

20 ‘Detente’, Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States Senate,Washington, 1974, S. 239

21 Eine von Charles Vanik im Oktober 1974 im Repräsentantenhaus und von Henry M. Jackson(zusammen mit Ribicoff und Javits) parallel dazu im Senat eingebrachte Gesetzesvorlage, nachder denjenigen kommunistischen Ländern die Gewährung des Meistbegünstigtenstatus sowieKredite der Export-Import-Bank verweigert werden sollten, die gegen AuswanderungswilligeRestriktionen anwenden. (Anm. d. Übers.)

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III) Über Krieg und Frieden, Wettrüsten und Rüstungskontrolle

‘Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten scheint ein Krieg mit der Sowjetunionnicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich im Bereich des Möglichen zu liegen- und zwar nicht nur ein kalter Krieg, sondern ein heißer Krieg, ein Krieg, bei demgeschossen wird - ja sogar ein Atomkrieg.’ Ich zitiere nur eine kürzlich getroffeneFeststellung von Stephen Rosenfeld, dem führenden Leitartikler derWashingtonPost.

Eine Feststellung wie diese ist ein sehr gefährliches Anzeichen. Alles weist daraufhin, daß wir ein Stadium erreichen, in dem das Undenkbare denkbar zu werdenscheint. Und es sieht so aus, als ob sich die Art, in der die Debatte über Krieg undFrieden in den USA geführt wird, gewandelt hätte, und zwar dahingehend, daß dergesunde Menschenverstand verdrängt wird und die Diskussion sich auf immerwahnwitzigere Ideen konzentriert. Im Verlauf der Geschichte ist es mehr als einmalgeschehen, daß sich ein Land in einen katastrophalen Krieg hineingeredet hat. Mehrnoch, es geht nicht nur um Gerede. Die USA bereiten die eine oder andere Art desKrieges in einemMaße und mit einem Eifer vor, die wahrhaft alarmierend sind. DieSteigerung der US-Militärausgaben für das Haushaltsjahr 1981 hat mit 18 Prozenteine neue Rekordmarke erreicht - das Gewicht hat sich innerhalb des Haushalts auf‘Bereitschaft’ verlagert, d.h. auf die Bereitstellung von Kriegsmaterial. DieWehrpflicht scheint vor ihrerWiedereinführung zu stehen, die mobile Eingreiftruppeist aufgestellt worden und - wie als Krönung des Ganzen - signalisierte im Juli 1980eine Direktive Präsident Carters mit der Nummer PD 59 eine ominöse Veränderungin der amerikanischen Nuklearstrategie.In den ersten Tagen des Jahres 1980 wurden die Zeiger der symbolischen Uhr auf

dem Titelblatt des Bulletin of Atomic Scientists von neun Minuten vor zwölf aufsieben Minuten vor zwölf vorgerückt. Das ist die Zeit, die diese Uhr in sehrgefährlichen Augenblicken des Kalten Krieges anzeigte. Ich fürchte, diese Zeigermüssen sogar noch weiter vorgerückt werden.

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Ist das nach Ihrer Auffassung in erster Linie ein Resultat des jüngsten Ansteigensder Spannungen in der Welt?

Ja, aber nicht nur: Die Kriegsgefahr bereitet Wissenschaftlern und Experten schonseit geraumer Zeit wachsende Sorgen. Die wichtigsten Gründe sind das andauerndeWettrüsten, der extrem langsame Fortschritt, bzw. in letzter Zeit der völlige Stillstandbei den Rüstungsbegrenzungsgesprächen und das Scheitern der meisten Versuche,Krisensituationen und Konflikte beizulegen.Heute, da die Spannungenwieder zugenommen haben und dermilitärischeWettlauf

sich beschleunigt hat, ist die Situation natürlich noch alarmierender geworden.

Aus dem was Sie sagen, geht hervor, daß die entscheidende Aufgabe dersowjetisch-amerikanischen Beziehungen die Verhütung eines Atomkrieges darstellt.

Ja, die Tatsache, daß die Verhinderung eines Atomkrieges die Hauptaufgabe dersowjetisch-amerikanischenBeziehungen undwichtigster Gegenstand der Entspannungist, wurde von beidenMächten auf höchster Ebene anerkannt und offiziell verkündet.Keine der gemeinsamen Positionen, auf die sich die Führer der UdSSR und der USAauf dem ersten Gipfeltreffen 1972 in Moskau geeinigt haben, ist wichtiger, als dieErklärung, daß es ‘imAtomzeitalter zu der Regelung der gemeinsamenBeziehungenauf der Basis der friedlichen Koexistenz keine Alternative gibt’. Dieser Gedankewurde seither wiederholt von beiden Seiten bekräftigt. 1973 unterzeichneten diebeiden Staaten ein entsprechendes Abkommen ‘zur Verhütung eines Nuklearkrieges’,das, jedenfalls aus sowjetischer Sicht, bis heute eines der wichtigsten gemeinsamensowjetisch-amerikanischen Dokumente ist.Gleichzeitig gibt es in den USA keinen Konsens über die zweite entscheidende

Frage: darüber nämlich, ob Entspannung wirklich der sicherste Weg ist, um einenAtomkrieg zu vermeiden. Es ist einemassive Kampagne imGange, die darauf abzielt,die Amerikaner davon zu überzeugen, daß der einzige Weg zum Frieden dasWettrüsten und eine Politik der harten Hand sei. Die Haltung der gegenwärtigenUS-Regierung zu den weiter oben erwähnten Dokumenten ist ebenfalls alles andereals klar. Und schließlich die ominöse ‘Presidential Directive 59’, die schon erwähntwurde.

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Auf jeden Fall wächst die Angst, daß es eines Tages zu dem verhängnisvollenZusammenstoß kommen könnte.

Kürzlich stieß ich diesbezüglich auf eine sehr dramatische Erklärung von GeorgeKistiakowsky, einem Fachmann, der in Fragen der Nuklearwaffen eine weltweitanerkannte Autorität darstellt. Er betonte, angesichts der gegenwärtigenmilitärischen,technologischen und politischen Tendenzen ‘wäre es ein Wunder, wenn nicht nochvor Ende dieses Jahrhunderts nukleare Sprengköpfe explodieren würden, und es wäreein kaum geringeres Wunder, wenn das nicht zur nuklearen Vernichtung größtenAusmaßes führen würde’.1 Obwohl ich diesen Pessimismus übertrieben finde, teileich uneingeschränkt solch große Besorgnis.Ja, wir glauben, daß die Gefahr immer größer wird. Dies vor allem, weil nach

unserer Meinung die Kriegsgefahr nicht nur darin besteht, daß jemand den Kriegvorsätzlich plant und bereit ist, in der Stunde Null auf den Knopf zu drücken; diehauptsächliche und sehr reale Gefahr ist viel anonymerer Art. Es entstehenSituationen, die zu einem Krieg führen können. In einer vonWaffen starrendenWeltist das infolge sich verschlimmernder internationaler Spannungen bzw. einesAusbruchs bislang latenter Konflikte in den verschiedenen Regionen sehr wohlmöglich.Das ist der Grund, warum es - will man eine zuverlässige Gewähr für den Frieden

schaffen - nicht ausreicht zu erkennen, wie unsinnig es wäre, einen Krieg zu beginnen,und auch nicht ausreicht, entsprechende formale Verpflichtungen einzugehen. Esmuß sehr viel mehr getan werden, um jegliche Möglichkeit eines Krieges nachhaltigzu beseitigen. Das erfordert unablässigeAnstrengungen, um die gesamte internationaleSituation tiefgreifend zu verbessern.

Was meinen Sie mit ‘tiefgreifende Verbesserung der gesamten internationalenSituation’?

Keine weltweite sozialistische Revolution selbstverständlich. Ich spreche vonVeränderungen, die für beide Systeme akzeptabel sind, von der Festigung derfriedlichen Koexistenz, von der Entspannung. Um es genauer zu sagen: vonFortschritten auf dem Weg zur Rüstungskontrolle und zur Beendigung desWettrüstens, von der Beilegung internationaler Konflikte und Krisen auf demVerhandlungswege sowie ihrer Verhütung in der Zukunft, von der Entwicklung derZusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen zum beiderseitigen Nutzen.Ich weiß, daß sich das möglicherweise wie eine langweilige Auflistung anhört -

insbesondere, da nichts davon besonders neu ist und alles längst

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auf der Tagesordnung zahlreicher Diskussionen und Gespräche stand. Aber einenwichtigen Gesichtspunkt muß man im Auge behalten: Sollen solche BemühungenErfolg haben, so ist es unabdingbar, die Gegebenheiten des Atomzeitalters genauestenszu begreifen und diesen Gegebenheiten in der praktischen Politik auch dieentsprechende Beachtung zu schenken. Es wird gesagt, Generäle bereiteten immerden zuletzt geführten Krieg vor. Oft hat man den Eindruck, daß sich Politiker ähnlichverhalten, indem sie neue Gegebenheiten ignorieren und die Erfahrungen derVergangenheit heiligsprechen.

An welche neuen Gegebenheiten denken Sie hierbei?

Das Atomzeitalter stellt neue Anforderungen an die Politik, erfordert wichtige,politische Veränderungen. Der Krieg hat so verheerende Dimensionen angenommen,daß er nicht mehr als ein rationales Instrument der Politik angesehen werden kann.

Können Sie einige dieser neuen Anforderungen und Bedingungen benennen?

Ein unabweisbares Gebot der Stunde, das ich schon genannt habe, ist es, dieEinstellung zur Frage der Gewalt, insbesondere zur militärischen Gewalt, im Rahmender Außenpolitik drastisch zu verändern. Ganz allgemein kann man sagen, daß daserkannt worden ist.Indessen sind wir derzeit Zeugen offenkundiger Versuche, diese Notwendigkeit

weit von sich zu weisen. Ich spreche nicht nur von einigen militanten Erklärungen,sondern von der ganz allgemein vorherrschenden Stimmung in den USA. BeharrlicheVersuche werden unternommen, aus der Sackgasse herauszukommen, in der sichdie Politik der Stärke befindet.

Sie meinen das Dilemma, daß man Gewalt nicht anwenden kann, ohne einenvernichtenden Vergeltungsschlag herauszufordern?

Ja. Im Pentagon hat man sich damit nicht abfinden können. Deshalb kam es zu einermeines Erachtens nach völlig abwegigen und außerordentlich gefährlichen Tendenz,nämlich nach neuen und wirksamerenWegen der Anwendung von Gewalt zu suchenund dieseWege als weniger gefährlich für dieMenschheit darzustellen. Diese Tendenzzeigt sich auf verschiedenste Art und Weise. Ein Vorgang, der besondereAufmerksamkeit verdient, ist die Suche nach neuen Waffensystemen, Militärdoktri-

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nen sowie Methoden der militärischen Gewaltanwendung, die dazu bestimmt sind,einen Atomkrieg denkbar zu machen.

Wie z. B. die Neutronenbombe?

Die Neutronenbombe, oder in der offiziellen Sprache des Pentagon, die ‘enhancedradiation weapon’ - die angeblich weit weniger zerstörerisch auf Gebäude undGegenstände einwirkt als die üblichen Nuklearwaffen - ist eines der Ergebnisse derSuche nach ‘anwendbarer’ militärischer Gewalt. Aber es gibt noch sehr viel mehrauf diesem Gebiet. Es gibt die Verkleinerung der Nuklearwaffen sowie dieVerbesserung ihrer Treffgenauigkeit und eine Steigerung der Vernichtungskraftkonventioneller Waffen. Es gibt die ‘counterforce doctrine’ (Einsatz vonNuklearwaffen gegen militärische Ziele), d.h., das Konzept der ‘selective strikes’(Einsatz von Nuklearwaffen gegen ausgewählte Ziele) bzw. ‘surgical strikes’ (Einsatzvon Nuklearwaffen zur Erreichung eines begrenzten militärischen Zieles). Es gibtVersuche, gewisse ‘Spielregeln’ für militärische Konflikte einzuführen, sie dadurchin den Bereich des Denkbaren zu rücken. Und es gibt die mobile Eingreifreserve.Dies alles zusammengenommen stellt einen sehr unrealistischen Versuch dar, sich

den neuen Gegebenheiten anzupassen. Es ist zugegebenermaßen leichter, diesenWeg zu gehen, und zwar deshalb, weil sich im Laufe der Jahrhunderte eine ungeheureTrägheit angesammelt hat, derzufolge weiterhin an den Krieg als Mittel der Politikgeglaubt wird, ja, einige glauben sogar, er sei ein absoluter Höhepunkt, einentscheidender Test für die Politik. Aber dieserWeg führt von demDamoklesschwertdes nuklearen Selbstmords nicht weg. Es geht heute nicht darum, Mittel und Wegezu finden, mit denen sich die Methoden der Gewaltanwendung verbessern undverfeinern lassen, sondern darum, die Anwendung von Gewalt und die Drohungdamit aus dem Bereich der internationalen Beziehungen auszuschließen.

Aber verhält sich nicht die UdSSR selbst ganz anders? Sie kümmern sich selbst sehrintensiv um Ihre Verteidigungsprobleme. Bei mehreren Anlässen hat die UdSSR auchnicht auf die Anwendungmilitärischer Gewalt verzichtet, wenn sie das für erforderlichhielt.

Ich spreche von dem Prozeß und seinem letztendlichen Zweck. In dieserunvollkommenen Welt können wir es uns nicht leisten, als einzige vollkommen zusein. Stellen Sie sich eine Sowjetunion vor, die sich aller Waffen entledigt hat, sowiedie Politik, die andere Großmächte daraufhin unter dem Druck von Leuten wieBrzezinski, Luns, Richard Pipes

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und einigenGenerälen undAdmirälen, ganz zu schweigen von der Führung in Peking,betreiben würden.Ich möchte noch einmal wiederholen, daß ich dabei eine sehr komplexe

Umstrukturierung der internationalen Beziehungen, der Außenpolitik und despolitischen Denkens vor Augen habe - eine Umstrukturierung, die beträchtliche Zeitund ungeheure Anstrengungen erfordert.

Paul Nitze hat mirgegenüber betont, daß er überzeugt sei, die Sowjetunion wollekeinen Atomkrieg. Aber gleichzeitig glaubt er, die Sowjetunion rechne mit derMöglichkeit eines nuklearen Konflikts und habe sich auch darauf vorbereitet, ihn zugewinnen.

Vielleicht sollte ich Nitze für die Feststellung, daß wir keinen Atomkrieg wollen,danken, auch wenn sie nur in einem Privatgespräch geäußert wurde. Das hört sichaus seinem Munde ganz neu an. Das übrige aber ist eine Wiederholung der altenLitanei.

Nun, ich bin sicher, daß Sie wissen, daß diese Auffassung nicht nur von solchenLeuten vertreten wird. Es gibt auch andere, die daran festhalten, die Sowjetunionschließe einen solchen Krieg als politisches Mittel nicht aus, da sie es für möglichhalte, einen solchen Krieg zu führen und zu gewinnen.

Ja, ich kenne diese Argumentation. Die Behauptungen, wir würden glauben, einenAtomkrieg führen und gewinnen zu können, stützen sich gewöhnlich auf Zitate, dienicht von Leuten stammen, die dieMacht haben, politische Entscheidungen zu treffen,einschließlich der Entscheidung über Krieg und Frieden, und auch nicht auf Aussagender gegenwärtigen militärischen Führung, sondern auf Zitate aus Artikeln, Redenund Büchern einiger sowjetischerMilitärschriftsteller. Diese Leute diskutieren ihremBeruf gemäß, wie ein Krieg zu führen ist, wenn er uns aufgezwungen wird, und ichkann darin nichts Außergewöhnliches bzw. Alarmierendes entdecken. Es ist dieAufgabe der Militärs zu überlegen, was sie zu tun haben, falls ein Krieg ausbricht.Daraus folgt nicht, daß sie einen Atomkrieg für ein brauchbares Instrument derAußenpoltik halten.Als ich einmal zu Beginn der sechziger Jahre während einer internationalen Krise

in London war, sah ich in einem Café ein Poster mit der Aufschrift: ‘Bewahren Sieim Falle eines Atomangriffs die Ruhe; zahlen Sie ihre Zeche und machen Sie, daßSie zum nächsten Friedhof kommen.’ Ich fürchte, wenn sich die Militärs in jedemLand auf derartige Anweisungen beschränkten, würde sie niemand für ihren Sinnfür Humor aus-

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zeichnen, sondern sie müßten ihren Abschied nehmen - ohne Aussicht auf eineAltersversorgung.Wer die Sowjetunion anklagt, sollte sich anhören, was in den USA gesagt wird.

Und zwar nicht von obskurenMilitärschriftstellern, sondern vonmilitärischen Führernin hohen Positionen. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen. General CurtisLeMay z. B., der an der Spitze des strategischen Luftkommandos der USA stand,forderte von den Amerikanern mit Nachdruck, jederzeit in der Lage zu sein, ‘jedenKrieg zu führen und zu gewinnen - einschließlich eines Generalkrieges’ (und mitGeneralkrieg meinte er nicht einfach nur einen Krieg, der von Generälen angeführtwird). Der ehemalige US-Außenminister Melvin Laird hat einmal geschrieben, dieamerikanische ‘Strategie muß auf Kampf, Sieg und erneute Bereitschaft setzen’, dieUSA müßten die Bereitschaft entwickeln, ‘den totalen Atomkrieg zu führen’ und esdem Feind glaubhaft machen, ‘daß wir die Initiative ergreifen und zuerst zuschlagenwerden’. Als ein weiteres Beispiel mag die 1977 abgegebene Erklärung desVorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, George S. Brown, dienen: ‘Dieamerikanische Nuklearstrategie verlangt eine ausreichende militärische Stärke, dieden Zweck der Abschreckung erfüllt, die aber auch im Falle eines Versagens derAbschreckung so groß sein muß, daß eine angemessene Schlagkraft gewährleistetist, um auf die verschiedensten Konflikte so antworten zu können, daß eine Eskalationkontrollierbar bleibt und der Krieg zu Bedingungen beendet werden kann, die fürdie Vereinigten Staaten annehmbar sind.’ Ich versichere Ihnen, daß Sie nichtsVergleichbares aus dem Munde oder der Feder führender sowjetischer Militärs oderirgend jemand sonst in der Sowjetunion finden werden.

Wenn diese Fragen im Westen erörtert werden, wird nicht nur auf losgelöste ZitateBezug genommen, sondern auf die generelle sowjetische Militärdoktrin.

Ja, ich weiß. Doch in Wirklichkeit werden die Schlußfolgerungen zur Militärdoktrinauf der Grundlage genau dieser Zitate gezogen. Ohne in Details zu gehen, möchteich mit Nachdruck auf den wesentlichen Kern verweisen: Die sowjetischeMilitärdoktrin ist ihrem Charakter nach eindeutig defensiv. Das ist ganz deutlich inder sowjetischen Stellungnahme zum Einsatz von Nuklearwaffen dargelegt. LassenSie mich die maßgebliche Quelle zitieren - den Oberbefehlshaber der Streitkräfteder UdSSR, Marschall Leonid Breschnew: ‘... Wir sind gegen den Einsatz vonNuklearwaffen; nur außerordentliche Umstände, eine Aggression

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einer anderen Nuklearmacht gegen unser Land oder seine Verbündeten kann unszwingen, von diesem äußerstenMittel der Selbstverteidigung Gebrauch zu machen.’2

Lassen Sie mich noch ein Zitat, zum möglichen Ersteinsatz von Nuklearwaffen,anführen. In einer Rede in Tula zu Beginn des Jahres 1977 sagte GeneralsekretärBreschnew: ‘Haben doch unsere Anstrengungen gerade zum Ziel, es weder zumersten noch zum zweiten Schlag kommen zu lassen, überhaupt zu keinemNuklearkrieg.’3

Ich könnte weitere ähnliche Erklärungen von Leonid Breschnew, von demsowjetischen Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow und anderen sowjetischenFührern zitieren.Die Quintessenz solcher Erklärungen ist, daß wir die Aufgabe unserer strategischen

Streitkräfte in der Verhinderung des Krieges sehen. Die Sowjetunion halt es fürsinnlos, nach militärischer Überlegenheit zu trachten. ‘Allein schon die Absicht’, sobetont Generalsekretär Breschnewmit Nachdruck, ‘verliert jeglichen Sinn angesichtsder bereits angehäuften Arsenale von Nuklearwaffen samt ihren Trägern.’4 Diesowjetische Militärdoktrin, die von der sowjetischen Führung wieder und wiedererläutert wurde, macht ganz deutlich, daß wir einen Atomkrieg für das furchbarsteUnglück halten, das der Menschheit zustoßen kann; daß unsere Strategie defensivenCharakter hat; daß wir uns Konzepten des ‘ersten Schlages’ widersetzen und unserenstrategischen Streitkräften die Rolle zukommt, einen möglichen Angreiferabzuschrecken, bzw. daß sie darauf zugeschnitten sind, einen Vergeltungsschlagführen zu können.All dies wurde von höchster autorisierter Stelle dargelegt. Dies ist unsere

Militärdoktrin, und man wird dahinter keine andere ‘geheime’ Doktrin entdeckenkönnen, einfach deshalb, weil es eine solche nicht gibt. Alle diese Punkte stehen imGegensatz zu mancher offiziellen amerikanischen Verlautbarung.

An welche amerikanischen Verlautbarungen denken Sie?

Ein Beispiel war Brzezinskis Interview mit dem britischen Journalisten JonathanPower. Brzezinski stellte dabei fest, daß man in einemAtomkrieg letztlich doch nichtsolch eine furchtbare Katastrophe zu sehen habe, da ‘nur’ 10 Prozent derMenschheitumkommenwürden. ‘Nur’ 10 Prozent sind, beiläufig gesagt, 400MillionenMenschen.Tatsächlich handelt es sich hier um eine Variante der alten maoistischen Leien

‘Die Nuklearbombe ist nur ein Papiertiger’, ‘Nur die Hälfte der Chinesen wird beieinemAtomkrieg sterben, während der Rest danach glücklich weiterlebenwird’, etc.Es sieht so aus, als wäre das amerikani-

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sche Interesse an Peking und das Ausspielen der chinesischen Karte nicht ohnekulturelle Konsequenzen geblieben.Nachdem er diese beruhigende Einschätzung getroffen hatte, fuhr Brzezinski fort,

daß er ‘im Bedarfsfall’ nicht zögern würde, den Knopf zu drücken und die Raketenauf die Reise zu schicken. Ich frage mich, wie groß wohl die Schlagzeilen auf derersten Seite der New York Times und derWashington Post wären, wenn einhochrangiger Sprecher der sowjetischen Regierung solche Erklärungen abgäbe.Und das sind nicht etwa leere Worte. Unbestrittene Tatsache ist, daß alle

theoretischen und technologischen Neuerungen, die dazu bestimmt sind, einenAtomkrieg denkbar und gewinnbar zumachen, aus den Vereinigten Staaten stammen.

Das ist nicht Ihr Ernst.

Sicher ist das mein Ernst. Carters PD 59 ist nur das jüngste Produkt einer ganzenSchule strategischen Denkens, die den begrenzten Atomkrieg propagiert, d.h.,begrenzte Nuklearschläge gegen militärische Ziele sowie andere Mittel, um einenAtomkrieg ‘flexibel’ führen zu können. Weit davon entfernt, nur ein reinintellektuelles Gedankenspiel zu sein, findet sich all dies in einer bestimmtenWaffentechnologie verkörpert: in der Verkleinerung und erhöhten Treffsicherheitder Sprengköpfe, in der Vergrößerung ihrer Strahlungskapazität, in der Entwicklungbesonderer Trägersysteme, in der Stationierung dieser Systeme in der Nähe dersowjetischen Grenzen usw. Selbst dann, wenn das alles nur den einen Zweck hätte,den politischen Drohungen der Amerikaner größeres Gewicht zu verleihen, bliebedas schreckliche Risiko bestehen, daß die Dinge außer Kontrolle geraten undunmittelbar zu einem heißen Krieg führen, was auch immer die ursprünglichenAbsichten gewesen sein mögen. Die fortgesetzten Versuche, die Trennungsliniezwischen einem konventionellen und einem atomaren Krieg zu verwischen, scheinenäußerst gefährlich zu sein.

Warum?

Weil sie dazu neigen, das zu bagatellisieren, was als Hauptabschreckung gegen einenAtomkrieg hätte dienen können, nämlich die herrschende Abscheu vor diesemKriegund das Wissen um seine katastrophalen Auswirkungen, die ihn als letztes Mittelunbrauchbar machen. Ist dieser Widerstand erst einmal gebrochen, so wird eineatomare Auseinandersetzung sehr viel eher denkbar und infolgedessen auchwahrscheinlicher.

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Es scheint, als glaubten Sie, daß die Möglichkeit eines Atomkriegs nichtausgeschlossen werden kann, ja, daß eine solche Gefahr sogar zunimmt. Folgt darausnicht, daß man versuchen sollte, seine môglichen Auswirkungen auf ein Minimumzu beschränken?

Die gängige Logik würde eine solche Folgerung nahelegen. Aber die Realitäten imAtomzeitalter erfordern eine andere Betrachtungsweise. Ich habe bereits gesagt, daßallein schon die Idee, einen ‘netten kleinen, sauberen und ordentlichen Atomkrieg’führen zu können, denWiderstand gegen eine atomare Feuersbrunst untergräbt. Aberdas ist noch nicht alles. Wenn der Preis, der für solch einen Krieg bezahlt werdenmuß, mehr oder weniger annehmbar zu sein scheint, muß das zwangsläufig dieAbenteuerlust derer fördern, die an den Knöpfen sitzen. Man kann davon ausgehen,daß ihre Politik viel unüberlegter und viel unbekümmerter wäre, weil sie überzeugtwären, daß selbst bei einer Fehlkalkulation es ein kleiner und kein großer Krieg seinwürde - und deshalb recht akzeptabel. In einer wirklich zugespitzen Situation würdedadurch der Griff zum Knopf sehr viel leichter fallen.

Aber man könnte einwenden, daß all das aufgewogen wird durch erheblich wenigerVerluste und Zerstörungen.

Nein, denn das ware wohl kaum zu erwarten. Tatsächlich bezweifle ich sehr stark,daß es je gelingen würde, auch nur die Vorstellung zu erwekken, es könnte einenordentlichen kleinen Atomkrieg geben. Sehen Sie, jeder Versuch, die zu erwartendeneigenen Verluste in Grenzen zu halten, sei es durch antiballistische Abwehr oderdurch Zivilschutz, führt zur Erwiderung der anderen Seite - zu einer größeren Anzahlan Sprengköpfen, mit größerer ‘penetrating capacity’ (Eigenschaft des Sprengkopfs,nach dem Aufschlag möglichst tief einzudringen, ehe es zur nuklearen Explosionkommt) und Zerstörungskraft. Und natürlich kannman kaum erwarten, daß die andereSeite mehr darum besorgt wäre, den Schaden beim Gegner gering zu halten, als manseinerseits darum bemüht wäre, und daß der Krieg gleichsam ein höfliches,aristokratisches Duell wäre, bei dem alle Regeln getreulich beachtet werden. Wennwir solch einen Grad an Zivilisiertheit erreichen würden, würde nicht nur dieVerhinderung des Atomkriegs, sondern auch eine allgemeine und vollständigeAbrüstung kein Problem mehr sein.Nein, wir dürfen uns kein Duell nach Kavaliersart vorstellen; weder irgendeine

Art begrenzten Krieges, noch begrenzte Nuklearschläge (‘surgical strikes’). EinAtomkrieg - einmal in Gang gesetzt - würde nie begrenzt bleiben, die Eskalation istim Grunde genommen unvermeid-

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lich, und sei es auch nur deshalb, weil es natürlich jeder der beiden Seiten widerstrebt,in einer solchen Situation eine Niederlage einzugestehen.Außerdem, wer wäre wohl in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren und

abzuwägen, bei welchem Nuklearschlag welche Erwiderung gerechtfertigt ist, umnur ja die ‘Spielregeln’ nicht zu verletzen, wenn gleichzeitig ringsumNuklearbombeneinschlagen. Der Drang zur Eskalation wäre einfach überwältigend.Ich glaube, die beste Beschreibung des Konzepts vom begrenzten Krieg hat der

ehemalige demokratische Senator John C. Culver (Iowa), seinerzeit Mitglied desSenatsausschusses für die Streitkräfte, gegeben, der dieses Konzept verglichen hatmit der ‘Begrenzung derWirkung eines Streichholzes, das in ein Pulverfaß geworfenwird’5.

Wie reagierte die Sowjetunion auf PD 59, die von Präsident Carter verkündete neuenuklearstrategische Doktrin?

Vorweg wäre zu bemerken, daß derWortlaut der PD 59 weiterhin der Geheimhaltungunterliegt, so daß wir in der Sowjetunion dieses Dokument nur anhand dessenbeurteilen können, was das Weiße Haus gegenüber wichtigen amerikanischenPublikationsorganen durchsickern ließ, sowie anhand einiger offziellerVerlautbarungen, wie etwa der Rede des ehemaligen Verteidigungsministers HaroldBrown vom 20. August 1980 vor dem Naval War College.Aber es gibt genügendHinweise dafür, daß die US-Regierung offiziell demKonzept

eines begrenzten Nuklearkrieges zugestimmt hat, wobei schon lange der Verdachtbestand, daß sie mit solch einem Konzept liebäugelte. Washington zog es vor, diespezifischen Umstände, unter denen es einen solchen Krieg beginnen würde,absichtlich im unklaren zu belassen, genauso wie das bei anderen entscheidendenAspekten dieses Problems der Fall ist. Diese vage Situation ist wahrscheinlichbeabsichtigt, um die psychologische Auswirkung der neuen Doktrin zu unterstützenund damit den USA maximale Handlungsfreiheit zu bewahren.

Warum halten Sie diese Doktrin für gefährlich?

Obwohl diese sogenannte ‘countervailing strategy’ von ihren Urhebern oft als bloßeFortsetzung des Abschreckungskonzepts früherer Verteidigungsminister - von RobertMcNamara bis James Schlesinger - bezeichnet wird, geht sie in Wirklichkeit weitdarüber hinaus.Sie beabsichtigt, die nukleare Schwelle herabzusetzen, das Spektrum der

Situationen zu erweitern, in denen die USA den Einsatz von Nuklearwaffen alslegitim betrachten. Sie liefert Gründe für eine neue Runde des

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Wettrüstens, die letzten Endes darauf hinauslaufen, ein ungehemmtes Wettrüsten zurechtfertigen. Schließlich verstärkt diese Doktrin Tendenzen, die in hohem Maßedestabilisierend wirken, das gilt sowohl für den Bereich der Waffentechnologie wieauch für den des militärisch-strategischen Denkens. Während die Ängste vor einerVerletzbarkeit durch einen ersten Schlag geschürt werden, wird in Wirklichkeitdaraufhingearbeitet, die strategischen Streitkräfte der USA in die Lage zu versetzen,einen ersten Schlag zu führen.

Da aber die einzige Garantie für den Frieden die Angst zu sein scheint - dassprichwörtliche Gleichgewicht des Schreckens -, besteht möglicherweise kein allzugroßer Unterschied zwischen der früheren und der neuen Strategie.

Doch, es gibt viele Unterschiede. Es ist nicht das Ziel der PD 59, die Angst auf beidenSeiten zu verringern, auf der die Abschreckung basiert, vielmehr wird durch sieversucht, beim Gegner noch mehr Angst zu verbreiten und gleichzeitig die eigenePosition zu verstärken. Die Nuklearwaffen werden nur Solange in den Arsenalenschlummern, solange sich beide Seiten in gleichemMaße bedroht fühlen und solangebeide Seiten in gleichem Maße über die Fähigkeit verfügen, einander zu zerstören.Man sollte außerordentlich vorsichtig sein und nicht leichtfertig mit demGleichgewicht des Schreckens spielen, dem bis jetzt die Rolle zukam, in zahlreichenKonfliktfällen eine Eskalation zum Atomkrieg zu verhüten.Andererseits muß man natürlich sehen, daß ein Frieden, der auf Abschreckung

beruht, alles andere als ideal ist und letztlich auch nicht dauerhaft sein wird. DieAngst, diese Zwillingsschwester der Abschreckung, schafft aus sich herausBedrohung. Erstens muß man, um die Abschrekkung aufrecht zu erhalten, einWaffenarsenal unterhalten, das der anderen Seite Furcht einflößt, weshalb dasWettrüsten weiter geht. Mehr noch, man muß auch seine Glaubhaftigkeitaufrechterhalten, was in diesem Fall bedeutet, man muß zeigen und beweisen, daßman bereit ist, die Vernichtung in Szene zu setzen, den halben Planeten in Flammenaufgehen zu lassen und nationalen Selbstmord zu begehen. Und das bedeutet nichtnur Drohungen, Säbelrasseln und Erpressungen, sondern von Zeit zu Zeit auch dieDurchführung vonAktionen, mit denenman beweist, daßman zu unverantwortlichemHandeln fähig ist (wie das auch die Kinder im Spiel tun), zu abenteuerlichenUnternehmungen und zu unberechenbaremVerhalten. Die Gefahren, die darin liegen,sind offensichtlich.

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Rosalynn Carter erzählte Gail Sheehy von der New York Times rundheraus: ‘Oh,ich kann mir Krieg vorstellen. Jimmy würde vor einem Krieg nicht zurückschrecken,um die Ehre meines Landes zu verteidigen...’6 Aber unter Ehre verstehen verschiedeneLeute auch verschiedene Dinge.

Das trifft sicherlich zu, aber das ist in diesem Fall nicht so wichtig wie die Tatsache,daß man einen Atomkrieg nicht mit einem ritterlichen Duell vergleichen kann - essei denn, man meint damit einen kollektiven Selbstmord.Lassen wir jedoch den Aspekt der Moral beiseite. Wir haben es hier mit einem

Beispiel dieser ungeheuer perversen Logik zu tun, die das Gleichgewicht desSchreckens mit sich bringt. Man muß ständig daran erinnern, daß man imstande ist,Supermassenmord, wennman so willMega-Mord, zu begehen. Aus diesemDilemmagibt es innerhalb dieses Rahmens keinen Ausweg. Auf der einen Seite muß manzugeben, daß der Krieg sinnlos geworden ist. Andererseits aber muß man sich ohneUnterlaß auf den Krieg vorbereiten und seine Bereitschaft betonen, ihn zu beginnen.Unabhängig davon, welche Absichten man ursprünglich hatte, führt diese Logik,wenn man beharrlich an ihr festhält, unausweichlich zu einer Gratwanderung amAbgrund entlang.

Wo gibt es einen Ausweg?

Nun, alles in allem fahren wir mit der Abschreckung immer noch besser, als es derFall wäre, wenn wir uns auf einen ‘denkbaren Atomkrieg’ vorbereiten müßten.Abschreckung ist nicht allzu gut. Aber vorläufig gibt es nichts Besseres, so daß mandarin das geringere Übel sehen kann. Eines allerdings müssen wir begreifen. Wirkönnen nicht ewigmit der Abschreckung leben, früher oder später wird sie versagen.Deshalb müssen wir von der Abschreckung wegkommen. Das Problem ist nur - inwelche Richtung. Es wäre ein Unglück, würden wir uns auf einen denkbarenAtomkrieg zubewegen. Es gibt nur einen vernünftigen Weg - den Weg zum Frieden,aufgebaut auf Rüstungskontrolle und späterhin Abrüstung, auf Vertrauen undZusammenarbeit. Das ist sehr schwer, ich gebe es zu, das erfordert ungeheureAnstrengungen, sehr viel Weisheit, Geduld und politischen Mut. Aber es gibt kaumeinen anderen Weg zu einem dauerhaften und stabilen Frieden.

Kissinger sagte einmal: ‘Absolute Sicherheit für eine der beiden Supermächte istunerreichbar und auch nicht wünschenswert, würde es doch absolute Unsicherheitfür die andere Seite bedeuten.’ Ist das nicht auch eine der neuen Gegebenheiten desAtomzeitalters?

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So ist es. Und in der Tat war das eine von Kissingers klugen Ideen. Ich bezweifleaber, ob er oder irgend jemand sonst innerhalb der US-Regierung soweit über dieherkömmliche Weisheit hinauswachsen könnte, um die eigene absolute Sicherheitfür nicht wünschenswert zu halten. Doch was die Praxis anbelangt, so ist das auchnicht unbedingt erforderlich. Es genügt, wenn begriffen wird, daß die absoluteSicherheit unerreichbar ist. Das allein schon hätte das Wettrüsten zum Stillstandbringen können. Diese Realität unserer Zeit ist eng verknüpft mit einer weiteren: Dievorhandenen Vernichtungswaffen haben es unmöglich gemacht, sich nationaleSicherheit mit Hilfe von mehr und mehr Waffen zu erkaufen, wie viele es und wiegut sie auch sein mögen. Im Gegenteil: je mehr Waffen, desto weniger Sicherheit.Weitblickendere Amerikaner haben vor mehr als 15 Jahren begonnen, das zubegreifen. So schrieben JeromeWiesner undHerbert York z. B.: ‘Beide amWettrüstenbeteiligte Seiten stehen demDilemma gegenüber, daß ihre militärischeMacht ständigzunimmt und ihre nationale Sicherheit ständig abnimmt. Es ist unsere, durch beruflicheErfahrung gewonnene Überzeugung, daß es für dieses Dilemma keine technischeLösung gibt... Der deutlich vorhersehbare Lauf, den das Wettrüsten nimmt, gleichteiner Spirale, auf der es in immer rascherer Fahrt dem absoluten Nichtsentgegengeht.’7

Wann wurde das geschrieben?

1964. Und ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß es schwer sein dürfte,unter demGesichtspunkt der beruflichenQualifikation, der Erfahrung und desWissenszwei weitere Amerikaner zu finden, derenMeinungmehr Aufmerksamkeit verdienenwürde.Wiesner warWissenschaftsberater von Präsident Kennedy, York ist ebenfallsein bekannterWissenschaftler, der unmittelbar mit der Herstellung vonWaffen befaßtwar und früher einmal im Pentagon die Abteilung für Forschung und Entwicklungleitete.Um es noch einmal zu wiederholen - das wurde 1964 ausgesprochen. Was wäre

wohl, hätte man diese Worte damals beachtet! Wieviele Milliarden hätte man sparenkönnen, und wieviel sicherer wäre wohl unsere Welt.

Ich habe einen ähnlichen Gedanken während eines Gesprächs mit dem ehemaligenbritischen Kabinettsmitglied und Militärexperten Lord Chalfont gehaert: ‘Immermehr Waffen und immer weniger Sicherheit.’

Trefflich gesagt, Lord Chalfont! Mittlerweile ist auch ein weiterer alter Grundsatznicht mehr länger gültig: ‘Wehr den Frieden will, der bereite

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sich auf den Krieg vor.’ Bereitet man sich fleißig genug auf den Krieg vor, wo wirder letztlich nur unvermeidlich. Und obwohl es mit großen Schwierigkeiten verbundenist, sich von solchen Vorstellungen zu trennen, begann man in den sechziger Jahrenallmählich, die neuen Gegebenheiten dieser Welt wahrzunehmen, einschließlich derTatsache, daß es keine Sicherheit ohne Rüstungskontrolle und Abrüstung gebenkann.Selbstverständlich ist diese Erkenntnis an sich nicht neu. Während sie jedoch in

der Vergangenheit sehr idealistisch zu sein schien, läßt sie heutzutage Realismuserkennen, obwohl ihrer Verwirklichung aus mancherlei Gründen noch vieleHindernisse entgegenstehen.

In gewisserWeise wiederholt sich die Geschichte, da allen Kriegen ein wahnwitzigesWettrüsten vorausgeht.

Sie haben recht, nur wurden ehedem die Waffen hergestellt, um damit einen Kriegzu führen und ihn zu gewinnen. Das Paradoxon der gegenwärtigen Situation bestehtdarin, daß, obwohl kein vernünftigerMensch weiterhin imWettrüsten ein akzeptablesMittel zur Erreichung politischer Ziele sehen kann, das Wettrüsten fortgesetzt undso tatsächlich zur wichtigsten Ursache für Mißtrauen und Spannungen wird.

‘Macht Schluß mit dem Wettrüsten - nicht mit der Menschheit’ hieß ein Spruch, denman in den letzten Jahren häufig als Aufkleber in Amerika sehen konnte. Doch dasWettrüsten gewinnt weiter an Fahrt.

Es gibt nichts Bedauerlicheres als das... Lange Zeit war das Wettrüsten. die Folgeschlechter politischer Beziehungen. Heute wird es dagegen mehr und mehr zurUrsache für schlechte Beziehungen, weil der Ausbau der Waffenarsenale und diequalitative Verbesserung derWaffen Ängste und wachsendesMißtrauen hervorrufenund die politische Atmosphäre vergiften.Nehmen Sie die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Falls es möglich wäre,

die Ängste und das Mißtrauen aus der Welt zu schaffen, die mit dem Wettrüstenverbunden sind - insbesondere mit jenen Waffen, die eine so ungeheure und in derGeschichte beispiellose Vernichtskraft haben -, dann würde auch die Hauptursacheder Spannungen verschwinden.

So ist also das Wettrüsten die Hauptsorge, was die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen anbelangt?

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Ja. Oder noch genauer ausgedrückt, das Hauptproblem ist die Frage von Krieg undFrieden, mit der das Wettrüsten so eng verbunden ist.

Aber nach heute allgemein üblichem Verständnis ist es gerade dasZerstörungspotential der Nuklearwaffen, das dazu beiträgt, einen Krieg zu verhindern;denn ohne diese Abschreckungswirkung müßte es längst zu einem großen Krieggekommen sein.

Herkömmliche Auffassungen können uns leicht irreleiten, wenn wir es mit etwas soAußergewöhnlichem wie einem Atomkrieg zu tun haben. Wie wir schon erörterthaben, müssenwir uns in diesem Fall auf das Gleichgewicht des Schreckens verlassen,das durch die Nuklearwaffen geschaffen wird, aber das ist keine sehr dauerhafteGarantie für den Frieden. Die Tatsache, daß es 30 Jahre lang gutging, gestattet unsnicht, optimistische Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.

Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie in einer Rede gesagt: ‘Wir haben bislang Glückgehabt, aber wir sollten uns auf unser Glück nicht leichtsinnig verlassen.’

Fürwahr. Die Welt stand inzwischen mehrere Male am Rand der Katastrophe. DieTatsache, daß der Menschheit bisher die atomare Vernichtung erspart blieb, ist wohlkaum allein staatsmännischer Kunst zuzuschreiben. Ausgesprochenes Glück hat,nach meinem Empfinden, ebenso eine gewisse Rolle gespielt. Das sollte man nichtvergessen. In der Zukunft müssen wir unsere Hoffnungen auf ein Überleben auf einsolideres Fundament bauen als auf das Glück.

Insbesondere angesichts der Ereignisse der letzten Monate.

Ja, wir nähern uns einem entscheidenden Augenblick. Die USA haben eine neueRunde im Wettrüsten eingeleitet. Wie ich schon an anderer Stelle sagte, versetztedas der Entspannung und den sowjetisch-amerikanischenBeziehungen einen schwerenSchlag. Wenn diese Runde nicht abgebrochen wird, wächst die Kriegsgefahrunvermeidlich.

Was sind die wichtigsten Kennzeichen dieser neuen Runde?

Die jüngsten technischen Fortschritte im Waffenbereich machen es möglich,Waffensysteme mit erhöhter ‘counterforce capability’8 herzustellen, wie z. B. dieMX-Raketen,9 neue Sprengköpfe wie die des Typs MK-12 A, neue Leitsysteme etc.All das für sich genommen reicht aus,

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die Besorgnis der anderen Seite zu vergrößern. Es ist nämlich anzunehmen, daß dieseProgramme als eine Bedrohung aufgefaßt werden, die dem Gleichgewicht und derstrategischen Stabilität schaden und deshalb entsprechende Gegenmaßnahmen zurFolge haben werden.Falls zusätzlich zu der Besorgnis über diese Programme auch noch der Eindruck

entsteht, es stündenwesentlicheDurchbrüche imBereich der Raketenabwehr und/oderim Bereich der U-Bootabwehr bevor, so könnten neue Befürchtungen, der Gegnersei womöglich dabei, die Erstschlag-Kapazität zu erlangen, die Folge sein. Selbstwenn solche Ängste auf Illusionen beruhen, sind sie sehr gefährlich, weil sie dazuführen, daß man um der Sicherheit und des Überlebens willen allzu leicht bereit ist,einen nuklearen Schlag zu führen, ja sogar einen Präventivschlag in Erwägung zuziehen - ganz abgesehen von den Auswirkungen solchen Argwohns auf die politischeAtmosphäre.Andere neue Systeme drohen, den Rüstungskontrollverhandlungen den Boden zu

entziehen, indem sie eine Überwachung außerordentlich erschweren, wenn nicht garunmöglich machen. Marschflugkörper10 (besonders die zu Lande und zu Wasserstationierten) können hierfür als ein Beispiel dienen.Schließlich wird ein fortgesetztes Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR

der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen Vorschub leisten.

Wächst nach Ihrer Auffassung die Gefahr, daß diese düsteren AussichtenWirklichkeitwerden?

Ja, wenigstens einige davon. Sehen Sie, ich persönlich glaube kaum nicht daran, daßes technisch machbar ist, das Potential für einen erfolgreichen ersten Schlag zuerlangen. Viele Experten würden mir darin zustimmen. Aber das Wettrüsten hat einePhase erreicht, in der man dabei ist, eine unverwundbare ‘counterforce capability’zu schaffen, wodurch unausweichlich Illusionen wie auch Ängste hinsichtlich derErstschlag-Kapazität entstehen. Das ist sehr gefährlich, und es führt dazu, daß sichdas ganzeWettrüsten noch weiter von der Realität, von den tatsächlichen Problemenentfernt und sich an bedrohlich abstrakten Spielen und tagträumerischen Entwürfenorientiert.

Wer ist für das Wettrüsten Ihrer Meinung nach verantwortlich?

Initiator und treibene Kraft des Wettrüstens sind die Vereinigten Staaten.

Das ist offensichtlich nur die eine Sichtweise. Ich bin überzeugt, Sie wissen

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aber auch um die wachsenden Ängste, die die militärische Erstarkung der Sowjetsin den USA, in Westeuropa und im Westen ganz allgemein hervorruft.Lassen Sie mich z. B. Henry Kissinger zitieren, der anläßlich der Konferenz zum

dreißigjährigen Bestehen der Nato im September 1979 in Brüssel erklärte: ‘SeitMitte der sechziger Jahre ist ein massives Wachstum der sowjetischen strategischenStreitmacht zu verzeichnen. Die Zahl der Interkontinentalraketen stieg von 220 imJahr 1965 auf 1600 in den Jahren 1972/73. Die Zahl der auf U-Booten installiertenRaketen war früher nur geringfügig und stieg in den siebziger Jahren auf über 900an. Das erstaunliche Phänomen, das künftige Historiker zu untersuchen habenwerden, ist dabei, daß all das geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerteAnstrengungen unternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken. Ein Grundwar, daß es nicht leicht war, etwas dagegen zu unternehmen. Aber ein weiterer Grundwar das Erstarken einer Denkschule - zu der ich selbst beigetragen habe, ebensowie viele an diesem Konferenztisch dazu beigetragen haben -, die davon ausging,daß das strategische Gleichgewicht ein militärischer Aktivposten war, und auch die,historisch gesehen, erstaunliche Theorie entwickelte, daä Verwundbarkeit zumFrieden und Unverwundbarkeit zur Kriegsgefahr beitrug.’11

Immer wenn ich solche Erklärungen lese, besonders wenn sie von bekannten Leutenstammen, die eigentlich als kompetent gelten, wie z. B. Kissinger, fühle ich michetwas unwohl.Ich halte es für durchaus normal, mit diesen Leuten Meinungsverschiedenheiten

zu haben, Ereignisse anders als sie zu interpretieren, andere Sympathien zu hegen,usw. Aber ich fühle mich wirklich unwohl, wenn das, was sie sagen, sich alshimmelschreiende Unwahrheit erweist, und man sich doch kaum vorstellen kann,daß sie nicht ganz genau, vielleicht sogar besser als irgendjemand sonst, wüßten,was die Wahrheit ist.Aber es geht selbstverständlich nicht nur allein umKissinger. Während der letzten

Jahre waren wir Zeugen einer vorher nie dagewesenenmassiven und gut organisiertenKampagne gegen eine in Wirklichkeit überhaupt nicht bestehende ‘strategischeÜberlegenheit der Sowjetunion’, wodurch die politische Atmosphäre in den USAeinseitig beeinflußt wurde. Ich bin überzeugt, dieser Vorgang kann mit vollem Rechtder Schwindel des Jahrhunderts genannt werden.

Zahlen lügen nicht, sagen diese Leute.

Aber sie sind so leicht zu manipulieren. Denken Sie an das berühmte

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Wort von Disraeli, nach dem es drei Arten von Lügen gibt: Lügen, verdammte Lügenund Statistiken. Dies gilt auch für die von Kissinger genannten Zahlen.Nehmen Sie die Zahl 220, die Zahl der sowjetischen Raketen im Jahre 1965 also.

Wieviele Raketen hatten denn die Amerikaner damals? Laut offiziellenamerikanischen Statistiken 901 - viermal mehr als wir. Warum hat Kissinger dasnicht erwähnt?Nehmen Sie die auf U-Booten installierten Raketen. Kissinger sagt, die UdSSR

habe 1965 nur sehr wenige dieser Raketen gehabt. Nun, die USA hatten zu diesemZeitpunkt nicht weniger als 464.

Aber was ist zur Tendenz zu sagen?

Die amerikanischen Zahlen, die ich genannt habe, waren Ergebnis einer massivenAufrüstung, die die Kennedy-Administration 1962 unter dem Vorwand einleitete,es existiere eine ‘Raketenlücke’ zu unseren Gunsten. Das führte zu einer ganzerheblichen Überlegenheit der USA und versetzte uns in eine Lage, in der wir keineMöglichkeit hatten, anders zu reagieren, wollten wir mit Amerika gleichziehen.Hierin liegt also die Ursache für das ‘massive Wachstum’, dessen uns Kissingerbeschuldigt. Und die Zahlen, die wir in den siebziger Jahren erreichten - 1600Interkontinentalraketen und mehr als 700 auf U-Booten installierte Raketen -bedeuteten nach Ansicht der Amerikaner den Gleichstand. Diese Zahlen wurden indem SALT I-Abkommen festgehalten, dessen wichtigster Architekt aufamerikanischer Seite, nebenbei gesagt, der gleiche Kissinger war.Noch irreführender ist seine Behauptung, daß diese ‘massive’ sowjetische

Aufrüstung ‘geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerte Anstrengungenunternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken’. Ganz im Gegenteil, dieUSA haben sehr erhebliche Anstrengungen unternommen. Sie begannen damit, ihreRaketen mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten, d.h. jede einzelne Rakete wurdemit mehreren Sprengköpfen versehen, deren jeder in ein eigenes Ziel gelenkt werdenkann. Durch diesen Schritt wurde die Zahl der amerikanischen Sprengköpfe alle zweiJahre verdoppelt, und die Amerikaner sicherten sich somit zum Zeitpunkt von SALTI eine vierfache Überlegenheit im Hinblick auf die Zahl der Sprengköpfe.

Mit anderen Worten, die erneute amerikanische Aufrüstung in Form der Ausstattungder Raketen mit Mehrfachsprengköpfen war schon im SALT I-Abkommenberücksichtigt?

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Selbstverständlich war das der Fall. Die USA waren keineswegs untätig angesichtsdes sowjetischen Versuchs, den Anschluß zu finden. Es fällt schwer zu glauben,Kissinger habe vergessen, daß die USA in den frühen siebziger Jahren, als er PräsidentNixons Sicherheitsberater war, einen wirklich neuen ‘großen Sprung nach vorne’ imWettrüsten einleiteten. Das geschah nicht nur dadurch, daß das Programm derMehrfachsprengköpfe begonnen wurde, wodurch die Zahl der Sprengköpfe bei denInterkontinentalraketen von 1054 in den späten sechziger Jahren auf 2154 gegenEnde der siebziger Jahre erhöht wurde und die Zahl der Sprengköpfe bei den Raketen,die auf U-Booten installiert sind, im selben Zeitraum von 656 auf ungefähr 7000anwuchs. In den frühen siebziger Jahren begannen die USA auchmit der Entwicklungder Marschflugkörper, der neuen Trident-U-Boote und einer Reihe anderer Dinge.Nebenbei gesagt, noch vor ein paar Jahren war Kissingers Gedächtnis besser. 1978

z. B. sagte er: ‘Wir haben unsere Programme nach dem SALT-Abkommen 1972beschleunigt. Ich denke, daß Sie bei einer Betrachtung der Geschehnisse feststellenwerden, daß sich das Weiße Haus immer für die weitreichendstenVerteidigungsvorschläge entschloß, die aus dem Pentagon kamen. Es bestandenkeine Illusionen unsererseits, daßwir der Sowjetunion aus einer Position der Schwächeheraus begegnen könnten.’12

Aber alle diese Programme der Amerikaner wurden von diesen damit begründet,daß sie als ‘Tauschobjekte’ die amerikanische Position bei den Gesprächen stärkensollten.

Wenn sie Tauschobjekte waren, warum wurde dann trotz der Fortschritte bei denSALT-Gesprächen nicht ein einziges Programm eingestellt? Nehmen Sie z. B. dieMehrfachsprengköpfe, ein Programm, das damals mit dem Argument gerechtfertigtwurde, es handle sich um ein Tauschobjekt. Die USA legten besonderenWert darauf,daß sie durch die SALT I-Gespräche nicht verboten bzw. auch nur verzögert wurden.(Ich erinnere mich, daß sogar Kissinger das dann im Nachhinein bedauerte.)Aber lassen Sie uns auf Kissingers Bemerkungen zurückkommen, zu denen ich

Stellung nehmen sollte. Wie Sie sehen, erwiesen sie sich als eine sehr irreführendeEinschätzung, wennman sie im Licht der Tatsachen betrachtet, die in Zusammenhangstehen mit demmilitärischen Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR. Siesind aber auch hinsichtlich der politischen Situation falsch. Lassen Sie uns nur einenFaktor herausgreifen - das Anwachsen der chinesischen Feindseligkeiten gegen-13

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über der Sowjetunion. Sie erreichten einen Stand, der allmählich einer militärischenZusammenarbeit zwischen China und einigen Nato-Ländern gleichkommt. Undnatürlich hat auch die Nato selbst ihr militärisches Potential seit geraumer Zeitdrastisch erhöht.An der von Ihnen zitierten Bemerkung Kissingers ist besonders unheilvoll, daß er

die Idee infrage stellt, daß ‘das strategische Gleichgewicht ein militärischerAktivposten’ ist, genauso wie jene Ansichten zur gegenseitigen Verwundbarkeit, diebeiden Seiten wenigstens gestatteten, einige Fortschritte bei der Rüstungskontrollezu erzielen.Wenn dieses Denken inWashington an Boden gewinnt, wenn diese Ideenweiter heranreifen und ihre logischen Schlußfolgerungen zeitigen, dann sind bei ihrerUmsetzung in die Praxis ausschließlich schreckliche und gefährliche Zeiten für dieinternationalen Beziehungen zu erwarten.

Ich habe eine Aussage Kissingers zitiert; aber es werden viele solche Vorwürfe gegendie Sowjetunion erhoben, wonach diese den Westen dazu zwingt, zu rüsten und sichauf einen Krieg vorzubereiten. Es sind doch sicher nicht alle Vorwürfe unwahr?

Warum nicht? Es gibt einen Spruch, der besagt, daß zu keiner Zeit so viel gelogenwird wie während des Krieges und vor Wahlen. Ich würde hinzufügen: und wiewährend und aufgrund desWettrüstens.Wie kannman Bürger dazu bringen, jahraus,jahrein Milliarden für die Rüstung auszugeben, wenn man nicht eine ‘tödlicheBedrohung’ hat, auf die man verweisen kann? Das ist in Wirklichkeit die Funktion,die die ‘sowjetische Bedrohung’ erfüllt. Sie erfüllt ihre Funktion schon seit langem,nämlich seit der Revolution von 1917. Wir wurden auch als Popanz benutzt, als wirsehr schwach waren. Was ist jetzt zu erwarten, da wir wirklich stark sind? Ichverleugne keineswegs, daß wir heute stark sind, daß wir eine zuverlässigeVerteidigung haben, der wir auch viel Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Ist es nicht genau diese Stärke, die Ängste erweckt?

Nun, zum ersten handelt es sich um Stärke, aber nicht um Überlegenheit, d.h., dieandere Seite ist genauso stark. Zum zweiten, die Ängste waren auch zu der Zeitmaßlos übertrieben, als es diese Stärke nicht gab. Lassen Sie uns die Situationunmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Beispiel in Erinnerung rufen. Damalshandelte es sich um eine Sowjetunion, die im Krieg ungeheure Verluste erlitten hatte.Amerika war stärker geworden, erwarb Nuklearwaffen und versuchte das Monopoldarauf zu behalten, um der Welt seinen Willen aufzuzwingen.

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Es ist anzunehmen, daß die Sowjetunion in Folge von Hitlers Politik der verbranntenErde 1945 dringendere und vorrangigere Probleme hatte, als mit der Aufrüstungoder mit dem Bau von Nuklearwaffen zu beginnen.

Selbstverständlich hätten wir es vorgezogen, unsere Mittel für andere und sehrdringende Aufgaben auszugeben. Aber es gab keinen anderenWeg, einfach deshalb,weil die USA von ihrer Position der Stärke Gebrauch machten. Wir haben das imZusammenhangmit der Geschichte des KaltenKrieges schon erörtert. Herausgefordertdurch die Vereinigten Staaten, mußten wir nach dem Zweiten Weltkrieg derVerteidigung die höchste Dringlichkeitsstufe einräumen. Hierin liegt die wahreUrsache des Wettrüstens. Es wurde und wird uns immer noch aufgezwungen.

Die Amerikaner sagen genau das Gegenteil.

Jene, die das sagen, scheinen zu vergessen, daß wir in all den Jahren tatsächlichfortwährend hinter den Vereinigten Staaten herrannten. Die USA hattenNuklearwaffen. Wir hatten keine. Wir mußten sie erst erwerben. Sie hattenTrägersysteme für Nuklearwaffen. Wir hatten solche Mittel nicht. Wir mußten sieerst entwickeln.Dasselbe trifft für praktisch alle wichtigen strategischen Waffensysteme zu - für

auf U-Booten installierte Raketen, Mehrfachsprengköpfe, Marschflugkörper usw.Die Amerikaner waren die ersten, die sie einführten und uns in einen weiterenWettstreit verwickelten, die uns zwangen, Farbe zu bekennen, gleichzeitig aber lauteTöne anschlugen wegen der furchtbaren militärischen Gefahr, die von der UdSSRund ihrer militärischen Überlegenheit ausginge.

An welche ‘lauten Töne’ denken Sie dabei?

Eines der ersten Beispiele war die Kampagne zur ‘Bomberlücke.’ Sie wurde in denUSA in den fünfziger Jahren gestartet - können Sie sich vorstellen, wie wir zu jenerZeit eine Überlegenheit im Bereich der Bomber hätten haben können? Aber dieseKampagne half dem Pentagon ein Eilprogramm zum Bau von Bomberndurchzudrücken. Und sehr bald schon wurde bekanntgegeben, daß die Zahl deramerikanischen Bomber, ‘wie sich herausgestellt hatte’, von Anfang an um einMehrfaches größer war als die der sowjetischen Bomber. In den sechziger Jahrenwurde die Geschichte von der ‘Raketenlücke’ in die Welt gesetzt, mit so ziemlichden gleichen Ergebnissen - ungeheure Programme zum Bau von Raketen wurdenangenommen. Bald darauf wurde bekannt,

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daß die ‘sowjetische Raketengefahr’ damals um ein Vielfaches übertrieben wordenwar. (In beiden Fällen wurden die Programme auch nach solchen Richtigstellungen- da sie schon einmal angenommen waren - natürlich nicht mehr fallengelassen,sondern durchgeführt.)Was uns aber noch mehr Sorgen bereitete, war die Haltung, die sich hinter diesen

Entscheidungen verbarg. Wir konnten nichts anderes darin sehen als ein bewußtesBestreben, eine sogar noch größere militärische Überlegenheit zu erlangen - einWunsch, der nur aus den denkbar übelsten Absichten erwachsen konnte. Jedes Jahrbescherte eine ‘Lücke’ - eine ‘Dollarlücke’ (ich denke dabei an Schauermärchenüber den Umfang des sowjetischen Militärbudgets), eine ‘Zivilverteidigungslücke’,eine ‘Lücke’ bei Mittelstreckenwaffen, und vieles mehr. Das ist zumRoutinebestandteil der amerikanischen Militärplanung geworden.

Vielleicht kommen wir auf einige der ‘Lücken’ später zurück. Zuerst eine allgemeinereFrage: Wie erklären Sie sich diese bemerkenswerte Langlebigkeit der Parole vonder ‘sowjetischen Bedrohung’?

Angst ist eine sehr starke Emotion, die Politiker wissen das, besonders amerikanischePolitiker. Um das zu verdeutlichen, würde es genügen, sich den berühmten Ratschlagin Erinnerung zu rufen, den Senator Arthur Vandenberg Präsident Truman gegebenhat, nämlich ‘dem Land höllische Angst einzujagen, um die Truman-Doktrin durchden Kongreß zu peitschen’. Und man muß in der Tat solche Emotionen wecken,wennman die Absicht hat, seinemLand ein gefährliches und kostspieligesWettrüstenaufzuerlegen. Nur wenn man die Leute zu Tode erschreckt, wird man Hunderte vonMilliarden für die ‘Verteidigung’ mobilisieren können. Und nichts wird dieÖffentlichkeit wirkungsvoller in Schrecken versetzen als der Ruf, ‘die Russenkommen’. Die Leute scheinen auf solche Töne immer noch wie die Pawlow'schenHunde zu reagieren.Mächtige, etablierte Interessengruppen stehen hinter dieser Angst, und zwar

ziemlich große und einflußreiche Gruppen der amerikanischen Gesellschaft: dieGeschäftsleute der Rüstungsindustrie und das Pentagon, die Gruppen innerhalb derRegierungsbürokratie, die ihnen dienen, wie auch entsprechende Gruppen imakademischen Bereich und in den Medien.Für sie alle ist der Militarismus zu einem Lebensstil geworden. Sie sind bereit,

ihnmit allen zur Verfügung stehendenMitteln zu verteidigen. Sie blühen und gedeihendank des Gespensts von der ‘sowjetischen Bedrohung’. Sie geben sich stets alleerdenkliche Mühe, dieses Gespenst am Leben zu erhalten, wenn es sich durch allzuhäufigen Gebrauch abzunutzen droht.

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Aber haben nicht die Amerikaner wie auch die Westeuropäer gute Gründe, sich zufürchten? Hat nicht die Sowjetunion genug Waffen angehäuft, um deren Städteebenfalls in radioaktiven Schutt und in Asche zu verwandeln?

Ich kann dem ganz und gar zustimmen, daß schreckliche Vernichtungsmittelgeschaffen worden sind und daß sie einemAngst einfloßen. Aber nicht nur russischeWaffen können unter den Amerikanern und Westeuropäern solche Befürchtungenhervorrufen. Wir, in der Sowjetunion, leben sogar schon länger mit dieser Angst.Schauen Sie sich die pervertierte Welt an, in der wir alle, die Menschen in West undOst, leben: unsere Städte - Marksteine der Kultur und der Künste -, alles das, woraufdie menschliche Zivilisation stolz ist, alles das, was uns teuer ist, wie das Lebenselber - Millionen von Menschen, wir selbst, unsere Kinder -, alles das wurdeschließlich zu ‘Zielen’ reduziert. Und damit leben wir; wir gewöhnen uns daran, ineinemMaße, daß wir angefangen haben, einfach zu vergessen, wie die Lage wirklichist. Es ist diese Situation, die Furcht erwecken muß - und nicht die Sowjetunion.Mehr noch, stündig werden Rufe laut, das alles reiche nicht aus, es seien mehr

Waffen und größere Militärausgaben erforderlich, um die Welt vor dem Untergangzu bewahren. Es ist wirklich erstaunlich, daß das unablässig funktioniert. Und das,obwohl es doch nicht so schwer sein kann, die Absurdität dieser Situation zu begreifenund zu erkennen, daß diese lautstarken Forderungen schon oft erhoben wurden, ohnedaß dadurch etwas besser wurde; zu sehen, daß es einflußreiche Kreise und Gruppengibt, die davon profitieren, daß sie immer wieder die Öffentlichkeit täuschen und ihrAngst einjagen, wobei die Gefahren, die heraufgezogen sind, vollständig außer achtbleiben.

Bezeichnenderweise war es Präsident Dwight D. Eisenhower, ein Soldat, der alserster vor dem militärisch-industriellen Komplex in den Vereinigten Staaten warnte.

Ja. Damals hatte diese Gruppe schon begonnen, ihr Gewicht in die Waagschale zuwerfen. Bis heute ist sie noch viel stärker geworden.Tatsächlich ist sie der größte Wirtschaftskomplex in Amerika, eine Branche mit

mehr als 150 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr, die Millionen von Menschen Arbeitbietet, die ganze Landstriche beherrscht und in der Verwaltung und im Kongreßeinflußreich vertreten ist. Natürlich wissen das die Amerikaner sehr genau, sie habendiese Geschichte schon oft genug gehört.Aber dennoch erfreut sich das Rüstungsgeschäft des Rufs, ein patrioti-

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sches Geschäft zu sein. Sein Produkt ist die Sieherheit Amerikas. Sein Profit istAmerikas Ehre und Ansehen.Was die Profitinteressen angeht, die mit demWettrüstenverbunden sind, so gilt es als unfein, darüber zu reden. Diese Seite bleibt verborgen,wird schweigend übergangen, weil, wie John K. Galbraith es ausdrückt, die Leute‘nicht gerne daran denken, daß wir als Nation das Risiko eines potentiellenSelbstmords eingehen, nur um augenblicklicher ökonomischer Vorteile willen’.13

So bleibt Wichtiges unausgesprochen, trotz der sprichwörtlichen Vorliebe derAmerikaner, alles zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen.

Was veranlaßt Sie zu glauben, es gäbe hier etwas zu untersuchen?

Ganz einfach - es ist zuviel Geld im Spiel. Außerdem gab es schon genug direkteBeweise, wie z. B. den Lockheed-Skandal. Darin waren fremde Staaten verwickelt,aber warum sollten die entsprechenden Leute zu Hause andereMethoden anwenden?Schauen Sie sich an, wie die Preise für Rüstungsgüter steigen - nach Angaben desMagazins Time übertreffen sogar die Preissteigerungen für ältere Waffen dieInflationsrate um ein Vielfaches.Wir wissen auch, wie skrupellos die Rüstungsindustrie in der Wahl ihrer Mittel

ist. Unter dem Deckmantel der ‘nationalen Sicherheit’ und dank ihrer Verbindungenzur Regierung und zu denMedien, kann sie aus demNichts heraus eine ‘Bedrohung’an die Wand malen. Erinnern Sie sich, wie es zur ‘Raketenlücke’ kam?

Wie kam es dazu?

1957, nachdem der erste sowjetische Sputnik Amerika so sehr in Schrecken versetzthatte, berichtete eine eigens geschaffene Expertengruppe, das sogenannte ‘Gaitherpanel’, daß die durch sowjetische Raketen geschaffene Gefahr innerhalb wenigerJahre ‘kritisch’ werden würde, und schlug deshalb eine drastische Erhöhung derMilitärausgaben und eine entsprechende Ausweitung der Rüstungsprogramme vor.Präsident Eisenhowerwar nicht in allen Punktenmit den Empfehlungen einverstanden.Aber die Demokraten griffen das Thema auf, und im Wahlkampf 1960 ließ SenatorJohn F. Kennedy keine Gelegenheit aus, die Republikaner zu beschuldigen, siewürden die nationale Verteidigung vernachlässigen. Er hatte so oft versprochen,diese Situation zu korrigieren, daß er dann, obwohl er beim Einzug ins Weiße Hausdie Wahrheit kennenlernte, mit dem rapiden Ausbau der amerikanischenRaketenstreitmacht fortfuhr.

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Sind Sie der Ansicht, daß es eine Raketenlücke überhaupt nicht gab?

Es gabe eine Lücke, richtig, aber eine von ganz anderer Art. George Kistiakowsky,der seinerzeit der Berater für Technik und Wissenschaft Präsident Eisenhowers war,bestätigte später: ‘Die tatsächlich vorhandene Raketenlücke bestand in Wirklichkeitzu unseren Gunsten.’14

Könnte das eine Ausnahme von der Regel sein?

Soweit ich sehen kann, ist es die Regel. Um die Amerikaner mit der Lüge von der‘sowjetischen Bedrohung’ irrezuleiten und ihnen Angst einzujagen, existiert einewirksame Maschinerie, die dazu in der Lage ist, jede beliebige Regierungsbehördezu manipulieren. Nehmen Sie das kürzlich erschienene Buch von Richard Helms, indem dieser beschreibt, wie der Geheimdienst CIA auf Grund des hartnäckigenDrängens von Seiten des Pentagon eine ausgesprochene Fälschung beging, indemer prognostizierte, daß die in den USA als SS 9 bezeichneten sowjetischen Raketenbis Ende der sechziger Jahre mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüstet sein würden.Diese Prognose erwies sich sehr bald als völlig falsch. Ferner gab es vieleIndiskretionen im Zusammenhangmit den SALT-Gesprächen - sie alle zielten daraufab, Fortschritte bei den Verhandlungen zu vereiteln. Einmal war sogar ich von solcheiner Indiskretion betroffen.

Wie kam es dazu?

Im Sommer 1975 besuchte eineDelegation amerikanischer Senatoren die Sowjetunion.Ich nahm als Mitglied einer Gruppe von Abgeordneten des Obersten Sowjet derUdSSR an den Gesprächen mit ihnen teil. Verschiedene Senatoren waren besondersdaran interessiert zu erfahren, ob die UdSSR bereit wäre, in Verhandlungen mit denUSA einzutreten, um die militärische Präsenz im Indischen Ozean zu begrenzen. Esgab damals lebhafte Spekulationen über den angeblichen Bau eines sowjetischenMarinestützpunktes in Berbera in Somalia, worauf die Vereinigten Staaten‘antworteten’, indem sie sich anschickten, ihrerseits auf der Insel Diego Garcia einenStützpunkt zu errichten. Die Verhandlungen sollten bezwecken, eine solcheEntwicklung auf beiden Seiten zu verhindern. Meine Kollegen und ich warenüberzeugt, daß unsere Seite bereit war, solche Verhandlungen zu beginnen, jedochwaren unsere Antworten offensichtlich zu allgemein, um die Amerikaner, die immerwieder auf die Frage zurückkamen, zufriedenzustellen.Da die Senatoren sich so interessiert zeigten, entschieden sich unsere

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Parlamentarier, weitere Informationen über die Haltung der sowjetischen Regierungund deren Absichten in dieser Region einzuholen. Uns wurde versichert, daß dieSowjetunion bereit war, unverzüglich mit den USA Verhandlungen aufzunehmen.Aber irgendwie bot sich in den darauffolgenden Tagen keine Gelegenheit, auf dieDiskussion über den Indischen Ozean zurückzukommen. Erst unmittelbar vor ihrerAbreise aus der Sowjetunion stellten mir die Senatoren abermals die gleiche Frage,und dieses Mal konnte ich nähere Auskunft geben.Bald darauf veröffentlichte dieWashington Post einen Artikel von Evans und

Nowak, in dem versucht wurde nachzuweisen, daß die Sowjetunion Verhandlungenüber dieses Problem abgelehnt hatte. Die beiden Kolumnisten bezogen sich auf dieGespräche der US-Senatoren in Moskau und auf ein ziemlich pessimistischesTelegramm zu diesem Gegenstand, das die US-Botschaft in Moskau in den erstenTagen des Besuchs der Senatoren verfaßt hatte. (Später wurde mir gesagt, daß dieIndiskretionen, die dieses Telegramm betrafen, aus dem Pentagon kamen.) So kames, daß Evans und Novak meine Ausführungen auf die denkbar unhöflichste Weisedesavouierten, trotz der Tatsache, daß sie zutreffend waren - die Gespräche begannentatsächlich kurz danach. Die Absicht, die hinter der Indiskretion stand, war ganzdeutlich - es ging darum, die Diskussion um die Bewilligung der Mittel für denStützpunkt Diego Garcia durch den US-Kongreß zu beeinflussen.Denken Sie auch an die jüngste Episode im Zusammenhang mit Senator Perrys

Bericht über seine Gespräche in Moskau. Dieser Bericht wurde von der Pressedesavouiert, als die New York Times durch Indiskretionen auf seiten eines der beidenTeams, die die Amtsübergabe im Weißen Haus vorbereiteten, vom Inhalt derTelegramme des US-Botschafters T. Watson erfuhr.Solche Episoden sind dazu geeignet, neben anderen Aspekten auch zu zeigen,

welch integraler Bestandteil das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ ist, wennes um den Prozeß der Bewilligung der Militärausgaben und ummilitärische Planunggeht.George Kennan hat einmal festgestellt, daß die am Wettrüsten interessierten

etablierten Gruppen in den Vereinigten Staaten solches Gewicht besitzen, daß eseine ungeheuer schwierige Aufgabe wäre, sie auszuschalten, ‘selbst wenn die gesamteäußere Rechtfertigung für es [das Wettrüsten] verschwinden sollte - sogar wenn dieUdSSR morgen mit all ihren Armeen und Raketen im Ozean versinken würde’.15

An dem Strang des Wettrüstens ziehen starke Kräfte. Politische Verdächtigungenund etablierte Interessen finden Unterstützung durch die wahnwitzigen Triebkräfte,die das bloße Vorhandensein desMilitärpotentials mit seinen gigantischen Ausmaßenbewirkt. Wissenschaftli-

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cher und technischer Fortschritt drängen ebenfalls unerbittlich in die gleiche Richtung,stellen sie doch andauernd neue Arten von Waffen zur Verfügung und schaffendadurch unwiderstehliche Versuchungen für manche Generäle und Politiker. Fernergibt es nachteilige Auswirkungen dadurch, daß man Überlegungen zu neuenWaffensystemen viele Jahre im voraus anstellen muß, wodurch immer ein Elementder Ungewißheit hinzukommt und immer Zwänge auftreten, die Maximallösung zuwählen. Auch gibt es Asymmetrien in unserem Gleichgewicht, die Einschätzungenerschweren und so den Weg für Überreaktionen bereiten.Wie Sie sehen, würden alle diese sachimmanenten Schwierigkeiten schon voll

ausreichen, um den Kampf gegen das Wettrüsten zu einem mühsamen Unterfangenzu machen.

Und zu all dem kommt noch politisches Kalkül hinzu.

Ja, natürlich. Und zusätzlich noch ausgesprochener Betrug.Zu den Aspekten der gegenwärtigen amerikanischen Wirklichkeit, die mich

erstaunen, gehört folgendes: In den siebziger Jahren erschauderten die Amerikanerangesichts der abscheulichen Schikanen, Betrügereien und Korruptionsfälle, die inihren politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen sichtbar wurden. DasRüstungsgeschäft jedoch, die hämischen Lügen über ‘die sowjetische Bedrohung’,die gesamten Mechanismen, die die etablierten Interessen schützen, und die auchdas System schützen, mit dessen Hilfe man im Zusammenhang mit dem Krieg undder Kriegsvorbereitung Profit machen kann - alle diese Dinge blieben weitgehendheilige Kühe. Aus dem einen oder anderen Grund mußte keiner von denen, die dieAmerikaner über die Ereignisse imAusland täuschten und sie dazu brachten, entgegenihren Wünschen Milliarden von Dollar für die Waffen auszugeben, die das Landohne Not in Krisen und Konflikte mit anderen Länder hineinzogen - keiner von ihnenmußte dafür Rechenschaft ablegen. Mehr noch, in einigen Fällen stehen dieselbenLeute, die die Öffentlichkeit regelrecht irregeführt haben, wenn in kritischenSituationen wichtige langfristige militärische Belange entschieden wurden - sei esin den späten fünfziger, in den sechziger oder in den siebziger Jahren -, stehen genaudieselben Leute nach wie vor hoch imKurs, gelten als die Gewährsleute schlechthin,als die, ‘die es wissen’ und deren Meinung sowohl in der Öffentlichkeit wie bei denPolitikern Beachtung finden sollte.

Diese Worte scheinen auf Paul Nitze und seine Freunde zugeschnitten zu sein.

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Das liegt daran, daß Paul Nitze diesen Typ besser als irgend jemand sonst verkörpert.1950 war er Vorsitzender der Gruppe, die das Dokument NSC-68 verfaßte, 1957war erMitglied im ‘Gaither panel’, später war erMarineminister und stellvertretenderVerteidigungsminister. Zu der Zeit, als Nitze den letztgenannten Posten innehatte,tauchten neue Horrorgeschichten über die Russen auf, einschließlich der falschenGerüchte bezüglich des sowjetischen Raketenabwehrsystems. 1976 trat Nitze in das‘Team B’ ein, eine spezielle Gruppe von Experten aus dem Lager der Falken, dievon Präsident Ford eigens eingerichtet wurde, um die US-Schätzungen der Stärkeder Sowjets nach oben zu korrigieren. ‘Team B’ hat alle Rekorde geschlagen in demBemühen, das Bild von der ‘sowjetischen Bedrohung’ weiter auszumalen. Heute istNitze einer der führenden Köpfe im ‘Committee on the Present Danger’16, der immerwieder die gleichen Thesen von sich gibt, sei es in den Medien, bei Anhörungen desKongresses oder bei öffentlichen Veranstaltungen.Es gibt in Amerika noch mehr Leute von seinem Schlag. Und ebenso in Europa.

Nehmen Sie Ihren Landsmann Joseph Luns, Generalsekretär der Nato.Nein, ich glaube nicht an eine Verschwörer-Theorie in der Geschichte, ich gehöre

nicht zu denen, die in Verschwörungen die letzte Quelle für alle Katastrophen vongroßem Ausmaß sehen. Aber in diesem besonderen Fall, angesichts der Mythologievon der ‘sowjetischen Bedrohung’ und dem Wettrüsten, bin ich zutiefst davonüberzeugt, daß wir es mit einer Verschwörung zu tun haben, wenn nicht gar miteinem verzweigten System von Verschwörungen.

Nachdem ich seit ungefähr 30 Jahren in den Vereinigten Staaten lebe, ist mir klargeworden, daß die Interessen, die mit der amerikanischen Kriegsmaschinerieverstrickt sind, gewiß eine kolossale Rolle spielen. Aber gibt es nicht auch densowjetischen militärisch-industriellen Macht- und Interessenkomplex, der ebenfallseine entscheidende Rolle beim Wettrüsten spielt?

Man sollte nicht versuchen, dort Parallelen zu ziehen, wo die Situation gänzlichanders ist. Außerdem, um ein schönes Wettrüsten zu haben, reicht wirklich einKomplex vollkommen aus. Und es war jeweils der amerikanische, der seit dem Endedes Zweiten Weltkriegs jede Runde des Wettrüstens eingeläutet hat.

Ist es denn nicht angebracht, nach Parallelen zwischen demmilitärisch-industriellenKomplex in Amerika und der Rüstungsindustrie in der Sowjetunion zu suchen?

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Selbstverständlich haben wir Generäle und eine Rüstungsindustrie. Aber unsereRüstungsindustrie produziert nicht des Profits wegen, weshalb ihr auch dasExpansionsstreben fehlt, das die Rüstungsindustrie imWesten auszeichnet. Außerdemist unsere Wirtschaft nicht auf die Ankurbelung durch Militärausgaben angewiesen- ein Mittel, das im Westen regelmäßig Anwendung findet, um dem Problem einerunzureichenden Nachfrage in der Wirtschaft zu begegnen.

Wer dann verdient daran, wenn ein sowjetischer Panzer oder eine sowjetische Raketehergestellt wird?

Nun, sehen Sie, die Arbeiter, Ingenieure, Manager, Konstrukteure usw., allediejenigen, die einen Panzer oder eine Rakete entworfen oder hergestellt haben,bekommen zweifellos ihren Lohn. Wenn sie gute Arbeit geleistet haben, erhalten sievielleicht sogar eine Prämie. Nur muß man dazu sagen, daß sie genauso gerne einenTraktor oder Mähdrescher herstellen wie einen Panzer, genauso gerne einPassagierflugzeug oder hochwertige Ausrüstung zur Energiegewinnung bzw. zurfriedlichen Erforschung des Weltraums wie eine Rakete. Und außerdem haben wirkeine Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil, wir leiden dauernd unter Arbeitskräftemangel.Es gibt keine ungenützten Kapazitäten in unseren Fabriken, wir leiden auch hierunter Engpässen. Deshalb müssen wir mehr und mehr Produktionsstätten errichten,um die Bedürfnisse des Landes zu befriedigen. Das ist der Grund, warum im Falleeiner Umstellung auf zivile Produktion nicht nur unser Land insgesamt daraus Nutzenziehen würde, sondern im Prinzip auch niemand Schaden erleiden würde. In der Tatstellen auch heute die Industriezweige, die der Verteidigung dienen, in großemUmfang Zivilgüter her. 1971 stellte L.I. Breschnew fest, daß 42 Prozent der gesamtenProduktion der Rüstungsindustrie zivilen Zwecken dient. Im Herbst des Jahres 1980rief er dieManager der Rüstungsindutrie dazu auf, die Produktion von Konsumgüternzu erhöhen und einen größeren Teil ihrer Forschungs- und Entwicklungseinrichtungender Schaffung neuer Technologien für den zivilen Sektor der Wirtschaftbereitzustellen.

Haben Sie Vergleichszahlen für die gegenwärtigenMilitärausgaben in Ost undWest?

Selbstverständlich. Die amtlichen Zahlen für die amerikanischen Militärausgabenlagen für das Haushaltsjahr 1978/79 bei 127,8 Milliarden Dollar und bei 141,6Milliarden Dollar für 1979/80. Die Carter-Administration beantragte für dasHaushaltsjahr 1980/81 161,8 Milliar-

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den Dollar - der Kongreß erhöhe das Budget auf 170 Milliarden Dollar, und derVorschlag für 1981/82 sieht Ausgaben in Höhe von 196,4 Milliarden vor.17 DieMilitärausgaben der UdSSR betragen 17,2Milliarden Rubel (24,6Milliarden Dollar)für 1978, bzw. 17,2 Milliarden Rubel (25,7 Milliarden Dollar) für 1979, und dieHaushaltszuweisungen für 1980 belaufen sich auf 17,1 Millarden Rubel (26,4Milliarden Dollar).18

Das klingt äußerst unglaubhaft, ich meine, diese Unterschiede. Sie wissen sicher,daß im Westen ganz andere Summen für den sowjetischen Militärhaushalt genanntwerden.

Einzelheiten unseres Verteidigungshaushalts werden nicht veröffentlicht, deshalbkann ich nur sehr allgemein gehaltene Erklärungen für die Unterschiede geben. DieUSA haben eine Berufsarmee, wogegen die Basis unserer Armee die Wehrpflichtist. Um qualifizierte Leute für die Armee zu gewinnen, muß die US-Regierung denSoldaten recht beträchtliche Löhne zahlen. Mehr als die Hälfte des amerikanischenMilitärhaushalts wird für Löhne und Mieten aufgewendet. Ein GI erhält ungefähr300 bis 500 Dollar im Monat. Ein sowjetischer Soldat kann von dem Sold, den erbekommt, höchstens Zigaretten kaufen. Der Lebensstandard ist bei einer Armee, inder Bürger aus Pflicht, weniger aus materiellen Überlegungen heraus dienen, weitausbescheidener als bei einer Berufsarmee.Ich könnte noch einen weiteren Faktor anführen, der mit der Rüstungsindustrie

zu tun hat. Unser Preissystem gestattet dieser Industrie nicht, die Preise für ihreProdukte willkürlich anzuheben.

Nach CIA-Schätzungen liegen derzeit die sowjetischen Militärausgaben in derGrößenordnung von 180 Milliarden Dollar.

Ach, das ist anhand des sogenannten ‘Dollarmodells’ berechnet. Einem DetroiterHersteller von Panzern werden die Daten eines sowjetischen Panzers vorgelegt, under wird gefragt, was es kosten würde, solch einen Panzer herzustellen.

In Detroit?

Oder in Flint Oder wo immer auch die Amerikaner ihre Panzer produzieren. Dannwird diese Schätzung mulipliziert mit der Zahl der Panzer, die wir nach Auffassungdes CIA jährlich produzieren, und schon hat man die Zahl für die ‘wirklichen’sowjetischen Ausgaben für die Panzerpro-

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duktion. Aber bei dieser Rechnung wird irgendwie vergessen, daß sowjetische Panzernicht von amerikanischen Herstellem produziert werden. Auf gleiche Weise wirddie vom CIA angenommene Truppenstärke mit dem Sold multipliziert, denamerikanische Soldaten und Offiziere erhalten, womit man eine weitere Summe hat.Aber lassen Sie uns, um der besseren Verdeutlichung willen, noch bei den

westlichen Schätzungen verweilen, anhand derer die Militärausgaben in Ost undWest verglichen werden. Trotz aller Verzerrungen ergeben diese doch keineswegsdas Schreckensbild, das die Falken in Washington oder Brüssel gerne zeichnen.Nach den - hauptsächlich auf stark überhöhten amerikanischen Zahlen beruhenden

- Schätzungen des Londoner International Institute for Strategie Studies z. B.übersteigen dieMilitärausgaben der Nato 1978 die der Staaten desWarschauer Paktesum 20 Milliarden Dollar.19 Nimmt man die ‘gemäßigteren’ Schätzungen desStockholmer International Peace Research Institute, so gewinnt man ein sogar nochschlimmeres Bild. Anhand der hier vorgelegten Zahlen zu den weltweitenMilitärausgaben für 1978 entfielen auf die Nato 42,8 Prozent der globalenRüstungsausgaben, auf die Staaten des Warschauer Paktes 28,6 Prozent, auf China10,5 Prozent.20 Da wir es sowohl mit einer Bedrohung durch den Westen wie durchden Osten zu tun haben, kann man beide Anteile addieren und erhält ein Verhältnisvon 53,3: 28,6 zuungunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten.Es weisen also sogar die stark übertriebenenwestlichen Schätzungen, berücksichtigt

man auch die Verbündeten, noch auf eine ganz deutliche Lücke zugunsten der Natohin.Auch die gegenwärtigen politischenHaltungen unterscheiden sich in dieser Hinsicht

ganz beträchtlich. Die USA und die Nato planen für die kommenden Jahre einenstetigen und sehr bedeutenden Anstieg der Militärausgaben. Die Sowjetunion ist bisheute diesem Beispiel nicht gefolgt.

Aber selbst, wenn sie das tut, muß sich das nicht in den offiziellen Zahlenwiderspiegeln. Sie müssen wissen, der Westen schenkt diesen Zahlen keinen Glauben.

Man mag diese Zahlen nehmen wie man will, aber es läßt sich nicht leugnen, daßdie jüngste Entscheidung der USA, dieMilitärausgaben inflationsbereinigt um jährlichfünf Prozent oder sogar mehr zu steigern, sowie die Entscheidung der Nato-Länder,ihre Rüstungsausgaben in den nächsten 15 Jahren um jährlich drei Prozent zu erhöhen,der Sowjetunion einen denkbar bequemen Vorwand liefern würde, ihr Militärbudget

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zu erhöhen und jegliche Schwierigkeit, die im Bereich der Wirtschaft besteht, damitzu erklären, daß man den Leuten sagt, schaut was der Westen treibt - und natürlichauch China mit seinen ‘Vier Modernisierungen’. Angesichts einer solchen Politikdes Westens müßten wir den Gürtel enger schnallen und für eine Zeitlang dieKonsumgüter zurückstellen, um abermals den Großteil unserer Mittel für dieVerteidigung aufzuwenden.Wir möchten schließlich nicht unvorbereitet angetroffenwerden. Und die Sowjetbürger würden, da sie sehr gute Patrioten sind, einer solchenEntscheidung zustimmen. Wir handeln jedoch anders. Im Laufe der letztenSitzungsperiode des Obersten Sowjets wurde eine weitere mäßige Kürzung derHaushaltsmittel für die Verteidigung - in Höhe von einigen 100 Millionen Rubel -bekanntgegeben...Das Erstaunliche im Zusammenhang mit Carters riesigem Aufrüstungsprogramm

für die USA ist die Tatsache, daß hierbei alle vorliegendenwirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse völligmißachtet werden. DasMX-Systemwird 40MilliardenDollar kosten, das Trident-U-Bootprogramm30MilliardenDollar,die für Europa vorgesehenenMittelstreckenraketen 5Milliarden. DieMilitärausgabenfür 1985 werden auf über 250 Milliarden Dollar veranschlagt. Und einige Leute inPräsident Reagans Umkreis halten selbst das noch für zu gering.

Erkennt nach Auffassung sowjetischer Fachleute niemand in den USA die negativenAuswirkungen der enormen Rüstungsausgaben?

Doch, selbstverständlich. Nur ein paar Beispiele: Im Oktober 1979 veröffentlichtedas Magazin Business Week Interviews mit Paul Warnke und General a. D. MaxwellTaylor. Trotz ihrer erheblich von einander abweichenden politischen Einstellungerklärten sie übereinstimmend, daß Carters Aufrüstungsprogramm zu einerwirtschaftlichen Bedrohung der Sicherheit der USA führen könnte.21 Oder nehmenSie die Feststellung von Henry Kaufman, einem führenden Finanzmakler derWallstreet, der in einer Rede vor der American Bankers Association im März 1980sagte: ‘Ein neuer Kalter Krieg würde... für den Dollar zusätzliche Probleme mit sichbringen’, und dann mit einer Aufzählung weiterer Aspekte fortfuhr, die Ergebnissevon Carters Kurswechsel waren und den USA wirtschaftlichen Schaden zufügten.Unsere Fachleute sind der Meinung, daß man in den USA während des Krieges

in Südostasien begann, die Übel einer militarisierten Wirtschaft zu erkennen. Dieöffentliche Diskussion in den späten sechziger Jahren trug dazu bei, die Tatsache zuerhellen, daß die riesigen Rüstungsausgaben für die amerikanische Wirtschaftallmählich ruinös wurden. Der Kriegshaushalt trieb die Inflation in die Höhe. Erschwächte die Wett-

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bewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten auf denWeltmärkten. Viele amerikanischeGeschäftsleute kamen zu dem Schluß, daß einer der Gründe, warum die japanischeund die westdeutsche Industrie so erfolgreich mit den USA konkurrieren konnten,die abnormen Haushaltsausgaben für den Vietnamkrieg waren. Sowjetische Expertenstellen fest, daß die Amerikaner sich auch weiterer schädlicher Folgen derumfangreichen Militärausgaben bewußt werden.

Welcher Folgen insbesonders?

In den letzten Jahren beklagten manche Amerikaner, die Vereinigten Staaten würdenallmählich gegenüber anderen Ländern ins Hintertreffen geraten, was die Zahl derErfindungen und der wissenschaftlichen Neuerungen anbelangt. Einige sahen einenGrund dafür in der Tatsache, daß Amerikas klügste Köpfe von der Rüstungswirtschaftin Beschlag genommen werden und an diesen Sektor gebunden bleiben. Zwischeneinem Drittel und 40 Prozent der amerikanischen Ingenieure arbeiten in derRüstungsindustrie, was für die übrigen Sektoren einen erheblichen Verlust anintellektuellem Potential bedeutet. Mehr und mehr Leute in den Vereinigten Staatenfangen an zu begreifen, daß die Inflationmit den Rüstungsausgaben in Zusammenhangsteht und daß das Wettrüsten dabei eine bedeutende Rolle spielt.Die Ansichten der Gewerkschaften über die Arbeitsplätze, die dem Militär zu

verdanken sind, ändern sich ebenfalls.

Das erinnert mich daran, daß zur gleichen Zeit, als in Amsterdam eine riesigeDemonstration gegen die Herstellung von Neutronenwaffen stattfand, die Kinder inLivermore in Kalifornien T-Shirts kauften, auf denen Slogans aufgedruckt waren,die die Herstellung dieser Horrorprodukte propagierten; der Grund dafür war, daßihre Väter diesen Betrieben ihren Arbeitsplatz verdankten.

Ich finde es tragisch, wenn Leute vor dieWahl gestellt werden, entweder das Geschäftdes Todes zu betreiben, oder zu hungern. Es stimmt, daß ganze Landstriche in denUSA von den Aufträgen des Pentagon abhängig sind, da dadurch Arbeitsplätzegeschaffen werden. Trotzdem hat man mehr und mehr erkannt, daß Militärausgabentatsächlich weniger Arbeitsplätze schaffen, als das gleiche Geld, im zivilen Sektorder Wirtschaft investiert, bewirken würde. Das ist einer der Gründe, warum einigeder Gewerkschaften, die in der Rüstungsindustrie beschäftigte Arbeiter vertreten,heute zusammen mit Kirchen und Kreisen aus der Wirt-

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schaft Pläne ausarbeiten, um die Rüstungsproduktion auf friedliche Zweckeumzustellen.Ich glaube, an der Basis ist die Bereitschaft zu einer Alternative zumMilitarismus

weit verbreitet. Allerdings scheinen aufgrund der Kursänderungen in derUS-Außenpolitik zu Beginn der achtziger Jahre diese Neigungen heute weniger offenin Erscheinung zu treten. Von einer Umstellung der Rüstungswirtschaft auf friedlicheZwecke zu sprechen, kann leicht als ‘unpatriotisch’ hingestellt werden, in einer Zeit,in der sich die Nation neuerlich auf den Kriegspfad begeben hat.

Nun, niemand wird bestreiten, daß die Militärausgaben der USA ganz enorm sind.Sicherlich ist Ihnen aber auch bekannt, daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt bzw.am Haushalt heute geringer ist als, sagen wir, vor 15 Jahren. Die nichtmilitärischenAusgaben übersteigen heute die militärischen Ausgaben, wahrend es in den spätensechziger Jahren umgekehrt war. Trotz der gegenwärtigen drastischen Erhöhungder Militärausgaben wird im Haushalt 1981 dem Pentagon realiter die gleicheSumme zugewiesen wie vor dem Krieg in Indochina.

Ja, ich kenne die Argumentationsweise sehr wohl.Beginnen wir mit demAnteil am Bruttosozialprodukt. Selbstverständlich sind fünf

oder sechs Prozent des BSP, also der Anteil, den die Militärausgaben der USAwährend der letzten Jahre erreichen, weniger als jene 9 oder 13 Prozent, auf die sichder Verteidigungshaushalt in der Vergangenheit bisweilen belief. Aber das heißtnicht, daß fünf Prozent kleine Fische sind.Wennman dasWachstum des BSP bedenkt,dann bedeutet jeder Prozentpunkt eine gewaltige Summe, ganz zu schweigen vonfünf Prozent. Plus oder minus fünf Prozent machen Welten aus, wenn von BSP dieRede ist. Und jedes Jahr werden diese fünf Prozent einfach vergeudet.Was den Haushalt anbelangt, so ist das Bild sogar noch düsterer. Der Staatshaushalt

- und auch davon wiederum nur bestimmte Teile - zeigt an, in welchem Umfang dieGesellschaft Mittel für die Lösung der nationalen Probleme bereitstellt. Zu diesenProblemen gehört nicht nur die militärische Sicherheit, sondern auch die sozialeSicherheit, das Gesundheitswesen, die Bildung, Probleme der Städtesanierung, derUmweltschutz, Energiefragen und Grundlagenforschung. Wenn etwa ein Viertel derdafür vorhandenen Mittel militärischen Zwecken dient, so bedeutet das für dieGesellschaft großen Schaden, und ihre Fähigkeit, die dringendsten Probleme zulösen, wird stark eingeschränkt.

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Aber ist nicht die langfristige Verschiebung der Prioritäten innerhalb des Haushaltseine unbestreitbare Tatsache?

Nun, in diesem Moment können wir feststellen, daß sich die Prioritäten erneutzugunsten der Militärausgaben verschieben. Aber selbst, wenn das Verhältnis dereinzelnen Anteile am Staatshaushalt, das sich in den siebziger Jahren herausgebildethatte, beibehalten werden sollte, so würde das noch lange nicht heißen, daß dieSozialausgaben reichlich bemessen sind, während das Militär kurzgehalten wird.Ganz zu schweigen auch davon, daß ein Vergleich des derzeitigen Standes derAusgaben mit dem vor dem Vietnamkrieg in hohem Maße irreführend sein kann.Die Zeit vor dem Vietnamkrieg war in dieser Hinsicht nicht im entferntesten einePhase der ‘Normalität’. Man darf nicht vergessen, daß die USA damals einumfangreiches Programm zur strategischen Aufrüstung durchführten, das unter demEindruck der ‘Raketenlücke’ in einer Atmosphäre der Hysterie beschlossen wordenwar, genauso wie sie einen rapiden Ausbau der konventionellen Streitkräftedurchführten, entsprechend der Doktrin der ‘flexible response’, d.h., es galt daraufvorbereitet zu sein, zweieinhalb Kriege - zwei große und einen kleinen - gleichzeitigzu führen. Heute bereiten sich die USA angeblich darauf vor, eineinhalb Kriege zuführen, paradoxerweise aber geben sie mehr Geld dafür aus als zu der Zeit, als siesich auf zweieinhalb Kriege vorbereiteten.Stellt man solche Vergleiche an, so ist es auch sehr wichtig, die Tatsache im Auge

zu behalten, daß die Militärausgaben unter dem anhaltenden Druck der wachsendengesellschaftlichen Bedürfnisse stehen, die die Regierung nicht einfach ignorierenkann, wenn sie überhaupt Stabilität anstrebt. Ich meine damit die Erschließung vonEnergiequellen, den Umweltschutz und einen verstärkten Zwang zu Sozialausgabenals Folge der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen sich einGroßteil der Bürger konfrontiert sieht. Man muß alle diese Faktoren und Zwängeberücksichtigen, wennman versucht, die Frage zu beantworten, ob der gegenwärtigeAnteil amBSP, den dieMilitärausgaben verschlingen, hoch oder niedrig ist. Betrachtetman Amerikas innenpolitische Probleme, so gewinnt man nicht den Eindruck, alswürden für die Lösung der Probleme so reichliche Gelder zur Verfügung stehen, daßdie Amerikaner darin schwimmen könnten.

Dennoch sind die Sozialausgaben gestiegen.

Ja, sie sind gestiegen. Eine sehr bedeutende Rolle haben hierbei die ernsteninnenpolitischen Unruhen in den USA in den sechziger Jahren gespielt. Die Leutegingen auf die Straße. Es kam zu Tumulten.

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Denken Sie an Watts?22

Nun, das ganze Jahrzehnt war voller sozialer Unruhen. Die Leute weigerten sichhinzunehmen, was ihnen zugemutet wurde. Die Steigerung der Sozialausgabenwurdevon Präsident Johnson in die Wege geleitet. Gewiß, das Konzept von der ‘GreatSociety’ enthielt eine Menge leerer Rhetorik. Kein Zweifel auch, daß Lyndon B.Johnson seine persönlichen und politischen Interessen verfolgte, als er zu diesergroßen Anstrengung aufrief, die drängenden sozialen Probleme in Amerika in Angriffzu nehmen.Aber hier spielte auch noch ein weitreichenderes Motiv eine Rolle, denke ich. Als

ein gewitzter Politiker muß Johnson erkannt haben, daß den sozialen Problemen eineweitaus größereAufmerksamkeit zukommenmußte, da andernfalls die innenpolitischeInstabilität zu einer explosiven Lage führen würde.

Aber der gleiche Johnson schickte Hunderttausende junger Männer in Vietnam ineine aussichtslos verfahrene Situation.

Ja, außerdem torpedierte der Vietnamkrieg die Idee der ‘Great Society’, und die ÄraJohnson endete in einem vollständigen Chaos.All das mußman sich in Erinnerung rufen, will man die sich ändernden Prioritäten

richtig einschätzen. Als die siebziger Jahre anbrachen, stießen der Vietnamkrieg undder Militarismus ganz allgemein auf hartnäkkigen und oftmals gewaltsamenWiderstand in ganz Amerika, während gleichzeitig die Forderungen nachSozialausgaben immer stärker wurden.Nixon hatte keine große Wahl. Die ganze Siuation erforderte eine Steigerung der

Ausgaben im Binnenbereich und eine Einschränkung der Militärausgaben.

Nun aber scheint sich die Situation, die ganze Stimmung im Lande, gewandelt zuhaben.

Ja, wir können rege Versuche beobachten, das Verhältnis zwischen Militär- undSozialausgaben erneut umzukehren. Auch ist es der Regierung gelungen - so siehtes wenigstens imMoment aus -, den weitverbreitetenWiderstand gegen eine massiveSteigerung der Militärausgaben zu schwächen. Zugleich aber wäre es falsch, einfachzu glauben, die Situation sei wieder die gleiche wie früher. Im Augenblick scheinenviele bereit zu sein, mehr für Kanonen auszugeben. Aber nur wenige unter ihnenwären bereit, deshalb weniger für Butter zur Verfügung zu haben. Der

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Druck auf die Regierung, den innenpolitischen Problemen ernsthaftereAufmerksamkeit zu widmen, hat nicht nachgelassen, denn die alten Probleme sindnach wie vor nicht gelöst, viele sogar noch dringender geworden, und neue Problemekamen hinzu. Die Regierung der USA kann die Augen vor der innenpolitischenSituation des Landes nicht verschließen. Sie kann nicht vor ihr davonlaufen.Schließlich sind die Vereinigten Staaten, was die Sozialpolitik anbelangt, eines derrückständigsten westlichen Länder.

Aber das augenblickliche Thema Nr. 1 in Washington ist das fehlende Vertrauen derLeute in die Fähigkeit der Regierung, ihre Probleme zu lösen. Ist das nicht einer derGründe, warum Präsident Reagan gewählt wurde?

Ich glaube, die Konservativen in Amerika begehen einen schweren Fehler, wenn sieannehmen, daß eine antiinflationistische Stimmung in der Öffentlichkeit eine solideBasis für eine Kehrtwendung in der Sozialpolitik bildet, daß der ihnen erteilteWählerauftrag die Aufforderung zu einer Rückkehr zum Kapitalismus des 19.Jahrhunderts darstellt. Die Amerikaner sind zugegebenermaßen verärgert über dieInflation und die Steuern.Gleichzeitig aber nahm in den siebziger Jahren die Unterstützung für die

Sozialprogramme, die die Regierung eingeführt hatte, ständig zu. Ich sehe darinkeinen Widerspruch. Die Leute sagen sich einfach: ‘Ja, die Regierung kann dazubeitragen, die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten, die der Markt schafft, zuerleichtern, aber zugleich sollte die Regierung ihre Finanzen in Ordnung bringenund die Steuerlast gerechter verteilen.’ So ist, kurz zusammengefaßt, meinerMeinungnach die Situation. Die Amerikaner erwarten von ihrer Regierung eher mehr alsweniger. Außerdem - hat man den Leuten erst einmal etwas gegeben, so ist esschwierig, es ihnen wieder wegzunehmen.

Sie haben gesagt, das Wettrüsten stärke die nationale Sicherheit nicht, sondernuntergrabe sie vielmehr.

Eine negative Auswirkung des Wettrüstens auf die nationale Sicherheit -wahrscheinlich die gravierendste überhaupt - besteht darin, daß die Anhäufung vonimmer mehr Waffen einen Krieg wahrscheinlicher und seine Konsequenzenverheerender macht. Und da es unmöglich ist, auf Dauer irgendwelche einseitigenVorteile zu erlangen, wächst diese Bedrohung der Sicherheit mit jeder neuen Runde.Eine weitere Auswirkung ist ökonomischer Natur. Indem das Wettrüsten derWirtschaft und

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den sozialen und kulturellen Bereichen immer größere Summen entzieht, mindert esden Wohlstand der Nation, ihre Stärke, sowie die Zukunftsaussichten von Staat undGesellschaft. Es ergibt sich daraus das Dilemma, ob es sich lohnt, dieSicherheitsvorkehrungen für ein Haus zu verstärken, wenn die Kosten dafür denBesitzer vollkommen ruinieren. Auch wenn eine Vermehrung der Waffen und dieSchaffung neuer Waffen kurzfristig von Vorteil zu sein scheint, kann das schließlichdie militärische und politische Stabilität aus dem Gleichgewicht bringen und so einezusätzliche Gefahr für die nationale Sicherheit schaffen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nun, vermutlich eignet sich die Geschichte der Mehrfachsprengköpfe so gut wiejede andere. Wir haben schon über die Problematik der ‘counterforce capability’gesprochen. Erlangt eine Seite die Fähigkeit, alle oder einen großen Teil derstrategischen Waffen des Gegners mit Hilfe eines vorbeugenden Schlagsauszuschalten, so schürt das die Ängste und die Unsicherheit auf der anderen Seite,und diese Angst wiederum verstärkt das Bestreben, selbst eine ähnliche Fähigkeitzu erlangen, die wiederum denGegner bedroht undweiterhin dazu führt, neue Systemezu schaffen, die vor solch einem Schlag sicher sind, sowie die eigenen Raketenständig in höchster Bereitschaft zu halten. Das Resultat ist, wie man sieht, eine erhöhteInstabilität. Solch eine Fähigkeit zum ‘counterforce’-Schlag wäre jedoch nur unterder Voraussetzung möglich, daß eine Seite die Zahl der Sprengköpfe beträchtlicherhöht, und zwar deshalb, weil man selbst mehr als einen Sprengkopf braucht, umeine Rakete des Gegners auszuschalten, da die Gewähr einer hundertprozentigenTreffsicherheit und Zuverlässigkeit nicht gegeben ist. Diese Tatsache stabilisiertedie Situation bis zum Auftauchen der Mehrfachsprengköpfe, die unabhängigvoneinander auf verschiedene Ziele gerichtet werden können. Es war so leicht, jedenVersuch, eine ‘counterforce capability’ zu erlangen, dadurch wettzumachen, daßman, wenn der Gegner zwei oder drei Interkontinentalraketen gebaut hat, ihm ebensoviele eigene entgegenstellte.

Wer hat die Mehrfachsprengköpfe zuerst eingeführt?

Die USA, wie ich bereits sagte. Da die USA im Unterschied zu uns dieseMehrfachsprengköpfe hatten, machte sichWashington über die Auswirkungen dieserneuen Technologie keine Sorgen.Dann tauchten die sowjetischen Mehrfachsprengköpfe auf, und die USA zeigten

sich sehr besorgt und gerieten sogar in Hysterie über die

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‘Verwundbarkeit’ ihrerMinutemanraketen. Diese Besorgnis wurde zumHauptthemader Anti-SALT-Kampagne und ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Es war alsodie ‘Verwundbarkeit’, die als Vorwand diente, um ein neues, sehr gefährliches unddestabilisierendes strategisches System einzuführen, nämlich das MX-System, mitall seinen exotisch anmutenden Stationierungsmöglichkeiten.Mit anderen Worten, die Mehrfachsprengköpfe waren der Anstoß, der eine ganze

Lawine von Ereignissen auslöste und damit die Stabilität und das Gleichgewicht undmithin auch die Sicherheit untergraben hat.

Tatsächlich scheinen viele US-Experten sehr besorgt zu sein über die Verwundbarkeitihrer Interkontinentalraketen, wobei sie anführen, daß die russischen Raketen dankihrer größeren Schubkraft in der Lage sein werden, mehr Sprengköpfe zu tragen,wenn die Sowjetunion in den achtziger Jahren fortfährt, ihre Raketen mit solchenMehrfachsprengköpfen zu bestücken. Das verhilft ihr, so wird behauptet, zu einerganz erheblichen Überlegenheit - wenigstens so lange, bis das MX-System aufgebautist.

Wie ich schon erwähnt habe, wurde die Verwundbarkeit der zu Lande stationiertenRaketen Gegenstand einer hitzigen Diskussion, wobei auch die Probleme der‘sowjetischen Bedrohung’, des strategischen Gleichgewichts und des SALTII-Vertrags zur Sprache kamen. Ob diese Frage eine derartige Erregung rechtfertigt,darf bezweifelt werden. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist - aber ich sage das alsLaie, nicht als Fachmann.

Warum bewerten Sie das Problem der Verwundbarkeit der Interkontinentalraketenso gering?

Nun gut, lassen Sie uns den Kern des Problems betrachten.Werden die Interkontinentalraketen in technischer Hinsicht durch das Auftauchen

der Mehrfachsprengköpfe, durch die Steigerung der Treffsicherheit und derVernichtungskraft der Sprengköpfe verwundbarer? Selbstverständlich werden siedas. Wenn die Amerikaner deshalb beunruhigt sind, muß man sie daran erinnern,daß es die USA waren, die den Wettlauf um die Mehrfachsprengköpfe, um dieCounterforce-Konzepte und um die Verbesserung der Treffsicherheit der Sprengköpfeeinleiteten.Aber ich stimme der These, daß die wachsende Verwundbarkeit der

Interkontinentalraketen gewisse Vorteile für die Sowjetunion bedeutet, nicht zu.Diese These ist falsch. Die amerikanischeMinuteman 3-Rakete, ausgerüstet mit demneuen Mark 12 A-Sprengkopf, ist eine mächtige

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Counterforce-Waffe, die die sowjetischen Interkontinentalraketen heute, nicht in derZukunft, verwundbarer machen, als es die amerikanischen Interkontinentalraketensind. Was die Zukunft, die frühen achtziger Jahre betrifft, die in den USA als einebesonders gefährliche Periode betrachtet werden, so wurden bei den SALTII-Anhörungen vor dem Ausschuß für Auswärtige Beziehungen des Senatsvergleichende Schätzungen zur Verwundbarkeit der amerikanischen und sowjetischenRaketen angestellt. Nach diesen Schätzungen wären die USA in der Lage, 60 Prozentunserer Interkontinentalraketen zu zerstören, während wir 90 Prozent deramerikanischen Raketen zerstören könnten. Es wurde jedoch in dem gleichen Berichtbetont, daß die Interkontinentalraketen nur eines von drei ‘Beinen’ sind und dieses‘Bein’ weit weniger Bedeutung für die USA hat als für die Sowjetunion, da Amerikanur 24 Prozent seiner gesamten Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen installierthat, die Sowjetunion dagegen 70 Prozent. Dementsprechendwird die Fähigkeit, einenSchlag zur Entwaffnung des Gegners durchzuführen, wie folgt eingeschätzt: DieUdSSR wird zu Beginn der achtziger Jahre imstande sein, 22 Prozent desamerikanischen strategischen Potentials zu vernichten, wogegen die USA bei solcheinem Schlag 42 Prozent unseres Potentials vernichten können.23

So sieht also die Situation bei dem gegenwärtigen Stand der Bewaffnung aus. DieEinführung desMX-Systems wird nicht nur die Verwundbarkeit der amerikanischenInterkontinentalraketen verringern, sondern - und das hört man von den Befürworterndieses Systems nicht oft - die Verwundbarkeit der sowjetischenInterkontinentalraketen erhöhen. Andere von den USA geplanteWaffensysteme wieTrident 2 oder Pershing 2 (letzteres verkürzt übrigens die Vorwarnzeit für den Fall,daß die Ziele im europäischen Teil der UdSSR liegen, auf fünf oder sechs Minuten)werden ebenfalls ganz beträchtliche Counterforce-Fähigkeiten aufweisen.

Mit anderen Worten, nach Ihrer Meinung entbehrt das Gerede von der ‘sowjetischenBedrohung’, der die amerikanischen Interkontinentalraketen ausgesetzt sind, jederGrundlage?

Unumstrittene Tatsache ist, daß im Falle eines Angriffs auf die Sowjetunion oderihre Verbündeten die sowjetischen strategischen Streitkräfte in der Lage sein werden,den Vereinigten Staaten einen sogenannten ‘inakzeptablen Schaden’ zuzufügen.Genauso sicher steht fest, daß die UdSSR über die technischen Fähigkeiten verfügt,eine gewisse Anzahl amerikanischer Interkontinentalraketen zu zerstören. Aber dieUSA haben ihrerseits mindestens die gleiche Fähigkeit. In diesem Sinne ist die

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Bedrohung gegenseitig. Und was die Fähigkeit betrifft, Interkontinentalraketen zuzerstören, so zielen die amerikanischen Pläne darauf ab, den USA in diesem Bereicheine erhebliche Überlegenheit zu verschaffen. Es ist nur folgerichtig, davonauszugehen, daß die Sowjetunion versuchen wird zu verhindern, daß dasWirklichkeitwird, was umgekehrt die Amerikaner nicht gern sehen werden, und was deshalbeinen neuerlichen Anfall von Paranoia angesichts der ‘sowjetischen Bedrohung’auslösen wird.

Aber Sie haben selbst in Zweifel gestellt, daß die Verwundbarkeit derInterkontinentalraketen ein Problem von solch entscheidender Bedeutung ist.

Ja, mit der Einschränkung, daß ich kein Fachmann auf diesem Gebiet bin. Ich habejedoch festgestellt, daß gar mancher Experte auch auf die Unstimmigkeitenhingewiesen hat, die diese Idee von der Verwundbarkeit enthält, und ich denke, darinsollte man wohl kaum das entscheidende Problem sehen. Zum Beispiel tretenungeheuer komplizierte technische Probleme auf, wenn es gilt, eine Salve abzufeuern,die gleichzeitig auf gut über tausend Ziele gerichtet ist. Und das ist etwas, was niemalsausprobiert wurde und wahrscheinlich auch niemals ausprobiert werden wird. Fernergibt es das Problem des ‘Brudermordeffekts’, d.h., nachdem die ersten Sprengköpfeihre Ziele getroffen hätten, würden die Auswirkungen dieser Explosionenunvermeidlich große Probleme schaffen, würden doch die restlichen Sprengköpfeauf dem Flug zu ihren Zielen dadurch zerstört oder abgelenkt werden.Noch wichtiger aber ist - darauf weisen die Experten hin -, daß, selbst wenn es

môglich wäre, alle gegnerischen Interkontinentalraketen am Boden zu zerstören, essich dabei nicht um einen wirklich entwaffnenden Schlag handeln würde. Es gibtnämlich noch die auf U-Booten installierten ballistischen Raketen, die auch mitmodernenWaffen so gut wie unangreifbar sind, sowie die strategischen Bomber, diein kürzester Zeit einsatzbereit sind und zurückschlagen können. Diese beiden ‘Beine’der strategischen Triade der USA - die auf U-Booten installierten Raketen und dieBomber - entsprechen fast 70 Prozent des amerikanischen strategischen Potentials.Wenn man sich sorgt, die Sowjets könnten einen ersten Schlag landen, so sollte mandaran denken, daß diese beiden Beine auch weiterhin fast unversehrt für einenGegenschlag zur Verfügung stehen.Ich könnte all dem noch ein paar weitere Gedanken hinzufügen.Alle Schauermärchen und alle Planspiele, die einen vernichtenden Schlag gegen

die Interkontinentalraketen zum Gegenstand haben, ba-

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sieren auf der Annahme, daß der Gegner wartet, bis dieser Schlag ausgeführt wird,und sich erst dann in einer Situation wiederfindet, die der gleicht, in der sich Hamletbefand - zerrissen von der Frage, was geschehen soll, wenn überhaupt etwas geschehensoll, und natürlich von der Frage ‘Sein oder Nichtsein’. Aber ich kann mir nichtvorstellen, daß die Regierung und die militärische Führung eines Landes, die dieNachricht erhält, daß einige tausend Sprengköpfe sich im Anflug auf ihr Landbefinden, untätig bleiben und abwarten würde, bis diese explodieren, damit siefeststellen kann, ob es sich um einen Counterforce- oder Countervalue-Schlag handelt,und die dann beginnt, sich diesen schmerzlichen Überlegungen und akademischenGedankenspielen hinzugeben.

Was ist übrigens ein Countervalue-Schlag im Unterschied zu einemCounterforce-Schlag?

Ein Counterforce-Schlag ist gegenmilitärische Ziele, in erster Linie gegen strategischeEinrichtungen, gerichtet, wogegen ein Countervalue-Schlag gegen Großstädte undgegen das Wirtschaftspotential gerichtet ist. Nun, anstatt abzuwarten, um welchenSchlag es sich wohl handelt, würde das angegriffene Land unverzüglich einenVergeltungsschlag auslösen. Natürlich würde es dabei nicht nur die Silos derfeindlichen Interkontinentalraketen zum Ziel wählen, die zu diesem Zeitpunkt alle,mindestens jedoch in der Hälfte der Fälle, leer stünden, sondern ganz gewiß auchdie Großstädte. Auf diese Weise hätten wir anstatt eines begrenzten Abtausches vonsogenannten ‘Counterforce-Schlagen’ einen allgemeinen thermonuklearen Krieg,der der Geschichte der Menschheit ein Ende bereiten würde. Deshalb muß jeder, dereinen Präventivschlag gegen die Interkontinentalraketen der anderen Seite plant, inBetracht ziehen, daß der geschilderte Verlauf nicht nur möglich, sondern sogarhöchstwahrscheinlich ist.Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, an dem die Kalkulationen, die die

Väter solcher Planspiele anstellen, nicht aufgehen. Die Entscheidung, gegen dieInterkontinentalraketen des Gegners einen Schlag zu führen, ist absolutgleichbedeutend mit der Entscheidung, den uneingeschränkten Atomkrieg zubeginnen. Wenn die Abschreckung funktioniert und man beim Gegner gesundenMenschenverstand voraussetzt, dann wird dieser einen solchen Krieg nicht beginnen,und damit verliert die Besorgnis um die Verwundbarkeit der Interkontinentalraketenjegliche Grundlage. Falls man jedoch dem Gegner zutraut, daß er leichtfertig einentotalen Atomkrieg vom Zaun bricht und nationalen Selbstmord begeht, dann heißtdas, daß die Abschreckung gescheitert ist, und in diesem Falle wird das Problem derVerwundbarkeit der Interkontinental-

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*1

Washington 1973: Georgij A. Arbatow, Leonid Breschnew, Richard Nixon auf dem Rasen des WeißenHauses

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Leningrad 1975: Georgij A. Arbatow mit Carl Albert, dem damaligen Speaker desRepräsentantenhauses.

Moskau 1975: Georgij A. Arbatow mit Professor John K. Galbraith

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*3

Moskau 1977: Frau Agnew, Georgij A. Arbatow und Frau, Harold Agnew, Direktor der Los AlamosNuclear Laboratories (v.l.n.r.).

Moskau 1974: Georgij A. Arbatow mit Senator Walter Mondale

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Moskau 1975: Der Generalsekretär des Zentralkommitees der KPdSU, Leonid Breschnew, empfängtim Kreml die erste offizielle Delegation von US-Senatoren; u.a. Humphrey (Minnesota), Scott(Pennsylvania), Ribicoff (Connecticut), Javits (New York), Mathias (Maryland), Hart (Colorado).Breschnew zur Rechten: Boris Ponomarew (Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses). Vornelinks: Georgij A. Arbatow

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Auf den Stufen des Capitols 1972: Georgij A. Arbatow mit George Bush, US- Vizepräsident unterReagan

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Moskau 1978: Georgij A. Arbatow mit dem Kongreßabgeordneten Charles Vanik.

1974 mit Senator Edward Kennedy.

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*7

Wien 1980: Georgij A. Arbatow mit Cyrus Vance, dem ehemaligen US-Außenminister, beim Treffender sogenannten Palme-Kommission

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raketen sogar noch bedeutungsloser. In letzterem Fall sollte man ein Stoßgebet zumHimmel schicken und sich beeilen, selbst auf den Knopf zu drücken.Ich bin mir völlig im klaren darüber, daß diese Schlußfolgerungen bei vielen

Experten - wenigstens in den USA - nur ein skeptisches Lächeln hervorrufen werden.Gleichzeitig möchte ich behaupten, daß es diese Strategen im Elfenbeinturm sind,die ihrerseits zu einer wahren Bedrohung werden. Indem sie die unglaublichstenPlanspiele entwerfen, bringen sie es zuwege, neue Rechtfertigungen zu finden, umdas Wettrüsten voranzutreiben und Ängste, Unsicherheit und Spannungen in derWelt zu vermehren. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Politik in der Realitäteigentlich heißt - und ichmeine damit nicht nur sogenannte Realpolitik. Sie mißachtendie elementarsten Mechanismen der menschlichen Psyche. Die meisten von ihnenhaben nie ein Gefecht erlebt und wissen nicht, was es mit dem Krieg wirklich aufsich hat.

Sie scheinen einen ziemlichen Groll gegen diese Leute zu hegen. Aber wenn das, wasSie gesagt haben, richtig ist, dann ist deren Auffassung zum Thema Verwundbarkeitfalsch und richtet deshalb auch keinen Schaden an.

Wissen Sie, nachdem der Baptismus in den USA beinahe schon eine Staatsreligiongeworden ist, habe ich damit begonnen, die Bibel zu studieren. Erinnern Sie sich,wie es in dem Buch Salomos heißt? ‘Weisheit ist besser denn Harnisch, aber eineinziger Bube verderbt viel Gutes’ (Prediger, 9, 18).Diese Planspiele erzeugen neue Ängste, untergraben gegenseitiges Vertrauen und

verleihen dem neuen Aufschwung, den das Wettrüsten nimmt, noch zusätzlicheImpulse.

Aber ich habe Sie bei Ihren Ausführungen zum Thema Strategie unterbrochen.

Sehen Sie, ich glaube ganz allgemein, daß vernünftige politische und militärischeFührer die Abschreckung ganz anders sehen als diese Strategen im Elfenbeinturm.In den Augen einer Staatsführung sind allein schon die Aussichten auf die Zerstörungder Hauptstadt eine ernsthafte Abschreckung. (Ich glaube, es war McGeorge Bundy,der einmal auf diese Tatsache hingewiesen hat.) Und was für eine Aussicht erst wärees, die zehn größten Städte zu verlieren? Was waren die USA ohne New York undWashington, Boston und Chicago, San Francisco und Los Angeles, New Orleansund Houston, Minneapolis und St. Louis?

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Oder was die Sowjetunion anbetrifft, was wäre sie ohne Moskau, Leningrad, Kiew,Swerdlowsk, Baku, Taschkent, Minsk, Dnjepropetrowsk, Gorki und Riga? WelcheZiele könnten denn möglicherweise solch ungeheueren Verluste rechtfertigen?Stellen Sie sich gar unsere beiden Länder jeweils ohne die 100 größten Städte vor.

Theoretisch kann schon ein einziges U-Boot im jeweils anderen Land solchen Schadenanrichten, und die Gesamtzahl der nuklearen Sprengköpfe, die angehäuft wurden,geht in die Tausende. Dennoch stellt sich heraus, daß einige Leute noch viel mehrvon diesen Waffen wollen und sich immer noch phantastischere Planspiele für denWeltuntergang ausdenken.

Aber die sowjetischen Programme und Arsenale wachsen doch auch entsprechendden vorgegebenen Zielen und Planspielen.

Ja, ich habe diese Wechselwirkung schon erörtert. Die USA preschen ein Stück vor,und wir ziehen nach, um den Anschluß zu behalten. Das ist die irrsinnigeEigendynamik, die demWettrüsten innewohnt, die Anhäufung vonWaffen übersteigtbei weitem jegliche vernünftigen Bedürfnisse. Wenn wir dem kein Ende bereiten,wird das immer so weitergehen. Und die Kriegsgefahr wird wachsen. Tatsächlichgeschehen heutzutage seltsameDinge: NeueWaffenwerden entwickelt und angehäuft,neue Kriege werden vorbereitet und sogar wahrscheinlicher gemacht, und zwargeschieht dies unter ganz verschiedenen Vorwänden und oftmals mit ganzverschiedenen Absichten.

Woran denken Sie dabei im besonderen?

Wissen Sie, ich habe oftmals das Gefühl, daß diese periodisch wiederkehrendenVersuche der USA, einen militärischen Vorteil über die UdSSR zu erlangen, eineArt Freudsche Kompensation sind für... Impotenz wäre das falsche Wort, ich denke,daß es zutreffender ist zu sagen, für den Mangel an Omnipotenz, den dieses Land inseinem Umgang mit der Welt in den letzten Jahren zu spüren bekam.

Professor Edward Teller, der Vater der H-Bombe, sagte mir 1980, daß dieSowjetunion einen absoluten Sieg davontragen würde, sollte ein Atomkriegausbrechen. ‘Womit will Carter die Sowjets denn aufhalten’, sagte er. Das gleichegilt für Ronald Reagan, vermute ich.

Ich kann Dr. Tellers vaterliche Gefühle verstehen: Sein ‘Sprößling’ kam nicht zurAnwendung, was ihn zu ärgern scheint. Er scheint sich

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über so viele Gegebenheiten in dieser Welt zu ärgem - wie etwa über die Existenzeiner Sowjetunion, die nicht einzuschüchtern ist, oder über die Tatsache, daß einAtomkrieg nicht gewonnen werden kann. Ich fürchte, ihm ist nicht zu helfen. Es gibtnur eine einzige gesunde Einstellung zu solch einem Krieg - ihn um jeden Preis zuverhindem. Die Vereinigten Staaten, die ursprünglich die ‘Nuklearbombe’ als einWerkzeug der Außenpolitik eingeführt hatten, haben immer wieder versucht, dieseMaxime des Atomzeitalters zu umgehen. Gegenwärtig haben wir es ebenfalls miteiner solchen Periode zu tun, und Leute wie Dr. Teller drängten sich um denKandidaten Reagan. Nun, da er Präsident ist, hat er hoffentlich die Zeit und dieInformationen, um das zu lernen, was sieben seiner Vorgänger lernten, als sie sichmit dem Problem des Unterschiedes zwischen konventioneller und nuklearerKriegsführung auseinandersetzten. Dr. Teller ist schließlich nicht sein einzigerRatgeber, soviel ich weiß.

Der frühere Präsident Carter steilte fest, die militärischen Vorbereitungen derSowjetunion gingen über ihre Verteidigungsbedürfnisse hinaus.

Wir haben davon schon gesprochen. Aber ich könnte ein paar Bemerkungen anfügen.Ich frage mich nur, wie die Amerikaner ihre Verteidigungsbedürfnisse eingeschätzthätten, hätten sie sich in unserer Lage bebinden und vier potentielle Gegner in ihreÜberlegungen einbeziehen müssen - die USA sowohl mit ihren strategischen wieauch mit ihren konventionellen Waffen, die Nato-Verbündeten der USA in Europa,das verbündete Japan und China.Andererseits können wir dem eine ähnliche Einschätzung der militärischen

Vorbereitungen der USA entgegenhalten, und das wäre dann eine viel besserbegründete Rechnung. Wir in der Sowjetunion haben den nachhaltigen Eindruck,daß der Umfang und die Ausrichtung der amerikanischen Militärprogramme nichtmit defensiven Überlegungen begründet werden kann. Die USA übertreffen dieSowjetunion hinsichtlich der Zahl der Nuklearsprengköpfe um ein Vielfaches undentwickeln jetzt ihre strategischen Streitkräfte weiter, wobei großes Gewicht auf die‘counterforce capability’ gelegt wird, sie haben viele, mit Nuklearwaffen ausgerüsteteFlugzeugträger und sehr umfangreiche amphibische Streitkräfte nahe der sowjetischenGrenzen.Weiterhin sind ungefähr die Hälfte der amerikanischen Trappen in Überseestationiert, werden mobile Eingreifreserven aufgestellt und geht die Militärdoktrinder USA ganz offen von einem ersten Einsatz von Nuklearwaffen aus, usw. Das siehtnicht sehr defensiv aus, besonders dann nicht, wenn man die relativ sicheregeographische Lage der USA bedenkt - mit Ozeanen im Osten

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und imWesten, mit freundlich gesonnenen und militärisch schwachen Nachbarn imNorden und im Süden.So nehmen sich also die Verteidigungsbedürfnisse von außen gesehen immer

anders aus. Trotzdem kann jeder von uns der ehrlichen Überzeugung sein, gut zusein und niemand Böses antun zu wollen. Ich würde - wennman nicht nur die UdSSRherausgreift - hinzufügen, daß es allgemein gesehen tatsächlich zuviel militärischeAusrüstung gibt, die dieWelt in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hat. Dasüberschreitet Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnisse bei weitem. Deshalb sindwir auch für Abrüstung eingetreten. Auch besteht eine ganz erheblicheOverkillkapazität, von der sich die Großmächte leicht trennen könntenden politischenWillen auf alien Seiten vorausgesetzt. Mindestens aber besteht die uneingeschränkteMöglichkeit, keine neuen Waffen herzustellen.

Aber die Sowjetunion hat mehr Truppen, Panzer, Geschütze und weiß Gott was nichtnoch alles!

Moment mal. Wir haben sehr viel weniger Truppen als unsere potentiellen Gegner- die USA, die Nato-Länder und China. Selbst wenn man davon ausgeht, daß wirmehr Panzer haben, bleibt die Tatsache bestellen, daß die Nato fortschrittlicherePanzerabwehrwaffen hat. Legt man zugrunde, daß wir mehr Geschütze haben, so istgleichzeitig festzuhalten, daß selbst nach westlichen Schätzungen die Nato überlegenist, was Geschütze auf Selbstfahrlafetten und taktische Nuklearwaffen anbelangt.Diese Asymmetrien bestehen, aber wenn man sie insgesamt betrachtet, ergibt sichletztlich in etwa Gleichgewicht, Gleichwertigkeit, Gleichheit - oder wie immer mandas nennen will. Das wurde wiederholt bestätigt, und zwar nicht nur von uns, sondernauch von vielen westlichen Analytikern und führenden Politikern.

Sprechen Sie von einer generellen militarischen Ausgewogenheit oder vomGleichgewicht in Europa?

Ich spreche von beidem. Natürlich gibt es imWesten unterschiedliche Einschätzungendieser beiden Gleichgewichte, aber ich beziehe mich hierbei auf die maßgeblicherenStellen, z. B. auf Verlautbarungen des amerikanischen Verteidigungsministers HaroldBrown, des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, und desInternational Institute for Strategic Studies in London, etc.

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Sind dabei auch die SS 20-Raketen und andere in Europa stationierte Nuklearwaffenmiteinbezogen?

Ja, selbstverständlich. Zum Beispiel bestätigte das International Institut for StrategicStudies vor kurzem die Existenz eines nuklearen Gleichgewichts in Europa.24 Sobekannte amerikanische Spezialisten wie Paul Doty und Robert Metzger sprechenvon einem ungefähren Gleichgewicht bei den ‘eurostrategischen’ Waffensysternenmit einer Reichweite von über 600 Kilometer.

Sie wissen bestimmt, welch ein Sturm der Entrüstung ausgelöst wurde durch dieStationierung der SS 20-Raketen in den westlichen Teilen der UdSSR. Warum hatdie Sowjetunion ausgerechnet wahrend der Blütezeit der Entspannung auf diesemSchritt beharrt?

Ja, wir wissen um diesen Sturm der Entrüstung, von dem Sie sprechen, sehr wohlund wir glauben, daß die Gründe dafür recht ähnliche sind wie in anderen Fällen, indenen man sich über diese oder jene Form der ‘sowjetischen Bedrohung’ entrüstete.Solche Entrüstungsstürme werden nämlich für gewöhnlich ausgelöst, um neueRüstungsprogramme der Nato zu rechtfertigen - in diesem speziellen Fall das Pershing2-Programm und die zu Lande stationierten Marschflugkörper.Was die SS 20 anbetrifft, so handelt es sich um eine Rakete, die jene sowjetischen

Mittelstreckenraketen ersetzt (im Westen bekannt unter der Bezeichnung SS 4 undSS 5), die vor 20 Jahren eingeführt wurden und inzwischen veraltet sind. Es ist nichtsweiter als ein Zufall, daß die Lebensdauer dieser Raketen zur Zeit der Entspannungauslief und ihre Ablösung nicht mehr länger aufgeschoben werden konnte. VergessenSie dabei nicht, daß, wie Leonid Breschnew mit vollem Ernst feststellte, dieGesamtzahl der sowjetischen Mittelstreckenraketen in Europa keineswegs anstieg,sondern sogar etwas zurückging. Das gleiche gilt für die sowjetischenMittelstreckenbomber.

Die Experten der Nato behaupten jedoch - und viele im Westen sind sogar davonüberzeugt -, daß die Einführung der SS 20 nicht nur als eine Modernisierungangesehen werden kann. Es wird gesagt, es handle sich dabei um völlig neue Raketenvon überlegener Bauart.

Nun, was würde man wohl im Westen von der UdSSR halten, wenn wir 20 Jahrealte Raketen gegen andere austauschen würden, ohne daß diese neuer und besserwären? Aber das Entscheidende an der Sache ist, daß sich die Funktion dieser Raketennicht gewandelt hat. Genauso wie bei

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der SS 4 und der SS 5, so liegen auch bei der SS 20 die USA außerhalb derReichweite, womit diese Raketen Gefechtswaffe bleiben und keinen strategischenCharakter haben. Das ist unsere Antwort auf die sogenannte Vorneverteidigung derUSA inWesteuropa, d.h. auf über 1500 Trägerwaffen, also auf die Raketen, Bomber,Kampfflugzeuge, sowie die mit Nuklearwaffen bestückten Maschinen derFlugzeugträger imMittelmeer und imNordatlantik, die in der Lage sind, sowjetischesTerritorium zu treffen, ebenso wie auf die Raketen und Flugzeuge von AmerikasVerbündeten in Europa, die Atomwaffen besitzen, nämlich Großbritannien undFrankreich. Die sowjetischenMittelstreckenraketen sind dazu bestimmt, auf unsererSeite die Funktion der Abschrekkung zu erfüllen.

Die Begründung, die die Nato für die Stationierung der Marschflugkörper und derPershing 2-Raketen gibt, ist eine ganz ähnliche: Auch sie spricht vonModerniserungund Wiederherstellung des Gleichgewichts.

Eine Ähnlichkeit besteht nur solange, bis man genauer hinsieht. Die neuenNato-Raketen werden eine neue Rolle spielen, neue Funktionen erfüllen, werden siedoch in der Lage sein, Ziele bis tief in die Sowjetunion hinein zu erreichen. Dasbedeutet, entsprechend den bestehendenMaßstäben, daß diese amerikanischenWaffennicht nur Gefechtswaffen sind, also nicht zu den Waffen gehören, die nur aufKriegsschauplätzen außerhalb des Territoriums sowohl der UdSSR wie auch derUSA eingesetzt werden, sondern daß es sich um strategische Waffen handelt.Gleichzeitig werden sie auch nicht vom SALT-Abkommen erfaßt. Schafft nicht dasallein schon neue Probleme?

Sind Sie der Meinung, das Modernisierungsprogramm der Nato hat Einfluß auf denFortgang von SALT?

Ja, es hat Einfluß. Gemäß dem SALT II-Vertrag sollen wir schließlich unserestrategischen Waffen um 250 Abschußvorrichtungen abbauen, um auf die gleicheZahl von Abschußvorrichtigen zu kommen wie die USA. Die Amerikaner haben seit1972 unablässig auf solcher Gleichheit beharrt, und beide Seiten haben um jedesDutzend Raketen, wenn nicht gar um jede einzelne gerungen. Wir haben schließlicheingewilligt, obwohl wir zu einem früheren Zeitpunkt darauf beharrt hatten, dieamerikanischen Waffensysteme der Vorwärtsverteidigung einzubeziehen. Nun aberplanen die USA, ihren strategischen Streitkräften ungefähr 600 neue, nicht vomSALT II-Vertrag erfaßte Abschußvorrichtungen hinzuzufügen. Kann es uns nichtletztlich gleichgültig sein, wo eine Rake-

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te, die auf miser Territorium gerichtet ist, gestartet wird - ob in Montana, bzw. NordDakota, oder in Westdeutschland, bzw. Holland? Tatsächlich ware letztere Situationwegen der erschreckend kurzen Vorwarnzeit von Pershing 2 noch schlimmer.Und was wird aus SALT III werden, wenn wir uns an den Verhandlungstisch

setzen, um darüber zu sprechen?Wie schon vereinbart wurde, würden wir über einenweiteren Abbau der strategischen Waffen sprechen. Aber wie sollten wir an dieseGespräche herangehen, wenn unsere Seite die Anzahl der Waffen zu verringern hat,während die USA zwar ihre Minuteman-Langstreckenraketen und ihre aufstrategischen Bombern installierten Marschflugkörper begrenzen, gleichzeitig aberfortfahren, Pershing 2-Raketen und zu Land installierte Marschflugkörper in Europazu stationieren?

Dies sind also die sowjetischen Einwande gegen die Herstellung und Stationierungneuer amerikanischer Raketen in Europa.

Ja, ich will noch weitere hinzufügen. Die Stationierung dieser Raketen istgleichbedeutend mit einer neuen Runde im atomaren Wettrüsten. Sie können aucheine stark destabilisierende Rolle spielen, indem sie die Illusion aufkommen lassen,die USAwaren imstande, ‘auf regionaler Ebene’ einen Atomkrieg gegen die UdSSRzu führen, wobei das Territorium der USA davon verschont bliebe. Alles in allemwird dadurch die atomare Abschreckung in Europa geschwächt.

Es ist ganz offensichtlich, daß eine neue Runde des Wettrüstens wahrscheinlich kaummehr Stabilität mit sich bringen wird, weder für Europa noch für die Welt insgesamt.Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die UdSSRmit ihren SS-20-Raketen einenersten Schrift zu einer solchen Runde getan hat.

Das ist nicht ganz richtig, ja es ist sogar ganz und gar falsch. Ich habe schon von denGründen für die Stationierung unserer Mittelstrecken-raketen in Europa gesprochen.Die amerikanischen Waffensysteme der Vorneverteidigung sind ein sehr wichtigerFaktor. Wir haben immer darauf gedrängt, sie ebenfalls auf die Tagesordnung derSALT-Gespräche zu setzen. Hätten die Amerikaner dem zugestimmt, sähe dieSituation vielleicht ganz anders aus.Ferner muß man sich in Erinnerung rufen, wie viele gefährliche Initiativen im

Bereich der nuklearen Bewaffnung die Amerikaner und ihre Nato-Verbündetenergriffen haben. Die USA haben 160 der insgesamt 370 Bomber des Typs F111 inEuropa stationiert. In den sechziger und

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in den siebziger Jahren baute Großbritannien vier atomgetriebene U-Boote mit 64Langstreckenraketen, Frankreich weitere vier mit ebenfalls 64 Langstreckenraketen,sowie 18 zu Land installierte Mittelstrekkenraketen. Großbritannien hat Beschlüssegefaßt, nach denen es auf alle Fälle vier Trident-U-Boote bauen wird; Frankreichmodernisiert auch seine zu Land installierten Raketen und plant, neue mitMehrfachsprengköpfen bestückte Langstreckenraketen zu bauen, weiterhin baut esgegenwartig zwei neue Unterseeboote, von denen eines bereits fertiggestellt zu seinscheint.Und trotzdem nennt, aus unerfindlichen Gründen, niemand im Westen all das

einen ersten Schritt.

Aber die UdSSR hot dennoch zugestimmt, die amerikanischen Système derVorneverteidigung bei den SALT- Gesprächen nicht in die Diskussion einzubeziehen.

Ja, in der Tat. Während des Treffens von Leonid Breschnew und Präsident Ford inWladiwostok 1974 haben wir, um den toten Punkt bei den SALT-Gesprächen zuüberwinden, dieses wichtige Zugeständnis gemacht, aber es war ein Zugeständnis,das nur für das SALT II-Abkommen gilt, nicht jedoch für die weiterenVerhandlungen.Seitdem haben wir versucht, eine neue Runde des Wettrüstens in Europa zuverhindern.

Denken Sie dabei an Vorschläge, wie sie z. B. Generalsekretär Breschnew imOktober1979 und im August 1980 unterbreitete?

Ja. Schon vorher war unsere Bereitschaft, dieses Problem auf demVerhandlungswegzu lösen, im Verlauf des Besuchs von L.I. Breschnew in Westdeutschland im Jahr1978 bekundet worden. Ende 1978 unterbreitete anläßlich einer Sitzung der BeratendePolitische Ausschuß der Staaten desWarschauer Paktes in einemKommuniqué einenkonkreten Vorschlag für solche Gespräche. Dann erfolgte einer der beiden Vorschlage,die Sie erwähnt haben - ein höchst bemerkenswertes Angebot, in dem L.I. Breschnewim Oktober 1979 vorschlug, die nuklearen Mittelstreckenwaffen unsererseits zuverringern, vorausgesetzt, die Nato würde keine weiteren Waffen dieser Art inWesteuropa stationieren. Die Rede Breschnews enthielt auch eine Warnung: Fallsdie Nato beschließen sollte, die neuen amerikanischen Raketen in Europa zustationieren, so sähe sich die UdSSR gezwungen, zusätzliche Maßnahmen zuergreifen, um ihre Verteidigung zu stärken.Auf der Dezembertagung 1979 des Nato-Rats wurden diese Vorschläge

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abgelehnt und der Beschluß gefaßt, die neuen amerikanischenMittelstreckenraketenzu bauen und zu stationieren. ImAugust 1980 bot Leonid Breschnew an, unverzüglichVerhandlungen über die eurostrategischen Raketen und die Systeme derVorneverteidigung aufzunehmen, ehe die Situation außer Kontrolle gerate. Tatsächlichwurden nach dem Treffen von Gromyko und Muskie im September 1980Vorgespräche zu diesem Thema eingeleitet. Wie kann man da behaupten, dieSowjetunion sei für die neue Runde des Wettrüstens verantwortlich?Nebenbei gesagt, ich kann immer noch nicht begreifen, warum die USA und die

Nato es bloß so eilig hatten und sich weigerten, ihre Entscheidung über den Bau unddie Stationierung der neuen Raketen aufzuschieben, um so den Beginn vonGesprachen zu diesem Thema zu ermöglichen.Wohl kaum jemand in Europa glaubt,die Sowjetunion sei im Begriff, einen Krieg zu beginnen. Die Stationierung der neuenWaffen ist für 1983 vorgesehen, jedenfalls ist das die offizielle Lesart der Nato. Wirkönnen uns diese Eile nur damit erklären, daß der Westen entweder nicht willens ist,Gespräche darüber zu führen, oder daß er denWunsch hat, vor den Gesprachen ‘einePosition der Stärke’ zu erlangen, um der UdSSR die westlichen Bedingungen diktierenzu können. Natürlich erscheint uns das nicht gerade fair.

Machen Sie die Amerikaner dafür verantwortlich?

Nein, ich bin weit davon entfernt, die ganze Schuld den Amerikanern zuzuschreiben.Jene Europâer, die der sogenannten ‘Nato community’ zuzurechnen sind, waren sehraktiv. Fred Kaplan, ein Sachverstândiger für militärische und politische Fragen imMitarbeiterstab des amerikanischen Repräsentantenhauses, ist derEntstehungsgeschichte des Nachrüstungsbeschlusses nachgegangen und dabei aufeine kleine Gruppe einflußreicher Experten, dem sogenannteneuropäisch-amerikanischen Workshop, gestoßen, dessen Vorsitzender AlbertWohlstetter, ein bekannter amerikanischer Falke, ist. Es bestehen Verbindungen derGruppe zu dem in London ansässigen International Institute for Strategic Studies,und ihr gehören Berater und Experten aus Deutschland, Großbritannien, Norwegenund anderen Nato-Ländem an. Diese Gruppe überredete zuerst Helmut Schmidt, derdann das Thema im Oktober 1977 in die Debatte brachte. Carter zögerte nicht, essofort aufzugreifen.25

Was waren die dahinterliegenden Gründe?

Ein wichtiges Argument zugunsten des Nachrüstungsbeschlusses waren

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offene oder versteckte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearenSchutzschirms über Westeuropa - Zweifel, ob im Falle eines Krieges in Europa dieUSA auch wirklich ihre strategischen Streitkräfte gegen die Sowjetunion einsetzenwürden, angesichts des strategischen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion undden Vereinigten Staaten.

Sind diese Zweifel denn völlig unbegründet?

Zunächst einmal: Die Stationierung der neuen amerikanischenMittelstreckenraketenwird, was den US-Schutzschirm anbelangt, keinerlei Auswirkungen auf die Situationhaben. Falls diese Raketen - ich widerhole, amerikanische Raketen - sowjetischesTerritorium treffen, wird der Gegenschlag nicht nur gegen jene Länder gerichtet sein,in denen sie abgefeuert wurden, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten, undzwar genauso, als wenn die Raketen in Montana gestartet worden wären.ZumZweiten: Diese Zweifel basieren auf der vollkommen lächerlichenVorstellung,

man könne einen Krieg in Europa führen, gar einen Atomkrieg, der nicht in einemallgemeinen Weltenbrand enden würde. Hier stoßen wir wieder auf die kreativeGedankenwelt amerikanischer ‘Elfenbeinturm-Strategen’, auf diese strategischeHaarspalterei, die abgehoben von der Wirklichkeit existiert und jeglichen gesundenMenschenverstand vermissen läßt. Das Problem ist, daß diese Haarspalterei nichtnur eine Denkübung darstellt. Sie dient als Rechtfertigung für die enormen Ausgabenund Anstrengungen, die der Aufrüstung mit nuklearen und konventionellen Waffenin Europa dienen. Indessen ist es ganz offensichtlich, daß, wer immer sich entschließt,einen Krieg in Europa zu beginnen, auch in Kauf nehmen muß, daß daraus einWeltkrieg wird, in dem die modernen Massenvernichtungsmittel eingesetzt werden.Die vielleicht absurdeste Vorstellung in dieser Hinsicht ist die, es wäre möglich, denEinsatz von Nuklearwaffen in einem solchen Krieg auf Mittelstreckenwaffen odertaktischeWaffen zu begrenzen und denKrieg in denGrenzen eines ‘lokalenKonflikts’zu halten.

Die meisten Europäer wissen sehr wohl, daß solche Erwartungen unsinnig sind.

Sicher, denn für sie ware solch ein Konflikt der totale Krieg, ein absolut strategischer,wenn ich so sagen darf. Sogar wenn sich der Krieg auf den Einsatz taktischerWaffenbeschränken würde. Schon in den sechziger Jahren wurde errechnet, daß sogar ‘einsehr begrenzter’ Einsatz solcher

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Waffen in Europa bis zu 20 Millionen Menschenleben kosten würde. Falls, was sehrviel wahrscheinlicher ist, der Krieg diese Grenzen überschritte, würde nachExpertenmeinung die Zahl der Toten auf bis zu 100 Millionen ansteigen.26

Die Neutronenwaffe war in den letzten Jahren in Europa Gegenstand hitzigerDebatten. Wie würden sick diese Waffen auf die Gesamtsituation auswirken?

Ich kann schwer abschätzen, ob ihr Einsatz mehr oder weniger Verluste anMenschenleben zur Folge hätte. Alles hängt von der Stärke und der Anzahl dieserWaffen ab. Natürlich gäbe es bei der Explosion einer Neutronenbombe mehr Toteinfolge von Strahleneinwirkung und wahrscheinlich weniger aufgrund der übrigenWirkungen, verglichen mit der Explosion einer gewöhnlichen Nuklearbombe. Siehtman einmal von dem moralischen Aspekt einer Waffe ab, die darauf ausgelegt ist,Menschen zu töten, aber materielle Einrichtungen zu schonen, so würde derNeutronenbombe (enhanced radiation weapon) hauptsächlich aus zwei GrimdenWiderstand entgegengebracht. Einmal, weil ein neuerWaffentyp eine weitere RundeimWettrüsten bedeutet. Zum anderen, weil die Gefahr drohte, die ‘Nuklearschwelle’würde dadurch herabgesetzt werden. Letzten Endes verband man mit derNeutronenbombe die Absicht, die Europäer davon zuüberzeugen, daß im Falle einesKrieges Nuklearwaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt werdenkönnten, ohne die Länder und Völker Europas allzu großen Gefahren auszusetzen.Es hieß, die neue Waffe würde nur die feindlichen Soldaten töten und diewesteuropäischen Städte sowie andere Einrichtungen intakt lassen. Mit anderenWorten, es handelte sich um einen weiteren Versuch, den Krieg‘akzeptabel’ zumachen und deshalb einen leichtfertigen Umgang mit Atomwaffen zu rechtfertigen.

Ein Argument zugunsten der Neutronenbombe war, daß sie nur für defensive Zwecketauglich sei.

Ich glaube nicht, daß es sehr sinnvoll ist, Waffen in die Kategorien offensiv unddefensiv einzuteilen. Ein Knüppel, ein Stein, ein Messer - das alles kann sowohl füreinen Angriff wie auch für die Abwehr eines Angriffs eingesetzt werden. Das giltfür die Neutronenbombe umso mehr. Ich stelle mir dabei z. B. folgende möglicheSituation vor.Falls die Nato eine Offensive planen würde, bei der sie durch das dichtbesiedelte

Europa vorstoßen müßte, so könnten ‘herkömmliche’ Nuklearwaffen, die die Städtein Trümmerhaufen verwandeln, für den An-

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greifer selbst ernsthafte Hindernisse schaffen. Was die Neutronenbombe betrifft, sowürde sie die Städte vermutlich mehr Oder weniger in einem Zustand belassen, derein müheloses Vorwärtskommen erlaubt, hätte sie doch ‘nur’ die Verteidiger unddie Einwohner getôtet. In gleicher Weise kann die Neutronenbombe dabei hilfreichsein, die Brücken intakt zu halten, während man die Verteidiger tötet - und Europaweist viele Flüsse auf, so daß Brücken für jede Offensive von entscheidenderBedeutung sind.

Nun, die USA und die Nato haben bislang davon Abstand genommen,Neutronenwaffen einzuführen. Warum haben die UdSSR und der Warschauer Paktnicht mit einer ähnlichen Geste darauf reagiert und z. B. die Zahl der SS 20-Raketenverringert?

Stimmt, die Neutronenwaffe wurde nicht eingeführt, was wir hauptsächlich auf dengesunden Menschenverstand zurückführen, der in den west-europäischen Landemdurch die ungeheure internationale Entrüstung, die dieser Nato-Plan auslöste,wachgerüttelt wurde. In den USA jedoch vernimmt man nun in verstärktem Maßedie Forderung, diese Entscheidung zu revidieren.

General Bernard Rodgers, der Oberkommandierende der Nato, sagte vor kurzem,er wünsche die Neutronenbombe. Die Frage ist jedenfalls nicht von der Tagesordnunggestrichen.

Ronald Reagan hat sich ôffentlich für die Neutronenbombe ausgesprochen undbetrachtet sie als einen ‘moralischen’ Fortschritt im Bereich der modernenKriegsführung.Was die sowjetische Reaktion anbelangt, so habenwir uns vonAnfangan dafür ausgesprochen, nicht um ‘gegenseitige Zugeständnisse’ zu feilschen, sondernstattdessen zu einem beiderseitigen Verzicht auf die Herstellung der Neutronenwaffezu gelangen. Unsere Haltung war die: Falls der Westen die Neutronenwaffe nichtbaut, so werden wir es auch nicht tun. Die UdSSR schlug sogar vor, einen Vertragdieses Inhalts zu unterzeichnen.

Lassen wir Europa für einen Moment außer Betracht und kommen wir zurück zueinem allgemeineren Thema, zu dem, was die UdSSR die ‘angebliche sowjetischeBedrohung’ nennt. In der letzten Zeit wurde in den USA viel über die sowjetischenZivilschutzprogramme geschrieben und geredet. Es wird behauptet, daß dieseProgramme so umfassend und fortgeschritten sind, daß sie die Sowjetunion in dieLage versetzen, einen

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Atomkrieg zu führen, ohne einen ‘inakzeptablen Schaden’ in Kauf nehmen zu müssen.

Ja, wir haben in der Sowjetunion einen Zivilschutz, genauso wie die Amerikaner,die Holländer oder irgend ein anderes Land. Dennoch glaubt niemand in der UdSSR,daß der Zivilschutz einen Atomkrieg schmerzlos oder akzeptabel machen könnte,daß er die unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und die sonstigen Schädenauf ein annehmbares Maß reduzieren könnte. Glauben Sie, wir hätten einerBegrenzung der Raketen-Abwehrraketen (anti-ballistic missiles, ABM) zugestimmt,wenn wir unsere Hoffnungen auf den Zivilschutz gesetzt hätten? All das wurdeübrigens von einem unserer stellvertretendenGeneralstabschefs den amerikanischenSenatoren, die 1979Moskau besuchten, sehr ausführlich erläutert. Ich habe an diesenGesprächen teilgenommen und erinneremich sehr genau, daß den Senatorenmitgeteiltwurde, die Sowjetunion wende für den Zivilschutz ungefähr den gleichen Anteilihrer Militärausgaben auf wie die USA - nämlich 0,1 Prozent.Tatsächlich sind es die Amerikaner, die dazu neigen, dem Zivilschutz ihre ganze

Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie nicht gar von dieser Idee besessen sind. Daswar in den sechziger Jahren so und ist auch jetzt wieder zu beobachten. Wenn ich inden USA reise, stoße ich oft auf das Schild ‘Atom-Schutzraum’ . In der Sowjetunionbin ich noch keinem einzigen begegnet.Es ist denkbar, daß eine neuerliche Zivilschutzhysterie in den USA, vom

militärischen Standpunkt der Sowjets aus gesehen, vielleicht gar nicht so schlechtist, würden doch diese Programme eine Menge Geld aus dem Pentagon für nutzloseDinge abzweigen.Unterdessen werden weiter Gruselgeschichten über den sowjetischen Zivilschutz

verbreitet. Generalmajor George Keegan tut sich auf diesemGebiet besonders hervor.Vor seiner Pensionierung war er Chef des Nachrichtendienstes der US-Luftwaffeund benutzte diese Stellung, um seine Phantasien und Märchen alsnachrichtendienstliche Erkenntnisse auszugeben.

General Keegan sagte zu mir, Sie seien einer der gefährlichsten Propagandisten,den der Kreml je auf die Amerikaner losgelassen hat.

DaKeegan einer der Hauptsprecher einer Kampagne ist, die gleichermaßen verlogenwie gefährlich ist, würde ich solch eine Einschätzung für schmeichelhaft halten.

Damit sind wir schließlich bei dem Thema der amerikanischen Generalität

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angelangt. Welche Rolle spielt sie nach Ihrer Meinung in der amerikanischen Politik?Amerikanische Generäle sind zweifelsohne ein Kapitel für sich. Zunächst wäre

zu sagen, daß man unter ihnen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten finden kann.An einige von ihnen erinnert man sich bei uns aus der Zeit, als wir Verbündete waren.Jedoch auch nach dem Krieg haben sich nicht wenige amerikanische Generäle undAdmirale durch vernünftige politische Ideen hervorgetan. Während der ganzensiebziger Jahre hatte ich Gelegenheit, an Diskussionen und Seminaren mitamerikanischen Offizieren, wie den Generälen James Gavin, Brent Scowcroft, RoyalAllison, den Admiralen George Miller und Gene LaRocque und anderen mehr,teilzunehmen. Ich habe nur größte Hochachtung vor diesen Leuten, obwohl wirnatürlich in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung sind. Beispielsweise stieß ichzufällig auf die Feststellung von General Richard M. Ellis (Oberkommandierenderdes Strategischen Luftkommandos), in der er sagt: ‘Ich gebe Ihnen zu bedenken, daßunsere größten Hoffnungen für die Zukunft in dem durch SALT ausgehandeltenAbkommen zur Rüstungsbegrenzung und in einem späteren beiderseitigenTruppenabbau zu suchen sind. Die Alternativen zu einem SALT-Übereinkommensind unannehmbar...’27 Ich kann einer solchen Feststellung nur Beifall zollen.Besondere Aufmerksamkeit verdienen nach meiner Ansicht viele der Ideen vonGeneral Maxwell Taylor und einiger anderer.Wenn wir jedoch von den amerikanischen Generälen als Gruppe sprechen und die

politische Rolle der führenden Militärs insgesamt bewerten sollen, dann muß manfeststellen, daß sie eine wichtige Komponente desmilitärisch-industriellenKomplexesder USA darstellen. Meines Erachtens gibt es kaum ein anderes Land in der Welt -die Militärdiktaturen einmal ausgenommen -, in dem die Generäle und Admiraleeine solch wichtige Rolle spielen, wie das in den Vereinigten Staaten der Fall ist, wosie ganz beträchthchen Einfluß auf die öffentliche Meinung, den Kongreß und denRegierungsapparat ausüben. Diese Tradition ist um so erstaunlicher, wenn man inBetracht zieht, daß die Vereinigten Staaten im Verlauf ihrer Geschichte nichtallzuviele größere Kriege geführt haben.Einer der Gründe für diese Situation ist nach meiner Ansicht in der überaus starken

Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik zu suchen, wie sie so typisch fürdie Zeit des Kalten Krieges war. Kein Wunder, daß mit dem Abflauen des KaltenKrieges Ende der sechziger Jahre auch das Vertrauen in das Pentagon und dieGeneralität sank. Es scheint, daß besonders Vietnam in der Öffentlichkeit verstärktZweifel an der Urteilsfähigkeit der Generäle aufkommen ließ, was die Frage von

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Krieg und Frieden und Belange der nationalen Sicherheit betrifft. Die Amerikanerbegannen, sich der alten, allseits bekanntenWeisheit zu erinnern, die besagt, daß derKrieg eine zu emste Angelegenheit ist, als daß man ihn den Generälen überlassenkönnte. Tatsächlich sind die Vereinigten Staaten jedoch in jüngster Zeit in eine neuePhase der Militarisierung eingetreten, und die Situation könnte sich wieder ändern.

Was wäre zu den sowjetischen Generälen zu sagen?

Ich habe große Achtung vor ihnen. Sie wissen, was ein schlimmer Krieg wirklichbedeutet.

Es hat den Anschein, daß nach Ihrer Meinung nicht nur die amerikanischen Generäleeine gefährliche Rolle spielen, sondern auch die zivilen Spezialisten für militärischeBelange, die Sie ‘Elfenbeinturm-Strategen’ genannt haben.

Ich stehe mit dieser Meinung nicht allein. Mir scheint, daß der erste, der vor dieserGefahr gewamt hat, President Eisenhower war, der in der Abschiedsrede am Endeseiner Präsidentschaft darauf einging und dabei auch den militarisch-industriellenKomplex erwähnte. Wir haben es bei diesen Spezialisten mit einem wesentlichenTeil des militärisch-industriellen Komplexes zu tun, mit seinem Gehim sozusagen.Sie haben ohne Zweifel in erheblichemMaße zumWettrüsten beigetragen, wie auchzu der Tatsache, daß sich das militarische Denken in den USA in eine solchgefährliche Richtung entwickelt hat. Dieser Beitrag wird recht treffend charakterisiertvon Herman Kahn, einem dieser Strategen, der sagte: ‘Wir mochten... den Atomkriegvernünftiger machen..,’28

Könnten Sie die bekanntesten dieser Spezialisten nennnen?

Ich könnte schon, aber ich würde das nie tun. Was geschähe, wenn sie bereuen, ihreAnsichten ändem und durch gute Taten wieder alles gutmachen mochten? So etwasist in der Vergangenheit vorgekommen. Darüberhinaus möchte ich nicht auch nochfür sie Reklame machen.

Aber hier würde es sich um Kritik und nicht um Reklame handeln.

Nichtsdestoweniger. In Amerika, so hat man mir gesagt, wird jede öffentlicheErwähnung positiv bewertet - eine Ausnahme bildet die Todesanzeige. Wenn wirvon denMilitärexperten sprechen, so möchte ich auf eine weitere Gruppe verweisen.Seit ca. Ende der sechziger Jahre trat

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in den USA eine einflußreiche Gruppe von Spezialisten für militärische undrüstungstechnische Fragen in Erscheinung, die sich in aller Üffentlichkeit für eineDrosselung des Rüstungswettlaufs und eine Verhütung der Kriegsgefahr aussprach.Wohlgemerkt, sie haben das in ihrer Eigenschaft als Spezialisten gesagt.Das war von besonderer Bedeutung, weil schon seit längerem ein ähnlicher

Standpunkt von Leuten vertreten wurde, die zwar oftmals sehr geachtet waren, jedochüber so gut wie keine Sachkenntnis in Fragen der Militärtechnologie, der Strategiesowie der Militärpolitik verfügten, und denen jene widersprachen, die auf diesenGebieten als die zuverlässigsten Fachleute galten. Es ist nur natürlich, daß dieArgumente, die auf gesundem Menschenverstand beruhten, zusätzlich anGlaubwürdigkeit gewannen, wenn sie von Leuten vorgebracht wurden, denen mannicht vorwerfen konnte, es mangle ihnen an Sachkenntnis, also z. B. von denehemaligen Präsidentenberatern für Wissenschaft und Technologie, GeorgeKistiakowsky und JeromeWiesner, von den Pentagonmitarbeitern Herbert York undIan Lodal, von Herbert Scoville und Arthur Cox vom CIA, von George Rathjensvom ACDA29, oder auch von so hervorragenden Wissenschaftlem wie WolfgangPanofsky, Richard Garwin, Bernard Feld, Paul Doty und anderen.

Einer der prominenten amerikanischen Marineoffiziere, Admiral Elmo R. Zumwaltjr., Befehlshaber der Naval Operation, während der Ära Nixons machte mir klar,daß Admiral Groschkow die sowjetischen Streitkräfte in so kurzer Zeit aufgebauthat, daß das an ein Wunder grenzt. Nehmen Sie etwa die U-Boote. Groschkow hatdavon so viele bauen lassen, daß die sowjetische Flotte inzwischen dreimal so vieleU-Boote hat wie die amerikanische Marine.

Vor kurzem habe ich eine Bewertung dieser Asymmetrie gelesen, die von dembekannten amerikanischen Spezialisten William W. Kaufmann stammt. Er weistdarauf hin, daß diese U-Boote (viele davon sind alt und haben Dieselantrieb) auf vierFlotten aufgeteilt sind, wovon zwei - es muß sich um die Schwarzmeerflotte und dieOstseeflotte handeln - aufgrund der geographischen Situation außerstande sind,amerikanische Nachschub- und Verbindungslinien zu bedrohen. Die anderen beidenFlotten müßten, um diese Linien zu erreichen, enge und gefährliche Gewässerpassieren, wo sie vom Feind erwartet werden können. Und er kommt zu dem Schluß,der Vergleich auf der Basis von Stückzahlen allein bedeute nicht nur ‘eine hoheIrrtumswahrscheinlichkeit, sondern ihm lägen nicht einmal die für solcheBerechnungen erforderlichen Ausgangsdaten zugrunde’.30

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Ich würde hinzufügen wollen, daß es mit Sicherheit so war und so bleibt, daß selbstunter Außerachtlassung der Seestreitkräfte der amerikanischen Verbündeten dieUS-Marine die stärkste Flotte der Welt ist.

Aber nach westlichen Angaben verfügt die UdSSR heute über viel mehr Schiffe alsdie USA. Es heißt, daß Rußland 240 Überwassereinheiten hat, während Amerikaüber 160 verfügt.

Das ist lediglich ein weiteres Zahlenspiel. Kann man einen Flugzeugträger mit einerFregatte vergleichen? Die USA haben 13 Flugzeugträger, während wir keinen haben.Die USA haben ein ausgedehntes Netz vonMarinestützpunkten auf der ganzenWelt,eine Menge Versorgungsschiffe. Wir haben nichts von alledem.Sie können in Amerika Klagen hören, daß die Anzahl der eigenen Schiffe sinke,

während die sowjetischen Schiffe immer zahlreicher würden. Aber die USA bauenriesige atomgetriebene Flugzeugträger, von denen jeder ungefähr soviel kostet wie15 Fregatten, und damn beklagen sie sich händeringend über die ‘sowjetischeÜberlegenheit’ an Überwasserschiffen.

Hat nicht die UdSSR damit begonnen, ebenfalls Flugzeugträger zu bauen?

Das Schiff, an das Sie denken, ist kein Flugzeugträger, sondern einAnti-U-Boot-Kreuzer. Es ist nicht für Schläge gegen die Küste oder Überwasserschiffeausgerüstet. Seine Funktion ist es, unsere Schiffe vor Angriffen aus der Luft, bzw.vor U-Boot-Angriffen zu schützen.

Dennoch sind viele imWesten überzeugt, daß die UdSSR die äußersten Anstrengungenunternommen hat, ihre Marine aufzubauen.

Es steht außer Frage - unsere Marine wurde verstärkt. Aber gibt es irgendeinenbesonderen Grund, warum sie - sagen wir seit dem Ende des letzten Krieges -unverändert hätte bleiben sollen? Auß erdem würde ich nicht irgendwelche bösenAbsichten - von aggressiven ganz zu schweigen - hinter der Verstärkung unsererFlotte suchen.Wir haben sehr ausgedehnte Küsten, die bewacht werden müssen. Das ist um so

dringender geboten, als die Seestreitkräfte, die uns gegenüberstehen, in erster Liniedie amerikanischen Streitkräfte, eindeutig offensiven Charakter haben, umfassen siedoch große Flugzeugträgerformationen, zahlreiche Einheiten der Marineinfanterie,Landungsfahrzeuge etc. In allen diesen Bereichen verfügen die USA über einebeträchtliche

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Überlegenheit über die Sowjetunion, in einigen Bereichen ist diese Überlegenheitgar überwaltigend. Und der Großteil dieser Streitkräfte ist nahe unserer Küstenstationiert.

Die sowjetische Marine mit ihren Unterseebooten, die Admiral Zumwalt erwähnte,muß doch auch ein offensives Potential besitzen. Insbesondere kann die sowjetischeMarine Nachschublinien unterbrechen, die von vitaler Bedeutung für den Westensind.

Da von dem offensiven Potential unsererMarine die Rede ist, d.h. von der Schaffungeiner Hochseeflotte, die in der Lage ist, der US-Marine sowie der Marine derNato-Verbündeten die Kontrolle der Meere streitig zu machen, erinnere ich mich,dabß einige amerikanische Experten eine solche Entwicklung nicht nur für höchstunwahrscheinlich halten, sondern - für den Fall, daß es dazu käme - dies vomamerikanischen Standpunkt aus sogar lebhaft begrüß en würden. ‘Nichts könnte denVereinigten Staaten besser ins Konzept passen, als daß die Russen zu einem derartigenWettlauf angespornt würden’, schreibt z. B.T. Burns, einer dieser Experten, und fährtfort: ‘Davon träumen westliche Marinekommandeure. Dies würde eine Situationschaffen, in der die Sowjet-union große Teile ihres Staatshaushalts für diesenWettlaufausgibt, ohne darauf hoffen zu können, ihn zu gewinnen.’ ‘Falls die Russen angebissenhaben, wie uns unsere Propagandisten glauben machen wollen’, schreibt T. Burnsim weiteren, ‘dann haben wir den Kalten Krieg schon gewonnen.’31

Was die Fähigkeit anbelangt, die Nachschubwege zu unterbrechen, so ist diesekeineswegs immer mit Angriffsabsichten verbunden. Sie kann auch ein Teil derVerteidigung sein. Soweit ich es sehen kann, stellt der Atlantik für die Nato imKriegsfall die Versorgungslinie für den amerikanischen Nachschub nach Europa dar.Ist es aus der Sicht der UdSSR und der Staaten des Warschauer Paktes nicht logisch,gegen solche Pläne Gegenmaß nahmen in petto zu haben? Eine solche Reaktion istnach unserer Auffassung rein defensiv, da der Krieg allenfalls vomWesten entfesseltwerden wird.

Und wie sieht die Situation im Falle des Indischen Ozeans aus?

Man muß sich darüber im klaren sein, daß - was die Verbindungswege anbelangt -dieser Ozean für uns so wichtig ist, wie es der Panamakanal für die VereinigtenStaaten ist, handelt es sich doch dabei um den einzigen zuverlässigen Schiffahrtsweg,der die westlichen und östlichen Teile unseres Landes verbindet. Das ist unserlebenswichtiger Versorgungs-

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weg, und wir sind natürlich sehr darauf bedacht, seine Sicherheit zu gewährleisten.

Aber schafft das nicht Gefahren für den lebenswichtigen Verbindungsweg desWestens,nimmt doch der größte Teil des Öls, den Westeuropa, die USA und Japan aus derRegion des Persischen Golfs importieren, seinen Weg durch den Indischen Ozean?

Ich habe mehr als einmal gehört, daß Besorgnis dieser Art geäußert wurde, aber ichkann immer noch nicht sehen, was man denn nun wirklich befürchtet.Fürchtet man um diesenNachschubweg für den Fall eines allgemeinenAtomkriegs,

dann gehen diese Ängste an der Wirklichkeit vorbei. Bei einem Krieg dieser Artwird dieses Problem so irrelevant werden wie ein unbequemer Schuh an einem bereitsamputierten Bein.Auch kann ich diese Besorgnis nicht verstehen, wenn wir über die Situation zu

Friedenszeiten sprechen. Hat man Angst, daß wir damit beginnen werden, westlicheÖltanker zu versenken? Hat man sich erst einmal entschieden, den großen Kriegauszulösen, so kann man freilich auch das machen. Aber dann wiederum stellt sichdie Frage, aus welchem Grund man sich imWesten noch um diese Nachschubliniensorgen sollte?

Warum stimmen Sie dem nicht zu, daß eine ‘verstärkte Präsenz’ der US-Marine dieSicherheit der westlichen Versorgungswege erhöhen wird, wenn Sie andererseitsdarauf beharren, daß es notwendig sei, für eine sowjetische Flottenpräsenz imIndischen Ozean zu sorgen, da hier wichtige Routen der Sowjetunion verlaufen?

Was den ersten Teil ihrer Frage betrifft, so glaube ich ganz generell, daß das Problemder Ölversorgung nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Eines, das istnicht zu leugnen, kann mit Hilfe von militärischer Gewalt erreicht werden - nämlichdaß Ölfelder und Pipelines bombardiert, in Brand gesetzt und zerstört werden. Dafürhat erst vor kurzem der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak den Beweis geliefert.Aber wird dadurch Öl produziert? Nein, das Ziel, eine stetige Ölversorgung aus demNahen Osten und den Ländern des Persischen Golfs sicherzustellen, kann nur erreichtwerden, wenn in der Region für Frieden gesorgt wird, wenn auf eine Einmischungin die inneren Angelegenheiten dieser Länder verzichtet wird und gerechte undgleichberechtigte Beziehungen zu ihnen entwickelt werden.Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so möchte ich das oben Gesagte nicht

als Rechtfertigung für irgendeine fremde militärische Präsenz

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(einschließ lich sowjetischer Präsenz) im Indischen Ozean verstanden wissen. DieUdSSR tritt für die strikteste Beschränkung einer solchen Präsenz ein. Wir nahmenentsprechende Verhandlungen über diese Fragen mit den Vereinigten Staaten auf,Verhandlungen, die später auf Betreiben der amerikanischen Seite eingefrorenwurden.Im Dezember 1980 hat Leonid Breschnew neue, spezifische Vorschläge zur

Entmilitärisierung der Region am Persischen Golf unterbreitet, sowie Vorschläge,die die Abschaffung ausländischer Militärbasen, die Nichtstationierung nuklearerWaffen und die Nichtbeeinträchtigung des normalen Verkehrs auf den Handels- undallgemeinen Verbindungsrouten in diesem Gebiet vorsehen. Wäre der Westentatsächlich so sehr um die Sicherheit der Ölversorgung und der Schiffahrtswegebesorgt gewesen, so hätte er diese Vorschläge besser aufgenommen.Die Sowjetunion hat auch andere Vorschläge zur Beschränkung des Wettrüstens

auf den Meeren vorgelegt. 1971 schlug Leonid Breschnew vor, den ständigenAufenthalt von Seestreitkräften außerhalb der eigenen territorialen Gewässer zuuntersagen.Die Seestreitkräfte sind keine Ausnahme. Das Wettrüsten muß überall beendet

werden. Wenn der Westen bezweifelt, daß die Sowjetunion ein zuverlässiger Partnerist, wenn es gilt, solche Anstrengungen zu unternehmen, sollte er die sowjetischenAbsichten auf die Probe stellen, anstatt das Wettrüsten voranzutreiben.

Niemand bestreitet, daß die Sowjetunion im Laufe ihrer Geschichte zahlreicheAbrüstungsvorschläge vorgelegt hat. Heutzutage sind jedoch viele in den VereinigtenStaaten und imWesten ganz allgemein der Überzeugung, daß die militärische Stärkefür die UdSSR die wichtigste, wenn nicht gar die ausschließliche Quelle ist, der sieMacht und internationalen Einfluß verdankt, ja sogar ihren Status als Supermacht.

Sie denken dabei an die ‘Überzeugung’, daß die Sowjetunion, all ihren Vorschlägenzum Trotz, nicht an Abrüstung interessiert ist, da ihr Einfluß hauptsächlich aufmilitärischer Stärke beruht. Aber diese ‘Überzeugung’ ist absolut falsch. Die UdSSRist die zweitgrößte (nur noch von den USA übertroffene)Wirtschaftsmacht derWelt.Eine wichtige Quelle unserer Stärke ist der ausgeprägte Zusammenhalt in dersowjetischen Gesellschaft, ihre Fähigkeit, das gesamte Potential für die Lösung derentscheidendsten Probleme aufzubieten. Es erweist sich, daß unser Beispiel undunsere Ideen auß erhalb unseres Landes bedeutenden Einfluß ausüben. Tatsächlichbereitet das den westlichen kapitalistischen Regierungen ebensoviel Sorge wie diesowjetische Militärmacht.Auf jeden Fall hat der Westen sehr wohl die Möglichkeit, sich der sowje-

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tischen Absichten zu vergewissern, wenn er nur eine konstruktive Haltung zu denzahlreichen in Gang befindlichen Verhandlungen zur Rüstungskontrolle einnimmt.

Wie beurteilen Sie den Stand dieser Verhandlungen?

Alle Gespräche, die vor 1979 begonnen hatten, sind praktisch auf Eis gelegt, waseine unvermeidliche Konsequenz, ja sogar ein grundlegender Bestandteil des jüngstenpolitischen Kurswechsel ist, den die Vereinigten Staaten vollzogen haben.

Wiederum hat es den Anschein, Sie würden den Vereinigten Staaten die Schuld geben.Ich bin weit davon entfernt, Washington von dieser Schuld zu entbinden, aber warumübernimmt die Sowjetunion nicht auch die Verantwortung - wenigstens zum Teil?Und schließlich mag es auch noch gewisse Schwierigkeiten geben, die mit derkomplexen Natur der anstehenden Probleme zusammenhängen.

Kein Zweifel, solche Schwierigkeiten gibt es. Manchmal hemmen sie Verhandlungenund können sogar zusätzliche Spannungen schaffen. Ich denke dabei an dieSchwierigkeiten, die aus der Kompliziertheit der modernen Technik erwachsen, andie Schwierigkeiten der Überwachung von Abmachungen usw., ebenso wie anSchwierigkeiten, die sich aus der Ungleichheit der geographischen und politischenSituation ergeben, und nicht zuletzt denke ich hier an den Mangel an Vertrauen undan den Argwohn - Ergebnis einer langen Phase der Spannungen. Dem sollte manhinzufügen, daß bei Verhandlungen niemand vor gewissen Fehlern bei der Beurteilungder Position der Gegenseite gefeit ist, ebensowenig wie vor falschen taktischenSchritten etc. Hier bin ich bereit zuzugeben, daß wir manches hätten besser undeffektiver machen kônnen. Alle diese Schwierigkeiten sollten nicht unterschätztwerden, sie sind aber nicht der springende Punkt.Das Entscheidende ist, daß die USA und die Nato, nach allem, was wir beobachten

kônnen, immer noch auf militärischeÜberlegenheit aus sind, und daß dieses Bemühenummilitärische Überlegenheit in jüngster Zeit dasWettrüsten beschleunigt hat. DieseArt von Politik läßt nicht viel Raum für erfolgreiche Verhandlungen undÜbereinkünfte zur Rüstungsbegrenzung.Muß man der Sowjetunion die Schuld geben für all das? Gewiß muß man ihr die

Schuld geben. Die Schuld allein schon für die Tatsache, daß es sie gibt. Und für ihrenWunsch, als unabhängige Nation weiterzubestehen. Dafür, daß sie sich nicht mit deramerikanischen Überlegenheit abfindet

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und auf einem Gleichgewicht besteht, auf einer Gleichberechtigung mit den USA.Dafür, daß sie nicht willens ist, sich der überlegenen Militârmacht der VereinigtenStaaten und anderer westlicher Machte auf Gedeih und Verderb auszuliefern, unddafür, daß sie nicht willens ist, einseitige Zugeständnisse zu machen. Nach westlicherAuffassung mag diese Einstellung ein schwerer Fehler sein, aber ich bezweifle, daßman uns dazu bekehren könnte, sie aufzugeben.

Diese Ansicht hört sich übertrieben kategorisch und selbstgerecht an. Vielleichtsollten wir wenigstens die wichtigsten Verhandlungen konkreter analysieren.

Warum nicht? Lassen Sie uns mit den SALT-Verhandlungen beginnen. DasÜbereinkommenwurde im Juni 1979 unterzeichnet und bis heute von denUSA nichtratifiziert. Einige werden dafür bestimmt Moskau die Schuld geben, d.h. denEreignissen in Afghanistan.Aber man sollte sich daran erinnern, daß, der vorherrschenden Meinung in den

USA zufolge, die Ratifizierung noch 1979, also bevor der Wahlkampf voll in Gangkam, abgeschlossen werden sollte. Wenn das nicht gescheheh ist, so liegt die Schuldeindeutig bei der US-Regierung. Zuerst brach sie die Pseudo-Krise wegenKuba vomZaun, und dann vergaß sie wegen der Krise in den Beziehungen zwischen den USAund dem Iran SALT ganz einfach. Deshalb bezweifle ich ernsthaft, daß der VertragimVerlauf des Jahres 1980 ratifiziert worden wäre - selbst wenn nichts in Afghanistangeschehen wäre.Aber das ist nur ein Aspekt der ganzen Geschichte.Die USA sind auch dafür verantwortlich, daß die SALT II-Verhandlungen sieben

Jahre aufgeschoben wurden. Hätte es diese Verzögerung nicht gegeben, so könntenwir heute vielleicht über SALT III oder gar SALT IV diskutieren.Was die aktuelle Situation angeht, der wir uns gegenübersehen, so bin ich der

festen Überzeugung, daß bei der Ratifizierung imKongreß weniger Komplikationenaufgetreten wßren, wßre die Politik der Carter-Regierung nicht so widersprüchlichund zweideutig gewesen. Noch 1977 konnte kein Mensch diese Schwierigkeitenahnen.

Nun, jetzt haben Sie es in den USA mit der Reagan-Administration zu tun. Wir habendavon schon kurz gesprochen - es ergibt sich nun die Frage, welche Aussichtenbestehen jetzt Ihrer Meinung nach für SALT?

Ronald Reagan war zu Beginn seines Wahlkampfes ein ausgesprochener Gegnervon SALT. Gegen Ende des Wahlkampfes nahm er eine andere

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Haltung ein und befürwortete im Prinzip SALT-Verhandlungen, blieb aber bei seinernegativen Einstellung gegenüber dem SALT II-Vertrag. Zumindest einige seinerBerater vollzogen nicht einmal solch einen begrenzten Gesinnungswandel. DieAussichten sind also nicht günstig. Insbesondere, wennman die Tatsache in Betrachtzieht, daß die neue Administration verspricht, das Wettrüsten sogar noch stärker zubeschleunigen, als das Carter und seine Regierung zuletzt schon taten.

Trifft es zu, daß die Sowjetunion einern Vorschlag, den SALT II-Vertrag neuauszuhandeln, nicht zustimmen würde?

Ja, das ist unsere Position, die bereits offiziell zum Ausdruck gebracht wurde. Unddie Gründe dafür liegen auf der Hand. Wir glauben nicht, daß es angebracht ist,wichtige Verträge mit jedem neuen amerikanischen Präsidenten noch einmalauszuhandeln. Kontinuität ist ein äußerst wichtiges Prinzip der Außenpolitik.Ohne Kontinuität würde es meiner Meinung nach keinen bedeutenden Vertrag

geben. Wir sind schlichtweg nicht in der Lage, derartige Verträge innerhalb der vierJahre, für die ein US-Präsident gewählt wird, auszuhandeln und zu ratifizieren.Deshalb erscheint der Gedanke von Neuverhandlungen auch vom praktischenStandpunkt aus nicht sehr vielversprechend.Selbstverständlich spreche ich hier von einer Neuverhandlung des SALT II-Vertrags

und nicht von irgendwelchen anderen Verhandlungen, bei denen dieRüstungsbegrenzung in einem breiten Rahmen diskutiert werden kann.

Manche Amerikaner haben vorgeschlagen, man solle auf SALT II ganz verzichten,und beide Seiten sollten gleich zur nächsten Stufe, zu SALT III übergehen.

Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unmöglich. Ich persönlich kannmir keinenSALT III-Vertrag vorstellen, der nicht aufbaut auf der bei SALT II erzieltenÜbereinkunft zur Anzahl der Waffen, zur Begrenzung sowohl hinsichtlich derQuantität wie auch der Qualität, zu den Zählregeln und zu vielen anderen Vorschriften.

Wie man hört, schlagen die Amerikaner vor, den SALT II-Vertrag so zu behandeln,als wäre er ratifiziert. Wäre die Sowjetunion damit einverstanden?

Soweit mir bekannt ist, ist uns kein derartiger Vorschlag von offizieller

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Seite zugegangen, und die Haltung der neuen Administration zu diesem Punkt istkeineswegs klar. Viele andere Dinge sind ebenfalls unklar. Bedeutet dieser Vorschlageinen Ersatz für eine Übereinkunft oder eine zeitlich begrenzte Maßnahme, von derausgegangen wird, bis der Vertrag ratifiziert wird? Und welche Garanden bestehen,daß es überhaupt zu einer Ratifizierung kommen wird? Und wann schließlich wirdsie stattfinden? Wann wird sie stattfinden? Diesen Fragen kommt entscheidendeBedeutung zu.

In den USA ist die Meinung weitverbreitet, man habe bei SALT II selbst mehrZugestßndnisse gemacht als die Sowjetunion.

Sie ist nur unter den Gegnern von SALT II weitverbreitet.

Wie würden Sie die tatsächliche Situation beschreiben?

Wir glauben, daß der Vertrag auf einem Ausgleich der Zugeständnisse beider Seitenbasiert. Der Vertrag wirkt sich auf die strategischen Streitkräfte und Programme derUSA nur in begrenztemMaße aus.Was die Sowjetunion anbelangt, so wird sie durchden Vertrag verpflichtet, mehr als 250 strategische Abschußvorrichtungen abzubauen,das entspricht zehn Prozent ihres Arsenals, und sie muß weiterhin zwei Programmefür Interkontinentalraketen in fortgeschrittenem Entwicklungsstadium einstellen,darunter die SS 16.

Wenn die amerikanischen Programme von dem Vertrag nur wenig berührt werden,sollte dann nicht daraus folgen, daß die Sowjets weniger an dem Vertrag interessiertsind als die USA?

Wir fassen die SALT-Gespräche nicht als eine Art Spiel auf, bei dem einer der Partnerüber den anderen siegen muß. Wenn auch SALT II der UdSSR erheblicheEinschränkungen auferlegt, so glauben wir dennoch, daß im Rahmen von SALT IIsowohl unsere Sicherheit wie auch die der USA gestärkt werden wird. Und zwarnicht nur deshalb, weil wir im Rahmen dieses Vertrags imstande sein werden, diefür die Gewährleistung unserer Sicherheit erforderlichen Streitkräfte zu unterhalten,d.h. eine zuverlässige Abschreckung zu bewahren und das allgemeine strategischeGleichgewicht mit den USA aufrechtzuerhalten.Sehr wichtig ist die Tatsache, daß das SALT II-Abkommen zur Stärkung der

strategischen Stabilität und Berechenbarkeit beiträgt und die Aussicht auf weitere,gewichtige, quantitative und qualitative Begrenzungen erhöht. Es gibt auch einenwichtigen politischen Nutzen im Zusammen-

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hang mit SALT II, nämlich - so hofften wir jedenfalls - eine Verbesserung dersowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Und schließlich gibt es natürlich noch denwirtschaftlichenNutzen, der entsteht, wenn ein Teil der Ausgaben für die strategischenStreitkräfte entfällt.Es wird oft vergessen, worum es bei SALT überhaupt geht. Die Möglichkeit, die

strategischen Streitkräfte und Programme zu reduzieren oder zu begrenzen, ohne dieeigene Sicherheit zu gefährden, ist nicht ein Zugeständnis, sondern ein Vorteil, istein Gewinn und nicht ein Verlust.

Präsident Reagan sagte mehr als einmal, daß er nur für den Fall, daß die Sowjetunionihre Streitkräfte aus Afghanistan zurückziehen und ihre Politik in Afrika ändernwürde, bereit wäre, die SALT-Gespräche wieder aufzunehmen. Wenn die SowjetunionSALT für so wichtig hält, warum sollte sie nicht solchen Vorschlägen zustimmen?

Sie klingen mehr nach Forderungen als nach Vorschlägen. Und wir würden unssolchen Forderungen nicht beugen. Ich sage es noch einmal: Wir betrachten SALTnicht als eine Gunst, die der Sowjetunion erwiesen wird, nicht als eine Art Bonusfür Wohlverhalten. Die neue US-Führung muß sich wirklich entscheiden, ob sieselbst Rüstungskontrolle will und Verhandlungen wünscht, die darauf abzielen, dasWettrüsten einzuschränken. Sollte dies bejaht werden, so werden wir bei diesemUnterfangen echte Partner sein. Aber dies ausschließlich auf der Basis derGleichberechtigung. Die USA sollten solche Änderungen unserer Politik nicht alsVorbedingung für Verhandlungen und Abkommen fordern.Wir werden ebensowenigsolche Forderungen an sie stellen, obgleich uns vieles an der amerikanischen Politikmißfällt. Nebenbei gesagt, wenn es uns möglich wäre, unsere Politik so drastisch zuändern, daß wir die USA voll zufriedenstellen würde, und es den USAmöglich ware,die Sowjetunion gleichermaßen zufriedenzustellen, bestünde kaum mehr eineNotwendigkeit für SALT, da das Wettrüsten, die Angst voreinander und diegegenseitigen Verdächtigungen längst vor dem Erreichen eines solchen, für beideSeiten befriedigenden Zustandes gegenstandslos geworden wären.Sollte sich Washington jedoch dazu entscheiden, den SALT-Prozeß abzubrechen

und sich von den Rüstungskontrollgesprächen als solchen zurückzuziehen, so solltees auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Es wßre dies eine sehr bedauerlicheEntscheidung, aber wir könnten damit leben, genauso wie wir es in den fünfzigerund sechziger Jahren getan haben.

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Wie steht es mit den Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige Abrüstung undTruppenverminderung in Europa?

Diese befinden sich schon seit langem in einer Sackgasse. Um über den toten Punkthinwegzukommen, unterbreitete die Sowjetunion schon im Juni 1978 Vorschläge,die der westlichen Positionweit entgegenkamen. Die sowjetischenVorschlägewurdenselbst von westlichen Unterhändlern als höchst konstruktiv gepriesen. Später nahmenwir eine einseitige Verringerung unserer Streitkräfte in Europa um 1 000 Panzer und20 000 Mann vor. Im Sommer 1980 unternahmen die sozialistischen Staaten eineneue Initiative und schlugen vor, daß die Sowjetunion ihre Streitkräfte um weitere20 000 Mann reduzieren sollte, vorausgesetzt, die USA würden ihre Truppen um 13000 Mann reduzieren. Dann unternahmen die Staaten des Warschauer Paktes imHerbst 1980 einige weitere Schritte in dieser Richtung. Doch die Nato reagierte nichtdarauf, was nur bedeuten kann, daß ihr Ziel nicht die Rüstungskontrolle ist, ganz zuschweigen von Abrüstung, sondern eine militärische Aufrüstung, die in erster Linieauf das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ als Rechtfertigung angewiesen ist.

Es gibt voneinander abweichende Angaben über die Truppenstärke des WarschauerPaktes. Die Nato schatzt, daß Sie ca. 150 000 Mann mehr haben, als Sie selbstangeben. Wie kann überhaupt eine Übereinkunft zustande kommen, wenn eshinsichtlich der Zahlen solche Unterschiede gibt?

Erstens, es gibt keine andere Möglichkeit als die, die jeweiligen Zahlen der anderenSeite zu akzeptieren. Die Nato forderte seit 1973 die Bekanntgabe unserer Zahlen,sah sie doch darin eine Voraussetzung für eine Übereinkunft. Was uns anbelangt, soakzeptieren wir die Zahlen, die uns die Nato genannt hat.Generell läßt sich sagen, daß dieses Spiel mit Zahlen nichts anderes als ein Vorwand

ist, um die Gespräche zu verzögern. Schätzungen zum militärischen Gleichgewichtwaren schon immer eine politischeWaffe. 1977 und 1978, zu einer Zeit, als die NatoUnterstützung für ihr langfristiges Aufrüstungsprogramm suchte, gab es viel Lärmwegen einer angeblichen sowjetischen Überlegenheit in Europa im Bereich derkonventionellen Streitkräfte. Jetzt, da das Programm angenommen worden ist undman sich ganz darauf konzentriert, Unterstützung für die eurostrategischen Raketenzu finden, sagt die Nato, daß es ein Gleichgewicht bei den konventionellen Waffengibt, aber eine sowjetische Überlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckenraketen.

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Wie würden Sie den Stand der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über eineBegrenzung der militärischen Präsenz im Indischen Ozean charakterisieren?

Ein totaler Stillstand trotz unserer neuen Vorschläge, die ich bereits erwähnt habe.Und es liegt eine gewisse Logik in solch einer Position. Über welche Begrenzungenkann auch diskutiert werden, wenn die Vereinigten Staaten kaum an etwas anderesdenken, als ihre militarischen Aktivitäten in dieser Region zu verstärken?Das Gleiche trifft für die Gespräche über einen allgemeinen Teststoppvertrag zu.

Lange Zeit haben unsere westlichen Verhandlungspartner die sowjetischeWeigerung,auf Nuklearexplosionen zu friedlichen Zwecken zu verzichten, als das Hindernisbezeichnet, das einemFortschritt der Gespräche imWege stünde. Schließlich stimmtenwir bezüglich solcher Explosionen einem Moratorium zu. Dann begann der Westenim Bereich der Kontrolle nach Hindernissen Ausschau zu halten. Aber auch hierwurde wiederum ein für beide Seiten akzeptabler Beschluß gefunden. (Übrigens ließdas Abkommen darauf hoffen, daß manche wichtigen Neuerungen in die bestehendeKontrollpraxis Eingang findenwürden.) DasAbkommen steht kurz vor demAbschluß.Aber wie sollte es unterzeichnet werden, da doch die Vereinigten Staaten (in diesemFall zusammen mit Großbritannien) einen derartigen Kurswechsel in ihrer Politikvollzogen?Mit anderen Worten, der Stand dieser ganzen Gespräche ist alles andere als

erfreulich, um es milde auszudrücken. Ich habe das Dokument des NationalenSicherheitsrates NSC-68 schon erwähnt, das zur Zeit der Präsidentschaft von Trumanausgearbeitet wurde, aber es ist es wert, noch einmal einen Abschnitt darausanzuführen. Fehlt der Hintergrund einer amerikanischenmilitärischen Überlegenheit,so sagen die Autoren des Dokuments, könnten Gespräche mit der UdSSR ‘... nureine Taktik sein...wünschenswert, um öffentliche Unterstüzung zu gewinnen für...die militärische Aufrüstung.’ Ich fürchte, daß das auch des Pudels Kern ist, wenn esum die gegenwärtige amerikanische Verhandlungsposition geht.Und noch ein Gesichtspunkt wäre hinzuzufügen. Während ziemlich langer Zeit

hielten wir das schleppende Hinterherhinken der militärischen Entspannung hinterder politischen für das Hauptproblem und wiesen darauf hin, daß ein Stillstand beider Rüstungskontrolle früher oder später die politische Entspannung beendenwürde.Nun hat sich, nachmeiner Ansicht, die Situation etwas gewandelt: Es gibt eine Reihevon ausgehandeltenRüstungskontrollvereinbarungen, die aufgrund erhöhter politischerSpannungen nicht in Kraft gesetzt werden können. Das ist der

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Grund, warum ein Abbau der Spannungen und eine Verbesserang der gesamtenpolitischen Situation zur vordringlichsten Aufgabe wird.

Der allgemeine Teststoppvertrag steht in direktem Zusammenhang mit dem Problemder Weiterverbreitung der Kernwaffen. Besonders in diesem Punkt stimmen diesowjetischen und die amerikanischen Interessen weitgehend überein. Das Problemist unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung einer nuklearen Katastrophe vonentscheidender Bedeutung. Vor einiger Zeit begegnete ich John A. Phillips, einemStudenten der Princeton University, der in seinem Labor tatsächlich eine richtigeNuklearbombe bastelte. Die Filmindustrie war gerade dabei, einen Film über seinAbenteuer vorzubereiten.

Gerade diese Episode bekundet auf eindrucksvolle Weise, wie real die Gefahr derWeiterverbreitung von Kernwaffen geworden ist. Sie würde sogar noch viel stärkeranwachsen, sollte das Klima des Kalten Krieges erneut ausbrechen. Sie haben ganzund gar recht, wenn Sie feststellen, daß die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffensowohl den amerikanischen wie den sowjetischen Interessen entspricht. Ich darfhinzufügen - den Interessen aller anderen Länder ebenfalls.Aber das gilt auch für das Problem der Rüstungsbeschränkung und der Abrüstung

ganz allgemein. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller. Erwartungen, daß gewissesinnvolle und langfristige Vorteile aus dem Wettrüsten erwachsen könnten, sindreine Illusionen. Möglicherweise hätten sich die Amerikaner sicherer gefühlt, wennes keine Mehrfachsprengköpfe gegeben hätte. Ich habe den starken Verdacht, daßsie über kurz oder lang das gleiche von den Marschflugkörpern und demMX-Raketensystem denken werden. Unglücklicherweise ist es unendlich schwer,die Geister - hat man sie erst einmal gerafen - wieder los zu werden.

Sie haben vorher schon das Problem der Kontrolle erwähnt. Es wurde in den USAim Zusammenhangmit dem SALT II-Vertrag leidenschaftlich diskutiert. Offensichtlichhaben einige Senatoren wegen der Unzuverlässigkeit der Überwachungsmethodengegen den Vertrag Einspruch erhoben. Warum haben die Sowjets nichtzuverlassigeren Maßnahmen, u.a. den Inspektionen an Ort und Stelle, zugestimmt?

Mir scheint, daß zu der Zeit, als der Vertrag in den USA aufrichtig und ernsthaftdiskutiert wurde, die Zweifel bezüglich der Überwachungweitgehend zerstreut waren.Es hatte sich erwiesen, daß die im Vertrag eingegangenen Verpflichtungen mühelosüberwacht werden konnten.

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Eines der Probleme hatte seinen Ursprung darin, daß die Administration es veräumte,den Senatoren vollständig und erschôpfend darzulegen, was die Vereinigten Staatendank bestehender Überwachungseinrichtungen und nachrichtendienstlicher Mitteltatsächlich über unsere Streitkräfte wissen. Dies wurde deshalb versäumt, weil solcheAngelegenheiten in denVereinigten Staaten als eines der bestgehütetstenGeheimnissebetrachtet werden.Dennoch glaube ich, daß aufgrund dieser Diskussionen manche Senatoren

wenigstens eineWahrheit begriffen haben, die nichts mit Geheimnissen zu tun hatte:nämlich die, daß ohne das SALT-Abkommen die Überwachung eher schwierigerdenn leichter sein wird. Das gleiche gilt für die Verletzbarkeit der zu Landstationierten Raketen und für andere Probleme, die von den SALT-Gegnernvorgebracht wurden, um ihre Position zu erhärten. Alle diese Probleme werden ohneAbkommen akuter und nicht geringer. Um auf ihre Frage zurückzukommen, môchteich daran erinnern, daß das Übereinkommen ein ganzes System vonÜberwachungsmaßnahmen vorsieht: spezielle Regeln hinsichtlich der Zählung, dasVerbot, auf die technischen Überwachungseinrichtungen der anderen Seite störendeinzuwirken, die Verpflichtung, gewisse telemetrische Daten nicht zu verheimlichen.Der Vertrag sieht auch eine spezielle Kommission vor, die Streitfragen undBeschwerden behandelt. Ohne all das wäre die Situation weitaus schlimmer.

Dennoch, warum widersetzt sich die Sowjetunion Inspektionen an Ort und Stelle?

Wir gehen von der Tatsache aus, daß Mittel und Umfang der Überwachung zumCharakter und Ausmaß der Rüstungsbegrenzung, die durch dieses oder jenesAbkommen eingeführt wird, im richtigen Verhältnis stehen müssen. Die Einhaltungeines Abkommens sollte Ziel der Überwachung sein und nicht die Befriedigung derNeugierde oder die Beschwichtigung generellen Mißtrauens. Schließlich haben wires mit der Überwachung eines Abkommens zu tun und nicht mit der Erleichterungder nachrichtendienstlichen Tätigkeit der anderen Seite.Noch ein weiterer wichtiger Punkt. Je weiter die Rüstungskontrolle ausgedehnt

wird, desto komplizierter werden die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, jekomplexer die Grenzen sind, desto umfassender muß die Aufgabe der Überwachungsein. Beurteilt man, ob die Überwachung ausreichend ist, so darf man nicht nur andie, rein technisch gesehen, möglichen Vertragsverletzungen denken, sondern manmuß auch daran denken, ob eine solche Verletzung für die Seite von Nutzen wäre,die versucht zu betrügen. Man kann es versuchen und bei Kleinigkeiten be-

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trügen, aber das wird kaum etwas einbringen, außer daß man sich der großen Gefahraussetzt, dabei erwischt zu werden und dadurch einen internationalen Skandalauszulösen. Eine Vertragsverletzung, die groß genug wäre, um auf das militärischeGleichgewicht Einfluß zu nehmen, könnte unmöglich verheimlicht werden.Die Rüstungsbegrenzungen, die der SALT II-Vertrag einführt, sind so beschaffen,

daß sie durch technische Vorrichtungen vom eigenen Territorium aus überwachtwerden können. Das kann bei anderen Verträgen anders sein. Im Fall desTeststoppvertrags z. B. wurde darüber Übereinkunft erzielt, daßman die Einrichtungenauf eigenem Territorium ergänzen muß durch sogenannte ‘black boxes’, die imjeweils anderen Land stationiert sind. Das kann bereits als eine Art von Inspektionan Ort und Stelle betrachtet werden. Sollten wir einmal ein Abkommen über eineallgemeine und umfassendeAbrüstung erzielen, dannwerdenwir, wie die sowjetischeRegierung erklärt hat, jeglicher Art undMethode der Kontrolle zustimmen, was ohneZweifel auch die Inspektion an Ort und Stelle mit einschließt.Ich sollte noch hinzufügen, daß nach Auffassung von Spezialisten Inspektionen

an Ort und Stelle weit davon entfernt sind, eine ideale Überwachungsmethode zubieten. In vielen Fällen (besonders wenn der Zeitfaktor überragende Bedeutung hat)erledigen technische Vorrichtungen die Aufgaben besser. Und schließlich gibt esgewisse Dinge, die nicht einmal mit Hilfe der Inspektionen an Ort und Stelleüberwacht werden können.

Aber warum gibt es dann soviel Streit und soviele Debatten über die Inspektionenan Ort und Stelle?

Deshalb, weil dieses Thema so leicht von jenen manipuliert werden kann, diebeabsichtigen, den Fortschritt bei der Rüstungskontrolle zu vereiteln. Das ganzeSpiel besteht darin, Forderungen zu stellen, von denen man sicher weiß, daß sie fürdie andere Seite unannehmbar sind. Das erlaubt es, zwei Fliegen mit einer Klappezu schlagen: Dadurch wird der Verdacht auf den Partner gelenkt und die eigenemangelnde Bereitschaft, zu einemAbkommen zu gelangen, verschleiert. Inspektionenan Ort und Stelle sind wahrscheinlich ein einzigartiges Thema im Bereich derRüstungskontrolle, insofern, als es sich in denKöpfen leichtgläubiger Leute besondersfest einprägt.Man könnte sie die spießbürgerliche Seite der Rüstungskontrolle nennen.

Es ist weithin bekannt, daß die Sowjetunion ihre Geheimnisse äußerst sorgfältigbewacht, und im Westen halten wir sie im allgemeinen für über-

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trieben verschwiegen. Das verleiht nicht nur jenen Geschichten Glaubwürdigkeit,die von einer vonWahnvorstellungen geprägten Haltung der Sowjetunion gegenüberdem Ausland berichten, sondern fördert auch den Argwohn gegenüber ihrenAbsichten, Zielen usw.

Ich muß noch einmal betonen, daß diese Annahmen zum großen Teil das Ergebnispolitischer Spekulationen und hinterhältiger Propaganda sind. Diese Propagandaschuf den Mythos von der ‘offenen’ westlichen Gesellschaft im Gegensatz zuunserer‘geschlossenen’ und hält ihn auch weiterhin am Leben. In Wirklichkeit sindwir‘offener’ und ist derWesten einschließlich der USA ‘geschlossener’, als gemeinhinangenommen wird.Viele Dinge werden in den Vereinigten Staaten geheimgehalten. Geheimgehalten

vor uns, vor dem eigenen Volk und manchmal vor dem eigenen Kongreß. Versuche,hinter diese Geheimnisse zu kommen oder sie zu enthüllen, werden bestraft, wobeidie Strafen in letzter Zeit wesentlich härter geworden sind.Andererseits gibt es wirklich Unterschiede zwischen den sowjetischen und

amerikanischen Praktiken in diesem Bereich. Ich will gar nicht verheimlichen, daßunsere in vielen Fällen strenger sind.Dafür gibt es einen historischen Grund. In einem Land, das das Ziel zahlreicher

militärischer Invasionen war, das während einer langen Zeit praktisch imBelagerungszustand gelebt hat, ist es ganz natürlich, daß die Menschen weitausvorsichtiger sind, wenn sie abwägen, was bekanntgegeben werden darf und wasbesser geheimgehalten werden sollte.Traditionelle Verhaltensmuster währen nicht ewig, sie sind Veränderungen

unterworfen. Das trifft auch voll und ganz für die Fragen zu, die wir hier erörtern.Entspannung, wachsendes Vertrauen, eine Ausweitung der Kontakte und dieEinbeziehung weiterer Probleme in die Verhandlungen - all das bewirkt eineVeränderung der Gepflogenheiten. Zukünftige Ereignisse werden in dieser Hinsichteine sehr wichtige Rolle spielen.

In derNewYorker Timeswar kürzlich aufder Kommentarseite zu lesen: ‘Den Sowjetsvertrauen? Niemals. Warum sollten wir ihnen schließlich mehr vertrauen als unsereneigenen Generälen und Politikern?’

Nun, es bleibt den Amerikanern selbst überlassen, ob sie ihren eigenen Generälenund Politikern vertrauen oder nicht, wie es ihnen auch überlassen bleibt, ob sie denSowjets Vertrauen. Wir erwarten von den Amerikanern nicht, daß sie uns auf unserbloßes Wort hin vertrauen, obgleich viele westliche Experten bezeugen, daß wir inder Tat eine sehr gute Bi-

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lanz vorzuweisen haben, was die Erfüllung unserer Vertragsverpflichtungen anbelangt.Nichts von alledem, was bislang im Rahmen der sowjetisch-amerikanischen

Beziehungen untemommen wurde, basierte auf blindemVertrauen. Alle Abkommenwaren genauestens überprüfbar. Die Beziehungen haben sich vor aller Augenentwickelt.Andererseits ist übermäßiges Mißtrauen ebenfalls schädlich. Es tut mir leid, das

sagen zu müssen - aber wir sind solchemMißtrauen nur allzu oft begegnet.Wir sehendarin jedoch ein Erbe schlimmer Zeiten, das großenteils nur durch die Entwicklungder Beziehungen, der Kontakte und der Zusammenarbeit überwunden werden kann.

Noch eine Frage zum Abschluß unserer Erörterung des Wettrüstens und derRüstungskontrolle - was ist in diesem Bereich in naher Zukunft zu erwarten?

Ich bin überzeugt, daß Rüstungskontrolle - ganz abgesehen von ihremwirtschaftlichenund politischen Nutzen - unerläßlich ist, will man sichere Gewähr haben, daß es nichtzum Nuklearkrieg kommt. Ich würde es vorziehen, würden Rüstungskontrolle undAbrüstung infolge desWeitblicks und der vemünftigen Entscheidungen der PolitikerFortschritte machen. Wenn beide Seiten die Gefahren des Wettrüstens und den ausder Abrüstung erwachsenden Nutzen erkennen, so eröffnet dies den kürzesten undsichersten Weg in eine friedlichere Zukunft.Ein anderer Weg wäre, wieder auf den Abgrund zuzugehen. Aus der Geschichte

kennen wir Zeiten, in denen die Vernunft erst die Oberhand gewann, nachdem dieUnvemunft eine Zeitlang herrschen und sich unverhüllt zeigen konnte. Ganzoffensichtlich ist solch eine Situation unendlich gefährlicher.Zu diesem Zeitpunkt würde ich es mir nicht zutrauen, eine eindeutige Vorhersage

zu treffen. Hoffentlich werden wir den ersten Weg beschreiten. Dennoch kann maneine andere Möglichkeit nicht ausschließen. Gerade jetzt sieht es so aus, als stündender Rüstungskontrolle, infolge des Kurswechsels in der amerikanischen Außen- undMitlitärpolitik, harte Zeiten bevor. Trifft dies zu, so kann die Situation, bevor siebesser wird, noch schlimmer werden. In diesem Fall liegt dann das große Problemdarin, zu verhindern, daß eine irreparrable Situation entsteht. In letzter Konsequenzkann man das Problem so zusammenfassen: Entweder wir vernichten dieWaffenarsenale, oder sie vernichten uns.

Eindnoten:

1 The New York Review of Books, 6. Nov. 19802 L.I. Breschnew, Rede auf dem XVIII. Kongreß des Leninschen Kommunistischen

Jugendverbandes der Sowjetunion, 25. April 1978. APN-Verlag, Moskau, 1978, S. 30-313 L.I. Breschnew, Rede in Tula am 18. Januar 1977, APN-Verlag, Moskau 1977, S. 224 L.I. Breschnew, Leninskim Kursom, Bd. 7, S. 3125 ‘Nuclear War Conference’, Washington, Anderson Publishers Inc., 1978, S. 1636 The New York Times, 13. Dezember 19797 Scientific American, Oktober 1964, S. 358 ‘Counterforce capability’ ist die Fähigkeit, die strategischen Nuklearwaffen des Gegners

auszuschalten, bevor sie zum Einsatz gelangen. (Anm. d. Übers.)

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9 Bei den MX-Raketen (missile experimental) handelt es sich um Interkontinentalraketen, diezum Zwecke größerer Unverwundbarkeit in Schutzgräben auf ihren Abschußrampen hin- undherbewegt werden. (Anm. d. Übers.)

10 Marschflugkörper ‘cruise missile’ (CM). Eine niedrigfliegende Rakete, die von Trägern (Land,Luft, Wasser) aus gestartet wird und nukleare oder konventionelle Sprengköpfe trägt. DieZielgenauigkeit ist groß, durch einen bodennahen Flug kann das feindliche Radarsystemunterflogen werden. (Anm. d. Übers.)

11 The Washington Quarterly, Herbst 1979, S. 5-612 Public Opinion,Mai-Juni 1978, S. 58-5913 Common Sense in US-Soviet Relations, Washington, 1978, S. 4613 Common Sense in US-Soviet Relations, Washington, 1978, S. 4614 Ibid., S. 5915 The Cloud of Danger, Boston; Little Brown, 1977, S. 13-1416 Dem1976 gegründetenKomitee gehören u.a. hohe ehemaligeRegierungsbeamte,Wissenschaftler

und Gewerkschaftsführer an. Das Hauptanliegen der Mitglieder ist eine Steigerung deramerikanischen Militärausgaben und die Modernisierung der Waffensysteme, die nachAuffassung des Komitees notwendig ist, um der zunehmenden militärischen Stärke derSowjetunion gewachsen zu sein. (Anm. d. Übers.)

17 The Budget of the US Government, Haushaltsjahr 1980/8118 Yezhegodnik BSE,Moskau, 1978, S. 67; ibid., Moskau 1979, S. 66; Izvestia, 1. Dezember 1979;

Ekonomicheskaya gazeta, Nr. 10, 1980 (Die Umrechnung der Rubelbeträge in Dollar geschahanhand der jeweiligen offiziellen Wechselkurse)

19 ‘Military Balance 1979/80’, International Institute for Strategic Studies, London, 1979, S. 94)20 Bulletin of Atomic Scientists, September 197921 Business Week, 29. Oktober 1979, S. 6922 Im August 1965 kam es in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, unter der benachteiligten

schwarzen Bevölkerung zu heftigen, tagelangen Unruhen. (Anm. d. Übers.)23 ‘The SALT II Treaty’, Hearings before the Committee on Foreign Relations, United States

Senate, 96the Congress, Teil 3, Wash. GPO, 1979, S. 7524 Air Force, Dez. 1979; ebenfalls: ‘The Military Balance 1979-1980’, International Institute for

Strategic Studies, London25 The New York Times Magazine, 9. Dez. 1979, S. 46, 47, 5526 Alain Enthoven/Kenneth Smith, How Much Is Enough? New York, 1971, S. 12827 Arms Control Today, Bd. 8, Nr. 9, Oktober 1978, S. 528 Dickson, P., Think Tanks, New York, 1971, S. 10629 Arms Control and Disarmament Agency: 1961 gegründete US-Behörde für Waffenkontrolle

und Abrüstung. (Anm. d. Übers.30 Setting National Priorities, Agenda for the 1980's, Hrsg.: Joseph A. Pechman, The Brookings

Institution, Washington, 1980, S. 28631 T.S. Burns, The Sovjet War for Ocean Depths Sovjet-American Rivalry for Mastery of the

Seas, New York, Romson 1978, S. 57-58

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IV) Handel treiben - ja oder nein?

Es hat den Anschein, als habe der sowjetisch-amerikanische Handel unter derallgemeinen Verschlechterung der Beziehungen an der Schwelle der achtziger Jahream meisten gelitten.

Nein, ich würde sagen, daß der größte und gefährlichste Schaden derRüstungskontrolle zugefügt wurde. Es mag sein, daß die USA versuchen, denEindruck zu erwecken, der Handel sei das Hauptopfer gewesen - sah doch auf dieseWeise der Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik mehr wie eine‘Bestrafung’ der Sowjetunion aus, sah doch Washington in Handelsbeschrànkungenden einfachsten Weg, uns größtmöglichen Schaden zuzufügen und gleichzeitig denPreis möglichst gering zu halten.

War diese Einschätzung zutreffend?

Nein. Es trifft weder zu, daß uns durch Handelsbeschränkungen, selbst durch einenAbbruch der Handelsbeziehungen ernsthafte Schwierigkeiten bereitet werden können,noch, daßAmerika daraus kein Schaden erwächst. Aber es war sicherlich ein einfacherWeg, um der amerikanischenVerärgerung - insbesondere Präsident Carters biblischemZorn - Luft zu machen und Dampf abzulassen. Das war wieder einmal ein Fall, beidem sich die Amerikaner von ihren Selbsttäuschungen mitreißen ließen.

Aber hatte die Sowjetunion nicht 1979 und 1980 eine schlechte Ernte zu verzeichnen,während sie doch für ihre Viehzucht große Mengen Futtergetreide benötigt?

Die Ernte war in der Tat schlecht, und es bestand auch die Notwendigkeit, Getreideeinzuführen. Allerdings nicht in solch einem Ausmaß, daß ein amerikanischesGetreideembargo schon einer Katastrophe für unsere Wirtschaft gleichgekommenwäre. Dies um so weniger, als wir Maßnahmen getroffen haben, um den Schaden sogering wie möglich zu

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halten: Wir steigerten die Produktion bei anderen Futtermitteln und kauftenArgentinien und anderen Ländem mehr Getreide ab. Gleichzeitig aber hatten dieAmerikaner darunter zu leiden, vor allem die Farmer imMittelwesten, aber auch dasUS-Finanzministerium. Laut amerikanischen Schätzungen beliefen sich dieunmittelbaren Verluste auf 2,5 Milliarden Dollar, und der Gesamtschaden betrugrund 4,5 Milliarden Dollar.

Wobei hat sich Washington verrechnet?

Kurz gesagt, Washington überschätzte die amerikanischeWirtschaftskraft und derenBedeutung ganz gewaltig, während es die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit derSowjetunion in gleichemMaße unterschätzte. Im amerikanischen Bewußtsein ist dieÜberzeugung tief verankert - was auch in offiziellen amerikanischen Überlegungenzum Ausdruck kommt -, daß Amerika in der Welt wirtschaftlich so dominierend ist,daß andere Länder an die USA herantreten und umGunstbezeigungen bitten müssen.Daraus ergibt sich, daß es den USA freisteht, die Bittsteller zu belohnen oder zubestrafen, je nachdem wie diese sich verhalten.

Dennoch ist die Sowjetunion weiterhin am Handel mit den USA interessiert,einschließlich des Imports von Getreide und Technologie.

Ja, wir sind daran interessiert, aber es ist sehr wichtig, sowohl die Natur, wie auchden Grad dieses Interesses zu begreifen, da man ansonsten unweigerlich schwerepolitische Fehler begeht.

Welche beispielsweise?

Ich denke daßei an das unentwegte Bemühen, den Handel und die wirtschaftlichenBeziehungen als Druckmittel einzusetzen, um die sowjetische Politik zu beeinflussen.Ich spreche von solchen Maßnahmen wie dem Jackson-Vanik-Amendment aus demJahre 1974, der Abänderung der Ausfuhrkontrollbestimmungen von 1978 inZusammenhangmit der sogenannten Schtscharanski-Affäre, wie auch von den häufigdiskutierten Plänen, uns mit der Androhung eines wirtschaftlichen Embargos zuerpressen, um außenpolitische Zugeständnisse zu erzwingen. Es ist genau dieseGeisteshaltung, die hinter denMaßnahmen der Carter-Administration zu Beginn desJahres 1980 stand, als der Handel zum Hauptinstrument erkoren wurde, um dieSowjetunion zu‘bestrafen’. Die gleichen Fehleinschätzungen erklären, warum sogarzu der Zeit, als die Entspannung gedieh, der Handel der Bereich in unseren Beziehun-

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gen war, der durch das Erbe des Kalten Krieges am meisten belastet wurde.

Wie groß ist denn Ihr Interesse am Handel mit Amerika wirklich?

Lassen Sie mich Ihnen die grundlegenden Fakten der Sachlage geben. Erstens, beideVolkswirtschaften - die amerikanische und die sowjetische - sind von so riesigemAusmaß, daß der gegenseitige Handel, selbst wenn er unter den denkbar günstigstenBedingungen ausgebaut wird, nur einen sehr kleinen Teil der jeweiligen Bedürfnisseabdecken kann. 1979 z. B. betrug der Anteil der USA an unserem Außenhandel nur3,5 Prozent bzw. 0,5 Prozent unseres Bruttosozialprodukts. Deshalb sind dieAuswirkungen des US-Handels auf unsere Wirtschaft nur geringfügig und werdenes auch dann bleiben, wenn es zu den denkbar größten Steigerungsraten kommensollte. Mehr noch, es ist einfach unrealistisch, sich vorzustellen, eines der beidenLänder würde es je zulassen, daß seine Wirtschaft in erheblichem Umfang einseitigvon dem anderen Land abhängig werden würde.

Abgesehen davon betreibt die UdSSRmit anderen westlichen Ländern einen ziemlichumfangreichen Handel.

In der Tat sind die USA weder unser einziger, noch unser größter Handelspartner.Der größte Teil unseres Außenhandels entfällt auf andere sozialistische Länder. DerAnteil Amerikas an unserem Westhandel betrug 1979 lediglich 11 Prozent. Siehtman einmal vomGetreide ab, so betrug er 5 Prozent. Unser größter westlicher Partnerist Westdeutschland, während unser Handel mit Frankreich, Italien und Finnland imwesentlichen den gleichen Umfang erreicht wie unser Handel mit den USA. Wirkönnen praktisch alles, was wir von Amerika kaufen, auch von anderen westlichenLändern beziehen.

Dennoch, die Amerikaner verfügen offensichtlich in einigen Bereichen, z. B. beiComputer und Bohrausrüstungen, über ein Monopol.

Ja, das stimmt, und einige ihrer Computer sind, ebenso wie ihre Bohrausrüstungenund andere technisch hochstehenden Erzeugnisse, besser als die entsprechendenProdukte anderer Länder. Jedoch nicht um so vieles besser, daß die Weigerung derAmerikaner, uns diese Dinge zu verkaufen, unsereWirtschaft zum Stillstand bringenwürde.Schauen Sie sich an, was geschah, als die USA versuchten, uns an dem vermeintlich

empfindlichen Punkt der Bohrausrüstungen unter Druck

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zu setzen - wir haben ganz einfach ein großes, für beide Seiten nützliches Geschäftmit Frankreich abgeschlossen. Und in den meisten Fällen kommenwir sehr gut selbstzurecht, haben wir doch eine von außen weitgehend unabhängige Volkswirtschaft.Tatsächlich erwies sich sogar zu einer Zeit, da wir in wirtschaftlicher Hinsicht

noch viel schwächer waren, die Praxis, den Handel als politischeWaffe einzusetzen,als unwirksam und als Eigentor. Wie denn auch kürzlich Robert Gilpin, einWirtschaftswissenschaftler von Princeton, der die Auswirkungen desWirtschaftskrieges in der Vergangenheit untersuchte, zu dem Schluß kam: ‘Wennwir ohne Erfolg blieben, als wir stärker und sie schwächer waren, wie können wirdann heute Erfolg haben?’1

Und trotzdem scheinen Sie alles daran zu setzen, den Handel mit den VereinigtenStaaten anzukurbeln.

Ich glaube nicht, daß ‘alles daran setzen’ der richtige Ausdruck ist, um unsere Haltungin dieser Angelegenheit zu beschreiben. Nach unserer Auffassung ist der Handelinnerhalb des ganzen Komplexes unserer Beziehungen mit den Vereinigten Staatenvon geringerer Bedeutung, das wichtigste dabei ist, den Frieden zu sichem und damitunsere Beziehungen im politischen Bereich und auf demGebiet der Rüstungskontrollezu verbessern.Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten haben während einer langen Zeit

mit der Tatsache gelebt, daß sie keinen nennenswerten Handel miteinander trieben,und sie können sicher auch weiterhin damit leben. Der Handel ist für keines derbeiden Länder eine Überlebensfrage. Aber falls ein Klima der Entspannung und einegenerelle Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eintritt, wirddie Ausweitung unseres Handels ein logischer Teil dieser Entwicklung sein. Undzwar nicht nur deshalb, weil beiden Seiten größerer wirtschaftlicher Nutzen darauserwachsen kann. Wir halten den politischen Aspekt dabei für wichtiger. DieEntwicklung des Handels und der wirtschaftlichen Beziehungen kann ein überauswichtiges Instrument zur Verbesserung der allgemeinen Beziehungen sein.Was die Geschäftsbedingungen betrifft, so verlangen wir keine besonderen

Vergünstigungen. Wir erwarten nicht mehr und nicht weniger als bei GeschäftenUsus ist - also einen ordentlichen Preis für eine ordentliche Ware, und umgekehrt.

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Ist es nicht in gewisser Weise eine Ironie, daß ausgerechnet Kommunisten an dieAmerikaner appellieren, sich wiegute Geschäftsleute zu verhalten?

Wissen Sie, so stolz die Amerikaner auch auf ihren kommerziellen Genius und ihrenPragmatismus sind, so neigen sie doch dazu, auf diesemGebiet wie Amateurpolitikeraufzutreten.

Wie werden sich die Ereignisse in Afghanistan auf die Zukunft der sowjetischamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen auswirken?

Carters Entscheidung, über die Getreidelieferungen an die Sowjetunion ein Embargozu verhängen und für den übrigen sowjetisch-amerikanischen Handel zusätzlicheRestriktionen einzuführen, hatte sehr nachhaltige Auswirkungen auf die weitereEntwicklung unserer Beziehungen. Man kann vielleicht darüber streken, welchenStellenwert der internationale Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen für dieEntspannung haben - meiner Meinung nach kann er ganz erheblich sein -, es bestehtaber kein Zweifel daran, daß ein Unterbrechen dieser Beziehungen unvermeidlichzu einer Erhöhung der Spannungen zwischen den Staaten führt. Am wichtigstendabei ist, daß solche Maßnahmen buchstäblich die Zukunft wirtschaftlicherBeziehungen untergraben, indem sie das Vertrauen zum anderen zerstören. Früheroder später werden die Ereignisse in Afghanistan der Vergangenheit angehören. Aberdas Image der Amerikaner, Partner zu sein, bei denen es vorkommen kann, daß sieihre Verpflichtungen so leicht brechen, wird viel lßnger bestehen bleiben.

Kamen diese Repressalien für Moskau überraschend?

Nein, und zwar sorgte die Carter-Administration selbst dafür. Gleich von Beginnihrer Regierungszeit an verstärkte sie die Politisierung des Handels und derWirtschaftsbeziehungen, indem sie diese bei jeder entsprechenden Gelegenheitvollkommen den Zielen ihrer eigenen Außenpolitik unterordnete. Es wurde eigensein neues Konzept, die sogenannte ‘conditional flexibility’, erarbeitet, das für diesenKurs den theoretischen Rahmen lieferte.

Samuel Huntington war im Weißen Haus dafür berüchtigt, einer der wichtigstenArchitekten der‘Bärenfalle’ zu sein, womit jene Politik gemeint ist, die den Handelals Waffe des Kalten Krieges einsetzt.

Er stand jedoch damit keineswegs allein. Obwohl Huntington schließlich zurücktrat,trug seine Politik, die ‘Handel als Waffe’ zum Motto hatte,

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letzten Endes im Weißen Haus den Triumph davon. Sie fand zum ersten Mal 1978Anwendung, als das Weiße Haus den Schtscharanski-Prozeß zum Vorwand nahm,um eine Reihe von Geschäftsabschlüssen zu Fall zu bringen und zugleich einigeweitere Beschränkungen für den Handel mit der Sowjetunion einzuführen. So steiltenalso die 1980 verhängten Sanktionen nur den Höhepunkt einer langen Entwicklungdar.

Wie lange wird es bei dieser Politik bleiben?

Diese Frage sollten Sie eigentlich demWeißenHaus stellen. Nachmeiner persönlichenMeinung dürfte sich diese Politik so lange behaupten, wie die neue vomKalten Krieggeprägte Stimmung in Washington vorherrscht.

Finden Sie es paradox, daß Ronald Reagan, wahrend er eine US-Politik der hartenLinie gegenüber der Sowjetunion forderte, im Verlauf des Wahlkampfes versprach,das gegen die Sowjetunion verhangte Getreideembargo aufzuheben, falls er Präsidentwerden würde?

Die Zeit wird zeigen, ob es ledigüch ein weiteres Wahlversprechen war oder eineSpiegelung realistischer Züge in Reagans außenpolitischem Ansatz.Ganz offen gesagt, halten wir nicht gerade den Atem an in der Erwartung, daß der

neue US-Präsident seinen Standpunkt zum amerikanischsowjetischenHandel darlegt.Wir würden eine positive Haltung begrüßen. Aber die Sowjetunion hat andereOptionen offen, falls die Politik Carters dessen Präsidentschaft überdauert. Und wirverfügen selbst über ein starkes wirtschaftliches, wissenschaftliches undtechnologisches Potential, sowie über stabile und dynamischeWirtschaftsbeziehungenmit sozialistischen Ländern, mit vielen Entwicklungsländern, sowie blockfreienwestlichen Staaten.Abgesehen davon glaube ich nicht, daß der amerikanischen Politik der Sanktionen

eine Zukunft beschieden sein wird, läuft sie doch den entscheidenden Tendenzender wirtschaftlichen Entwicklung in der modernen Welt zuwider. Die gesamte sichabzeichnende Haltung der Amerikaner gegenüber der Welt draußen steht mit derhistorischen Tendenz einer wachsenden gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeitund Verflechtung nicht in Einklang. Die Welt wird immer kleiner.

Ein einziges weltumfassendes Dorf also.

In gewisser Weise. Spinnt man diese Metapher weiter, so kann man hin-

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zufügen, daß das Leben in dem einen weltumfassenden Dorf, in dem jeder - wasRessourcen, Güter, Rohstoffe etc. anbelangt - auf seinen Nachbarn angewiesen ist,gegenseitige Mäßigung und Anpassung verlangt, sowie die Fähigkeit, die Interessenanderer zu berücksichtigen und mit ihnen auf gleichberechtigter Ebenezusammenzuarbeiten.Aber ich bin nicht sicher, ob sich Washington mit der Interdependenz in ihrer

wahren Bedeutung abgefunden hat. In der wachsenden Abhängigkeit Amerikas vonRohstoffimporten, insbesondere vom Öl aus dem Nahen Osten, wurde eineunerträgliche Verletzbarkeit gesehen, die durch einen erneuten Rückgriff aufmilitarische Stärke und durch unverhüllten Druck überwunden werden sollte. Kurzgesagt, anstatt sich selbst zu ändern, um sich einer neuenWelt anzupassen, versuchendie Amerikaner jetzt, die Welt zu ändern, indem sie sie zwingen, die imperialenAnsprüche Amerikas zu akzeptieren.

Welche Haltung nimmt die Sowjetunion in der Frage der Interdependenz ein?

Wir glauben, daß es sich dabei um eine objektive und im allgemeinen gesundeEntwicklung handelt, die die Überlebenschancen der Menschheit erhöhen kann,ebenso wie die Chancen auf eine friedliche und vorteilhafte Zusammenarbeit auf derganzen Welt.Die Frage ist nur, was die Basis dieser Interdependenz sein sollte. Wir sind fest

davon überzeugt, daß sie nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung und desgegenseitigen Nutzens errichtet werden kann. Nur wenige würden wohl einerwirtschaftlichen Interdependenz zustimmen, wenn nicht garantiert wird, daß dieLänder vor Ausbeutung, Einschüchterung und Erpressung geschützt sind. Abernatürlich setzt ein Fortschritt in dieser Richtung eine entsprechende politischeAtmosphäre in der Welt voraus.

Sie haben vorhin erwähnt, daß selbst auf dem Höhepunkt der Entspannung das Erbedes Kalten Krieges im Bereich der Handelsbeziehungen besonders stark spürbarwar. Ist das der Grund, warum das Volumen des amerikanisch-sowjetischenHandelsin den siebziger Jahren ungefähr ein Fünftel Ihres Handels mit Finnland ausmachte,bzw. ein Zwanzigstel des amerikanisch-niederlandischen Handelsvolumens?

Sie haben ganz recht. Obwohl das Volumen des sowjetisch-amerikanischen Handelsin den siebziger Jahren drastisch anstieg, nimmt sich, im Verhältnis zur Größe derVolkswirtschaften der beiden Länder, ihrer Außenhandelspotentiale und desGesamtvolumens ihres Außenhan-

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dels, der Handel zwischen unseren beiden Staaten nahezu unbedeutend aus. Wirhalten das für unnormal.

Könnten Sie genauer erklären, was eigentlich eine Ausweitung desamerikanisch-sowjetischen Handels verhinderte?

Das ist eine lange Geschichte, denn es gibt eine ganze Reihe von Hindernissen. Ichmöchte mit dem Problem des Meistbegünstigtenstatus beginnen, der uns vonWashington sogar auf dem Höhepunkt der Entspannung versagt wurde. Tatsächlichist ‘Meistbegünstigtenstatus’ eine etwas irreführende Bezeichnung, weil das so klingt,als handle es sich um die Gewährung besonderer Vorteile. Und viele Amerikaner,darunter sogar einige Mitglieder des Kongresses, betrachten denMeistbegünstigtenstatus als etwas, das man entweder Amerikas besten Freunden alsBelohnung oder anderen als Bonus für ihr Wohlverhalten zugesteht. Was die Leuteim Zusammenhang mit der Meistgebünstigtenklausel irreführt, ist der diplomatischhöfliche Klang dieses Ausdrucks. Tatsächlich aber bedeutet, diesen Status einemLand zuzubilligen, nichts anders, als dieses Land hinsichtlich des Handels nichtschlechter zu stellen als alle anderen Länder auch. Anders ausgedrückt heißt dies,daß jenen Ländern, die diesen Status nicht haben, die Gleichbehandlung undbestimmte, weithin übliche Rechte vorenthaltenwerden, sie also diskriminiert werden.Verweigert man einem Land den Meistbegünstigtenstatus, so begeht man einen Aktder Feindseligkeit und bringt damit zumAusdruck, daß manmit ihm keine normalenBeziehungen unterhalten will.

Ist denn die ganze Angelegenheit mit der Meistbegünstigtenklausel wirklich ein sogravierendes Hindernis für den sowjetisch-amerikanischen Handel? Es scheint, daßseine Bedeutung weitgehend symbolischer und politischer, nicht aber wirtschaftlicherNatur ist.

Nun, die symbolische und politische Bedeutung ist selbstverständlich gegeben. Daßsich die Amerikaner seit langem weigern, die UdSSR im Bereich des Handels mitanderen Partnern gleichzustellen, wurde zum Symbol dafür, daß uns Amerikadiskriminiert, was unseren politischen Beziehungen sehr abträglich war.Jedoch ist der wirtschaftliche Aspekt ebenfalls wichtig. Das Fehlen dieses Status

hat so hohe Schutzzölle auf sowjetische Waren zur Folge, daß wir sie entweder nurin kleinenMengen oder überhaupt nicht verkaufen können, weil nicht gestattet wird,daß die Waren auf dem amerikanischen Markt auf der Grundlage gleicherWettbewerbsbedingungen konkurrieren.

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Können Sie dazu einige Beispiele anführen?

Ein einfaches Beispiel ist russischer Wodka, der pro Flasche ungefähr zwei Dollarweniger kosten würde, hätten wir den Meistbegünstigtenstatus. Und natürlich gehtes nicht nur umWodka. Amerikanische Geschaftsleute haben Interesse daran gezeigt,sowjetische Produkte wie z. B. Flugzeuge des Typs ‘YAK-40’, Tragflügelboote,Kombiwagen des Typs ‘Lada’ Trakteren, Sportgewehre etc. zu importieren. OhneMeistbegünstigtenstatus werden dieseWaren aus der UdSSR jedoch zwei- bis viermalhöher verzollt als die gleichen Waren aus anderen Ländern. Bei den YAK-40Turbojets z. B. steigt der Zoll auf 30 Prozent des Preises an, was den Import dieserGüter von vomherein verhindert. So kommen also diese Verkäufe nicht zustande,was sowohl uns wie auch den Amerikanern schadet.

Ich verstehe, daß Sie aus Gründen des Handels Interesse amMeistbegünstigtenstatushaben, aber warum sollte das die Sorge der Amerikaner sein? Was würden sie dabeigewinnen?

Nun, der amerikanische Verbraucher verliert gegenwärtig dadurch, daß ihm einigeWaren vorenthalten werden. Aber der wesentliche Punkt ist, daßman unsere Exportebeeinträchtigt und unter dieser Diskriminierung unsere Exporterlöse leiden, dieansonsten dazu verwendet werden könnten, unsere Importe aus den VereinigtenStaaten zu erhöhen. Größere sowjetische Importe aus Amerika hätten eine verbesserteHandelsbilanz der USA, mehr Arbeitsplätze und erhöhtes Einkommen zur Folge.Weiterhin besteht von Seiten der Amerikaner ein Interesse daran, daß wir unsere

Schulden aus dem Leih-Pacht-Abkommen begleichen. Entsprechend demamerikanisch-sowjetischen Handelsabkommen von 1972 ist die Begleichung an dieNormalisierung unserer Handelsbeziehungen gekoppelt.

Welche weiteren Handelshindernisse gibt es?

Das zweite bis heute ungelöste Problem ist das der langfristigen Kredite. Die Krediteder Export-Import-Bank wurden 1975 drastischen Einschränkungen unterworfen.Ironischerweise war der Zweck, zu dem dieses Institut am Ende des ZweitenWeltkrieges eigens gegründet wurde, kein anderer als die Kreditvergabe an dieUdSSR.Genausowie in derMeistbegünstigtenklausel, so wird auch in diesenKreditenin den USA häufig ein besonderer Vorteil gesehen, den sich die Sowjetunion erst

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noch durch das eine oder andere politische Zugestandnis verdienenmuß. Aber solcheKredite, durch die große Geschäftsabschlüsse erleichtert werden, sind einalthergebrachter Teil ganz normalen Geschäftsgebarens und sowohl für denKreditgeber wie auch für den Schuldner von Nutzen. Nebenbei gesagt, schadete dieEntscheidung von 1975, die Kredite der Export-Import-Bank zu kürzen, vor allemden amerikanischen Finnen, die kurz vor dem Abschluß großer Geschäfte standen,die auf solchen Krediten aufbauten. Weil ihnen die Regierungskredite vorenthaltenwurden, erlitten diese Firmen bei den Geschäften mit der UdSSRWettbewerbsnachteile gegenüber ihren europäischen Konkurrenten. Heute habenwir stabile und im Wachsen begriffene Kreditbeziehungen mit vielenwesteuropäischen Ländern und Japan. Ein gutes Beispiel dafür ist das großeRöhrengeschäft auf Kreditbasis mit Westdeutschland und einigen anderen Ländern.Zwischen 1976 und 1980 konnten mit Hilfe dieses Geschäfts 100 MilliardenKubikmeter Erdgas für unseren einheimischen Bedarf gewonnen werden, und fastdie gleiche Menge stand für den Export nach Westeuropa zur Verfügung.

Die Amerikaner bedauern wahrscheinlich, daß ihnen so umfangreiche Geschäfteentgingen.

Gut möglich. Auf jeden Fall versuchen sie oftmals, solche entgangenen Geschäftezu kompensieren, daß sie unseren Partnern Schauermärchen über eine angeblichesowjetische Zahlungsunfähigkeit erzählen.

Aber die Verschuldung Ihres Landes dem Westen gegenüber ist in der Tat ziemlichbeträchtlich.

Das ist ein weiteres Klischee, das die wirkliche Lage verzerrt. Zunächst einmal sollteunsere Verschuldung im Vergleich zu der anderer Länder gesehen werden. Dannerscheint sie nämlich keineswegsmehr ungewöhnlich hoch. Aufgrund der komplexenNatur moderner ökonomischer Beziehungen ist jeder bei irgend jemand verschuldet.Wir selbst erhalten nicht nur Kredite, sondern gewähren auch vielen Ländern welche.Die wachsende gegenseitige Verschuldung ist eine der objektiv vorhandenenTendenzen im Welthandel, bedingt durch die lange Dauer des Investitionsprozessesund andere Gründe. Heute werden fast 70 Prozent des internationalen Handels aufdemMaschinen- und Investitionsgütersektor auf Kreditbasis abgewickelt. Das gleichegilt auch für unseren eigenen Export von Maschinen und Investitionsgütern. Mitanderen Worten, unser Außenhandel stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme vonder weltweit üblichen Praxis dar. Außerdem verfügen wir über ausrei-

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chende Ressourcen und eine entsprechende Leistungsfähigkeit, um unserenfinanziellen Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen. All das wissenunsere Handelspartner in Westeuropa und Japan sehr wohl, weshalb sie auch, wasunsere Zahlungsfähigkeit anbelangt, keinerlei Zweifel haben.

Was verhindert darüber hinaus eine Ausdehnung des sowjetisch-amerikanischenHandels?

Nicht zuletzt gibt es da noch das Kontrollsystem für US-Exporte. Erstmals 1949 alsein Hauptinstrument der Politik des Kalten Krieges eingeführt, enthält es einausgefeiltes System von Handelsbarrieren, angefangen bei den Listen ‘strategischerGüter’ bis hin zu einem absichtlich kompliziert gehaltenen System der Exportlizenzen.Nur um einen Eindruck davon zu vermitteln, zu welch lächerlichen Ergebnissen dasSystem führte: Zu den stategischen Gütern, deren Ausfuhr in die UdSSR verbotenwar, gehörten Dinge wie falsche Bärte, Perücken, Grabzäune, Büroklammern, Knöpfeund sogar Baseballschläger, letztere deshalb, weil sie für die Aufrechterhaltung derMoral unserer Trappen als wesentlich erachtet wurden. So mußten wir also all dieJahre lang ohne amerikanische Baseballschläger auskommen, was aberglücklicherweise unsere Soldaten nicht allzu sehr demoralisiert hat, da sie ohnehinnicht Baseball spielen.

Ist dieses sonderbare System noch in Kraft?

Nun, mit der Beendigung des Kalten Krieges wurde es merklich modifiziert, vorallem durch das ‘Export Administration Act’ genannte Gesetz von 1969. Obwohlman bestimmte gesetzliche Vorschriften liberalisierte, wurde das Grandschema derExportkontrolle beibehalten. Die Carter-Administration versuchte, diesem altenSystem neues Leben einzuhauchen. Und zwar nicht nur im Hinblick auf denamerikanischen Handel, sondern auch was die Handelsbeziehungen der Verbündetenbetrifft.

Sprechen Sie von COCOM, dem Nato-Ausschuß zur Koordinierung derExportkontrolle?

Ja, von COCOM und auch von dem auf westeuropäische Regierungen verstärktausgeübten Druck.

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Maßnahmen zur Exportkontrolle werden normalerweise mit nationalenSicherheitsinteressen begründet.

Ja, obwohl ich nicht glaube, daß irgendeine verantwortungsbewußte Regierung esje zu einer Situation kommen ließe, in der die Verteidigung ernstlich vom Handelmit einem potentiellen Gegner abhängen würde. Wir haben, soweit ich weiß, nieAnstrengungen untemommen, von den USAMinutemen-Raketen, Panzer oder auchnur Gewehre zu kaufen. Der Westen weiß ganz genau, daß wir vollkommen in derLage sind, selbst herzustellen, was immer für unsere Verteidigung benötigen.Nebenbei gesagt, betrachtet man die Sache genauer und analysiert, was wir inwestliche Länder, die USA inbegriffen, exportieren, so wird man darunter Güterfinden, die uns die Vereinigten Staaten nie verkauft hätten.

Welche zum Beispiel?

Nun, wir haben Titan verkauft, wir verkaufen Chrom, Palladium,Mangan, natürlicheund synthetisch hergestellte Diamanten sowie Lizenzen für neue Technologien zurVerarbeitung von Aluminium. Den Verkauf von Diamanten an die UdSSR hatten,nebenbei gesagt, die USA seit jeher verboten, was ein Grund dafür war, daß wirunsere geologischen Untersuchungen beschleunigt vorantrieben, mit dem Ergebnis,daß wir umfangreiche Diamantvorkommen in Sibirien entdeckten. Wir stellen auchsynthetische Diamanten in großem Umfang her und exportieren sie selbst in dieUSA. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Vor kurzem vergaben wir anamerikanische Firmen Lizenzen für die Herstellung von Nachbrennem fürTurbostrahltriebwerke sowie für Walzwerke feür dünnwandige Rohre, beides fürmilitärische Zwecke durchaus verwendbar. In Wirklichkeit ist das ganze Spielchender strengen Beschränkungen der Exporte in die UdSSR, die angeblich dazu dienen,unsere Rüstungsindustrie zu beeinträchtigen, nur ein Vorwand. Dahinter steekt eineganz andere Argumentation, die einige amerikanische Politiker in den Vordergrundstellen, nämlich die, daß durch diese Restriktionen unserer Wirtschaft insgesamtSchaden zugefügt werden könnte.

Es scheint, daß es in den USA zwei Hauptrichtungen in der Einstellung zum Handelmit der UdSSR gibt. Nach der einen sollte man die UdSSR und ihr Gesellschaftssystemim eigenen Saft schmoren lassen - warum auch sollte Amerika den Russen helfen,ihre Engpässe zu beseitigen? Nach der anderen sollte Washington darauf hinarbeiten,die UdSSR wirtschaftlich von Amerika abhängig zu machen.

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Nach meiner Ansicht sind beide Einstellungen nicht nur feindselig uns gegenüber,sondent auch trügerisch. Die Vertreter der ersten unterstellen mit der ihnen eigenenArroganz, daß wir ohne Amerika mit unseren sogenannten Engpässen nicht fertigwerden.Wenn wir aber über ernste Probleme sprechen, dann erwarten wir nicht, daß die

Amerikaner sie für uns lösen. Alle Länder, auch die Vereinigten Staaten, müssenihre wichtigsten wirtschaftlichen Probleme weitgehend selbst lösen.Das wir in der Lage sind, uns auf unsere eigene Kraft zu verlassen, solite niemand

in Zweifel ziehen. Im Verlauf unserer Geschichte haben wir es geschafft, auch sehrviel ernstere Schwierigkeiten ohne amerikanische Hilfe zu überwinden. Wir habenmanchmal das Gefühl, daß, über längere Zeit hinweg gesehen, die vom Westenverhängte Blockade oder Teilblockade sich mitunter zu unseren Gunsten ausgewirkthat - nämlich als ein zusätzlicher Anspom für uns, bei der Entwicklung bestimmterSchlüsselindustrien unsererWirtschaft schneller undwirkungsvoller voranzuschreiten.

Was ist zur zweiten Einstellung zu sagen?

Diese Haltung gegenüber der Sowjetunion ist ebenfalls ziemlich sonderbar. Manfragt sich nur, warum in aller Welt wir uns erst in die Abhängigkeit begeben sollten,damit wir westliche Technologie erhalten, um dann zuzulassen, daß der Westen diesgegen uns ausspielen kann. Das Erstgeburtsrecht gegen 30 Silberlinge einzutauschen,ist kein guter Handel.

Aber Sie haben doch ernste wirtschaftliche Problème.

Nun, wir haben Probleme in einigen Branchen unserer Industrie und imTransportwesen. Über diese Probleme wird in unserem Land offen gesprochen. EinProblem ist, daß wir den technologischen Fortschritt beschleunigen müssen. Auchgibt es Schwierigkeiten beim Transfer der Technologie: das Problem dabei ist abernicht der Transfer westlicher Technologie in die sowjetische Industrie, sondern dieraschere und effektivere Einführung unserer eigenen neuen Technologie in unseregesamte Wirtschaft. Wir bemühen uns nach Kräften, die Lücke zwischen derForschung und der praktischen Anwendung ihrer Ergebnisse zu schließen, und ichbin sicher, daß uns dies gelingt.Übrigens werden die Leistungen unserer Wissenschaft und Technik allgemein

anerkannt. Wir verkaufen eine Menge Lizenzen ins Ausland, das jüngste Beispieldafür ist die Lizenzvergabe an die amerikanische Indu-

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strie über 30 moderne energietechnologische Verfahren, die im wesentlichenmagnetohydrodynamische Techniken betreffen.Deshalb glaube ich, daß, ganz abgesehen von der Feindseligkeit gegen die

Sowjetunion, beide Denkrichtungen ziemlich naiv und wirklichkeitsfremd zu seinscheinen. Sie vergessen einfach, was für ein Land wir im Laufe der Jahre gewordensind. Oder, um es genauer zu sagen, sie vergessen es Solange, bis über dieFinanzmittel für das amerikanische Militär diskutiert wird. Dann spricht plötzlichjeder von hervorragenden, modernen, ja sogar überlegenen sowjetischen Raketen,Kriegsschiffen, Panzern und Flugzeugen.

Umauf die Haupthindernisse für eine Normalisierung des sowjetisch-amerikanischenHandels zurückzukommen - glauben Sie nicht, daß es ziemlich akademisch ist, heuteüber diese Hindernisse zu sprechen, nachdem es doch ohnehin keine Chance für ihrebaldige Beseitigung gibt?

Nein, das glaube ich nicht. Wenn wir zu einer klaren Perspektive kommen wollenund über die Zukunft nachdenken, dann sollten wir all dies berücksichtigen. Sobalddiese Probleme wieder an der Tagesordnung sind, wird ihre Lösung unumgänglich,um zu einer Normalisierung unserer Handelsbeziehungen zu gelangen und ganzallgemein die Hindernisse aus der Zeit des Kalten Krieges aus der Welt zu schaffen.Lassen Sie es mich wiederholen: Wir bitten nicht um Almosen oder Gefälligkeiten.Alles, was wir wollen, ist eine normale und faire Behandlung durch die andere Seite.

Die Entwicklung des Handels und derWirtschaftsverbindungen wird aber tatsächlichsehr oft als eine Art westlicher Hilfeleistung für den Osten aufgefaßt. Gerade dasmacht sie auch bei Veränderungen der politischen Situation so verwundbar. Deshalbja auch die Schwierigkeiten der letzten Jahre.

Die Vereinigten Staaten verhaken sich keineswegs so, wenn es um den Handel mitanderen Ländern geht. Innerhalb des Westens sehen die Beziehungen zwischenKäufern und Verkäufern, zwischen den Banken und ihren Kunden ganz anders ausund haben nichts mit Barmherzigkeit oder Gefühlen zu tun. Aber wir bauen auchgar nicht auf amerikanische Hilfe. Es würde schon genügen, würden sie daraufverzichten, uns Schaden zuzufügen.

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Was meinen Sie mit ‘Schaden zufügen’?

In erster Linie, daß sie uns das Wettrüsten aufzwingen. Die Logik, die dahintersteht,ist ganz einfach: Die USA haben ein größeres Bruttosozialprodukt; deshalb - soargumentiert man in Washington - muß die Sowjetunion, will sie ein vergleichbaresmilitärisches Potential unterhalten, eine schwerere Bürde auf sich nehmen, wodurchihrer Wirtschaft Schaden zugefügt oder sie sogar ruiniert wird. Ganz ehrlich gesagt,ich vermute, daß das eines der Ziele geworden ist, denen die amerikanischenAnstrengungen, das Wettrüsten zu beschleunigen, gelten.

Zum Beispiel?

Beispielsweise lautet eines der Hauptargumente, das die amerikanischenMilitärs fürdie Bomber des Typs B-1 und für die Marschflugkörper bei Hearings vor demKongreß anführten, diese Waffensysteme würden dazu beitragen, die sowjetischeWirtschaft auszuzehren, sähe sich doch die Sowjetunion dadurch gezwungen, einneues und sehr teures Luftabwehrsystem aufzubauen. So lächerlich das auch klingenmag, aber womöglich werden gerade deshalb, weil in den USA solche Überlegungenzur Routine geworden sind, der Sowjetunionmanchmal ähnlicheAbsichten unterstellt.

Ist das Ihr Ernst?

Ja, ich erinnere mich, wie die Senatoren Stuart Symington und Charles Mathias,bewaffnet mit Zitaten von Marx und Lenin, nach Kräften versuchten, dieKommunisten als diejenigen hinzustellen, die eine militärische Aufrüstung Amerikasfördem würden, um dadurch den Niedergang des amerikanischen Kapitalismus zubetreiben. Sie hörten sich wirklich sehr überzeugend an, als sie aufzeigten, wie einfortgesetztes, uneingeschränktes Wettrüsten die amerikanische Wirtschaft zerstörenkönnte; jedoch kann ich den beiden Herren versichern, daß - falls das eintreten sollte- weder Marx noch Lenin damit etwas zu tun haben werden. Sie müssen dann schondie Schuld bei ihrem eigenen, ach so patriotischen, militärisch-industriellen Komplexsuchen.

Der sowjetisch-westdeutsche Handel wuchs zwischen 1970 und 1978 um mehr alsdas Sechsfache an. Ein Beispiel für Amerika?

Sicher. Die Bundesrepublik wurde unser größter Handelspartner im kapitalistischenWesten, obwohl es erst ein Jahrzehnt her ist, daß wir auf

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sehr niedrigem Niveau begannen. Solch ein Durchbruch wurde erst im Klima derEntspannung möglich, und umgekehrt wurde der Handel ein überaus wichtigerstabilisierender Faktor in unseren politischen Beziehungen. 1978 schlossen wir einAbkommen über die Entwicklung und Vertiefung der langfristigen Zusammenarbeitauf wirtschaftlichem und industriellem Gebiet, das eine Laufzeit von 25 Jahrenvorsieht, womit unsereWirtschaftsbeziehungen auf eine geordnete, langfristig geplanteGrundlage gestellt wurden. Unsere Wirtschaftsverbindungen sind mannigfacher Artund für beide Seiten von Nutzen. Es sind mehr als 1500 westdeutsche Firmen daranbeteiligt, und mehr als 500 000 Arbeitsplätze werden nach jüngsten Schätzungen derBundesregierung dadurch gesichert. Das ist also ein wirklich hervorragendes Beispielfür gesunde Handelsbeziehungen.

Ihre Wirtschaftsbeziehungen mit der Bundesrepublik sind möglicherweise einSonderfall, dessenWurzeln in der Geschichte und der Tradition beider Lander liegen.Ist dieses Beispiel wirklich auf andere Länder übertragbar?

Selbstverständlich. Unser Handel mit Frankreich z. B. stieg zwischen 1971 und 1979um mehr als das Fünffache, der mit Japan um nahezu das Vierfache. LangfristigeAbmachungen - ähnlich jenen mit der Bundesrepublik - regeln unseren Handel mitFrankreich und Finnland bis zum Jahre 1990. Unser Handel mit Italien nimmtebenfalls rapide zu. Beispielsweise unterzeichneten wir mit einem Konsortiumitalienischer Firmen einen Vertrag zum Bau mehrerer Chemiewerke in der UdSSR,mit einem Gesamtvolumen von 800 Millionen Dollar.Es gibt auch enge Zusammenarbeit auf den Gebieten der Forschung und der

Entwicklung technischer Projekte, vor allem im Bereich der Chemie und Elektronik,z.B. mit Westdeutschland und Italien.Und schlieBlich leisten auch wir beträchtliche technische Unterstützung beim Bau

industrieller Projekte in westlichen Ländem. Um nur einige Beispiele zu nennen: Inden vergangenen Jahren half die Sowjetunion beim Bau eines Atomkraftwerks inFinnland, der Errichtung eines Hüttenkomplexes in Frankreich sowie dem Bau vonWasserkraftwerken in Kanada und Norwegen.

Wenden wir uns nun den sowjetischen Wirtschaftsproblemen zu. Der CIAveröffentlicht regelmäßig Berichte, wonach sich die wirtschaftliche Lage in derSowjetunion verschlechtert, und das Außenministerium beeilt sich jeweils, demhinzuzufügen, der Kreml zeige aufgrund dieser Verschlechterung neuerliches Interessean der Entspannung.

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In den 63 Jahren unseres Bestehens haben wir so viele pessimistische Vorhersagenüber unsere Zukunft ganz allgemein und unsere Wirtschaft im besonderen zu hörenbekommen, daß ich mich frage, wie solche Vorhersagen immer noch auch nur diegeringsteGlaubwürdigkeit haben können. Ja, wir haben einige ökonomische Probleme.Aber gleichzeitig entwickelt sich unser Land stetig weiter. Unsere Wachstumsratenliegen auf einem Niveau, das man nach westlichem Standard mindestens als normalbezeichnen muß. Wir haben in unserer ganzen Geschichte nicht eine einzigewirtschaftliche Rezession erlebt. Im Verlauf der siebziger Jahre ist in der UdSSRdas Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung um 50 Prozent angestiegen, undgleichzeitig konnten 40 Prozent der Bevölkerung neue und bessere Wohnungenbeziehen.

Das hört sich recht optimistisch an. Aber sind nicht die Wachstumsraten sowohlIhres Bruttosozialprodukts wie auch Ihrer Industrieproduktion in den siebzigerJahren stark zurückgegangen?

Sie sind etwas zurückgegangen. Dennoch waren sie in den siebziger Jahren fastzweimal so hoch wie in den USA.

Wie steht es mit der Landwirtschaft? Sie wird im Westen oft als ein totales Fiaskodargestellt.

Das ist einfach nicht wahr. Wir haben immer noch ernste Probleme im Bereich derLandwirtschaft. Jedoch handelt es sich hier um einen Zweig unserer Volkswirtschaft,der sich in einem besonders raschen und grundlegenden Entwicklungsprozeß befindet.Allein in den letzten fünf Jahren haben wir 172 Milliarden Rubel für Investitionenin der Landwirtschaft aufgewendet, das entspricht ungefähr 25 Prozent des gesamtenStaatshaushalts. Die Erzeugung der wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte hatstetig zugenommen, wenn auch langsamer, als wir das gerne hätten.

Erwarten Sie, daß diese Getreideexporte aus dem Brotkorb Amerikas, demMittlerenWesten, unbegrenzt weitergehen?

Diese Frage hat zwei Seiten. Eine betrifft die Unzuverlässigkeit der USA als Partner,die andere unsere Bedürfnisse und Pläne. Wie Sie vielleicht wissen, haben wirumfassende landwirtschaftliche Programme in die Wege geleitet, durch die unsGetreide in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen wird. Das betrifft ohnehinnur Futtergetreide, da das Problem des Brotgetreides seit langem gelost ist.Geht man aber von normalen, zuverlässigen, politischen und wirtschaft-

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lichen Beziehungen mit den USA aus, so würde das nicht bedeuten, daß derGetreidehandel damit zu Ende geht. Mais und Sojabohnen werden unter denamerikanischenWitterungs- und Klimabedingungen immer besser gedeihen als unterunseren. Aufgrund der Transportkosten wäre es auch billiger, Getreide aus denwestlichen Teilen der USA und Kanadas in die entfernten östlichen Gebieten derUdSSR einzuführen, anstatt es von unseren getreideproduzierenden Gebieten imeuropäischen Teil und in Kasachstan durch das ganze Land dorthin zu transportieren.So bestehen auch weiterhin gute Gründe für einen solchen Handel, obwohl ich sicherbin, daß es in demMaße, in dem sich unsere Landwirtschaft weiterentwickelt, immerseltener zu massiven Einkäufen kommen wird.

Ein weiterer schwacher Punkt der sowjetischen Wirtschaft, auf den man im Westenerst in allerjüngster Zeit aufmerksamwurde, ist die bevorstehende Energieknappheit.Sie wurde zum Gegenstand spezieller CIA-Berichte, deren Ergebnisse von Expertenund von der breiten Öffentlichkeit lebhaft diskutiert werden. Was halten Sie davon?

Nun, auf lange Sicht wird sich sogar Saudi-Arabien mit der Energieknappheitkonfrontiert sehen. Das ist lediglich eine Frage der Zeit. Wenn man jedoch bei derErörterung dieser Frage einen Vergleich mit anderen Ländern anstellt, dann befindetsich die Sowjetunion in einer ziemlich guten, verglichen mit den meistenIndustrieländern sogar ausgezeichneten Lage. Unsere Ölreserven sind nach wie vorganz erheblich, und unsere Pläne sehen für die achtziger Jahre einen Anstieg derÖlproduktion vor. Zusätzlich verfügen wir über ungeheuere Kohlevorkommen. Nachjüngsten Schätzungen unserer Energieexperten belaufen sich die gesichertenKohlevorkommen der UdSSR auf 5710 Milliarden Tonnen und die vermutetenErdgasvorkommen auf ungefähr 150 Billionen Kubikmeter. Rechnet man das Ölhinzu, so ergibt sich, daß diese Vorräte noch sehr lange ausreichen, selbst bei demgeschätzten Wachstum unseres Energieverbrauchs, der sich bis zum Jahr 2000 mehrals verdoppeln wird; dieses Bild wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, daßdas Öl nur 35 Prozent unseres Energiebedarfs deckt, verglichen mit fast 50 Prozentin den Vereinigten Staaten.

Samuel Huntington schrieb in dem Magazin Foreign Policy, daß die sowjetischeErdölproduktion ohne die jüngsten Technologieimporte um 10-15 Prozent niedrigerwäre als heute.

Diese Rechnung erscheint mir sehr zweifelhaft, und ich weiß nicht, wor-

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auf sie beruht. Tatsache ist, daß wir ungefähr 20 Prozent unseres Öls exportieren unddaß diese Lieferungen recht wichtig sind - nicht nur für Osteuropa, sondern auch fürLänder wie Italien, Westdeutschland und Frankreich. Selbst wenn Huntington rechthätte - was selten genug der Fall ist - wäre in dieser Steigerung eher ein Segen fürWesteuropa zu erblicken, als ein Rettungsring für die sowjetische Wirtschaft. Undwas ist schon generell schlecht am Handel mit den Vereinigten Staaten und denanderen Ländern, der uns hilft, die Ölförderung bis zu einem gewissem Grad zusteigern?Was ist denn wirklich falsch daran? Das hat nicht nur uns geholfen, sondernanderen genauso, einschließlich der Verbündeten der Amerikaner und, indirekt,nämlich durch ein erhöhtes Angebot auf den Ölmärkten, sogar den Amerikanernselbst. Ganz allgemein scheint die Haltung der Vereinigten Staaten in diesem Punktsehr widersprüchlich zu sein. Einerseits ist in CIA-Berichten von unserer angeblichenÖlknappheit die Rede, verbunden mit massivenWarnungen, daß sich diese Situationzu einer Hauptquelle der internationalen Spannungen entwikkeln wird; wobei mandavon ausgeht, daß sich die UdSSR durch ihre angebliche Ölknappheit genötigt sieht,um das Öl aus dem Nahen Osten zu konkurrieren, bzw. es einfach in Beschlag zunehmen. Wenn sie solche Überlegungen anstellen, sollten die Amerikaner eigentlichan einem Ansteigen der sowjetischen Erdöl- und Erdgasförderung interessiert sein,dies umsomehr, als das dazu beitragen würde, die Nachfrage auf dem Ölmarkt zuberuhigen und die Ölpreise niedriger zu halten, ganz zu schweigen davon, daß dieChancen, sowjetisches Öl und Gas direkt zu importieren, steigen würden.Andererseits aber stellen die Amerikaner, sobald sie an unserer Außenoder

Innenpolitik etwasmißbilligen, demVerkauf spezieller Technologie neue Hindernissein den Weg, wie etwa im Fall der Ausrüstungen für Erdölbohrungen.

Ihr ehemaliger stellvertretenderMinisterprasident und Vorsitzender des Ausschussesfür Wissenschaft und Technologie des Ministerrats der UdSSR, Wladimir Kirillin,hat mir versichert, daß nach seiner Meinung die Energieversorgung auf der Weltfür weitere 100 bis 150 Jahre gesichert sei.

Ohne Zweifel ist Kirillin ein Experte auf diesem Gebiet. Er hat dabei, glaube ich, inerster Linie von den Gesamtvorräten an Energieträgern gesprochen.

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Fahren wir fort, Ihre wirtschaftlichen Probleme zu diskutieren. Der Bürokratismusscheint für die Sowjetunion ein Quell immerwahrender Sorgen zu sein.

Einer der Gründe ist das unentwegte Anwachsen von organisatorischen Strukturen,das diese für bürokratische Tendenzen anfälliger werden läßt. Das scheint einweitverbreitetes Problem sowohl hier wie auch im Westen zu sein. Ein weitererGrund ist nachmeiner Ansicht die bürokratische Tradition Rußlands, die Jahrhundertezurückreicht. Lenin maß dem Kampf gegen diese Tradition große Bedeutung bei,dem Kampf gegen den bürokratischen Stil in der Regierung, der nicht nur derEffektivität der Regierungsarbeit schadete, sondern - was vielleicht noch wichtigerist - auch den Unternehmungsgeist des Durchschnittsbürgers beeinträchtigte.

Wird in der Sowjetunion offiziell zur Kenntnis genommen, daß der Bürokratismusein Problem ist?

Und ob. Das wird nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch als etwas gesehen,was nicht geduldet werden kann, etwas, das ausgemerzt werden kann und muß.Hierzu ein Zitat aus einer kürzlich gehaltenen Rede von Generalsekretär Breschnew:‘Je schwerer es für den Bürokraten ist, in unserer Gesellschaft zu überleben, destoausgefeilter werden seine Methoden, sich der Veränderung anzupassen und sich einneues Äußeres zuzulegen. Aber das Wesen bleibt das gleiche - die Substanz derArbeit wird ihrer äußeren Form geopfert, der Bürokrat vernachlässigt die Interessendes Staates, die Interessen der Gesellschaft und die Interessen des Volkes, um derInteressen seines Amtes willen...’

Was wird konkret zur Eindämmung eines einseitig bürokratischen Vorgehens gegennahezu jegliche persönliche Initiative getan?

Ja, es gibt bei uns Bürokratie, und sie neigt dazu, persönliche Initiative zu erschweren.Ihre Frage erweckt jedoch den falschen Eindruck, in unserem Land regiere dieBürokratie, während jegliche private Initiative unterdrückt wird.In Wirklichkeit sprechen wir aber in diesem Zusammenhang nicht vom System

als solchem, sondern von Erscheinungen, die eine Verzerrung darstellen, selbst wenndiese nicht gerade selten vorkommen. Die Beamten in den Behörden werden fürbürokratisches Verhalten bestraft: im Rang zurückgestuft oder aus der Parteiausgeschlossen.

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Für welches bürokratische Verhaken im besonderen?

Beispielsweise, wenn Beschwerden über wirtschaftliche Mißstande oder Gesuchennicht genügend Beachtung geschenkt wird. Erst kürzlich wurden zwei Sekretäreeines Bezirksparteikomitees aus ihren Ämtern entfernt, ganz zu schweigen vonBeamten in niedrigeren Positionen.Eine weitere wesentliche Tendenz ist es, die öffentliche Meinung dahingehend zu

beeinflussen, daß sie bürokratisches Verhalten nicht toleriert. Man hört selten eineRede von führenden Persönlichkeiten, in der dieses Problem nicht angesprochenwürde.Gleichzeitig wird persönliche Initiative in jeder Weise ermutigt. 1979,

beispielsweise, faßten das Zentralkomitee der KPdSU und derMinisterrat der UdSSReinen speziellen Beschluß zu Fragen von Planung und Management, der Anspomfür eine ganze Reihe spezifischer Maßnahmen war, welche die Entscheidungen inIndustrie und Landwirtschaft betreffen, wodurch für umfangreiche Vorkehrungengesorgt wurde, die landwirtschaftliche Produktion auf privatbewirtschaftetemBodenzu ermutigen.

Marshall Goldman vom ‘Soviet Research Center’ in Harvard sagte mir, er finde,daß die Prognosen des CIA, in denen dieser wirtschaftliche Schwierigkeiten für dieSowjetunion heraufziehen sieht, allzu oft im Widerspruch zu den Tatsachen stünden.

Es überrascht micht nicht, wenn die Leute immer wieder Beweise dafür finden, daßBerichte, die aus nachrichtendienstlichen Quellen stammen, einem ganz anderenZweck dienen als dem, die Öffentlichkeit über die Realitäten zu informieren. Mir istklar, daß es ein wichtiges Ziel solcher Berichte ist, den Amerikanern zu Zeiten, indenen ihre eigeneWirtschaft in tiefen Schwierigkeiten steckt, Mut zuzusprechen. Esist eines der Rätsel der menschlichen Psyche, daß es irgendwie immer leichter ist,die eigene Last zu tragen, wenn man meint, daß es dem Nachbarn noch schlechtergeht. Solche Berichte sind auch dazu da, ein düsteres Bild von der Sowjetunion undihrer Zukunft zu malen. Tatsächlich ist es so, daß die politisch bedingteFehlerhaftigkeit dieser pessimistischen Vorhersagen über unsereWirtschaft oft sogarvon offiziellen Stellen der USA anerkannt wird. Erinnern Sie sich an den CIA-Berichtvon 1977 über die Energiesituation in der UdSSR?

Sie meinen die Vorhersage, daß Sie in den achtziger Jahren mehr Erdöl importierenmüssen, als Sie exportieren werden?

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Ja. Der US-Kongreß entschloß sich, die Aussagen des CIA zu überprüfen - imKapitolwar man zu jener Zeit noch in einer Stimmung, in der man Nachprüfungen anstellte-, und die Experten fanden heraus, daß die CIA-Prognose nicht nur falsch war, sonderneindeutig politisch motiviert, um die Situation zu dramatisieren, in der Absicht, fürPräsident Carters Energieprogramm Unterstützung zu mobilisieren.Oftmals wurden die Kampagnen, die die ‘wirtschaftliche Schwäche’ der UdSSR

zum Gegenstand hatten, auch noch aus anderen Überlegungen heraus betrieben -man wollte beweisen, daß unser Zusammenbruch kurz bevorstehe, um damit jenePolitik rational zu begründen, die es darauf anlegte, durch fortgesetzte Ausübungvon Druck ein solches Ergebnis schneller herbeizuführen. Auch sollte in derÖffentlichkeit der Eindruck entstehen, es sei sinnlos, überhaupt an eine Koexistenzmit der Sowjetunion auf demselben Globus zu denken, da es diese ohnehin bald nichtmehr geben würde. Mehr als einmal wurde der Westen, indem er sich selbst etwasvorgaukelte, ein Opfer seiner eigenen Propaganda.

Geschieht das Ihrer Ansicht nach auch jetzt wieder?

Oh ja. Wir verleugnen nicht, daß wir Probleme haben - und welches Land hat wohlschon keine -, aber, um zu einem realistischen Bild der sowjetischen Wirtschaft zugelangen, sollte man nicht nur die Probleme und Schwierigkeiten sehen.Wir können, wenn wir Bilanz ziehen, einige recht eindrucksvolle Erfolge anführen.

Da ist einmal die in der Geschichte beispiellose Umwandlung des rückständigen,armen und vorwiegend agrarischen Rußlands in die zweitgrößte Industriemacht derErde innerhalb von nur einem Menschenalter. In diesem Zeitraum wurde unsereWirtschaft zweimal zerstört - zuerst durch den Bürgerkrieg und dann durch denZweiten Weltkrieg - aber beide Male hat das sowjetische Volk sie auf den Ruinenneu aufgebaut.Das stellt fürwahr selbst märchenhafte Heldentaten in den Schatten. Hat es nicht

auch enorme Verbesserungen für die ethnischen Minderheiten gegeben, derenLebensstandard, Lebenserwartung und Bildungsstand auf das Niveau des übrigenLandes angehoben wurde? Sind die Neuerungen imWohnungswesen, die wahrhaftigeiner Revolution gleichkommen, oder die gigantischen Öl- und Gasprojekte inWestsibirien etwa nichts?Wir waren die ersten, die eine nationale Wirtschaftsplanung und eine umfassende

Sozialpolitik einführten. Es ist zu einem nicht unerheblichen Teil der Wirkung dessowjetischen Beispiels zuzuschreiben, daß für die arbeitende Bevölkerung imWestenheutzutage der Achtstundentag gilt,

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daß es die Sozialversicherung, die Arbeitslosenunterstützung, den bezahlten Urlaubund die gesetzliche Verankerung der Gewerkschaften und ihrer Rechte gibt - Dinge,die noch vor einem halben Jahrhundert, wenn nicht gar in noch jüngerer Zeit, ineinem Atemzug genannt wurden mit subversiven Tätigkeiten.Ich erinnere mich an die Worte Theodore Dreisers, nachdem das ‘Social Security

Bill’ 1935 als US-Gesetz in Kraft trat: ‘Dafür danke ich Karl Marx und dem RotenRußland’. Und selbst ein so unvoreingenommener, nichtmarxistischer Beobachterwie Arnold Toynbee räumt ein, daß die UdSSR eine wichtige Rolle daßei spielte,sahen sich doch die westlichen Länder dadurch die Existenz der Sowjetunion dazugezwungen, ‘Dinge zu tun, die sie eigentlich immer schon tun hätten sollen...’2

Sie mögen den Ansporn dafür geliefert haben, daß es im Westen zu größerenFortschritten gekommen ist, als es sie ohne die UdSSR gegeben hätte, aber dennochliegen Sie in vieler Hinsicht hinter dem Westen zurück.

Nun, manche Waren sind noch knapp, und die Auswahl in den Geschäften istbegrenzter als im Westen. Der Dienstleistungsbereich läßt viel zu wünschen übrig,und der allgemeine Lebensstandard ist bis jetzt noch niedriger als in einigen anderenLändern. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben.

Ihre Aufrichtigkeit ehrt Sie. Könnten Sie mehr dazu sagen?

Ich schäme mich nicht, diese Mangel einzugestehen, weil sie vor allem durch unsereschwierige geschichtliche Vergangenheit zu erklären sind, lebte doch unser Volk diemeiste Zeit unter unglaublich harten Bedingungen und mußte sich deshalb auf dasAllernotwendigste beschränken. Eine Folge war, daß wir uns nicht nur mit demProblem einer unzureichend entwickelten Konsumgüterindustrie konfrontiert sahen,bzw. anderen Konsequenzen, die sich aus dem chronischen Investitionsmangel imBereich der Landwirtschaft, des Wohnungsbau, des Einzelhandels und derDienstleistungsbetriebe ergaben, sondern auch mit einer besonderen Einstellung derÖffentlichkeit gegenüber diesen Bereichen, denen sie nachgeordnete Bedeutungbeimaß. Erst jetzt können wir damit anfangen, diese Tradition zu überwinden, undes hat sich, nebenbei gesagt, erwiesen, daß das keine leichte Aufgabe ist.

Aber die Dienstleistungen sind immer noch ziemlich schlecht.

Was sollte man anderes erwarten? Tatsächlich kamen wir erst in den

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letzten 10,20 Jahren allmählich in den Genuß eines gewissen Luxus, und zwar zumersten Mal im Verlauf unserer Geschichte.

An welche Art Luxus denken Sie?

Zum Teil handelt es sich um recht elementare Dinge. Aber lassen Sie mich, bevorich ins Detail gehe, folgendes betonen: Immer, wenn man den Lebensstandard in derSowjetunion und in westlichen Ländern vergleicht, sollte man nicht vergessen, daßdieMenschen in der Sowjetunion seit Jahrzehnten in denGenuß vider Dinge kommen,die für den Durchschnittsbürger des Westens noch immer schwer zu erlangen sind.

Ich meine damit ein kostenloses Bildungswesen, Gesundheitsfürsorge,Beschäftigungsgarantie usw. Bei uns ist man an diese Dinge so gewöhnt, daß mansie oft vergißt - und gar mancher, der die UdSSR verläßt und in den Westenauswandert, erlebt das Fehlen alldessen als einen schweren Schock.Andererseits ist es erst seit ziemlich kurzer Zeit so, daß eine abgeschlossene

Wohnung für die einzelne Familie kein unerhörter Luxus mehr ist. Ich will dafür dasBeispiel anführen, mit dem ich am besten vertraut bin - meinem eigenen Fall. Icherhielt 1958 zum ersten Mal eine Zweizimmerwohnung, also zu einer Zeit, als ichbereits ein anerkannter Journalist war. Vorher wohnte ich mit meiner Frau, meinemkleinen Sohn und meiner Schwiegermutter in einem Zimmer, das knapp 16Quadratmeter maß. In den übrigen neun Zimmern dieser Wohnung lebten mehr als30 Menschen, mit denen wir die Küche und die sanitären Einrichtungen teilten. Ichkann nicht behaupten, daß das sehr komfortabel war. Aber ich versichere Ihnen, daßwir darin weder eine Entbehrung sahen, noch unglücklich darüber waren, lebten dochalle um uns herum unter denselben Umständen.Man sollte sich darüber im klaren sein, daß fast alle, die meiner Generation

angehören, noch aus eigener Erfahrung wissen, was Hunger bedeutet - nicht nurEiweiß- oder Vitaminmangel, sondern tatsächlicher Hunger. Und solcheMühsal, dietatsächlich von nahezu alien Menschen geteilt wurde, führte zu ganz bestimmtenVerhaltensweisen. Ich erinnere mich an die asketische Einstellung, die zur Zeit meinerKindheit vorherrschte: Zu bestimmten Zeiten ware es allgemein als unschicklichempfunden worden, einen goldenen Ehering oder eine Krawatte zu tragen, selbstwenn man sie gehabt hätte.

Wahrend der Besetzung Hollands durch die Nazis haben wir auch einmalTulpenzwiebeln gegessen. Welche Gefühle rufen solche Erinnerungen bei Ihnenwach?

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Ich erinnere mich an all das mit Schmerzen, manchmal mit einem Làcheln, aber auchmit Stolz. Ja, mit Stolz, weil wir dies ailes mit Würde zu tragen wußten und aucheinen unerhört schwierigen Geschichtsabschnitt mit Würde durchgestanden haben.Die Zeiten haben sich geändert, und heute ist es zum bevorzugten Zeitvertreib deralten Leute geworden, über die Jüngeren zu klagen, die sich der Vergangenheit nichterinnern oder das, was sie haben, nicht genügend zu schatzen wissen. Das gleichegilt aber wahrscheinlich für die Alten überall auf der Welt. Die Menschen bei unsstellen heute höhere Ansprüche, was die Annehmlichkeiten des Lebens anbelangt,und das ist meiner Meinung nach auch nur natürlich und angemessen. Das sprichtdeutlich für sich - ist ein Zeichen für die Veränderungen zum Besseren, und zugleichbedeutet es, daß wir die Ziele, die wir uns gesteckt haben, erreichen werden. Wennjedoch unsere Schattenseiten ständig von Fremden angeprangert werden, die nichtsvon den harten Prüfungen wissen, durch die wir zu gehen hatten, nichts von denAnstrengungen, die unser Leben bestimmten, so kommt mir das unfair vor.

Glauben Sie nicht, dafi einige Ihrer Probleme nicht Resultat einer schmerzlichenGeschichte sind, sondern eher mit der sozialistischen Or- ganisationsweise derProduktion zu tun haben?

Nein. Gleichzeitig aber muß man sich vor Augen halten, daß es tiefgehendeUnterschiede in den Wertvorstellungen geben kann. Jedes Land muß seine Wahltreffen und sollte - hat es sich einmal entschieden - nicht über die Konsequenzenklagen.Zu der Wahl, die wir getroffen haben, gehört z. B. ein möglichst umfassendes

System der sozialen Sicherheit, was eine Garantie der Vollbeschäftigung einschließt,sowie Rechte für die Arbeitnehmer, die so weit gehen, daß es nahezu unmöglich ist,jemand zu entlassen. Natürlich laßt sich nicht vermeiden, daß sich darausAuswirkungen auf die Intensitßt der Arbeit und somit auch auf die Produktivitätergeben. Keines unserer Unternehmen kann praktisch Bankrott machen, was sichwahrscheinlich auch in der Arbeit des Managements widerspiegelt.

Ichmöchte aber nicht alles darauf zurückführen. Auch bemühenwir uns nachKräften,an diesen Vorzügen festzuhalten und gleichzeitig die Arbeitsproduktivität zu erhöhenund bessere ideelle und materielle Anreize zu schaffen. Aber dennoch haben dieDinge, die ich erwähnte, Auswirkungen. Niemand muß bei uns ums Überleben, umdie nackte Existenz kßmpfen. Ist das gut oder ist es schlecht? Ich bin sicher, dieüberwiegende Mehrheit in der UdSSR denkt, daß es gut ist.

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Ist das nicht ein zu hoher Preis für die soziale Sicherheit?

Wir glauben, daß der Preis angemessen ist. Wir haben diese Wahl getroffen und wirsind bereit, dafür zu zahlen. Andere haben das Recht, ihre eigene Meinung zuvertreten, und wir werden nicht versuchen, sie zu zwingen, dieseMeinung zu ändern.Und ich möchte betonen, daß unser Ideal nicht ein asketisches Leben ist. Wir sindkeineswegs für ein langweiliges, eintöniges Leben. Andererseits lehnen wir denKonsum um des Konsums willen ab, weil wir glauben, daß dadurch menschlicheWertordnungen entstellt werden und das menschliche Leben sinnentleert wird.

Solche Haltungen müssen in Ihrem Land wohl ideologisch verwurzelt sein.

Das ist richtig. Die kommunistische Ideologie betont besonders die Rolle desKollektivismus, d.h., es kann und sollte eine Harmonie bestellen zwischenindividuellen und kollektiven Interessen, sind doch letztere ein genauso natürlicherund unerläßlicher Bestandteil der individuellen Freiheit und Entfaltung wie dieunmittelbaren Interessen des einzelnen. Das steht in starkem Kontrast zu demextremen Individualismus, der für viele Amerikaner typisch ist.

Die Amerikaner glauben, er helfe ihnen, ihre Freiheit zu bewahren.

Nun, das ist eine vielschichtige philosophische Frage, die uns von unserem Themazu weit wegführen würde. Ich möchte mich auf eine Bemerkung beschränken, ohnedabei auf die grundlegende Definition von Freiheit einzugehen: Der Individualismuswar eine machtige Antriebskraft in der amerikanischen Geschichte, jedochverschlechtert sich die Bilanz immer mehr. Die Amerikaner zahlen jetzt für ihrenextremen Individualismus den Preis in Form der weitverbreiteten Entfremdung, dergesellschaftlichen Vereinzelung, der wachsenden Anarchie im Bereich derwirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung und in Form einerEskalation gesellschaftsschädigendenVerhaltens wie Verbrechen, Drogenmißbrauch,Gewalttätigkeit, usw.

Aus dem Vergleich der beiden Gesellschaftssysteme würden Sie also den Schlußziehen, daß eine umfassende Kosten-Nutzen-Abwägung für den Sozialismus spricht.

Richtig. Auch glauben wir, daß es ohne eine vernunftgemäße Organisie-

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rung der Gesellschaft keine wirkliche individuelle Freiheit geben kann. Das höchsteIdeal des Kommunismus ist die freie und allseitige Entwicklung der Persönlichkeiteines jeden Individuums. Dieses Ziel kann nur in einer Gesellschaft erreicht werden,die eher auf das Gemeinwohl bedacht ist, als daß sie der privaten Habsucht dienlichist.

Aber hat nicht der Kapitalismus großartige Ergebnisse aufzuweisen, vor allem aufwirtschaftlichem Gebiet?

Sicherlich ist das der Fall. Gleichzeitig müssen wir, wenn wir die gesamteLeistungsfähigkeit der beiden Systeme einschätzen, viele Faktorenmitberücksichtigen:die Leistungen, die in der Vergangenheit erbracht wurden, die Geschwindigkeit, mitder die Entwicklung heute auf beiden Seiten fortschreitet, die Fähigkeit, in einerZwangslage Leistungen zu erbringen; außerdemmüssen wir aber auch beide Systemedaraufhin untersuchen, inwieweit sie zur Lösung der komplizierten Probleme derGegenwart und der Zukunft imstande sind.Der Kapitalismus hat seine Fähigkeiten bewiesen, viele Dinge schnell und zu

günstigenBedingungen zu produzieren und dieMärkte ausreichendmit Konsumgüternzu versorgen (obwohl ich sicher bin, daß ein System auf der Basis der zentralenPlanung und der vergesellschafteten Produktionsmittel es mit dem Kapitalismus indieser Hinsicht aufnehmen kann und aufnehmen muß).Aber gesellschaftliche Bedürfnisse beschränken sich nicht auf Autos, Strumpfhosen

oder Kaugummi. Eine moderne Gesellschaft richtet in zunehmendem Maß ihrAugenmerk auf die Bildung, die medizinische Versorgung, den Umweltschutz, denhaushälterischen Umgang mit der Energie und anderen natürlichen Ressourcen, dieöffentlichen Transportmittel, die Lebensgestaltung in den Großstädten, usw. Hiergerät der traditionelle Kapitahsmus ins Straucheln, wogegen unser System, trotz allerProbleme, bessere Ergebnisse erzielt und leistungsfähiger ist. Und diese sozialenBedürfnisse gewinnen heutzutage mehr und mehr an Bedeutung. Es ist kein Zufall,daß man auch im Westen den Problemen der Planung in den letzten Jahren mehrAufmerksamkeit widmet. Sogar im amerikanischen Kongreß wurden mehrereGesetzesvorlagen eingebracht, die sich mit dieser Materie befassen. Albert Einsteinhat schon 1949 sehr treffend gesagt: ‘Die wirtschaftliche Anarchie der kapitalistischenGesellschaft in ihrer heutigen Form ist meiner Meinung nach die wirkliche Quelledes Übels... ‘Er führte das auf die Konzentration der wirtschaftlichen und politischenMacht in den Händen einiger weniger zurück, sowie auf den Verfall derdemokratischen Prozesse, der zu einer ‘Verkrüppelung des sozialen undmoralischenGewissens des Individu-

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ums’ führt. ‘Ich bin überzeugt’ - so die Schlußfolgerang Einsteins - ‘daß es nur einenWeg gibt, um diese ernsten Übel auszumerzen, nämlich die Einführung einersozialistischen Wirtschaftsform, begleitet von einem Bildungssystem, das sich ansozialistischen Zielen zu orientieren hätte.’

Dennoch herrscht im Westen die Ansicht vor, daß der Sozialismus in der Praxisweniger leistungsfähig ist als der Kapitalismus, wenn es gilt, den Lebensstandardanzuheben. Angeblich liegt die sowjetische Wirtschaft in dieser Hinsicht deshalbnoch weit hinter den USA zurück.

Wie ich schon erwähnte, ist nicht zu leugnen, daß Länder wie Schweden,Westdeutschland oder die Vereinigten Staaten einen höheren Lebensstandard haben.Doch der Abstand zwischen demLebensstandard der fortgeschrittenen kapitalistischenLänder und dem der UdSSR verringert sich stetig. Ich glaube, er wird sich in Zukunftsogar noch rascher verringern.

Worauf stützen Sie Ihre Zuversicht?

Ein Grand - und ich sage das ohne alle Schadenfreude - ist der, daß alle Anzeichen,einschließlich der Wirtschaftsprognosen, darauf hindeuten, daß der amerikanischenWirtschaft harte Zeiten bevorstehen. Tatsächlich haben sie ja auch schon begonnen.

Sie meinen die Inflation?

Ja, sowohl sie wie auch weitere Schwierigkeiten wie Arbeitslosigkeit, Problème derEnergieversorgung, die Schwache des Dollars und ein stark verlangsamtesWirtschaftswachstum. Ich kann auch solche, für die amerikanischeWirtschaft relativneue Phänomene anführen wie die praktisch bereits eingetretene Stagnation beimProduktivitätszuwachs, die Verlangsamung des technischen Fortschritts und andereMerkmale einer zunehmenden wirtschaftlichen Ineffizienz. Die Statistiken zeigen,daß nach einer Periode der Stagnation ein Rückgang des amerikanischenLebensstandards eingesetzt hat.

So glauben Sie also, daß Amerika magere Jahre bevorstehen?

Das ist nicht nur meine Meinung. Forderten nicht Präsident Carter, der Präsident desZentralbankrats, Paul Volcker, und andere hohe Regierangsstellen die Amerikanermit schöner Regelmäßigkeit dazu auf,

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den Gürtel enger zu schnallen? Wirtschaftswissenschaftler stimmen in ihrenskeptischen Prognosen für die achtziger Jahre einhellig üßerein. Allein schon dieHöhe des gegenwärtigen Leßensstandards ßeizußehalten, wird für die USA undandere westliche Länder zu einer sehr schweren Aufgaße werden. Die Amerikanerwerden lernen müssen, nicht üßer ihre Verhältnisse zu leßen, sowohl die Nation wieauch der einzelne.

Was meinen Sie mit ‘nicht über ihre Verhältnisse leben’?

Ich meine damit, daß es Dinge gißt, die sich Amerika nicht mehr leisten kann, ohnesich daßei selßst zu gefährden. Es kann sich kein unßegrenztes Wettrüsten leisten,ohne seine Wirtschaft dadurch weiter zu schwächen. Es kann nicht die Situationwiederherstellen, die vor 1973 im ßereich der Ölversorgung herrschte, ßetrachten esdoch die ölproduzierenden Länder als ihr souveränes Recht, selßst die Kontrolle üßerihre Ressourcen auszuüßen. Es kann nicht darauf verzichten, drastische undkostspielige Maßnahmen zu ergreifen, um das ökologische Gleichgewichtwiederherzustellen und zu bewahren. Und es kann sich nicht leisten, weiterhin dieRessourcen in einer Weise zu vergeuden, als wären diese unerschöpflich.Nehmen Sie die sogenannte Energieknappheit. Die Vereinigten Staaten verhalten

sich, als waren sie eher bereit, ihre Söhne in den Tod in denWüsten des Nahen Ostenszu schicken und dabei die Welt an den Rand eines Atomkriegs zu treiben, denn ihreverschwenderischen Gewohnheiten beim Energieverbrauch zu ändern.

Sie haben von den Belastungen gesprochen, denen sich die amerikanischeWirtschaftansgesetzt sieht. Bleibt die Wirtschaft der Sowjetunion von solchen Belastungenverschont?

Nun, ich wollte nicht als Prophet auftreten, der Amerika den Untergang weissagtund auch nicht als ein überschwenglicher Optimist erscheinen, wenn ich von unsspreche.Wir haben ebenfalls Probleme, und zwar in Zusammenhang mit ökologischen

Fragen, mit Rohstoffen und Arbeitskräftemangel. Aber diese Problème sind meinerMeinung nach in den Griff zu bekommen. Undwennwir daran gehen, diese Problèmezu lösen, dann schwebt uns dabei nicht die amerikanische Verschwendungssucht alsdie Verkörperung des guten Lebens vor.

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Es bleibt die Frage, ob es wirtschaftliche Interessen sind, die die Sowjetunion dazuveranlaßt, dauernd auf Entspannung zu drängen.

Wie ich schon gesagt habe, ist das vorrangige Motiv bei unseren Bemühungen, dieSpannungen zu entschärfen, das Bestreben, einen Krieg zu verhindern und unserÜberleben als Nation wie ganz allgemein das Überleben der Menschheit zugewährleisten. Aber die wirtschaftlichen Erwägungen haben ebenfalls großesGewicht.Auch sehe ich darin nichts Schändliches. Wenn die Wirtschaft aus der EntspannungNutzen zieht und Entspannung verlangt, so handelt es sich um eine gesundeWirtschaftund eine gesunde Gesellschaft, die sich vor anderen weder fürchtet, noch eine Gefahrfür andere bedeutet.Welches sind unsere wirtschaftlichen Motive? Zum einen sind wir daran

interessiert,unsereMilitärausgaben zu senken. Unser ganzes Streben gilt der Schaffunginternationaler Verhältnisse, die uns erlauben würden, weniger für Kanonen undstattdessen mehr für Butter auszugeben.Ein weiteres wirtschaftlichesMotiv ist darin zu sehen, daß wir nichts von Autarkie

halten. Die internationale Arbeitsteilung ist eine, wirtschaftlich gesehen, gesundeErscheinung, und wir erwarten, daß wir aus einer Ausweitung des Handels und einerverstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Ländern Nutzen ziehen,und zwar in gleicher Weise wie unsere Partner.

Bei der Erörterung der amerikanisch-sowjetischen Handels- undWirtschaftsbeziehungen haben Sie den Eindruck erweckt, daß alle Hindernisse vonden Amerikanern verursacht wurden. Ist die UdSSR in dieser Hinsicht ohne Fehlund Tadel?

Handel und wirtschaftliche Verbindungen erfordern gegenseitige Anpassung, dieEntwicklung angemessener institutioneller Einrichtungen für diese Beziehungensowie die Suche nach neuen und effizienteren Formen desWirkens, etc.; dazumüssenwir unseren Teil beitragen. Es kommt immer noch vor, daß unsere Behôrdenuntereinander zu wenig Kontakte pflegen, vor allem bei großen Projekten, wenn esentweder zu einer Überschneidung oder Aufteilung der Verantwortung kommt. DieVorgänge in Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung im Außenhandel sindoftmals zu starr und kompliziert, was unseren Verhandlungsspielraum einengt undVerhandlungen verzögert. Auch kennen wir möglicherweise den amerikanischenMarkt nicht gut genug. Wir unternehmen große Anstrengungen, diesbezüglich fürVerbesserungen zu sorgen, und es bleibt auch weiterhin noch viel zu tun. Aber dazuist auch

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ein gewisser Anreiz erforderlich, also die Aussicht auf greifbare Ergebnisse.

Bestehen denn tatsächlich die Voraussetzungen für solche Ergebnisse?

Gewiß. Als erstes wäre zu sagen, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunionnatürliche Handelspartner sind. Die Größe dieser beiden Volkswirtschaften, dieimmense Aufnahmefähigkeit ihrer Binnenmärkte, die mannigfaltigen Strukturenihres Außenhandels - all diese Faktoren bilden eine solide Grundlage fürHandelsbeziehungen auf der Basis gegenseitigen Nutzens. Zweitens: Unsere Länderverfügen über die zwei größten technisch-wissenschaftlichen Potentiale auf derWelt.Angesichts der rasant anwachsenden Kosten und der zunehmenden Spezialisierungder wissenschaftlichen Forschung liegt ein weiterer gewichtiger Beweggrund für dietechnologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit vor. Ein spezieller Bereich,in dem eine solche Zusammenarbeit sowohl am dringendsten geboten ist, wie aucham einträglichsten zu werden verspricht, ist die Entwicklung alternativerEnergiequellen. Wir verfolgen einige sehr vielversprechende Ansätze bei derKohlevergasung, bei magnetohydrodynamischen Generatoren, im Bereich derthermonuklearen Energie und im Zusammenhang mit weiteren Neuerungen. DieAmerikaner arbeiten ihrerseits an eigenen Projekten. Doch die steigenden Kostenund die Kompliziertheit solcher Vorhaben sowie die entscheidende bedeutung, diesie für die ganze Menschheit haben, gebieten mit allem Nachdruck gemeinsameAnstrengungen in diesem Bereich.

Gibt es noch weitere Beispiele?

Solche bereiche gibt es viele: die Erforschung des Weltraums und der Ozeane, diefriedliche Nutzung der Atomenergie, die Landwirtschaft, die Medizin, usw. Einesolche Zusammenarbeit würde nicht nur in beiden Ländern eine beträchtlicheEinsparung von Staatsgeldem zur Folge haben, sondern auch dabei helfen, vieledrängende und komplizierte technische Probleme zu lösen, mit denen sich die gesamteWelt konfrontiert sieht.Schließlich ist auch die Tatsache nicht unerheblich, daß wir und die Vereinigten

Staaten ähnliche Merkmale aufweisen, etwa die Größe unserer Länder, diegeophysikalische Beschaffenheit einiger Regionen sowie Aufgaben, die an beidegleichermaßen gestellt werden, z. B. in der Landwirtschaft, beim Umweltschutz, imEnergiebereich, beim Verkehrs- und Transportwesen und anderem mehr. DieseÄhnlichkeiten

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führen zu zusätzlichen übereinstimmenden Interessen, zu neuen und einmaligenMöglichkeiten der Zusammenarbeit, wie wir sie ansonsten in unseren Beziehungenzu anderen Ländern nicht kennen.

So kann man also sagen, daß das Potential vorhanden ist und die Hindernissevorwiegend politischer Natur sind.

Genau, und das Haupthindernis bleibt diese längst überholte Haltung der Amerikaner,Handels- und Wirtschaftsbeziehungen als politische Waffe einzusetzen, was nunfürwahr ein Überbleibsel der Mentalität des Kalten Krieges darstellt. DieseDenkungsweise läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn man seine langfristigen Zielehauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der militarischen Konfrontation sieht. Wennman die Zukunft dagegen unter dem Aspekt der friedlichen Koexistenz zwischenden USA und der UdSSR betrachtet, dann kann man nicht von der bankrottenVoraussetzung ausgehen, der anderen Seite das höchstmögliche Maß an Schadenzuzufügen.

Worüber sprechen wir dann eigentlich hier? Obwohl so viel Aufhebens gemacht wirdum die Frage, ob man bestimmte technische Neuigkeiten an die UdSSR verkaufensollte oder nicht, steht doch eigentlich zur Debatte, welcher Art die Welt sein soil,die wir für kommende Generationen schaffen.

Natürlich, es sollte tatsächlich darüber debattiert werden, wie nach den Vorstellungender Sowjetunion und der Vereinigten Saaten die künftige Welt aussehen sollte. Eswäre einfach tragisch, wenn wir bei unserem Bestreben, zu überleben und zuWohlstand zu gelangen, einen gangbarenWeg darin sehen würden, der anderen Seiteso viel Schadenwiemöglich zuzufügen oder gar darin, unserenKonkurrenten gänzlichniederzuringen. Tragisch deshalb, weil in der Welt von heute kein Land in der Lagewäre, anderen zu schaden, ohne sich selbst gleichermaßen Schaden zuzufügen.

Eindnoten:

1 The New York Times, 13. Januar 19802 The Impact of the Russian Revolution. The Influence of Bolshevism on the World Outside

Russia, Hrsg.: A. Toynbee, London, 1967, S. 31

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V) Zum Thema Ideologie, Menschenrechte und Dissidenten

Welche Rolle spielt die Ideologie in den Beziehungen zwischen Moskau und derwestlichen Welt im allgemeinen und den Vereinigten Staaten im besonderen?

Ideologische Differenzen zwischen Ländern mit unterschiedlichenGesellschaftssystemen sollten unser Ansicht nach keinHindemngsgrund sein, normalepolitische Beziehungen zu unterhalten. Während die kommunistischen Parteien dieEntspannung und die internationale Zusammenarbeit nach Kräften unterstützen,halten sie gleichzeitig die ideologischen Differenzen für bedeutend und den Kampfder Ideen für unvermeidlich.

Wie lassen sich diese beiden Konzepte miteinander vereinbaren?

Die Quintessenz des leninistischenKonzepts der friedlichenKoexistenz besteht darin,daß es die gleichzeitige und friedliche Existenz von Staaten mit entgegengesetztenGesellschaftssystemen vorsieht. Diese Systeme unterscheiden sich in ihrenökonomischen Strukturen, in der Art ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, in ihrenWerten und Idealen.In der Welt von heute kann der Einfluß der Ideologien nicht nur auf jene Länder

beschränkt werden, in denen sie jeweils vorherrschen. Die Ideologien prallenunentwegt aufeinander, sowohl auf globaler Ebene, wie auch innerhalb vieler einzelnerStaaten. Diese unumstößliche Tatsache wurde nicht von uns erfunden und kann auchnicht einfach ignoriert werden.

Vergiftet das nicht die Beziehungen zwischen kapitalistischen und sozialistischenLändern und macht Konflikte zwischen ihnen unumgänglich?

Differenzen tragen nie dazu bei, Harmonie zu schaffen. Aber genauso wenig machensie Konflikte zwischen den Ländern unumgànglich. Beschränken sich ideologischeAuseinandersetzungen jedoch auf die Welt der Ideen, und bedeuten sie, daß jedesLand seine eigenen Werte bejaht,

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die Vorzüge seines eigenen Lebensstils betont und offen das kritisiert, was es amanderen System für falsch hält - warum sollte das dann zu politischen odermilitärischenKonflikten führen? DenAmerikanern, die so stolz auf ihre pluralistischeTradition sind, müßte das eigentlich vollkommen klar sein. Wird aber aus demideologischen Kampf erst einmal ein Kreuzzug oder eine Hexenjagd, so fßhrt diesunmittelbar zu einem Potential, das Konflikte entstehen läßt und sie verschärft. DieGeschichte bietet uns viele Beispiele dieser Art. Noch zahlreicher sind die Fälle, indenen Ideologie und Ideen ganz allgemein nur der Tarnmantel für Unternehmungenwaren, denen andere Motive, wie z. B. Unersàttlichkeit, Machtbesessenheit usw.zugrunde lagen. Als Beispiel dafür könnte man das messianische Gebaren derspanischen Konquistadoren nennen.Ideologie und Propaganda können auch als Instrumente einer bestimmten Politik

eingesetzt werden, insbesondere einer Politik, die auf Subversion undDestabilisierungin anderen Gesellschaften abzielt. Das trifft sowohl für Friedens- wie auch fürKriegszeiten zu. Der Kalte Krieg mit seiner besonderen Art des ideologischenKampfes, die man kurz und bündig ‘psychologische Kriegführung’ nannte, war dafürein gutes Beispiel. Solche Propaganda ist nach unserer Ansicht unvereinbar mitEntspannung und friedlicher Koexistenz. Sie kann den Beziehungen zwischen denLändern nur schaden.

Dieses Verhalten ist auch gefährlich.

Ganz offensichtlich. Und zwar ist das nicht nur meine Meinung. Das Völkerrechtschränkt gewisse Arten der Propaganda ein bzw. ächtet sie - ich kann dazu eine ganzeReihe internationaler Abkommen nennen. Eines davon, der Briefwechsel zwischenRoosevelt und Litwinow, der als formale Grundlage für die Aufnahme derdiplomatischenBeziehungen zwischen unseren Ländern diente, wurde schon erwähnt.

Ideologie spielt also eine ziemlich wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen.

Das ist zweifellos der Fall. Aber wir sollten in dieser Hinsicht sehr sorgfältigunterscheiden.Manchmal wird der Begriff des ideologischenKampfes so weit gefaßt,daß er auch die verschiedenen Haltungen gegenüber Revolutionen und anderenFormen des sozialen Wandels in vielen Ländern der Welt miteinbezieht. Obwohlzwischen Ideologie und diesen Haltungen ein Zusammenhang besteht, sind letzteredoch in erster Linie Ausdruck einer weiteren, sehr fundamentalen Tatsache, näm-

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lich der radikalen, gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den beiden Systemen.Und hier sehen wir uns unweigerlich mit sehr komplexen Problemen konfrontiert -mit politischen Widersprüchen und sogar mit Konflikten im Zusammenhang mitzahlreichen Ereignissen in verschiedenen Ländern, sei es in Äthiopien, Chile oderAfghanistan Die Entspannung ist keine Garantie für den Status quo. Gesellschafthcherund politischer Wandel ist nicht zu vermeiden. Wir sollten lernen, mit ihm zu leben,um nicht den Frieden und die Entspannung zu gefährden.

Sollte es nicht im Hinblick auf einen solchen Wandel Verhaltensregeln geben, undzwar vor allem für die Großmächte?

Gewisse Prinzipien und Regeln bestehen bereits. Das Prinzip der friedlichenKoexistenz, das bereits erwähnt wurde, schließt schon als solches jegliches Bestrebenaus, entweder eine Revolution oder gegebenenfalls eine Konterrevolution zuexportieren.

Ist es denn nicht Wunschdenken, wenn man versucht, den Rahmen für eineZusammenarbeit zwischen Staaten auszuweiten, deren Wertordnungen undVorstellungen in bezug auf Gesellschaft, Politik undMenschenrechte sich weitgehendunterscheiden?

Nein, ich halte das für eine sehr realistische Ansicht. Sicher gibt es Differenzen. Aberwir haben auch wichtige gemeinsame Interessen, wobei das Überleben an allerersterStelle steht. Wir müssen in Frieden miteinander auskommen, und unsere Differenzendürfen nicht dazu führen, daß das Überleben unserer beiden Nationen und derMenschheit insgesamt aufs Spiel gesetzt wird. Sie haben schon gesagt, daß wirverschiedene Auffassungen bezüglich der Menschenrechte haben. Aber haben nichtbeideGesellschaften eine gemeinsameAusgangsbasis in Form eines so gmndlegendenMenschenrechts, wie dem Recht zu leben, dem Recht zu überleben? Wenn diesesRecht nicht garantiert wird, dann verlieren schließlich die anderen Rechte ihren Sinn.

Ist es angesichts der unterschiedlichen Auffassungen von den Menschenrechtenüberhaupt möglich, eine Annaherung von Ost undWest in dieser Frage zu erreichen?

Warum nicht. Ich glaube, die Kluft wurde durch jene im Westen künstlich verstàrkt,die Mißtrauen zwischen den beiden Systemen säen wollen. Tatsächlich aber gibt esso etwas wie eine globale Übereinstimmung zur Menschenrechtsfrage, und zwar inForm der Deklaration der Menschen-

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rechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948, sowie der Konventionen jüngerenDatums, die die Vereinten Nationen zur Frage der Menschenrechte beschlossenhaben, und in Gestalt der Schlußakte von Helsinki als Ergebnis der Konferenz überSicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die meisten Länder der Erde gehören zuden Unterzeichnern wenigstens einiger dieser Dokumente.

Es mag ja eine Übereinstimmung geben, aber in der Regel werden gleiche Prinzipienvon verschiedenen Leuten verschieden ausgelegt.

Das gilt für alle Prinzipien. Wie man die Menschenrechte auslegt, hängt von dereigenen gesellschaftlichen Position ab, von den kulturellen Traditionen, mit denenman verwachsen ist, und von den gesamten historischen Gegebenheiten.Aber bevor wir von diesen Unterschieden sprechen, möchte ich etwas ganz

Fundamentales deutlich machen. Die Vereinigten Staaten versuchen von derGesamtsituation im Bereich der Menschenrechte folgenden Eindruck zu vermitteln:Die Amerikaner sind die Tüchtigsten, wenn nicht gar die Meister, was dieMenschenrechte angeht, während die Sowjetunion und andere sozialistische Länderdagegen sind und nichts anderes tun, als diese Rechte zu verletzen. BeideVorstellungen sind denkbar weit von der Wirklichkeit entfernt.

Könnten Sie auf diesen Punkt näher eingehen? Er ist sehr wichtig.

Gewiß. Wer kann heutzutage schon gegen die Menschenrechte sein? Das wäre dasgleiche, als wollte man ein Naturgesetz abschaffen.Will man nicht nur politische Platitüden wiederholen, so muß man konkreter und

genauer auf diese Fragen eingehen. Was die UdSSR betrifft, so möchte ich betonen,daß wir seit langem zutiefst den Menschenrechten verpflichtet sind. Es geschah umder Menschenrechte willen, daß wir unsere Revolution durchführten und sie imweiteren Verlauf gegen eine ausländische Intervention und die Invasion der Nazisverteidigten. Mehr noch - es war die Sowjetunion, die die Menschenrechte um diesozialen Rechte erweiterte, die vorher weitgehend vernachlassigt worden waren,jedoch für die überwältigende Mehrheit unseres Volkes wie auch für andere Völkervon ganz entscheidender Bedeutung sind. Es hat ein halbes Jahrhundert gedauert,ehe die Staaten als Gemeinschaft die Bedeutung dieser Rechte in Form derUN-Konventionen anerkannten.

Würden Sie sagen, die Sowjetunion ist auf dem Gebiet der sozialen Rechtefortschrittlicher als der Westen?

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Ja, und das ist auch nur natürlich. Soziale Rechte und Freiheiten waren zur Zeit derrussischen Revolution für dieMenschen, die unter Hunger litten und in unvorstellbarerArmut lebten, für die Bauern, die Analphabeten waren und die Mehrheit derBevölkerung ausmachten, von allerhöchster Bedeutung. Dabei handelte es sich umdas Recht auf Arbeit, die Gewähr, weder verhungem noch hungern zu müssen, dasRecht auf ein Dach über demKopf, das Recht auf ein Stück Land zur Bewirtschaftung,das Recht auf Bildung, das Recht auf medizinische Versorgung usw. Und für einLand, das zunächst im Ersten Weltkrieg und danach im Bürgerkrieg verwüstet undschließlich von der Intervention westlicher Mächte heimgesucht worden war, ist dasRecht, in Frieden zu leben, von größter Bedeutung. Diesen und vielen anderen sozialenRechten werden in der Werteskala unserer Gesellschaft noch immer die höchstenPrioritäten eingeräumt. Natürlich garantiert unsere Verfassung die üblichen politischenRechte gleichermaßen, einschließlich der Redefreiheit, der Gewissens- undReligionsfreiheit, der Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit - freilich werdendiese Rechte und Freiheiten bei uns anders verstanden, als das beispielsweise derdurchschnittlichen amerikanischen Auffassung entspricht.Ganz allgemein bin ich mir sicher, daß es - von einer ernsthaften, um

Ausgewogenheit bemühten Einstellung ausgehend - zu einem umfassenden undnützlichen Dialog über die Menschenrechte kommen könnte. Unglücklicherweisewurde in den USA und im Westen ganz allgemein diese wichtige und komplexeFrage zu einem Symbol für einen heftigen Propagandafeldzug gegen die UdSSR.

Für Bürger westlicher Länder ist es jedoch unerklärlich, warum eine große undmächtige Nation wie die UdSSR so kleinkariert sein sollte, daß sie Bürgern, die esvorziehen, das Land zu verlassen, den Paß und die Erlaubnis zur Ausreise verweigert.

Nun, Herr Oltmans, jeder Staat und jede Regierung handelt gemäß dem eigenenVerständnis, ihrer Interessen und Prioritäten sowie ihrer Haltung gegenüberProblemen. Und hierbei gibt es viele Dinge, von denen man sich nicht ohne weiteresfreimachen kann, etwa den Einfluß geschichtlicher Traditionen und geschichtlicherErfahrungen.Es gibt in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen den Vereinigten

Staaten und der Sowjetunion. Mit Ausnahme der Indianer, die von ihrem Landvertrieben und fast vollständig vernichtet wurden, sind die Amerikaner eine Nationvon Einwanderern und deren Nachkommen, und es ist völlig logisch, daß jedermannsFreiheit auszuwandern für sie zu einer Art Naturrecht geworden ist. Aber hierzulandenimmt man

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eine andere Haltung ein. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Sowjetunion zweiAuswanderungswellen großen Ausmaßes erlebt. Zur erstenWelle kam es unmittelharnach der Revolution und dem Bürgerkrieg, als der Großteil der Auswanderer bittereGegner unserer neuen Gesellschaft waren, die am bewaffneten Kampf gegen dieneue Sowjetmacht teilgenommen hatten, Hand in Hand mit eindringendenausländischen Streitkräften. Unter jenen, die mit der zweiten Welle auswanderten,nämlich während oder nach dem ZweitenWeltkrieg, waren viele Nazikollaborateureoder Kriegsverbrecher. Dies hat zur Folge, daß sich eine sehr entschiedene Haltunggegenüber jenen herausgebildet hat, die das Land verlassen wollen. Und das WortEmigrant wurde nahezu zum Synonym für Verräter.

Ist das nach wie vor eine verbreitete Haltung?

Die Situation begann sich allmählich zu ändern, zunächst als ein Ergebnis vonWanderungsbewegungen über Grenzen mit sozialistischen Ländern hinweg, danndurch Familienzusammenführungen und Ehen mit Ausländern sowie durch dieVeränderung der politischen Atmosphäre infolge der Entspannung. Später kam es,wie Sie wissen, verstärkt zur Auswanderung nach Israel bzw. unter diesem Vorwandzur Auswanderung in den Westen. Aber das heißt nun nicht, daß die traditionelleEinstellung zur Emigration vollkommen verschwunden ist. Ganz offen gesagt, manist weit davon entfernt, die jenigen, die emigrieren, für vorbildliche Bürger undPatrioten zu halten.

Was meinen Sie damit?

Von der UdSSR in die Vereinigten Staaten auszuwandern, ist nicht das gleiche, wiewenn man, sagen wir, Holland verläßt und in die USA oder nach Großbritanniengeht. Wenn jemand dieses Land verläßt und in den Westen geht, bedeutet das, daßer die gesamten gesellschaftlichenWerte und Ideale der sowjetischen Nation ablehnt,die mit großen Anstrengungen und schmerzlichen Erfahrungen geschaffen,weiterentwickelt und verteidigt wurden. Das weckt denn auch entsprechende Gefühlebei der breiten Bevölkerung.Das gleiche könnte bis zu einem gewissen Grad auch für die USA gelten. Ich bin

sicher, daß die Entscheidung, in ein westeuropäisches Land oder nach Kanadaauszuwandern, mit Toleranz hingenommen werden würde. Aber stellen Sie sich dieReaktion eines Sheriffs aus Texas oder auch eines normalen gesetzestreuen Bürgersund Kirchgängers aus einer Kleinstadt des Mittleren Westens vor, wenn er zu hörenbekäme, einer seiner

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Nachbarn habe vor, in die Sowjetunion, nach Bulgarien oder in die DDRauszuwandern.Alles in allem gibt es, ob uns das gefällt oder nicht, praktisch in jedem Land

gewisse Beschränkungen bezüglich der Ein- und Auswanderung. In den VereinigtenStaaten z. B. gibt es für die Einwanderung strenge Einschränkungen, und das ist dochgenauso ein humanitäres Problem wie Auswanderungsbeschränkungen. Wäre esnicht ein Ausdruck humanitären Anliegens, wenn man seine Grenzen öffnen undseinen Reichtum mit Millionen von Armen aus Entwicklungsländern teilen würde.Aber das wird, so wie ich es sehe, nur ausnahmsweise gemacht, und zwar in jenenFällen, in denen es der amerikanischen Außenpolitik dienlich ist.

Erst in Utopia werden dereinst alle Beschränkungen fallen.

Tatsache ist, daß nichts stillsteht, daß sich alles verändert. Ich glaube fest daran, daßdie Zeit kommen wird, in der alle Beschränkungen fallen werden und die Menschensich überall freizügig bewegen können. Es ist offensichtlich, daß wir bis dahin dieseFrage mit sehr viel Verständnis behandeln und uns darüber im klaren sein sollten,daß dabei viele ernste Probleme berührt werden, die in Betracht zu ziehen sind undnicht zur Trumpfkarte der Propaganda werden sollten.Gleichzeitig bin ich überzeugt, daß unsere Bestimmungen und Gesetze, die die

Auswanderung betreffen, in der Tat nicht das eigentliche Anliegen derMenschenrechtskampagne sind, die die Vereinigten Staaten vor ein paar Jahreneingeleitet haben.

Was glauben Sie, sind die Gründe?

Ich glaube, daß dieseMenschenrechtskampagne verschiedenen Zwekken diente: denAnti-Sowjetismus zu wecken, Druck auf die UdSSR auszuüben, das AnsehenAmerikas in der Welt zu verbessern und in den USA wieder einen außenpolitischenKonsens herzustellen. Nicht die Menschenrechte selbst waren es, um die dieRegierung besorgt war. Beispielsweise gab es keinen Aufschrei wegen derMenschenrechtsverletzungen in China, obwohl dort politische Unterdrückung in weitgrößerem Ausmaß stattfindet als in nahezu jedem anderen Land. Mutet es nicht wieIronie an, daß der US-Kongreß China genau zu dem Zeitpunkt denMeistbegünstigtenstatus zugestand, als die Führung in Peking dabei war, ihren Flirtmit dem Liberalismus abzubrechen und abweichende Meinungen zu unterdrücken?Warum erweisen sich die USA das eine wie das andere Mal als der zuverlässigsteFörderer autoritärer Regime?

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Und warum ist Washington immer dann, wenn ein solches Regime gestürzt wird,wie in Kamputschea, im Iran, in Nicaragua oder in Afghanistan, so entrüstet und aufRache bedacht?

Aber abgesehen davon, wie Washington die Menschenrechte auslegt, dem Problemals solchem kommt unverändert großes Gewicht zu.

Selbstverständlich ist es von großer Bedeutung. Wir in der Sowjetunion treten füreine Sicherung und Ausweitung der Menschenrechte ein. Das ist ein Teil unsererIdeologie, unserer Gesetze und unserer gesamten Weltanschauung. Wenn aber dieganze Rhetorik um die Menschenrechte mit Bedacht dazu eingesetzt wird, um imHinblick auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen Mißtrauen undFeindseligkeiten zu schüren und die Entspannung zu sabotieren, dann hat das nichtsmit denMenschenrechten als solchen zu tun. Der edle Gedanke wird dann pervertiertund mißbraucht.Ich glaube, die Amerikaner sollten versuchen zu begreifen, daß sie sich, wenn

ihnen die Menschenrechte so sehr am Herzen liegen, zugleich auch für Entspannungeinsetzen müssen. Krieg und Kriegsvorbereitungen, internationale Spannungen undKrisen - das sind die Faktoren, die der Demokratie und dem sozialen Fortschritt ammeisten schaden.McCarthys Hexenjagd in den späten vierziger und frühen fünfzigerJahren hätte ohne das Klima des Kalten Krieges nicht stattfinden können.Ich glaube, es war Daniel Bell, ein Soziologe der Harvard University, der einmal

gesagt hat, daß Amerika auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine ‘mobilisierteGesellschaft’ gewesen sei. Unter dem gleichen Vorzeichen wurden in einer Zeit derSpannungenCIA und FBI ins Leben gerufen, um ‘einen äußeren Feind’ zu bekämpfen.All die Methoden, die sie bei ihren Tätigkeiten, subversiven Aktionen und ihrerpsychologischen Kriegführung anwandten und die für Zwecke des Kalten Kriegesentwickelt worden waren, richteten sich gegen die Amerikaner selbst und, wieWatergate zeigte, sogar gegen politisch Andersdenkende innerhalb der Elite. Es darfwohl nebenbei daran erinnert werden, daß die ‘Watergate-Klempner’, vom Gerichtnach ihrem Beruf gefragt, nach einigem Zögern antworteten, sie seien‘Antikommunisten’.Die gleiche Logik macht sich auch jetzt breit, nachdem das Weiße Haus eine

zweite Auflage des Kalten Krieges inszeniert. In einer dem Kalten Krieg ähnlichenSituation können es sich Regierungen, wie z. B. jene Südkoreas oder Pakistans,leisten, mit den bürgerlichen Freiheiten nach Belieben umzuspringen, ohne daßAmerikas Unterstützung und materielle Hilfe ausbleibt.

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Selbst für den Fall, daß die amerikanische Besorgnis um die Menschenrechte durchund durch politisch motiviert und eigennützig sein sollte - warum versucht dieSowjetunion nicht, Washington auszumanövrieren, zu ‘entwafjhen’, wenn man sowill, indem sie ihre Haltung zu einigen wunden Punkten ändert, auf die dieAmerikaner ständig den Finger legen?

Würden wir unsere Haltung zu einigen wunden Punkten ändern, so würde sichdadurch nicht das geringste ändern. Man muß sich darüber im klaren sein, daß wires bei der ‘Menschenrechtskampagne’ mit einem Versuch zu tun haben, durchanhaltenden, ständig wachsenden Druck unsere innere Ordnung entsprechendwestlichen Vorstellungen zu verändern und gleichzeitig die UdSSR in den AugenderWeltöffentlichkeit zu diskreditieren. Einzelne Forderungenmögen sichmanchmalsehr bescheiden ausnehmen: diesen oder jenen aus dem Gefängnis zu entlassen(obwohl er in voller Übereinstimmung mit den sowjetischen Gesetzen verurteiltwurde), diesen oder jenen ausreisen zu lassen (wobei in der Regel der Grund für dieVerweigerung der durch den Beruf bedingte Zugang zu geheimen Informationenist), die Bestimmungen für die Einfuhr bzw. den Verkauf westlicher Zeitschriftenzu andem usw. Aber wir haben aus unseren bitteren Erfahrungen die Lehre gezogen,daß man, auch wenn solchen Forderungen entsprochen wird, niemand - um IhrenAusdruck zu gebrauchen - entwaffnet, daß man nichts erreicht, niemandzufriedenstellt. Ganz im Gegenteil, durch jedes Zugeständnis wächst der Appetitnoch weiter und weiter, und die Forderungen werden immer anspruchsvoller. Dasist auch ganz verständlich, gilt doch für viele der Drahtzieher der Kampagne, daßdiese Forderungen nicht die aufrichtige Sorge um dieMenschenrechte widerspiegeln,sondern ein Vorwand sind, um den Angriff auf unsere Einrichtungen und Werte, aufunser gesellschaftliches und politisches System zu verstärken.Es gab Zeiten, da hat man Krieg geführt, um dieses System zu zerschlagen. Danach

kam der Kalte Krieg, und jetzt ist die Reihe an anderen Mitteln, einschließlich derMenschenrechtskampagne, die zu diesem Zweck eingesetzt wird.

Übertreiben Sie hier nicht? Ist das nicht Ausdruck der paranoiden Haltung derSowjetunion gegenüber dem Westen?

Keineswegs, das kann ich Ihnen versichern, Herr Oltmans, aber bitte glauben Sienicht, daß ich der Kampagne als solcher große Bedeutung beimesse - dasEntscheidende dabei ist, daß sie nicht isoliert gesehen werden darf. Man muß sie vordem Hintergrund gewisser militärischer Bemühungen, außenpolitischer Manöverund anderer Propagandafeld-

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züge sehen. Es ist nur angebracht, noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß z. B. ineinigen entscheidenden Dokumenten der amerikanischen Außenpolitik, wie demNSC-68, grundlegendeVeränderungen unserer internen Strukturen als unabdingbareVoraussetzung für die friedliche Koexistenz bezeichnet werden. Viele Maßnahmender US-Außenpolitik der jüngsten Zeit erinnern an diese Richtlinien. Mehr noch -im politischen Bewußtsein der Amerikaner lebt irgendwo, tief eingewurzelt, immernoch der Gedanke fort, wir seien etwas Unrechtmäßiges, nicht von Gott, sondernvom Teufel Geschaffenes, und unserem Dasein in seiner heutigen Form soliteirgendwie ein Ende bereitet werden.

Ich glaube, solch eine Stimmung ist für die Vergangenheit typischer als für dieGegenwart.

Untersucht man jedoch z. B. die Terminologie der sogenannten ‘Neuen Rechten’,die heutzutage ziemlich einflußreich ist, so wird man die gleiche alte Intoleranzfeststellen, wie auch die gleiche hartnäckige Weigerung, allein schon die Idee einerKoexistenz mit der Sowjetunion zu akzeptieren.Oder nehmen Sie nur ein anderes Beispiel - die ‘captive nations' week’, (‘Woche

der geknechteten Völker’), die jedes Jahr im Juli vom amerikanischen Kongreßbegangen wird. Als wäre es damit nicht schon genug, unterzeichnet der Präsidentjeweils auch noch persönlich eine feierliche Erklärung. Das Ganze ist nun schon seitJahren eine Routineangelegenheit. Aber was will man damit in Wirklichkeit zumAusdruck bringen? Der Zweck ist, das verdeutlichen viele Kommentare in denVereinigten Staaten, zu zeigen, daß nach Meinung der USA die Sowjetunionwiderrechtlich 14 Republiken in ihrem Griff hält, die deshalb befreit werden sollten.Hinzu kommen noch weite Teile Sibiriens (DVR genannt), weiter ‘Tscherkessien’,‘Idel-Urals’ und ‘Kazakien’. Ich weiß wirklich nicht, was all diese verrückten Namenbedeuten, aber ich habe das Gefühl, daß die Ural-Gebiete, das untere Wolgabecken,das Kuban- Gebiet, das Don-Gebiet, der nördliche Kaukasus und einige andereGebiete dazugerechnet werden. Mit anderen Worten, für uns bleibt ein Gebiet übrig,das sich etwa vonMoskau bis Leningrad in der Nord-Süd-Ausdehnung erstreckt undvon Smolensk im Westen bis Wladimir im Osten.Ich frage mich, wie wohl Amerikaner reagieren würden, wenn der Oberste Sowjet

und Generalsekretär Breschnew in feierlichen Proklamationen ihre Unterstützungfür eine Bewegung zum Ausdruck brächten, die die staatliche Hoheit der USA füralle Gebiete in Frage stellt, außer dem Land - sagen wir - zwischen Boston undWashington und Baltimore und

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Detroit, und wenn sie weiter erklären würden, daß der Rest befreit werden solite?Man könnte argumentieren, daß die Südstaaten nur mit Hilfe eines Kriegs imVerbandder Union gehalten werden konnten, andere Gebiete Mexiko und Frankreich mitGewalt abgenommen wurden und schon vorher das ganze Territorium jenem Volkgestohlen wurde, das von allen ammeisten unter Knechtschaft leidet - den IndianernAmerikas. Ganz zu schweigen von einem gewissen Teil russischen Bluts, das in denAdern derMenschen von Alaska fließt, oder davon, daß wir einstmals imGebiet vonSan Francisco siedelten.

Aber die meisten Amerikaner ignorieren die ‘captive nations week’ - warum nehmenSie sie so ernst?

Wir sind weit davon entfernt, ihre Bedeutung zu übertreiben. Aber wir können solcheDinge auch nicht völlig ignorieren, selbst wenn wir wollten. Die‘Menschenrechtskampagne’ würde uns das nicht gestatten. Um dieses Themaabzuschließen, möchte ich zusammenfassend folgendes sagen:Punkt eins: Wir halten die Frage der Menschenrechte für sehr wichtig. Es wurde

in unserem Land sehr viel getan auf diesem Gebiet, und es wird auch zukünftig nochsehr viel getan werden. Wir wissen, daß wir noch keinen idealen Zustand erreichthaben. Aber wer hat ihn schon erreicht? Der weitere Fortschritt der Demokratie bleibteines unserer grundlegenden Ziele.Punkt zwei: Die Propagandakampagne, die die USA im Zusammenhang mit den

Menschenrechten in Gang gebracht haben, hat in Wirklichkeit nichts mit diesenRechten zu tun. Wir sehen darin letztlich ein Instrument antisowjetischer Politik,wobei man sich allerdings keinerlei Illusionen machen sollte, daß wir nachgebenwerden. Was der Westen nämlich in dieser Hinsicht wirklich von uns will, ist, daßwir auch noch selbst helfen, antikommunistische und antisowjetische Tätigkeiten zuorganisieren, die darauf abzielen, unser gesellschaftliches und politisches System zuunterminieren. Wir werden bei der Destabilisierung unserer gesellschaftlichenEinrichtungen nicht mithelfen. Genausowenig, wie wir von der amerikanischenRegierung erwarten würden, daß sie auf solche Forderungen unsererseits einginge.Die Amerikaner sollten eine Zusammenarbeit dieser Art von uns genausowenigerwarten.Schließlich Punkt drei:Was uns diese Kampagne besonders zweifelhaft erscheinen

läßt, ist, daß die USA nach unserer Ansicht nicht im geringsten das Recht haben,andere über dieMenschenrechte zu belehren, weil man in diesem Fall, wie bei vielenanderen Problemen auch, erst bei sich selbst beginnen muß. Obwohl wir nichtversuchen, den Amerikanern un-

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sere Normen aufzunötigen, haben wir doch nichtsdestoweniger das Recht, uns unsereeigeneMeinung darüber zu bilden, was in den USA vor sich geht und wie dasModellaussieht, das sie uns aufzuzwingen versuchen.

Was halten Sie von diesem Modell?

Nun, es fällt uns z. B. sehr schwer, an den Wert des amerikanischen Systems derRedefreiheit zu glauben, da die amerikanischen Medien inzwischen riesige privateUnternehmen geworden sind, die stark profitorientiert sind und den Wünschen ihrerBesitzer bzw. den Interessen der privatwirtschaftlichen Inserenten mehr dienen alsden Interessen der Öffentlichkeit.Wird einem der Zugang zu denMassenmedien verwehrt, so kann man in Amerika

äußern, was immer man will, und so lautstark man will - man wird nicht gehörtwerden; wohl aber läuft man mitunter Gefahr, daß einem FBI oder CIAnachspionieren, wie es jenen jungen Leuten erging, die wegen ihrer Opposition gegenden Krieg in Südostasien verfolgt wurden.

Der Journalist David Wise wählte für seinen Bericht, in dem er dieses Vorgehenschildert, den Titel ‘Der amerikanische Polizeistaat’.1

Wir haben in der Sowjetunion Berichte über die Untersuchungen des Kongressesgelesen, die von illegalenMaßnahmen des CIA und des FBI, vomWatergate-Skandalund anderemmehr handeln.Wir wissen, daß Präsident Lyndon B. Johnson die Dienstevon J. Edgar Hoovers FBI in Anspruch nahm, um nicht nur Kommunisten und andereRadikale zu überwachen, sondern auch angesehene Mitglieder des Kongresses.Richard Nixon hatte gar eine Liste seiner Feinde angelegt, worunter sich eine Reiheprominter Presseleute wie Henry Brandon, der Washingtoner Korrespondent derLondoner Sunday Times oder Joseph Kraft befand. Ich bin sicher, Sie werden mirdarin recht geben, daß so etwas unsere Skepsis gegenüber den USA als einemRatgeber in Menschenrechtsangelegenheiten nur noch verstärken konnte.

Besonders widerwärtig war, wie man mit jungen Leuten umgegangen ist, indem manz. B. CIA- und FBI-Informanten in die Studentenschaft der amerikanischen Collegesund Universitaten eingeschleust hat. Unglücklicherweise kommen die gleichenillegalen Praktiken auch in den Niederlanden vor, wo gelegentlich Lehrer undProfessoren oder sogar Journalisten gebeten werden, im Auftrag des BVD2 Studentenoder Personen aus

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den eigenen Berufsgruppen zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von dem berüchtigtenBerufsverbot in Westdeutschland.

Nun, wir wissen, daß die Behörden in den USA, wenn sie es für notwendig erachten,die Leute nicht nur schikanieren, sondern sie auch umbringen. Das geschah z. B. imFall von Führern der Black Panthers, von denen einige kaltblütig von der Polizeiermordet wurden. Ganz zu schweigen von Attentätern, die Dutzende von führendenBürgerrechtskämpfern ermordeten oder verwundeten, angefangen bei Martin LutherKing bis hin zu Vernon Jordan.Wobei die Schuldigen selten bestraft werden. ErinnernSie sich auch an die Vorfälle an der Kent State University? Und was geschah mitdem ‘American IndianMovement’?Was ist mit den zahlreichen schwarzenAktivisten,die gelyncht wurden oder verurteilt und jahrelang ins Zuchthaus gesteckt wurdenaufgrund von äußerst fragwürdigen Anklagen? Die Liste ist endlos lang.

Ja, aber trotz dieser alarmierenden, ungehemmten Kriminalität ist es andererseitsfür einen abgesprungenen CIA-Agenten, wie Frank Snepp, möglich, ein 590 Seitenstarkes Buck zu veröffentlichen, in dem er die unglaublichen Verbrechen, die inVietnam und anderswo begangen wurden, schildert. Eine solche Veröffentlichungwäre in der Sowjetunion undenkbar.

Die Veröffentlichung von Frank Snepps Buch war vor ein paar Jahren möglich. Obes heute möglich wäre, ist zweifelhaft. Übrigens hat, als Frank Snepp sein Buchveröffentlichte, der CIA mit Hilfe der Gerichte zurückgeschlagen, und Snepp wurdemit einer hohen Geldstrafe belegt. Infolge von Gesetzen, die 1980 vom Kongreßverabschiedet wurden, steht zu befürchten, daß er und seinesgleichen in Zukunft sehrviel härtere Behandlung erfahren werden. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daßdie Welle der Enthüllungen ein Ende gefunden hat. Die jüngsten Veränderungen,die den Status der Nachrichtendienste und der Geheimpolizei betreffen, sind einRückschritt, der die früheren Verhältnisse wiederherstellt.Wennman über die Sowjetunion spricht, so vergißt man, daß die Praktiken unserer

Sicherheitsorgane einer sehr kritischen Prüfung unterzogen wurden, und zwar zueiner Zeit, als CIA und FBI noch für heilige Kühe gehalten wurden. In den fünfzigerJahren hat die KPdSU offen erklärt, daß die Sicherheitsorgane Gesetze verletzt undihre Macht mißbraucht hatten. Es gab Gerichtsverhandlungen gegen hohe Beamtedieser Organe, und gegen die für schuldig Befundenen wurden schwere Strafenverhängt, einschließlich der Todesstrafe. Die Sicherheitsorgane wurden

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umstrukturiert und unter wirksame Parteikontrolle gestellt.Immer wenn diese Fragen von den großen westlichen Medien erörtert werden,

mißt man offensiehtlich mit zweierlei Maß. Ganz gleich, welche Veränderungen inunserem Land geschehen, ganz gleich, was wir auch machen - man beschuldigt uns,‘undemokratisch’ zu sein. Gleichzeitig aber werdenVerletzungen derMenschenrechte,die im Westen geschehen, immer verharmlost und als etwas Ungewöhnliches, nichtjedoch als etwas Typisches betrachtet.

Sind Sie derMeinung, daß aufgrund der Entwicklungen während des Jahres 1980sowohl Washington wie auch Moskau einen Rechtsruck vollzogen haben?

Ohne Zweifel hat in Washington solch ein Kurswechsel stattgefunden. SeineAuswirkungen auf die Außenpolitik habe ich bereits erörtert, aber gleichermaßenhat er sich auf die innerpolitische Situation ausgewirkt. CIA und FBI erweisen sichemeut in zunehmendemMaße als immun gegenüber öffentlicher Kritik, ihre Kritikerwerden zum Schweigen gebracht, auch gibt es eine wachsende Welle desChauvinismus und der Intoleranz gegenüber Kritik - all dies geschah sogar noch vorden Präsidentschaftswahlen.Nun zu uns. Begriffe wie ‘links’ und ‘rechts’ können irreführend sein, wendet

man sie auf politische Entwicklungen in der Sowjetunion an. Aber wenn eine härtereGangart gegenüber jenen gemeint ist, die andere Meinungen äußern, dann kann ichkeinerlei Veränderungen dieser Art in unserem Land feststellen.

Ohne die Gewalttätigkeit in der amerikanischen Gesellschaft, ohne die Mafia, dieBandenkriege, die Schießereien undMorde verteidigen zu wollen, die in diesem Landan der Tagesordnung sind, muß man doch feststellen, daß die Amerikaner nie etwaserlebt haben, das auch nur im entferntesten an eine solche Erfahrung heranreicht,wie sie der ‘Archipel Gulag’ darstellt.

Ich halte es nicht für angebracht oder besonders taktvoll, Herr Oltmans, auf dietragischen Ereignisse unserer Vergangenheit, an die sich das sowjetische Volk mitgroßer Pein erinnert, hinzuweisen und dabei einen Ausdruck zu verwenden, der zumKlischee antisowjetischer Propaganda geworden ist.Wie ich schon an früherer Stelle gesagt habe, hat die Partei strenge Maßnahmen

getroffen, um die Fehler zu beheben und jene zu bestraten, die schuldig waren.

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Aber da Sie dieses Problem angesprochen haben, möchte ich mit Nachdruck betonen,daß eine der wichtigsten Voraussetzungen, die die Unterdrückung zu Zeiten Stalinsmöglich machte, die äußerst feindselige Umwelt war, mit der sich unser Landauseinandersetzen mußte.

Mit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland?

Die Bedrohung durch die Nazis war vielleicht der Höhepunkt. Aber die Situationwar auch vorher schon ziemlich problematisch. Sehen Sie, unser Land ging nach derRevolution von 1917 durch eine Periode heftigen politischen Kampfes. DieKonterrevolution wollte sich nicht geschlagen geben. Sie führte den Kampf mitschmutzigenMitteln und wurde dabei von außen in starkemMaße unterstützt. Einigeunserer Führer und Botschafter wurden ermordet. Es kamwiederholt zu militärischenÜbergriffen auf unser Territorium. Ausländische Geheimdienste wurden im Landaktiv tätig.Wir erwarteten, daß früher oder später ein großer Krieg ausbrechen würde,und nachdemHitler mit einem antikommunistischen und antisowjetischen Programman die Macht gekommen war, verschlechterte sich die äußere Situation ganzdramatisch. Das waren also die besonderen äußeren Bedingungen dieser historischenSituation, die die Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung ermöglichte, wieauch schwere Verbrechen gegen unsere Verfassung und unsere Ideale.Wir haben diese tragischen Ereignisse nicht vergessen und erwarten auch von

anderen nicht, daß sie sie vergessen. Wogegen wir uns aber wehren, das sind dieVersuche, einen ganzen Abschnitt unserer Geschichte im Licht dieser Ereignisse zuinterpretieren. Für uns hatte dieser Abschnitt - selbst damals schon, in jenen schwerenZeiten - eine ganz andere Bedeutung. Wir haben eine Menge wahrhaft historischerLeistungen zu verzeichnen, Leistungen von weltweiter Bedeutung: wirtschaftliche,soziale und kulturelle Fortschritte, die in einem auf der ganzen Welt vorher niedagewesenen Tempo erreicht wurden; die Wiedergeburt eines Volkes, das bis dahineines der am meisten unterdrückten und am stärksten ausgebeuteten war, verglichenmit alien zivilisierten Nationen; der Sieg über Nazideutschland und damit dieBeseitigung dieser Menschheitsgefahr; eine Reihe ungeheuer wichtiger, erstmals inder Geschichte erzielter Leistungen - die Wirtschaftsplanung, gesellschaftlicheFortschritte wie die Gleichstellung aller Nationalitäten, die Gleichberechtigung derFrauen, die Tatsache, daß medizinische Versorgung und Bildung der ganzenBevölkerung zugänglich gemacht wurden, und vieles, vieles andere mehr. Es gibtvieles in unserer Geschichte, worauf wir stolz sein können.

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Haben Sie je versucht, den Preis zu vergleichen, den die unterschiedlichenGesellschaften für den Fortschritt zu zahlen haben?

Nun, das ist eine extrem schwierige Aufgabe. Die Geschichte der Menschheit ist zukomplex und vielschichtig, um sie in Zahlen auszudrücken. Es gibt wohl kaum eineausgearbeitete Methode für solche Vergleiche. Aber ich habe keinen Zweifel, daßder Preis für den Fortschritt in einer kapitalistischen Gesellschaft höher war.Erstensmußman die Kriege in Betracht ziehen, zu denen es unter demKapitalismus

kommt. Es war einzig der Kapitalismus, mit dem ihm innewohnenden Streben nachTechnologie - und hier in erster Linie nach militärischer Technologie -, gepaart mitseiner unersättlichen Gier nach Märkten und Rohstoffquellen, der bewirkte, daßKriege weltumspannend und beispiellos zerstörerisch wurden. Das allein kosteteMillionen Menschenleben.Weiter ist der Kolonialismus zu nennen, der dem Kapitalismus voranging, aber

erst unter diesem zu einem weltweiten Phänomen wurde und zugleich eineVorbedingung war für eine rasche Entwicklung der meisten kapitalistischen Länder,wie auch dafür, daß diese Wohlstand und Reichtum anhäufen konnten. Der Preisdafür sind abermals viele Millionen Menschenleben, aber auch brutale Ausbeutung,Kolonialkriege, politische Unterdrückung und die Tatsache, daß die Mehrheit derWeltbevölkerung in einem Zustand der Rückständigkeit gehalten wird.Zum dritten ist festzuhalten, daß der Kapitalismus in der Geschichte nur selten in

Form einer liberalen Demokratie bestand. In vielen Ländern nahm das kapitalistischeGesellschaftssystem - und in einigen Ländern ist das immer noch so - die denkbarrepressivsten politischen Formen an, nämlich die des Faschismusmit seinem blutigenTerror, die der Militärdiktaturen und die eines rücksichtslosen Totalitarismus.

Aber die meisten kapitalistischen Länder, einschließlich der Vereinigten Staaten,begaben sich nicht auf faschistische Wege.

Das heißt nicht, daß sie völlig ohne Terror, brutale Unterdrückung und Ausbeutungausgekommen sind. Der Preis, den Menschen dafür zahlen mußten, daß aus derkleinen Siedlerkolonie in Massachusetts eines der beiden mächtigsten Länder derErde wurde, ist sehr beträchtlich. Nehmen Sie nur die Verbrechen gegen dieSchwarzen, die mit dem Sklavenhandel und den schrecklichen Zuständen auf denPlantagen des Südens begannen und mit dem Alptraum eines Leben in den Ghettosvon heute endet. Oder denken Sie an den Völkermord an den Indianern.

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Zuerst fielen die Pilgerväter auf die Knie und dann über die Indianer her, sagt eineRedensart.

Wissen Sie, es ist für mich immer noch schwer begreiflich, wie es die Amerikanerfertigbrachten, sich gegen jegliche Gewissensbisse im Zusammenhang mit ihrenTaten gegen die Ureinwohner des Kontinents zu betäuben. Ich erinnere an dieseKapitel der amerikanischen Geschichte nicht, um die Amerikaner zu beleidigen. Andiese Ereignisse soll nur erinnert werden, um den Amerikanern zu helfen, dort, woes noch möglich ist, etwas gegen solches Unrecht zu unternehmen und um denmoralisierenden Eifer einiger amerikanischer Politiker zu dämpfen.

Glauben Sie wirklich, daß die Entspannung zum besseren Verständnis beigetragenhat?

Ja, dank der Entspannung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen kam eszu einer beträchtlichen Zunahme der Kontakte, des Austausches und des Tourismus,was in dieser Hinsicht sehr wichtig war. Zuletzt jedoch haben die Vereinigten Staatennicht nur ihre Anstrengungen verstärkt, diesen Prozeß zu verlangsamen, nun kehrensie ihn sogar um. Die Zunahme der Kontakte gehörte zu den wertvollsten Früchtender Entspannung. Als Wissenschaftler bin ich besonders besorgt über diegegenwärtigen Versuche der USA, diese Kontakte zu beeinträchtigen.

Ich interviewte Professor Oleg G. Gazenko, den Direktor des Instituts für medizinischeund biologische Fragen des Gesundheitsministeriums der UdSSR. Er machte michdabei mit vier Bänden eines Werks mit dem Titel ‘Foundations of Space Biology andMedicine’ bekannt, das in Zusammenarbeit mit der ‘National Aeronautics and SpaceAdministration’ der Vereinigten Staaten veröffentlicht worden war. Ko-Autor ist deramerikanische Professor Melvin Calvin. Nur wenige Leute wissen überhaupt, daßdie ganze Zeit über diese Form der wissenschaftlichen Zusammenarbeit stattfindet.

Ja, diese Zusammenarbeit hat beiden Seiten beachtlichen Nutzen gebracht. DieWissenschaftskreise beider Länder sind sehr darauf aus, sie fortzusetzen undauszuweiten.Was geschieht aber tatsächlich? Die US-Regierung und einige ‘pressuregroups’ außerhalb der Regierung durchtrennen das Geflecht der wissenschaftlichenZusammenarbeit brutal, das sich in den siebziger Jahren herausbildete.Wissen Sie, abgesehen von der Bedeutung solcher Kontakte für die

Weiterentwicklung der Wissenschaften in der ganzen Welt, sind diese Tref-

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fen in kultureller, psychologischer und sogar politischer Hinsicht sehr nützlich, weilsie ein Gegengewicht zu den zunehmenden Feindseligkeiten und dem in deröffentlichen Meinung um sich greifenden Mißtrauen darstellen. Ich meine damitnicht nur den wissenschaftlichen Austausch, sondern alle Arten des Austausches undalle Arten von Kontakten und Besuchen.

Ihnen ist sicker nicht entgangen, wie unterschiedlich westliche Sowjetexperten denUmfang und die Bedeutung der Veränderungen einschätzen, die in Ihrem Land inden letzten Jahrzehnten stattfanden. Gelehrte wie George Kennan und Jerry Houghbehaupten, in der Sowjetunion habe sich ein unerhörter Wandel vollzogen, weshalbder Westen seine traditionellen Vorstellung revidieren sollte. Andere, wie RichardPipes oder Adam Ulam, sagen genau das Gegenteil, nämlich, daß die Sowjetunionim wesentlichen noch so sei, wie sie zu Zeiten Stalins war, und keine institutionellenVeränderungen von Bedeutung eingetreten seien.

Nun, jedes Land hat sich in den letzten 25 Jahren gewandelt, und für unseredynamische Gesellschaft gilt das in besonderem Maße. Aber der springende Punktdabei ist, was man unter Wandel verstehen will. Was ist mit ‘institutionellenVeränderungen’ gemeint?Wir bleiben ein sozialistisches Landmit einem zunehmendausgereiften politischen System, in dem die KPdSU die führende Rolle einnimmt.Wenn das nicht nach dem Geschmack von Herm Pipes oder anderen Leuten seinesSchlages ist, haben sie das Recht, sich ihre eigene Meinung dazu zu bilden, genausowie wir ein Recht auf unsere eigene Meinung haben, was die amerikanischenpolitischen Einrichtungen betrifft, jedoch können wir kaum etwas für diese Leutetun, um sie zufriedenzustellen. Innenpolitisch gab es eine Menge Veränderungen inunserem Land, und zwar im Zusammenhang mit der Beseitigung der Folgen, die derPersonenkuit hinterlassen hatte, wie auch infolge einer weiteren Fortentwicklungder Demokratie. In unserer Außenpolitik kann man, entgegen den Behauptungeneiniger Sowjetexperten, sehr viel mehr Kontinuität hinsichtlich der grundlegendenZiele und Methoden feststellen. Welche Haltung man auch immer gegenüber Stalineinnehmen mag - man kann kaum abstreiten, daß sich seine Außenpolitik durchUmsicht auszeichnete und er kein Abenteurer war. Ich glaube, daß ernstzunehmendeund gut informierte amerikanische Sowjetexperten dies anerkennen.

Walter Laqueur legt überzeugend dar, daß ‘ohne Kenntnisse der marxistischenMethode keine vernünftige Diskussion über die neuzeitliche Geschichte möglich ist’.3Für viele Menschen in Westeuropa scheinen je-

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doch Gesellschaften, die noch marxistischen Prinzipien aufgebaut sind, nicht geradeattraktive Beispiele zu sein. Und genauso ergeht es den Entwicklungsldndem. Nach20 Jahren marxistisch-leninistischer Praxis in Kuba schickt sich beispielsweise nurNicaragua neuerdings zögernd an, Fidel Castros Beispiel teilweise zu folgen.

Nun, soweit ich es sehe, nimmt die Revolution in Nicaragua ihre eigenen Formenan.Walter Laqueur mag zwar dafür plädieren, Kenntnisse der marxistischenMethodezu erwerben, was ihn selbst aber anbelangt, so ist er ein entschiedener Gegner jenerGesellschaften, die auf marxistischen Prinzipien beruhen. Was die Attraktivitätunseres Beispiels betrifft, so gibt es in sehr vielen westeuropäischen Ländern einesehr starke kommunistische Partei, die alle für die Errichtung einer Gesellschafteintreten, die sich auf marxistische Prinzipien gründet. Ich denke dabei an Frankreich,Italien, Spanien und Finnland. Kommunistische Parteien gibt es auch in anderenLändern, und obwohl sie noch nicht viele Mitglieder haben, unterstützt doch einbeträchtlicher Teil der Bevölkerung in den westeuropäischen Ländern die Idee, dieGesellschaft nach marxistischen Grundsätzen zu organisieren.Es gibt noch einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang. Es hat sich ergeben,

daß Länder, in denenmarxistische Parteien an dieMacht kamen undmit demAufbaueiner neuen Gesellschaft begannen, sehr oft mit ziemlichen schwierigen objektivenBedingungen konfrontiert waren. In der Regel waren das Länder, die unter demKriegsehr stark gelitten haften, wie Rußland, Jugoslawien und Polen. Viele davon warenLänder mit einer zurückgebliebenen Volkswirtschaft - dazu gehörten auch Rußland,Bulgarien, Rumänien und andere, ganz zu schweigen von unterentwickelten Ländernwie Vietnam, Kuba und Albanien. Außerdern unternahm der Westen alle nurmöglichenAnstrengungen, um denAufbau neuer Gesellschaften zu behindern, indemer ihnen das Wettrüsten aufnötigte und sich auf Subversion, Wirtschaftsblockadenetc. verlegte.Schließlich entstehen für jene, die neue Wege bahnen, immer Probleme, die sich

nicht vermeiden lassen. Bei solch einem schwierigen Unterfangen wird es immerFehler geben, und zwar mitunter auch emsthafte. Wenn ich all das in Betracht ziehe,so würde ich sagen, daß der Sozialismus sein Bestes getan hat und über großeAnziehungskraft verfügt, die weker wachsen wird. Und man wird kaum bestrekenwollen, daß die Anziehungskraft des Kapitalismus abgenommen hat.

Was ist zu Kuba zu sagen? Der Exodus vieler Kubaner, die 1980 in die VereinigtenStaaten gingen, wurde als Beweis dafür gewertet, daß das ku-

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banische Modell des Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Modell verblaßt.

Wie auch immer die Feinde Kubas die ganze Geschichte darstellten - sie hat sich,so glaube ich, letzten Endes nicht gegen Kuba ausgewirkt, sondern gegen jene imWesten, die aus der ‘Verteidigung der Menschenrechte’ in sozialistischen Ländernein Politikum machen.Ist es nicht bezeichnend, daß ein erheblicher Teil derer, die Kuba verließen,

Kriminelle und Unzufriedene waren, deren Abwesenheit vom kubanischen Volk nurbegrüßt werden wird?Sehen Sie sich einmal den Ausgang der Geschichte an: Was widerfuhr jenen

‘armen, erschöpften Massen’, die sich entschlossen, Kuba zu verlassen und in dieUSA zu gehen? Ich erinnere mich an eine Karikatur in einer amerikanischen Zeitung,in der in einem Boot eine Grappe Kubaner zu sehen war, die auf einen Lichtscheinam Horizont deutete und freudig ausrief: ‘Unsere Mühsal ist zu Ende, das Licht dortist Miami!’ Und es war auch Miami - nämlich dort, wo das Ghetto der Schwarzenbrannte und Trappen auf dieMenschen in den Straßen schossen. Es steilte sich heraus,daß Amerika die Kubaner nicht haben wollte. Und diese waren darüber wirklichverwirrt. Einige randalierten in den Lagern, in denen sie seit ihrer Ankunft festgehaltenwurden, andere entführten Flugzeuge, um nach Kuba zurückzukehren.Es ist schwer zu sagen, was bei dieser Geschichte überwiegt - die Tragik oder das

Lächerliche. Zu einem aber taugt sie auf keinen Fall: einer Anklage des kubanischenSozialismus. Vor allem nicht, wenn man die nicht zu leugnende Tatsache in Betrachtzieht, daß die USA Kuba nach der Revolution eine ganze Menge Schwierigkeitenbereitet haben, einschließlich einerWirtschaftsblockade und Einmischungsversuchen.Es ist wahr, Kuba leidet immer noch unter vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Aber womit vergleicht man dieses Land? Mit Schweden oder der Schweiz? AlsMaßstab sollten inWirklichkeit Guatemala, El Salvador, die DominikanischeRepublikoder Kuba selbst, so wie es vor der Revolution war, gelten. Dann wird die Situationin einem ganz anderen Licht erscheinen. In ganz Lateinamerika genießt Kuba großesAnsehen und einen sehr guten Ruf.

Lassen Sie uns zu dem immerwährenden Thema der Einschätzungen zurückkehren.Sie scheinen von dem durchschnittlichen Wissensstand der Amerikaner über dieSowjetunion keine sehr hohe Meinung zu haben.

Sicher. Hier herrscht immer noch eine ungeheure Unwissenheit. Ich möchte michdabei auf das beziehen, was ich aus eigener Anschauung

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kenne. Beispielsweise wissen die Leute in den Vereinigten Staaten, sogar instudentischen Kreisen, sehr wenig von der zeitgenössischen sowjetischen Literatur.

Wahrscheinlich kennt man Alexander Solschenizyn.

Das ist nahezu Pflichtlektüre, obwohl er in letzter Zeit etwas aus der Mode kommt.Aber auch die Namen von Dostojewski und Tolstoi wurden genannt und einmalsogar Tschechow.

Und Gorki?

Nein, nicht ein einziges Mal. Fragt man dagegen in der UdSSR einen Oberschüleroder eine Oberschülerin nach amerikanischer Literatur, so erhält man Dutzende vonNamen zur Antwort. Dabei spreche ich nicht nur von Klassikern wie Edgar AllenPoe oder Mark Twain oder so berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit wieTheodore Dreiser, Ernest Hemingway,William Faulkner, Upton Sinclair und anderen.Bei uns kennen die Jugendlichen auch die zeitgenössischen Autoren sehr gut, wie z.B. Truman Capote, Tennessee Williams, J.D. Salinger, Kurt Vonnegut, Joyce CarolOates, John Updike und viele andere. Sie sind vollständig übersetzt worden und vielgelesen und bekannt. Und das gilt nicht nur für amerikanische, sondern auch fürdeutsche, französische und englische Literatur, für die der Dritten Welt, überhauptfür alles von Wert, was im Ausland publiziert wurde. Ich glaube, daß die Leute beiuns im Durchschnitt mehr über Amerika, seinen Nationalcharakter und seineGeschichte wissen, als das umgekehrt der Fall ist.

Victor Afanasew, der Chefredakteur der Prawda, versicherte mir, daß die sowjetischePresse dreimal soviet Information über die USA verbreitet wie umgekehrt. In Ungamscheint es 14mal soviet zu sein. Lediglich, als Leonid Breschnew nach Budapestreiste, wurde die ungarische Hauptstadt von Hunderten von westlichen Journalistenüberschwemmt.

Einer der großen Unterschiede zwischen unseren beiden Systemen liegt auch darin,wie die Presse und dieMedien funktionieren. Vielleicht ist bei uns nicht immer sofortfür eine Erwiderung auf politische Fragen und Ereignisse gesorgt. Aber ich habe dasGefühl, daß wir unseren Lesern in sehr reichemMaße Hintergrundmaterial anbieten,einschließlich einer ausführlichen Information darüber, wie die gegenwärtige Situationin den USA zu interpretieren und zu verstehen ist.

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Aber imWesten wird der sowjetische Stil des Journalismus und der Berichterstattungzum aktuellen Geschehen oftmals für unfair und langweilig gehalten.

Nun, lassen Sie uns differenzieren. Sowohl bei uns wie auch im Westen gibt es guteund schlechte Journalisten, gute und schlechte Berichterstattung zum aktuellenGeschehen. In dieser Hinsicht hängt sehr viel von persönlichen Fähigkeiten undanderen individuellen Eigenschaften der Reporter, Redakteure und Herausgeber ab.Aber es gibt auch einen generellen Unterschied im Stil, der mit der Verschiedenheitder Systeme zu tun hat. Westlicher, vor allem aber amerikanischer Journalismus isteinseitig auf Sensationen ausgerichtet, insbesondere auf negative. Normale,ausgeglichene Beziehungen zwischen Ländern oder auch Personen sind immer vongeringerem Nachrichtenwert als Konflikte und Streit. ‘In unserem Geschäft zählendie schlechten Nachrichten’, sagte ein britischer Fernsehproduzent, womit er aufdiese Tatsache hinwies.In dieser Hinsicht haben amerikanische Journalisten bei uns harte Zeiten

durchzustehen, da unser Hauptaugenmerk der Erfüllung unserer Pläne für Industrieund Landwirtschaft und kulturellen Ereignisse gilt. Unsere Presse räumt Meldungenzu Katastrophen, Morden oder Sexskandalen nicht viel Raum ein.

Kein Klatsch über pikante Affären ehemaliger Präsidenten und deren Gattinnen?

Gewiß nicht. Mir tun sogar die amerikanischen Journalisten inMoskau leid, die nichtsehr viel finden, was nach ihren gewohntenMaßstäben berichtenswert wäre. Vielleichtmacht sie das noch beharrlicher in ihrem krankhaften Interesse an Dissidenten undan Gerüchten darüber, was ‘oben’ vor sich geht, und ähnlichem mehr.

Aber sie sind wirklich in einer schlimmen Lage. Wenn sie nur darüber berichten,was in der Sowjetunion für eine Nachricht gehalten wird, so wird das kaum jemandveröffentlichen.

Ich verstehe das, jedoch gibt es nun mal gewisse objektive Schwierigkeiten. Ich mußauch sagen, daß unsererseits viele Versuche untemommen wurden, den westlichenJournalisten die Arbeit leichter zu machen, z. B. mit Fahrten zu Sehenswürdigkeitenund Treffen mit Ministern, deren Arbeit für den Westen besonders interessant seinkönnte, z. B. mit jenen, die mit Energiefragen befaßt sind. Manchmal erbrachte dasgute Resultate, manchmal nicht. Um es zusammenzufassen, die Aufgabe der

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westlichen Journalisten in der UdSSR ist sehr wichtig, da ein Großteil der Information,die zum Thema Sowjetunion in den Westen gelangt, durch sie vermittelt wird. Esgibt in diesemBereich noch immer Probleme, einige davon sind ziemlich ernst. Nachmeiner Ansicht können sie gelöst werden, vorausgesetzt, alle Seiten - einschließlichdes Westens und seiner Presse - sind guten Willens. Und es bedarf nicht nur gutenWillens, sondem auch eines ernsthaften Verantwortungsgefühls.

Welchen Eindruck haben Sie von den amerikanischen Kongreßabgeordneten, dieMoskau besuchen?

Nun, dabei handelt es sich um Leute mit verschiedenen Ansichten, unterschiedlichemBackground und unterschiedlichen Neigungen. Allein schon die Entwicklung solchparlamentarischer Kontakte zwischen unseren Ländern, wie sie in den letzten Jahrenstattfand, ist sehr wichtig. Ganz allgemein sind diese gegenseitigen Besuche trotzall der Schwierigkeiten, die wir während der vergangenen Jahre hatten, einer derBereiche, in denen wir nach meiner Ansicht Erfolge zu verzeichnen haben. DieserAustausch von Ideen und Meinungen wahrend der Besuche hat sich mittlerweileentwickelt und einen recht beachtlichen Stand erreicht. Sie sind beinahe schon zueiner Einrichtung geworden, und sollten sie jetzt wegen des Kurswechsels derUS-Politik und der daraus entstandenen Verschlechterung unserer Beziehungen zumErliegen kommen, so ware das für beide Seiten ein echter Verlust.

Wann haben diese Kontakte begonnen?

Eine Delegation des Obersten Sowjets wurde zum ersten Mal 1974 in die USAeingeladen. Danach besuchte uns 1975 eine offizielle Delegation des amerikanischenKongresses. Die allererste Delegation bestand aus Mitgliedern des amerikanischenSenats unter der Führung der Senatoren Hubert Humphrey und Hugh Scott. Diezweite Delegation wurde vomKongreß entsandt und von dessen Sprecher Carl Albertangeführt. Noch zu einigen weiteren offiziellen Delegationen der letzten beidenJahre: Drei Delegationen des Senats wurden von den Senatoren Abraham Ribicoff,Howard Baker und Joseph Biden angeführt, und eine Delegation des Kongressesführte der Abgeordnete John Brademas an.

Die Kongreßabgeordneten wurden ohnehin schon immer als Parlamentarier zweiterKlasse angesehen.

Wir haben sie nie so betrachtet. Verschiedene weitere Grappen von Se-

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natoren und Kongreßabgeordneten mit nahezu dem gleichen Status haben Moskauwährend der letzten Jahre besucht, so z. B. eine Grappe des Kongreßausschusses fürdie Streitkräfte. Verschiedene Senatoren kamen in kleinen Gruppen. Senator EdwardKennedy kam nach Moskau, um an einem speziellen medizinischen Kongreßteilzunehmen. Senator Charles Mathias eröffnete eine Ausstellung.

Waren unter den Besuchern ‘Falken’ wie Senator Sam Nunn?

Ja, er kam mit einer der offiziellen Delegationen.

Wissen Sie, daß Senator Nunn die Niederlande scharf angegriffen hat, weil eineMehrheit unseres Parlaments zu dem irrsinnigenWettrennen nach immer modernerenund immer mehr Nuklearraketen inzwischen eine skeptische und sogar ablehnendeHaltung einnimmt? Tatsächlich hat Nunn davor gewarnt, daß die Holländer dadurch‘eine sowjetische Invasion herausfordern’.

Nun, Senator Nunn erfreut sich nicht des Rufs, eine Taube oder auch nur einGemäßigter zu sein. Ich weiß nicht, wie er in den Ruf kam, ein Experte aufmilitärischem Gebiet zu sein, aber er gehört zu jenem harten Kern, den viele für dievorderste Linie des militärisch-industriellen Machtkartells innerhalb des US-Senatsbetrachten. Deshalb bin ich auch von seinen Anschuldigungen gegen die Niederlandekeineswegs überrascht.Jedochmöchte ich nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es Kongreßabgeordnete,

mit denen wir wegen ihrer Ansichten nicht sprechen sollten. Wir sind bereit, mitKongreßabgeordneten aller Richtungen zusammenzutreffen und ihnen unserePositionen zu erklären, weil uns klar ist, daß sie das politische Spektrum der USArepräsentieren und wir um unserer Beziehungen willen das Vorhandensein solcherAnsichten nicht ignorieren sollten.Im übrigen wurde auch Senator Nunn bei uns bereitwillig empfangen.Wir führten

sehr wichtige Gespräche, die, so glaube ich, für beide Seiten nützlich waren.Ich habe Leute erlebt, die eine ziemlich harte Haltung einnehmen und ihreMeinung

natürlich nicht ändern, aber als Ergebnis des Zusammentreffens und der Gesprächeuns wenigstens besser verstehen und mehr Offenheit entgegenbringen. Deshalbbeunruhigt es mich sehr, wenn ich sehe, daß 80 Prozent der Kongreßabgeordnetennie in der UdSSR waren. Wahrscheinlich trifft das gleichermaßen für die Mitgliederder Exekutive zu. Andererseits hat die Mehrheit unserer Abgeordneten des

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Obersten Sowjet und der überwiegende Teil der hohen Staatsbeamten ebenfalls überdie USA keine Kenntnisse aus erster Hand. Der Mangel an solchem aus erster HandgewonnenenWissen ist im Atomzeitalter einfach gefährlich. Das ist auch der Grund,warum die Entwicklung solcher Kontakte so wichtig ist.

Sind nicht die amerikanischen Parlamentarier, insbesondere, wenn sie zum erstenMal kommen, voller vorgefaßter Meinungen, die auf mangelnden Informationen überdie Sowjetunion beruhen (und gilt nicht das gleiche im umgekehrten Fall)?

Das kommt vor (wobei ich nicht den umgekehrten Fall meine). Oft bleiben sie nurkurze Zeit hier, so daß es fast unmöglich ist, alle diese Vorurteile zu zerstreuen.

Amerikanische Parlamentarier, die nach Moskau kommen, scheinen besonderenNachdruck darauf zu legen, mit sowjetischenDissidenten zusammenzutreffen, ebenso,wie einige Journalisten das als ihre vorrangige Aufgabe zu betrachten scheinen.

Es ist für Kongreßabgeordnete und viele andere fast zur Routineangelegenheit, zueinem bevorzugten Zeitvertreib geworden, mit Dissidenten zusammenzutreffen.

Ein Abgeordneter des niederländischen Parlaments, der Moskau besuchte, klettertesogar mitten in der Nacht über das Tor des Gästehauses, in dem er wohnte, um einenDissidenten treffen zu können.

Ich habe viele Delegationen von Parlamentariern aus den Vereinigten Staaten undanderen westlichen Ländern getroffen, aber ich habe, ehrlich gesagt, ihr Verhaltenwährend der Nacht nicht beobachtet. Manchmal schicken amerikanischeOrganisationen den Delegationen des Kongresses einige Leute voraus, damit dieseTreffen mit Dissidenten sowohl in Leningrad wie auch inMoskau vorbereiten.Wennmich amerikanische Besucher fragen, ob solche Treffen angebracht sind, so pflegeich sie meist an ihre Delegationsführer zu verweisen.Manchmal aber stelle ich ihnendie Gegenfrage, wie sie wohl reagieren würden, wenn eine offizielle sowjetischeParlamentarierdelegation bei einemBesuch der USA im Programmnicht vorgesehene- manchmal fast heimliche - Begegnungen mit Gruppen arrangieren würde, für diewir tatsächlich Sympathien hegen mögen, wie etwa den Black Panthers, militantenPuertorica-

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nern Oder Aktivisten der Indianer, die von der US-Regierung verfolgt werden.

Was wurde Ihnen geantwortet?

Nichts Einleuchtendes, obwohl sie mit solchen Praktiken unverändert fortfahren. Beidiesen und weiteren Gesprachen habe ich den Eindruck gewonnen, daß vieleamerikanische Politiker bei dieser Sache nicht deshalb mitmachen, weil sie sich sosehr für die Dissidenten oder die ‘Zurückgewiesenen’ (d.h. Leute, denen ein Visumfür die Ausreise verweigert wird) interessieren, sondem einfach um des Ansehenswillen; das gilt vor allem für jene, die eine erhebliche Zahl von Einwanderern inihrem Wahlkreis haben.

Jedenfalls besuchen auch Delegationen des Obersten Sowjets Washington?

Ja, es wurden zwei offizielle Delegationen entsandt, eine 1974 und die andere 1978,jeweils unter der Führung von Boris Ponomarew, dem Vorsitzenden desAußenpolitischenAusschusses. Auch kleinere Grappen besuchten die USA, die letzteim Herbst 1979.

Die Frage der Dissidenten schafft für die Ost- West- Beziehungen fortwährendSchwierigkeiten. Was ist Ihre Meinung zu diesen Leuten?

Die sogenannten ‘Dissidentená sind eine kleine Grappe.

Wie klein genau?

Meines Wissens nach sind im letzten Jahrzehnt ein paar Hundert von diesen Leutenaufgetreten, darin eingeschlossen nicht nur die im engeren Sinn politischenDissidenten, sondern auch die aktivsten unter den ‘Zurückgewiesenen’, sowie dieführendenMitglieder von extrem nationalistischen Gruppen und illegalen religiösenSekten. Das sind Leute mit unterschiedlichen Forderungen, Programmen undBeschwerden. Wann immer gerichtliche oder administrative Maßnahmen gegen sieunternommen werden, so ist das nicht eine Folge davon, daß sie Ansichten vertreten,die mit den im ganzen Land vertretenen Meinungen nicht übereinstimmen, wie mandas ja imWesten oftmals glaubt. Sie kommenmit dem Staat nicht deshalb in Konflikt,weil sie ‘anders denken’ oder ‘abweichen’, was ja die genaue Bedeutung deslateinischen Wortes ‘Dissident’ ist. Die Probleme fangen dann an, wenn sie sichentschei-

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den, sowjetische Gesetze zu brechen. Immer dann ergreift der Staat Maßnahmengegen sie.Ein typisches Merkmal jener Grappen war, daß sie in den letzten Jahren enge

Beziehungen zu auslandischen Bürgern und Organisationen unterhielten. Sie stütztensich auf ausländischeMedien, haben oftmals tatsächlich für sie gearbeitet und erhieltenverschiedene Arten der Unterstützung von außen, in einigen Fällen auch finanzielleHilfe. Gleichgültig, wie man im Westen die Motive der Dissidenten darstellt - beiuns sieht die breite öffentlicheMeinung in ihnen Leute, die ausländischen Interessendienen.

Und was ist mit der Gruppe, die die Einhaltung der Schlußakte von Helsinki durchdie Sowjetunion überwacht?

Einige Leute haben dieses Mäntelchen für ihre Tätigkeit gewählt. In Wirklichkeitist es ihr vorrangiges Ziel, die ausländischen Medien mit Material zu versorgen, dasdazu dient, im Westen den Eindruck zu erwecken, es gäbe in der UdSSR eineweitverbreitete politische Bewegung, die sich gegen den sowjetischen Staat und diesowjetische Gesellschaft richtet, und zugleich soll die sowjetische Öffentlichkeitdurch Gerüchte und Mitteilungen, die über die westlichen Medien in die UdSSRgetragen werden, in Unruhe versetzt und irregeleitet werden. Diese Leute fordernfortgesetzt unsere Gesetze heraus. Einige Leute imWesten sehen das vielleicht gerne.Aber sie, wie auch die sowjetischen Bürger, die sich in dieserWeise betätigen, müssensich darüber im klaren sein, daß sie die Regierang und das gesamte politische Systemdirekt herausfordern, und sie müssen deshalb damit rechnen, daß dieser Konfliktnicht ohne Konsequenzen bleibt.

Was die Menschen im Westen am meisten stort, das ist, daß diese Leute in vielenFällen verhaftet, vor Gericht gebracht, zu langen Freiheitsstrafen verurteilt oder insExil geschickt werden.

Gemäß den sowjetischen Gesetzen ist das Verhalten dieser Leute kriminell. UndVerbrechen haben immer Bestrafung zur Folge. Man kann diese Tatsache bedauern,aber sie bleibt nichtsdestoweniger eine Tatsache. Wie der Leiter des Ausschussesfür Staatssicherheit kürzlich feststellte, ist die Zahl jener, die in Zusammenhang mitillegalen politischen Tätigkeiten verurteilt sind, heute geringer als zu irgendeineranderen Zeit im Laufe unserer Geschichte. Es wäre noch besser, wenn es solche Fälleüberhaupt nicht gäbe.Wenn der Westen sich jedoch von humanitären Motiven leiten läßt, wie

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er versichert, dann muß er zuerst einmal sein eigenes Tun überprüfen. Ich bin z. B.fest davon überzeugt, daß ohne die systematische Unterstützung und Publizität, dieder Westen gewährt, und ohne die Art Heiligenschein, zu dem er den Dissidentenverhilft - weshalb diese Leute auch einen Märtyrerkomplex entwickelt haben undsich für Ebenbilder der Heiligen Johanna halten, die gleich ihr den Scheiterhaufenbesteigen -, daß ohne all das die meisten dieser Leute die Gesetze nicht herausfordernund sich folglich nicht auf der Anklagebank wiederfinden würden.

Mit anderen Worten, Sie finden, der Westen sei mitverantwortlich für dieSckwierigkeiten, in denen sich die Dissidenten befinden.

Der Westen trägt eine schwere Verantwortung. Es ist die Ermutigung undUnterstützung durch den Westen, die einem Dissidenten die Gewißheit geben, daßjeder seiner Schritte weltweite Publizität erlangen wird und, wenn er weit genuggeht, ihm das sogar einen Nobelpreis einbringen kann (Friedensnobelpreis, wieseltsam das auch klingen mag). Das brachte einige Leute, die vielleicht ohnehinemotional etwas labil waren, dazu, sich mit der Regierung auf eine Kraftprobeeinzulassen und eine Gratwanderung am Rande der Gesetzlichkeit zu wagen.Schließlich überschreiten diese Leute die Gesetze der Legalität. Früher oder später

endet es in menschlichen Tragödien. Das ist möglicherweise genau das Ergebnis,das die westlichen Sowjetgegner brauchen, können sie sich doch dann die Händereiben, die ‘Märtyrer’ beklagen und die Sowjetunion noch mehr denunzieren.Wenn der Westen jedoch wirklich über den humanitären Aspekt und über das

Schicksal einiger unserer Bürger besorgt ist, warum benutzt man sie dann auf dieseWeise? Wenn es jedoch das Ziel der ganzen Kampagne ist, der UdSSRgrößtmöclichen Schaden zuzufügen, warum nennt man dann die Dinge nicht beimNamen und hort auf, Tränen zu vergießen? Aber der Westen möchte offenbar beidesgleichzeitig haben. Jene, die die Kampagnen zugunsten der Dissidenten betreiben,versuchen einfach, den sowjetischen Behörden endlose Schwierigkeiten zu bereiten,in unserem Land eine Ersatzopposition heranzuziehen, die UdSSR als Polizeistaatabzustempeln, sowie schließlich im Westen die Saat der Feindseligkeit gegenüberder Sowjetunion auszustreuen, um so die Versuche, die internationalen Spannungenzu verringern und das Wettrüsten einzudämmen, zum Scheitern zu bringen. Dieseganzen Tätigkeiten werden nach unserem Eindruck von westlichen Geheimdienstenwie auch von Emigrantengruppen und anderen privaten Organisationen aktivunterstützt.

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Betrachtet man diese Situation vom amerikanischen Standpunkt aus, so ergibt sichein ganz anderes Bild.

Dannwürde ich denAmerikanern den Rat geben, sich in unsere Situation zu versetzen.Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn sowjetische Journalisten in denVereinigten Staaten beginnen würden, mit den Mitgliedern von Grappen, wie derSymbionese Liberation Army oder von Weathermen zusammenzuarbeiten? WäreDaniel Ellsberg von den US-Gerichten freigesprochen worden, wenn er Kontaktemit sowjetischen Vertretern in den Vereinigten Staaten gehabt hätte? Was wäre,wenn wir mit Indianem genau zu dem Zeitpunkt enge Verbindungen aufnehmenwürden, zu dem sie sich mit Waffen gegen die Regierung erheben? Wir hegen fürsie tiefe Sympathien, aber würde es nicht als Einmischung in die innerenAngelegenheiten der USA aufgefaßt werden? Und würden sich diese Leute undOrganisationen in solch einem Fall nicht wie Agenten einer fremden Machtausnehmen?

Eine Gruppe von Aktivisten der amerikanischen Indianer übergab 1977 auf derEuropäischen Sicherheitskonferenz in Belgrad der sowjetischen Delegation Berichtesamt den erforderlichen genauen Angaben, aus denen hervorgeht, auf welche Weisenach Ansicht der Indianer die amerikanische Regierung ihreMenschenrechte schwerverletzt und mit Füßen getreten hat.

Ja, ich habe von dieser Petition gehört, die vorgelegt, oder, um genauer zu sein, mitder Post geschickt wurde - und genau dieser Vorgang verhinderte es, daß die Petitionein offizielles Dokument der Konferenz wurde. Aber was wäre gewesen, wenn wirein Ende der ungerechten Behandlung der amerikanischen Indianer zur Vorbedingungfür einen weiteren Fortschritt bei der Entspannung gemacht hätten? Solch ein Schrittwäre ein Versuch gewesen, eine Ungerechtigkeit durch eine andere zu beseitigen,ohne daß dabei den Indianern geholfen gewesen wäre.In den internationalen Beziehungen gibt es fraglos Grenzen, die durch die politische

Weisheit eines Staatsmannes bestimmt werden. Die Frage ist, wo nehmenÄußerungen, mit denenman bestimmte Ideen unterstützt, den Charakter einer offenenEinmischung an. Das unerläßliche Gebot der Entspannung ist es, diese schmaleGrenzlinie nicht zu überschreiten.

Glauben Sie, daß Carter mit einigen seinerMaßnahmen diesen Rubikon überschrittenhat?

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Mit Sicherheit ist das der Fall. Ich glaube, er hat das selbst gemerkt, genauso wieandere Leute innerhalb seines Regierungsapparats.Gegen Ende der Amtszeit wurden sie in dieser Hinsicht vorsichtiger, vor allem

als offensichtlich wurde, daß die Menschenrechtskampagne extrem einseitigausgerichtet war und dabei mit zweierlei Maß gemessen wurde.

Wenn die Zahl der Dissidenten so gering ist, wie Sie sagen, wäre es dann nichtpraktischer, diese entweder überhaupt nicht zu beachten oder ihnen einfach zuerlauben, das Land zu verlassen?

In vielen Fällen wird genau das gemacht. Aber wir haben unsere Erfahrungen, vorallem im Fall der ‘Zurückgewiesenen’, also der Leute, die mit den BehördenSchwierigkeiten bekamen, weil ihnen aus irgendwelchenGründen die Auswanderungnicht gestattet wurde. Wenn wir den Weg zu einer derartigen Lösung einschlagen,so wird das als Einladung aufgefaßt, weiterenDruck auszuüben: NeueNamen tauchenauf, und das Geschrei wird lauter. Einige, die zurückgewiesen werden, werdenoffensichtlich dazu angestachelt, daraufhin etwas zu untemehmen. Die westlichenMedien greifen einige Fälle mit ‘Nachrichtenwert’ auf und das ganze beginnt vonneuem, aber nun mit doppelter und dreifacher Intensität.Deshalb sind manche Leute dazu übergegangen, es für das Beste zu halten, diesen

Forderungen und diesem ganzen Geschrei weniger Aufmerksamkeit zu schenken.Der Westen hat die Glaubwürdigkeit seiner Besorgnis, seiner Warnungen und seinerAppelle an uns selbst untergraben.

Die Frage der ‘Zurückgewiesenen’ bringt uns auf die Situation der Juden in derUdSSR. Einige Beobachter stellen ein Ansteigen des Antisemitismus in derSowjetunion fest.

Die Geschichten über den Antisemitismus in der Sowjetunion sind ein Teil derantisowjetischenKampagne, die imWesten geführt wird. Diese Geschichten wurdenzu wiederholtenMalen von den höchsten zuständigen sowjetischen Stellen als falschentlarvt. Die westliche Kampagne gibt zur Besorgnis Anlaß, denn sie kann nurschlimme Gefühle wecken, wenn nicht gar gewisse Vorurteile aufs neue beleben.Man muß wissen, daß unsere Partei nach der Revolution eine große Leistungvollbracht hat, als sie den Antisemitismus bekämpfte und antisemitische Vorurteileausrottete.Der Antisemitismus basierte immer auf der Vorstellung, die Juden seien

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‘Fremde’, seien Bürger, deren Loyalität zweifelhaft oder gar doppelbödig ist. Wirdvon außen Druck ausgeübt, damit mehr aus der Sowjetunion auswandern können,so kann die ganze Aufregung, die um diese Frage entsteht, solche Vorstellungen nurneu beleben.Und niemand sollte überrascht sein, daß die Zionisten schließlich eine Verbindung

hergestellt haben zwischen der Kampagne zur ‘Hilfe für die sowjetischen Juden’ undsolch emotionsgeladenen Themenwie Entspannung, Rüstungskontrolle und der Frageder wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen der UdSSR und den USA.

Am 18. Februar 1980 veröffentlichte der Dissident und Schriftsteller AlexanderSolschenizyn imMagazin Time, das eine Auflage von ungefähr 6Millionen hat, einenweiteren zwei Seiten langen ‘Rat an den Westen’, in dem er den Kommunismus einetödliche Gefahr für die Menschheit und eine ansteckende Krankheit nennt.

Der Kommunismus wurde schon lange, bevor Solschenizyn zu schreiben anting, jasogar schon bevor er geboren wurde, als tödliche Gefahr beschrieben. Vom erstenAugenblick unseres Bestehens an stießen wir in allen westlichen Ländern aufweitverbreiteten Haß, Verleumdung und Feindseligkeit. Was diesen speziellen‘Warner’ anbelangt, so wird er ganz im Gegensatz zu seinen Behauptungen hier beiuns nicht als tödliche Gefahr für den Kommunismus oder für dieMoral derMenschenin der Sowjetunion betrachtet. Ich glaube, daß heute auch imWesten eine nüchtemereHaltung gegenüber Solschenizyn eingenommen wird, nachdem die Öffentlichkeitmit dem, was er schreibt, besser bekanntgeworden ist.

Nachdem wir einen berühmten Mann erwähnt haben, möchte ich auch den zweitenzur Sprache bringen, nämlich dasMitglied derAkademie der Wissenschaften, AndrejSacharow.

Nun, vieles von dem, was ich dazu schon gesagt habe, gilt auch für diesen speziellenFall. Sacharow hat sich schon seit langem darauf verlegt, die Regierung öffentlichherauszufordern - manchmal auf die denkbar rüdeste Weise. Die Tatsache, daß er inseinem Tun vom Ausland unentwegt unterstützt, ja sogar dazu angestiftet wird,ermutigt ihn zur Konfrontation mit der Regierung, was ihn wiederum in den Augender Sowjetbürger verdächtig macht.

Heißt das, man sieht in ihm jemand, der nicht die Interessen seines Vaterlandesverteidigt, sondern die Interessen anderer?

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Ja. Sie können sich leicht vorstellen, wie die Leute in der Sowjetunion, auch wennsie um Sacharows frühere Leistungen als Wissenschaftler wissen, auf seinefreundschaftlichen Verbindungen, ja mehr noch, auf seine gegenwärtigeZusammenarbeit mit so erklärten Feinden unseres Landes wie Senator Henry Jacksonoder James Buckley reagieren. Und was um alles in der Welt soli man in der UdSSRvon Sacharow halten, wenn er, wie ‘The Voice of America’ unverzüglich berichtete,der US-Regierung den Rat gab, über den Verkauf von Getreide und anderen Warenan die Sowjetunion ein Embargo zu verhßngen, durch militßrische Aufrüstung denDruck auf die Sowjetunion zu erhöhen, die Olympischen Spiele zu boykottieren undweitere feindliche Handlungen gegen die Sowjetunion zu begehen. Übrigens gibt esin den USA selbst Gesetze, die den Bürgern, wenn sie nicht ausdrücklich dazuautorisiert sind, verbieten, als Privatpersonen mit ausländischen RegierungenVerhandlungen aufzunehmen, in einen Schriftwechsel zu treten und Kontakteaufzubauen. Aber selbst, wenn wir die Anforderungen des Gesetzes außer Betrachtlassen - wie würden die Amerikaner selbst einen Mitbürger behandeln, der dauerndfremde Regierungen dazu aufruft, feindliche Handlungen gegen die VereinigtenStaaten zu begehen, der also, sagen wir, Teheran bittet, die Geiselnahme fortzusetzen,oder verlangt, Saudi-Arabien solle den Preis für das Öl, das in die Vereinigten Staatenexportiert wird, erhöhen?

Aber katte Sacharows Verbannung nach Gorki nicht den gegenteiligen Effekt vondem, was eigentlich beabsichtigt war, d.h., war sie nicht ‘konterproduktiv’?

Sacharows Verbannung und sein Schicksal ganz allgemein können nicht unter demGesichtspunkt eines Spiels oder einer Intrige betrachtet werden. Hier haben wir esmit einem ziemlich ernsten politischen Thema und mit einer menschlichen Tragödiezu tun. Ich halte es nicht für angebracht, bei der Diskussion solcher Themen mit denBegriffen ‘produktiv’ und ‘konterproduktiv’ zu operieren.

Was würden Sie abschließend zu diesem Thema der Menschenrechte sagen?

Ich will noch einmal betonen, daß das Thema der Menschenrechte, gerade weil esso wichtig ist, konstruktiven und nicht destruktiven Zwekken dienen sollte. Ist esnicht für jedermann das wichtigste Recht, in Frieden zu leben? Vorausgesetzt, mangeht das Thema korrekt und gewissenhaft an, sollte man Debatten über dieMenschenrechte auf eine

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Art führen, die der Entspannung keinen Schaden zufügt. Schließlich sind Friedenund Entspannung die Grundvoraussetzungen, um den Menschenrechten in all ihrenErscheinungsformen auf der ganzen Welt Geltung zu verschaffen.

Eindnoten:

1 ‘The Government against the People. The American Police State’, Random House, New York1976

2 Binnenlandse Veiligheids Dienst (BVD) ist der niederländische Geheimdienst3 ‘A Continent Astray: Europe 1970-1978’, Oxford University Press 1979, S. 250

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VI) Die beiden Giganten und die Welt

Es steht fest, daß das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den VereinigtenStaaten weiterhin einen unerhört wichtigen Teil der heutigen internationalenBeziehungen darstellt. Die gesamte Komplexität der internationalen Lage kannjedoch wohl kaum auf den Nenner Moskau - Washington reduziert werden. Beinaheneun Zehntel der Weltbevölkerung leben außerhalb der USA und der UdSSR. In einerZeit zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit können es sich weder die neun Zehntelleisten, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen außer Betracht zu lassen, nochkönnen die beiden Giganten ihre gegenseitigen Beziehungen losgelöst von dembetrachten, was sich in Asien, Afrika und Lateinamerika ereignet, von Europa ganzzu schweigen.

Dem kann ich nur zustimmen. Die Vorstellung, daß die beiden Supermächte spezielleRechte hätten, war der Sowjetunion schon immer fremd.Wir halten die Entwicklungunserer Beziehungen mit all den anderen Ländem für sehr wichtig und ignorierensie keineswegs der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wegen.

Deshalb sollten wir die Probleme anderer Länder und Regionen sowohl im Kontextder sowjetischen Außenpolitik wie auch der amerikanisch-sowjetischen Beziehungenerörtern. Lassen Sie uns mit dem Fernen Osten beginnen.Die Beziehungen der Sowjetunion sowohl zu China wie auch zu Japan scheinen

Unbehagen zu bereiten. Die Grenzstreitigkeiten dauern weiter an. Ein Mitarbeiterdes Weißen Houses schlug mir vor, Sie zu fragen: Warum gibt die UdSSR in dieserFrage nicht in einigen Punkten von geringerer Bedeutung nach, auch wenn sie dasGefühl hat, das Recht stünde auf sowjetischer Seite?

Unsere Beziehungen mit China und unsere Beziehungen mit Japan sind zweiverschiedene Dinge.Wennwir sie begreifen und ihnen gerecht werden wollen, solltenwir sie trotz der geographischen Nähe nicht in ei-

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nen Topf werfen, weder bei der analytischen Betrachtung, noch in politischer Hinsicht.Lassen Sie uns zuerst unsere Beziehungen zu China betrachten. Obwohl China

mit uns wegen Grenzfragen im Streit liegt, und wir die chinesischen Ansprücheschlicht für unverschämt halten, handelt es sich dabei weder um die einzigeSchwierigkeit, noch um das wichtigste Einzelproblem, das zwischen uns besteht.Deshalb glaube ich nicht, daß Zugeständnisse oder Kompromisse in Territorialfragen(die wir ohnehin nicht machen werden) zu einer Wiederannäherung zwischen derSowjetunion und China führen würden.

Was ist dann in erster Linie die Ursache für die Schwierigkeiten?

Die Ursache ist die gesamte Politik, die die Pekinger Führung nun seit mehr als zweiJahrzehnten betreibt. Sie hat ehrgeizige, und ich würde - unter Verwendung ihresbevorzugtenWortes - sagen, hegemonistische Pläne, die ohne eine feindliche Haltunggegenüber der Sowjetunion undenkbar wären.

Im Westen wurde in verstärktem Maße die Meinung vertreten, daß das Motiv derSowjetunion für ihre Entspannungspoltik in erster Linie die Angst vor China unddessen wachsender militärischer Stärke war.

Diese Meinung ist völlig unbegründet. Ganz im Gegenteil, unsere Politik derEntspannung wurde mit zum Grund für die Verschlechterung unserer Beziehungenzu China. Schon in den späten fünfziger Jahren wurden die sowjetischen Absichten,eine Entspannung gegenüber demWesten anzustreben, von den Chinesen barsch als‘Verrat an der Sache der Revolution’ bezeichnet.

Sind Sie der Meinung, daß es keine weiteren Gründe dafür gab, warum sich diechinesisch-sowjetischen Beziehungen so entwickelten, wie das der Fall war?

Sicher gab es - jedenfalls vom chinesischen Standpunkt aus gesehen - außer derangekündigten sowjetischen Entspannungspolitik gegenüber dem Westen, und hierinsbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten, noch weitere Gründe.Einer dieser Gründe, die hier anzuführen wären, war unsere Weigerung, ihnen die

Nuklearbombe zu geben. Außerdem sahen die Chinesen ganz offensichtlich in derSowjetunion ein ernsthaftes Hindernis für ihre Ansprüche auf die Führungsrolle unterden sozialistischen Ländern und in-

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nerhalb der kommunistischenWeltbewegung - Ansprüche, die nach Stalins Tod ganzoffensichtlich wurden.

Wie erklären Sie sich diese neue Mode Washingtons, den Chinesen zu schmeicheln?

Psychologisch gesehen mag das mit dem Mythos zusammenhängen, der Chinajahrelang umgab. Dieser Mythos erhielt wahrscheinlich einen besonders starkenImpuls zu der Zeit, als in Washington nach Richard Nixons sogenannter‘epochemachender’ Reise in den Fernen Osten allenthalben Euphorie herrschte. Esist eine menschliche Schwäche, das Exotische und Unbekannte zu romantisieren.Und die Chinesen haben alles getan - und zwar mit Erfolg -, um diese Haltung, dieman gegenüber dem FernenOsten einnahm, auszunutzen, ebensowie sie nachKräftenversuchten, ihre amerikanischen Besucher mit einem gewissen Flair des Geheimisses,der dem volkreichsten Staat der Erde anhaftet, zu beeindrucken.Eine mehrtausendjährige Geschichte, eine alte Kultur, eine vorzügliche Küche,

Wertordnungen, die sich von den westlichen unterscheiden - all das wirkteoffensichtlich zusammen, um die amerikanischen Besucher und ihre Begleitung ineinem Maß zu betôren und ihre Neugierde zu erwecken, daß sie fast überwältigtwaren. Und sogar politische Platitüden beginnen manchmal - wenn sie in einerfremden Sprache und auf fremdartige Weise ausgesprochen werden -, verborgeneBedeutung, Charme undWeisheit anzunehmen. Sehen Sie sich an, wie geschickt diePekinger Führung diese einmal erweckte Neugierde der Mandarine aus demWeißenHaus, dem Capitol und der Wall Street nährte und ermutigte.Es ist sehr viel schwieriger, die Nachbarn Chinas, die im direkten Umgang mit

diesemLand eine lange Erfahrung haben, von der chinesischenMystik zu überzeugen.Für sie sieht alles ein bißchen einfacher aus, unheilvoller und sehr viel rauher.Wßhrend der letzten Jahre hat das Verhalten der Chinesen in internationalen Fragengezeigt, daß ihnen nichts besonders Rätselhaftes anhaftet. Wir haben in derchinesischen Außenpolitik einige ziemlich simple Züge erlebt, nämlich ChinasVersuche, seine Gegner gegeneinander auszuspielen und schwächeren Ländern seinenWillen aufzuzwingen, sogar ohne dabei den geringsten Versuch zu unternehmen,seine Aggressivität zu verbergen.

Die chinesische Aggression gegen Vietnam war ein illustratives Beispiel dafür.

Ja. Das hat wahrhaftig einen tiefen Einblick zugelassen und das andere

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Gesicht des sogenannten rätselhaften Chinas in aller Deutlichkeit offengelegt. DieVerknüpfung mit einer mehrtausendjährigen Geschichte entpuppte sich auf ganzbesondere Weise, nämlich als nicht sehr schmeichelhafte Parallele zwischen dergegenwartigen Pekinger Politik und den brutalen Intrigen und Machtkämpfen derfeudalen chinesischen Kriegsherren. Kennen Sie Oriana Fallacis Interviewmit DengXiaoping?

Ja, ich kenne es.

Dann werden Sie sich an den Zynismus erinnern, mit dem Deng diese Aggressionbeschreibt, wobei er nur bedauert, daß sie ‘nicht sehr effektiv war, da viele Länderunser Vorgehen nicht billigten’. Nichtsdestoweniger demonstrierte diese Aggressionnach seinem eigenen Dafürhalten ganz deutlich, ‘wie entschlossen wir sind, demTigerins Auge zu sehen. Und wir behalten uns das Recht vor, ihnen eine weitereLektion zu erteilen’.1

Glauben Sie, die gegenwärtige Angewohnheit der Chinesen, andere Länder zu‘bestrafen’, steht in einem Zusammenhang mit der Geschichte der alten chinesischenKriegsherren?

Gut denkbar. Und sie hat ihre Verteidiger, ja sogar ihre Nachahmer im Westengefunden, wo das Verlangen, die Sowjetunion zu ‘bestrafen’, zum Vorwand wurde,um zum Kalten Krieg zurückzukehren.

Zu der Zeit, als Generalsekretär Breschnew 1980 in Neu-Delhi zu Besuch weilte,sagte die indischeMinisterpräsidentin Indira Gandhi zu mir, daß ihr die chinesischenGebietsansprüche in Asien fortgesetzt Sorgen bereiten.

Das ist gut zu verstehen. Im Laufe der Jahre erlebte Indien wiederholte Malechinesische Invasionen, auch befleißigte sich China ausgedehnter umstürzlerischerTätigkeiten bzw. anderer Arten der Einmischung in die inneren AngelegenheitenIndiens. Ich vermute, daß das Motiv für die Feindseligkeit Chinas gegenüber Indiennicht ausschließlich territoriale Ansprüche sind. Besonders lästig muß es für Pekingsein, daß Indien seit langen Jahren standhaft für den Frieden und die Sicherheit inAsien eintritt, wodurch sich dieses Land in der ganzen Welt einen hervorragendenRuf erwarb. Diese Politik Indiens, die auf Jawaharlal Nehru zurückgeht, wurde vonder Sowjetunion immer voll unterstützt. China sieht in Indien und dessen Außenpoltikauch das Haupthindernis für seine ehrgeizigen Ziele in Asien.

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Was ist zum realpolitischen Aspekt der neuen Haltung des Western gegenüber Chinazu sagen?

Chinas gegenwärtige Popularität im Westen ist - wie ich schon festgestellt habe - inerster Linie durch die antisowjetische Haltung Pekings zu erklären. Tatsächlich istdas einzige Produkt, das die Chinesen auf dem Weltmarkt anzubieten haben, ihrantisowjetischer Standpunkt. Können Sie sich vorstellen, daß Peking Kredite oderder Meistbegünstigtenstatus im Außenhandel eingeräumt werden würden, daß esmilitärische Ausrüstung erhielte und ihm allgemein die außerordentlich freundlicheBehandlung durch die Vereinigten Staaten und die Nato-Länder zuteil werden würde- ganz zu schweigen von der ungewöhnlichen Freundschaft solcher Leute wie SenatorJackson, James Schlesinger und Zbigniew Brzezinski aus den USA oder Franz JosefStrauß aus der Bundesrepublik Deutschland -, wenn China normale Beziehungenzur Sowjetunion hätte?Ich will damit nicht sagen, daß das Fehlen von Beziehungen zwischen demWesten

und China nicht anomal gewesen sei. Seit der Gründung der Volksrepublik China1949 taten wir unser möglichstes, um die Vereinigten Staaten und andere westlicheLänder dazu zu überreden, die neue Regierung Chinas anzuerkennen, normalediplomatische Beziehungen mit ihr aufzunehmen und der VR China in der UNOeinen Sitz einzuräumen. Aber der Westen legte sich quer. Mehr noch, vieleamerikanische Sinologen und Diplomaten, die dazu aufriefen, die VR Chinadiplomatisch anzuerkennen, wurden während der McCarthy-Ära eingeschüchtertund auf die schwarze Liste gesetzt.Wird unser Mißtrauen nicht schon durch die bloße Tatsache gerechtfertigt, daß

die Annäherung zwischen China und dem Westen erst zustande kam, als diemaoistische Führung aggressiv antisowjetisch wurde?

Vom Standpunkt des Westens aus gesehen, insbesondere von dem der VereinigtenStaaten, mag es aber logisch gewesen sein zu versuchen, die Position gegenüber derSowjetunion zu stärken, indem man die Beziehungen mit China verbesserte.

Nun, damit haben Sie auf recht freimütige und einfache Weise genau diekonzeptionellen Grundlagen dieser Politik beschrieben - nämlich das aus dem 19.Jahrhundert stammende Spiel des Gleichtgewichts der Mächte. Dessen wesentlicherKern besteht darin, daß man seine eigene Macht dadurch erhöht, indem man einzusätzliches Gewicht in die Waagschale wirft.

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Meinen Sie damit die Art von Ansichten, wie sie Henry Kissinger vertritt?

Ja, Kissinger, aber nicht nur er. Die Vorstellung eines ‘multipolaren Gleichgewichtsder Kräfte’ ist in den USA besonders populär geworden, als westliche Politologenanfingen, vom Ende der ‘bipolaren Welt’ und der an ihre Stelle tretenden‘multipolaren Welt’ zu sprechen. Zu dieser Zeit begann man, sich sowohl in derTheorie wie auch in der praktischen Politik mit den Möglichkeiten zu befassen, dieeigene politische Position dadurch zu stärken, daßman verschiedene ‘Machtzentren’gegeneinander ausbalancierte.

Aber ist das nicht logisch?

Da habe ich sehr ernste Zweifel. Jedenfalls, wenn man das Ziel hat, eine atomareVernichtung zu vermeiden und in den internationalen Beziehungen für StabilitätSorge zu tragen. Dieses Konzept geht von einem ‘freien Spiel der Kräfte’ aus. Undjeder Teilnehmer wird natürlich auf eigenes Risiko ‘spielen’, und zwar ganz nachLaune, wobei er nur seine eigenen Regeln in Betracht zieht. Die historische Erfahrungzeigt, daß bei solchen Spielen nie etwas Gutes herauskommt.

Metternich, Talleyrand und Castlereagh wirken hier nach. Esscheint, daß eben solchePrinzipien auf dem Wiener Kongreß von 1815 kodifiziert wurden, ja sogar eineweihevolle Würdigung erfuhren.

Es gibt eine deutliche und bewußt angelegte Parallele. Aber genau diese Parallelehilft auch zu verstehen, warum das alte Konzept im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts nicht anwendbar ist. Die Welt hat sich zu sehr verändert.Nehmen Sie nur einen Unterschied. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts

bedeutete eine Fehlkalkulation, die zur Störung des Gleichgewichts führte,schlimmstenfalls eine weitere Umgestaltung europäischer Grenzen oder die Ersetzungeiner Dynastie durch eine andere. Alles das war seinem Umfang nach ziemlichbegrenzt und öfters reversibel. Der Lauf der Geschichte konnte auf lange Sicht die‘Realpolitiker’ des 19. Jahrhunderts zügeln und korrigieren. So konnten die Beschlüssedes Wiener Kongresses - wenn sie Europa schon keine nennenswerte Stabilitätbescherten - wenigstens nicht die Vernichtung der europäischen Zivilisationherbeiführen.Heute führt das Konzept eines solchen Kräftegleichgewichts unausweichlich zu

einer Situation, in der ein Teilnehmer dieses Balanceaktes über ein ausreichendesPotential an Nuklearwaffen und Raketen verfü-

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gen würde, um einen oder mehrere seiner Gegner zu vernichten, und eineFehlkalkulation könnte leicht zu einem irreversiblen Ergebnis führen. Im Rahmeneiner solchen Konstellation an Stabilität zu denken, ist Unsinn.Man kann sich schwer vorstellen, wie jemand in solch einer pseudorealistischen

Welt irgendeinen Vorteil daraus ziehen könnte, China beizustehen, es sei denn, mangeht bis an die Grenze eines echten Krieges.Nebenbei gesagt könnte das einer der Gründe sein, warum Kissinger seine

Vorstellungen darüber, wie China in seine Neo-Mettemich'sche Formel einzufügensei, modifiziert zu haben scheint.

Hat er sie modifiziert?

Nun, hierzu ein Zitat aus seiner jüngsten Rede, die er anläßlich des 30. Jahrestagesder Gründung der Nato in Brüssel gehalten hat: ‘Nach meiner Ansicht haben dieChinesenwährend 3000 Jahren überlebt, weil sie amwenigsten sentimental vorgingen,wenn es galt, die Strategie des Gleichgewichts der Kräfte in die Praxis umzusetzen,weil sie sich darin am geschicktesten erwiesen, und weil sie diejenigen waren, dieam we- nigsten Illussionen hatten. China wird für uns nur in die Breche springen,wenn wir selbst das Notwendige tun. China wird nicht das Opferlamm spielen und- wenn wir uns weigern, es selbst zu tun - an unserer Stelle auf die Barrikaden steigen,um sich Kräften entgegenzustellen, die wir selbst entfesselt haben. Deshalb stehtfest, daßmit China Zusammenarbeit nur dannmöglich ist, wennwir ein Gleichgewichtder Kräfte schaffen.’2

Mit anderenWorten, Amerikamuß seine Streitkräfte ausbauen und auch tatsächlichselbst kämpfen, wenn es will, daß China imKampf gegen die Sowjetunion auf seinerSeite steht, sind doch die Chinesen nicht bereit, Risiken auf sich zu nehmen, auf diedie Amerikaner nicht vorbereitet sind. Das Ergebnis davon ist eine starke Aufrüstungauf seiten Amerikas, mit der wiederum eine starke chinesische Aufrüstung bezwecktwerden soll, die angeblich im Interesse Amerikas liegt. Ist es das, was sich dieAmerikaner erhofft haben? Und welchen Nutzen werden die Vereinigten Staatenvon solch einem System haben?

Die Rand Corporation hat bereits eine sehr umfangreiche Studie über diemilitärischen Verbindungen mit China in den achtziger Jahren ausgearbeitet.

Wir haben die Tendenz zur Schaffung einer Art amerikanisch-chinesischerMilitärallianz aufmerksam verfolgt, seitdem wir erste entspre-

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chende Anzeichen beobachteten. Es handelt sich dabei um eine sehr gefährlicheTendenz - gefährlich nicht nur für uns, sondern gleichermaßen für die VereinigtenStaaten. Sehen Sie, das China von heute wäre in einemKrieg gegen die Sowjetunionmöghcherweise ein sehr wertvoller Verbündeter für Amerika, würde es sich dabeium eine Wiederholung des Ersten oder Zweiten Weltkriegs handeln. Ich bin jedochderMeinung, daß es sich imAtomzeitalter als mindestens ebenso gefährlich erweisenkônnte, mit China verbündet zu sein, wie China zum Gegner zu haben.

Wie das?

Ganz einfach. Ein Bündnis mit einem anderen Land zu schließen, bedeutet nicht nur,daß einem vom jeweiligen Partner Versprechungen gemacht werden, sondem heißtgleichermaßen, daß man selbst Verpflichtungen eingeht und damit seine eigenePolitik an die des Partners bindet. Die VR China aber - der Partner in diesem Fall -stellt, wie wir schon erörtert haben, territoriale Ansprüche an all seine Nachbarn undverfolgt ganz allgemein eine Außenpolitik, die sich aus der Anmaßung ableitet, derMittelpunkt des Weltalls zu sein. Je enger die Verbindungen Amerikas und der Natomit China sind, desto abhängiger werden diese von den Zielen, die von derchinesischen Außenpolitik gesetzt werden. Man könnte vielleicht noch weiterewohlbekannte und in diesemZusammenhang angebrachte Bemerkungen hinzufügen.Die Chinesen haben wohl kaum vor, gegen eine große und Starke Nuklearmachteinen Krieg zu führen, wissen sie doch ganz genau, mit welchem Ergebnis sie dabeizu rechnen hätten. Sie würden lieber, wie Mao es ausgedrückt hat, ‘auf sichererAnhöhe sitzen und zusehen, wie sich die beiden Tiger in Stücke reißen’. Das Mottodes chinesischen Spiels ist es, zwischen der UdSSR und demWesten einen Konfliktzu provozieren, möghcherweise sogar einen Krieg. Jedes Bündnis zwischen Chinaund dem Westen wird unweigerlich diesem Zweck dienen, ganz gleich, welcheAbsichten der Westen dabei haben mag. Um ein Wort aus dem Neuen Testamentabzuwandeln: ‘Manipuliert nicht, auf daß ihr nicht manipuliert werdet.’

Wenn wir jedoch das Problem unter dem Aspekteiner Politik des Gleichgewichts derKräfte betrachten, ging dann die Rechnung desWestens nicht auf, als China Vietnamangriff und damit seine Bereitschaft demonstrierte, gegen einen anderenkommunistischen Staat zu kämpfen?

Ich glaube nicht, daß Amerikaner, die auch nur mit den wichtigsten Feinheitenaußenpolitischer Fragen vertraut sind, diese Entwicklung le-

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diglich unter dem Aspekt betrachten konnten, daß hier Kommunisten gegenKommunisten kämpften. Ich habe den Eindruck, daß sie den Krieg Chinas gegenVietnam möglicherweise ganz anders beurteilt haben. In diesem Fall haben dieChinesen die Welt glauben gemacht, sie hätten den Angriff auf Vietnam irgendwiemit den USA und Japan abgesprochen, ja womöglich gar deren Segen dazu erhalten.Liegt das im Interesse der USA?Und was wäre gewesen, wenn es zu einer Eskalationdes Krieges gekommen wäre? Hätte das nicht die Gefahr einer militärischenKonfrontation mit der Sowjetunion heraufbeschworen? Diese Oder ahnlicheÜberlegungen sind in jenen Tagen zweifellos vielen in den Sinn gekommen.

Wie beurteilen Sie generell die Möglichkeit, daß es zwischen der Sowjetunion undChina zu einem Krieg kommt?

Wir wünschen einen solchen Krieg nicht und sind bereit, unser möglichstes zu tun,um ihn zu vermeiden.Mehr noch, wir möchten unsere Beziehungen mit China normalisieren.

Bekanntermaßen haben wir die Verhandlungen mit Peking fortgeführt, wann immerdies möglich war. Diese Verhandlungen wurden jüngst von Peking ausgesetzt, aberich glaube, sie werden früher oder später wieder aufgenommen werden.

Alle westlichen Besucher, die aus China zurückkommen, berichten jedoch, daßVertreter aller politischen Ebenen von einer bevorstehenden sowjetischen Aggressionsprechen.

Die Chinesen sagen das. Aber ich möchte ernsthaft bezweifeln, daß die chinesischeFührung wirklich eine sowjetische ‘Invasion’ so sehr befürchtet, wie sie vorgibt,oder daß sie uns wirklich verdächtigt, einen Krieg gegen China zu planen. Selbstwenn man das Problem aus der Sicht eines traditionellen Geopolitikers betrachtet,wäre ein sowjetischer Angriff auf China ein unerhört dummes Unternehmen.

Warum verbreitet dann die chinesische Führung diese Ängste?

Erstens, so glaube ich, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dieserKriegshysterie und einer sehr instabilen und unsicheren innenpolitischen Lage inChina. In einer ‘äußeren Bedrohung’ kann demnach ein absolut unverzichtbarerFaktor gesehen werden, um das Land und die herrschende Partei zusammenzuhaltenund die unzufriedene und murrende Bevölkerung zu disziplinieren.

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EinenweiterenGrand habe ich schon erwähnt: Der Antisowjetismus ist die wertvollsteWare, über die die Chinesen verfügen und die sie dem Westen anbieten können.Es läßt sich leicht denken, daß der Antisowjetismus in China zuMaos Zeiten stark

von Fanatismus gefärbt war. Die Situation verschlimmerte sich noch durch die ganzePersönlichkeit Maos, der sich mittlerweile als Reinkamation Gottes betrachtete. Erwar alt und senil geworden, und vielleicht ist das eine Erklärung für den verblüffendenIrrationahsmus, von dem das gesamte politische Leben des Landes während derletzten Jahrzehnte seiner Herrschaft durchdrungen war. In dieser Hinsicht muß dieSituation in China heute ganz anders sein. Die neue chinesische Führung macht denEindruck, als sei sie sehr pragmatisch, zynisch und verschlagen. Und ich vermute,daß ihr Antisowjetismus von ganz anderer Art ist. Es handelt sich hier um einedurchdachte Politik, die nicht deshalb von der Führung verfolgt wird, weil diesedaran glaubt, sondern weil sie ihren Interessen dient und von den Vereinigten Staatenund anderen westlichen Ländern großzügig belohnt wird.

Aber auch hier in der Sowjetunion habe ich ernste Besorgnis über einen möglichenKrieg mit China festgestellt.

Ich habe unsere Position bereits dargelegt. Was China anbelangt, so glaube ich nicht,daß seine Führer einfältig genug waren, um sich eine Chance auf den Sieg in einemKrieg mit uns auszurechnen.Nichtsdestoweniger geht von Chinas Politik derzeit eine sehr ernste Kriegsgefahr

aus, ebenso wie die Gefahr von Konflikten besteht und China somit den Weltfriedenund die Stabilität bedroht. Die Hauptziele der Außenpoltik des Maoismus wurdenvonMaos Nachfolgern nicht verworfen, und eines dieser Ziele ist es, einen Konflikt,möglicherweise auch einenKrieg, zwischen den beiden Supermächten zu provozieren.China setzt heute den Weltfrieden und die Stabilität ebenso in anderer Hinsicht aufsSpiel. Die chinesische Politik stellt eine sehr konkrete und unmittelbare Bedrohungfür die übrigen Nachbarn dar. Die Angriffe auf Indien und Vietnam sowie Ansprücheauf beträchtliche Teile Indochinas und anderer Länder sind ein erschreckender Beweisdafür. Außerdem trägt China nach Kräften zu einer Verschärfung regionaler Konfliktebei.

Mich hat die Bemerkung Generalsekretär Breschnews gegenüber Redakteuren desMagazins Time, er habe es ‘endgültig sait, über China zu reden’, sehr erstaunt.

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Soweit ich mich erinnere, sagte er dies in Zusammenhang mit einer Diskussion überChinas bösartigen Propagandafeldzug gegen Vietnam.

Henry Kissinger hat in seinenMeoiren unter anderem geschrieben: ‘Die Feindschaftzwischen China und der Sowjetunion folgte ihrer eigenen Dynamik. Wir hatten sienicht erzeugt, sondern waren uns vielmehr während des größten Teils diesesJahrzehnts ihrer Intensität gar nicht bewußt gewesen.’3

Ich glaube nicht, daß Kissinger hier ein zutreffendes Bild gibt. Der Westenbeobachtete, meines Wissens nach, die negativen Entwicklungen in densowjetisch-chinesischen Beziehungen sehr aufmerksam.

Bleiben wir noch einen Moment bei Kissinger, war er doch schließlich derjenige,der unter Nixon im Weißen Haus die Fäden in der Hand hatte, derjenige, derhauptsächlich die Verhandlungen führte, die die Anerkennung Pekings durch dieUSA zur Folge hatte. Kissinger behauptet auch, daß die amerikanische Politikgegenüber China darauf abzielte, der UdSSR zu zeigen, daß sie nicht für allekommunistischen Parteien in der Welt sprechen kann.

Hier ist vorauszuschicken, daß wir nicht den Anspruch erheben, für allekommunistischen Parteien zu sprechen. Wir halten uns an die Regeln, die innerhalbder kommunistischen Bewegung seit vielen Jahren gelten und die auf derNichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen und auf derUnabhängigkeit der einzelnen Parteien beruhen. Aber selbst wennman davon absieht- klingt es nicht recht sonderbar, daß sich ausgerechnet die Vereinigten Staaten umdie Aufrechterhaltung fairer, demokratischer Beziehungen zwischen denkommunistischen Parteien sorgen, während der Antikommunismus gleichzeitig eineder Hauptsäulen amerikanischer Außenpolitik darstellt? Es ist allerdings wahr, daßWashington es nicht gänzlich uninteressant findet, daß China den Anspruch erhebt,ein revolutionäres Land zu sein. Ein Aspekt, der hier eine Rolle spielt, wurde vondem einflußreichen amerikanischen Sinologen Michael Pilsbury sehr deutlichausgesprochen: ‘Es ware für die USA von Nutzen, von den Chinesen zu erfahren,wer welche Position innerhalb der revolutionaren Bewegung in den verschiedenenTeilen der Welt vertritt. Fällt es doch offiziellen amerikanischen Kreisen schwer,die Unterschiede zwischen revolutionaren Führern wahrzunehmen. Das ist ChinasSpezialität, und es könnte uns hierin ein Führer sein.’4

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Kissinger schrieb unumwunden: ‘Nixon und ich waren davon überzeugt, daß dieUSA einen militärischen Angriff der Sowjetunion gegen China nicht hinnehmendurften.’

Ich denke, daß Kissinger eine recht seltsame Vorstellung von der amerikanischenPosition hat. Vor einiger Zeit noch erklärten die USA, ‘China sei der Feind Nummereins’ und schienen durchaus geneigt zu sein, die UdSSR zu einemKrieg gegen diesesLand anzutreiben. Später entschlossen sich die USA zu dem Versuch, PekingsSympathien dadurch zu gewinnen, daß sie verkündeten, sie würden einenmilitärischenAngriff der Sowjetunion auf China nicht hinnehmen. Dabei handelt es sich um einereine Pose, die mit keinerlei Risiko verbunden ist, denn die Sowjetunion hat niebeabsichtigt, China anzugreifen, und beabsichtigt das auch heute nicht. Es ist sehrbequem, solche außenpolitischen Ziele zu proklamieren. Da ohnehin nichts passiert,kann man sich zugute halten, verhindert zu haben, daß etwas derartiges eingetretenist.

Trotzdem sagten mir verschiedene amerikanische Geopolitiker immer wieder, daßdie UdSSR als Supermacht, die im Zentrum Eurasiens liegt, nicht nur die Randgebietekontrolliert, sondern auch eine ideale Lage hat, um die ganze Welt unter ihreKontrolle zu bringen. Diese Leute scheinen ernsthaft solche Ängste zu hegen.

Wenn sie sich in unserer Lage befänden, würden manche amerikanische Geopolitikervielleicht derartige außenpolitische Ziele aufstellen. Wir jedoch tun das nicht. Eserscheint mir absurd, wenn jemand sein Verständnis von der Außenpolitik einesLandes, ja sogar von dessen politischen Absichten, hauptsächlich mit dergeographischen Lage begründet.Unsere Außenpolitik steht auf einer anderen Grundlage. Natürlich werden unsere

geographische Lage wie auch die militärische und politische Situation jenseits unsererGrenzen in Betracht gezogen. Es besteht wohl ein Zusammenhang zwischen dergeographischen Lage und den politischenMitteln, nicht aber zwischen der Lage undden politischen Zielen. Um expansionistisch zu sein, muß ein Land ein starkes, inder inneren Situation begründetes Bedürfnis nach Ausdehnung und Eroberungaufweisen, ein Bedürfnis, das in erster Linie wirtschaftlicher und sozialer Natur ist.Die geopolitische Situation Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg erfordertekeineswegs denAufbau einesWeltreichs, aber dasWeltreichwurde trotzdem errichtet,weil Amerika an einer weltweiten Expansion interessiert war. Dieses Ziel wurde inerster Linie durch die Situation in Amerika selbst hervorgerufen. In dieser Hinsichtbesteht für

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die Sowjetunion keinerlei Notwendigkeit, die Welt oder die eurasische Landmasseunter ihre Kontrolle zu bringen. Außerdem sollte man immer daran denken, daß wirden Krieg viel zu ernst nehmen, als daß es uns in den Sinn käme, ihn zu beginnen.Und überhaupt - während uns diese amerikanischen Geopolitiker beneiden, wäre ichfroh, wenn wir, was die geographische Lage anbetrifft, mit ihnen tauschen könnten.

Zbigniew Brzezinski hat einmal geschrieben, daß seiner Ansicht nach Peking einenbedeutenden Beitrag zur Schaffung stabilerer amerikanisch-sowjetischer Beziehungenleisten könnte.

Ja, das hat er geschrieben. Aber genau das Gegenteil ist eingetreten. GewisseIllusionen, denen die Vorstellung zugrunde lag, man könne möglicherweise dieDrohung mit den Chinesen dazu benutzen, die Sowjetunion einzuschüchtern, warennach meiner Ansicht ein wichtiger Grund dafür, warum Washington 1979/80 denKurs der Entspannung verließ und den holprigen und gefährlichen Weg derKonfrontation einschlug.Wissen Sie, ich glaube nicht, daß Brzezinski jemals wirklich aufrichtig stabile und

normale Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA gewollt hat. Wenner davon sprach, auf die ‘chinesische Karte’ zu setzen, um diese Beziehungen zu‘stabilisieren’, so meinte er damit eine Art von ‘Stabilität’, mit der sich dieSowjetunion nie einverstanden erklären könnte.Die Absicht, die man tatsächlich verfolgt mit der ‘chinesischen Karte’, hat mit

Entspannung nichts zu tun - im übrigen verrat ein in diesem Begriff enthaltenerAnklang an das Pokerspiel die dahinterliegende zynische, betrügerische undabenteuerliche Haltung. In Wirklichkeit soll damit bezweckt werden, aus dergegenwärtigen Einstellung der chinesischen Führung möglichst rasch Gewinn zuschlagen. Dieses Bestreben läßt langfristige Ziele und Interessen völlig außer acht -sogar die der Vereinigten Staaten selbst. Washington scheint bemüht zu sein, in einerPeriode ernsthafter Schwierigkeiten zwischen der Sowjetunion und China aufschnellem Weg politische Vorteile zu erzielen, ohne dabei ernste langfristigeKonsequenzen in Betracht zu ziehen. Die Politik der USA gegenüber China hatbereits die politische Instabilität erhöht und die Entspannung untergraben, ganz zuschweigen von der damit verbundenen Verschlechterung der politischen Lage inAsien.

Aber zeichnet sich nicht das ‘Spiel’ der internationalen Beziehungen genau dadurchaus? Spielt nicht Peking gleichermaßen die ‘amerikanische Karte’?

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Ja, das tut Peking sehr wohl, und nachmeiner Einschätzung hat es sich als ein bessererSpieler erwiesen als umgekehrt Washington mit seiner ‘chinesischen Karte’.Beispielsweise verstand es die chinesische Führung bei ihrem Angriff auf Vietnamim Jahre 1979, die Vereinigten Staaten, wenn schon nicht zur direktenKomplizenschaft, so doch wenigstens zur passiven Hinnahme zu veranlassen.

Es erstaunt manche Beobachter noch heute, daß Peking so lange Zeit, nämlich von1961, dem Zeitpunkt, als die Sowjetunion ihre Spezialisten abzog (wobei diese auchihre Pläne mitnahmen), bis 1972 brauchte, um dem Westen seine Türen zu öffnen.Der sowjetische Abzug vermochte zwar vorübergehend, aber doch gewiß nicht fürimmer die Entwicklung Chinas zu verlangsamen?

Sie greifen mit Ihrer Frage eine Darstellung der Entwicklung derchinesisch-sowjetischen Beziehungen auf, wie sie im Westen weit verbreitet ist,obwohl diese Version im Widerspruch zu den Tatsachen steht. Die Abberufung dersowjetischen Fachleute, die in China arbeiteten, war nicht die Ursache, sondern dieFolge der Verschlechterung der Beziehungen, die durch das Vorgehen der RegierungMaos hervorgerufen wurde.Weiterhin war weder beabsichtigt, durch die Abberufungdie Entwicklung des Landes zu verzögern, noch ist darin der tatsächliche Grund füreine solche Verzögerung zu sehen. Damais schon war der Wirtschaft des Landesdurch den ‘Großen Sprung nach vorn’ unerhörter Schaden zugefügt worden, ja siewurde durch die Politik Maos beinahe völlig ruiniert. China wurde dadurchwirtschaftlich zurückgeworfen. Peking hat mittlerweile selbst offiziell eingestanden,daß diese Politik verheerende Konsequenzen hatte. Unsere Experten und unsereTechniker wollten nicht an der gedankenlosen Zerstörung der chinesischenWirtschaftmitwirken und haben das auch nicht getan. Auch wurden sie für den ‘Großen Sprung’nicht benötigt, was ein Hauptgrund dafür war, daß die undankbaren Gastgeber fürdiese Leute unerträgliche Arbeitsbedingungen schufen.

Der chinesisch-amerikanische Handel ist bereits auf das doppelte Volumenangewachsen und wird sich in den achtziger Jahren womöglich verdreifachen.

Eine Verdoppelung oder sogar eine Verdreifachung des Handelsvolumens istangesichts des niedrigen Niveaus, von dem diese Steigerung ihren Ausgang nahm,nicht von allzu großer Bedeutung. In amerikanischen Wirtschaftskreisen brach eineArt Euphorie aus, als die Nachrich-

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ten von den chinesischen Modernisierungsprogrammen in den USA bekannt undnormale diplomatische Beziehungen aufgenommenwurden. China erlebte eine wahreFlut von Delegationen ausWirtschaftskreisen der USA, Japans und anderer westlicherLänder. Viele Verträge wurden unterzeichnet. Inzwischen herrscht jedoch in denChefetagen der westlichen Konzerne eine nüchteme Stimmung vor. Der Grand dafürsind die einschneidenden Kürzungen bei den Modernisierungsplänen, die Tatsache,daß viele Verträge nicht eingehalten und Kredite in erheblichem Umfang nichtausgeschöpft wurden. Die Chinesen selbst sehen der Zukunft etwas zurückhaltenderentgegen.Es ist einfach eine Tatsache, daß China über sehr wenige Dinge verfügt, mit denen

es westliche Waren bezahlen könnte. Außerdem stellt das Auftreten Chinas auf denWeltmärkten auf längere Sicht eine Gefahr für die wirtschaftlichen InteressenAmerikas dar. Japan befindet sich in einer besseren Lage als die USA, wenn es gilt,die in riesigem Ausmaß vorhandene überschüssige billige Arbeitskraft Chinas zunutzen, wodurch dieWettbewerbsfähigkeit der Japaner gegenüber der amerikanischenIndustrie weiter gestärkt wird.

Was geschieht, falls die USA und eventuell auch europäische Länder damit beginnen,Peking moderne Waffensysteme zu liefern?

Es steht fest, daß die westlichen Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten, ihremilitärische Zusammenarbeit mit China verstärken. Sie gehen nur schrittweise indiese Richtung und verfallen dabei auf Tarnungen und Ausflüchte, aber sie gehenin diese Richtung. Einer der ersten Schritte wurde während des Besuchs vonVerteidigungsminister Harold Brown in Peking im Dezember 1979 getan - einVorgang, für den es, nebenbei gesagt, in der Geschichte dersowjetisch-amerikanischen Beziehungen keine Parallele gibt. Der Besuch desstellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten Geng Biao in Washington imMai 1980 endete mit dem Ergebnis, daß die USA zustimmten, militärischeAusrüstungsgegenstände - Waffen ausgenommen - an China zu liefern, was ebensoeinen Schritt in die genannte Richtung darstellt wie die spätere Pekingreise desführenden amerikanischen Spezialisten für Waffenentwicklung, desUnterstaatssekretärs im Verteidigungsministerium, William Perry.Was die Konsequenzen anbelangt, so kann ich mir nicht vorstellen, wie die

Entspannung eine solche Entwicklung überleben könnte. Wie könnten wir unsbemühen, die Spannungen zu vermindem und im Verhältnis mit den westlichenLändern das gegenseitige Vertrauen zu fördern, wenn diese Länder gleichzeitig Chinaaufrüsten? Wie könnten wir für ei-

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nen Rüstungs- und Truppenabbau in Europa eintreten, wenn wir von vomhereinwissen, daß die Waffen, die die Nato möglicherweise aus Europa abziehen würde,an unserer Hintertür, der Grenze im Fernen Osten, wieder installiert werden würden?Ganz allgemein gilt, daß man bei uns in Waffenlieferungen an China nur eines

sehen würde - nämlich die Errichtung einer Allianz, die gegen die Sowjetuniongerichtet ist. Unsere Haltung zu dieser Art von feindseliger Politik dürfte wohljedermann klar sein.

Aber von Washington aus betrachtet, gibt es nun einmalgemeinsame strategischeInteressen zwischen den USA und China.

Ob es solche Interessen gibt oder ob es sie nicht gibt, hängt davon ab, was nun genaudie Ziele sind, die die USA verfolgen. Falls die Vereinigten Staaten mit den Mittelnder Gewalt und der Einschüchterung gegen die Sowjetunion vorgehen wollen, einenKalten Krieg führen wollen - von einem tatsächlichen Krieg einmal ganz abgesehen-, dann gibt es einige gemeinsame strategische Interessen, obwohl ich mir nichtvorstellen kann, was durch solch eine Politik gewonnen wird, ganz gleich, welcheVerbündeten auch immer für solche Eskapaden gewonnen werden können.Andererseits aber - wenn das Ziel der USA Stabilität und ein dauerhafter Frieden ist-, welche strategischen Interessen könnten sie dann mit der gegenwärtigenchinesischen Politik gemein haben? Mit einer Politik, die die Entspannung fürunmöglich, den Frieden für unerreichbar und den Krieg für unausweichlich hält?Miteiner Politik, die gegenüber allen Nachbarn Chinas Forderungen erhebt?

Präsident Reagan scheint der Idee einer amerikanisch-chenesischen Zusammenarbeitauf militärischem Gebiet etwas distanzierter gegenüberzustehen als sein Vorgänger.Was ist Ihre Einschätzung dazu?

Präsident Reagans Chinapolitik ist noch nicht festgelegt worden, und es gibtverschiedene Ansätze, die zur Auswahl stehen und die darumwetteifern, die offizielleamerikanische Politik unter Reagan zu werden. Es ist möglich, daß dieReagan-Administration weitgehend die Politik ihrer Vorgängerin fortführt. Falls siejedoch dieser Politik Einhalt gebietet, so könnte das Ausdruck dafür sein, daß manerkannt hat, daß ausgedehntemilitärischeVerbindungenmit Peking sehr wohl PekingsZielen dienen könnten, ohne daß gleichzeitig für die USA greifbarer Nutzen darauserwächst - wohl aber in der Zukunft dadurch neue Probleme entstehen werden.

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Was Sie gesagt haben, läßt nur wenig Hoffnung, daß es zu ernsthaften Veränderungenin der Außenpolitik Chinas und in den Beziehungen mit der UdSSR kommt.

Ich wollte damit nicht sagen, daß China für alle Zeiten an seinem Kurs festhaltenmuß. Wir hoffen aufrichtig, daß es früher oder später wieder zu einer realistischerenHaltung gegenüber der Welt zurückkehren und in der Völkerfamilie einen Platzeinnehmen wird, der seiner wirklichen Größe angemessen ist. Die Normalisierungunserer Beziehungen mit China bleibt eines der Hauptziele der sowjetischenAußenpolitik.

Aber haben Sie nicht selbst darauf hingewiesen, daß der Antisowjetismus dergegenwärtigen chinesischen Führung deren Interessen sehr wohl dient?

Ja, und zwar solange, wie sie die nationalen Interessen Chinas in einer totalenMobilisierung des Landes zum Zwecke einer abenteuerlichen Außenpolitik sieht.Aber diese sehr begrenzte Vorstellung von nationalen Interessen hat nichts mit derwirklichen Situation und den Problemen Chinas gemein. Und dabei handelt es sichin der Tat um enorme Probleme. Allein schon die Ernährung eines Volkes mit einerMilliarde Menschen sicherzustellen, ist eine ungeheure Herausforderung, und eswird die Zeit kommen, in der diese Menschen nicht mehr länger mit einer HandvollReis zufriedenzustellen sind, in der sie ganz zu Recht danach streben werden, dermateriellen und kulturellen Errungenschaften der modernen Zivilisation teilhaftigzu werden. Das allein schon würde genügen, umChinas Interesse an einer friedlicheninternationalen Lage und einer Zusammenarbeit aller Länder zu begründen, könntendadurch doch die gesamten Ressourcen zur Lösung der Probleme des Landeseingesetzt werden. Auch bin ich überzeugt, daß, anders als dies bei den gegenwärtigen,hegemonistischen Bestrebungen der Fall ist, solche Anstrengungen nichtzurückgewiesen werden würden, sondern daß man ihnen auf der ganzen Welt mitVerständnis und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit begegnen würde.Wir glauben,daß China früher oder später diese existentiellen Notwendigkeiten begreifen unddamit den Boden für eine wirkliche Verbesserung unserer Beziehungen bereitenwird.

Wenden wir uns Japan zu. Welche Position vertritt die Sowjetunion gegenüberAnsprüchen Japans auf die sogenannten ‘Nordterritorien’?

Die japanische Regierung hat auf verschiedene Inseln, die zur Sowjet-

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union gehören, Ansprüche erhoben. Diese Insein wurden uns gemäß den Beschlüssender Konferenzen von Jalta und Potsdam nach demZweitenWeltkrieg zurückgegeben,und Japan erkannte 1951 auf der Konferenz von San Francisco selbst unserediesbezüglichen Rechte an. Nach unserer Auffassung besteht hier weder in rechtlicher,noch in praktischer Hinsicht ein Problem.

Aber gerade das ist der entscheidende Punkt: Selbst wenn das Recht auf Ihrer Seiteist, warum sind Sie nicht in der Frage einiger kleiner Inseln zu Zugeständnissenbereit, um damit mit diesem Land zu besseren Beziehungen zu gelangen, kommtdiesen doch sowohl heute wie auch in der Zukunft große Bedeutung zu?

Das entscheidende dabei ist, daß wir in diesen zwei, bzw. vier Insein mehr sehen alsnur ein kleines Stück Land. Wir glauben, daß territoriale Probleme, ganz gleich, wieklein auch das in Frage kommende Stück Land oder das Gewässer sein mag, einebesonders behutsame Behandlung verlangen. In der Vergangenheit haben solcheProbleme oft genug internationale Konflikte und sogar Kriege verursacht.Wir habenviel Mühe darauf verwandt, die Anerkennung und die Unverletzbarkeit derbestellenden Grenzen zu einer Regel der heutigen internationalen Beziehungen undzu einem grundlegenden Prinzip der internationalen Entspannung zu machen. Wirhalten an unserer Auffassung fest, daß die Stärkung dieses Prinzips hilft, wichtigeGefahrenmomente, die den Weltfrieden bedrohen, zu beseitigen.Einer Ausnahme von dieser Norm an irgendeiner Stelle zuzustimmen, und sei es

auch nur in einem winzigen Punkt, könnte sehr wohl die Schleusen für einewahrhaftige Flut von Problemen öffnen: Viele weitere alte Territorialzwistigkeitenwürdenwahrscheinlichwieder ausbrechen und neue hmzukommen. Die internationaleStabilität würde weiter untergraben werden. Es ist nicht bloßer Zufall, daß geradeChina, das ganz erhebliche territoriale Ansprüche gegenüber den meisten seinerNachbarn erhebt, solch großes Interesse zeigt, die Japaner anzustacheln,Territorialansprüche zu erheben.Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt, welche Gefühle viele Japaner mit dieser

Frage verbinden, aber die japanischen Politiker haben sich die Probleme, die sie indiesem Zusammenhang haben, selbst zuzuschreiben, weil es vor allem durch ihrePolitik dazu kam, daß solche Gefühle erweckt wurden. Ich hoffe, daß diese Frageim Laufe der Zeit einiges von ihrer gegenwärtigen Schärfe verlieren wird und damitaufhört, ein Hindernis auf dem Weg zu einer positiven Entwicklung dersowjetisch-japanischen Beziehungen zu sein.

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Aber werden die Japaner bereit sein, diesen Weg einzuschlagen, falls das Problemder Inseln ungelöst bleibt?

Ich weiß nicht, wann sie emotional dazu bereit sein werden. Geht man das Problemrational an, so sieht es ganz anders aus. Wissen Sie, ich glaube nicht, daß dieser Frageim Hinblick auf die Interessen Japans irgendwelche ernstzunehmende Bedeutungzukommt. Japans Hauptinteressen liegen darin, daß seine Sicherheit und seinwirtschaftliches Wohl gewährleistet sind. Diese Interessen haben in keiner Weiseetwas mit den Inseln zu tun. Wohl aber hängen diese Interessen weitgehend davonab, welcher Natur die Beziehungen zwischen Japan und der UdSSR insgesamt sind.Und mir scheint, daß der Sicherung dieser überaus vitalen Interessen weit mehrBedeutung zukommt als dem Schicksal von ein paar Inseln. Dies trifft um so mehrzu, wenn man die gesamte wirtschaftliche Lage in der Welt, die zunehmendeKnappheit der Rohstoffe, die Probleme im Welthandel und die protektionistischenTendenzen der westlichen Länder in Betracht zieht.

Rechnen Sie damit, daß die Japaner in den achtziger Jahren jene politische Linieverfolgen werden, die Sie als ‘rationales Verhalten’ bezeichnet haben?

Ich hoffe, daß sie das tun werden.

Im Moment sieht es jedoch nicht so aus. Ganz im Gegenteil. In Japan scheint sicheine wachsende Feindseligkeit gegenüber der UdSSR breit zu machen, wie auch einallgemeiner Unmut über das Auftauchen neuer sowjetischer Streitkräfte undMittelstreckenraketen in den fernöstlichen Teilen der Sowjetunion.

Ich bin mir dieser Gefühle sehr wohl bewußt, ebenso aber der Gelüste einiger Japaner,sich aktiv amWettrüsten zu beteiligen. Man sollte hinzufügen, daß der wahre Grundfür die jüngste Verschlechterung der sowjetisch-japanischen Beziehungen(einschließlich der Beziehungen auf wirtschaftlichem Gebiet) nicht die Frage derNordterritorien war, sondern der Druck von seiten der USA, d.h., deren beharrlicheBemühungen, die Japaner dazu zu bewegen, der politischen Linie Amerikas zu folgen.In Japan selbst werden starke Zweifel an dieser Politik laut. Viele Japaner erkennen,daß die Sowjetunion im Kontext wachsender Spannungen auf der gesamten Weltwie auch in Ostasien nicht umhin kann, angemessene Maßnahmen zu treffen, umihre Sicherheit zu gewährleisten. Die Kritiker sollten sich in erster Linie bei den USAfür diese Rake-

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ten bedanken, aber auch bei China. Es war der erklärte Wunsch der Sowjetuniongewesen, ein System der kollektiven Sicherheit und der Rüstungskontrolle auf derganzen Welt, einschließlich dem Fernen Osten, zu errichten. Trotz allem bin ich mirganz sicher, daß der Anreiz für Japan, zu einer engeren Zusammenarbeit mit derSowjetunion zu gelangen, in den achtziger Jahren zunehmen wird. Es ist zutiefstmeine Überzeugung, daß die Sowjetunion und Japan umfassende gemeinsameInteressen haben.

Sie meinen wirtschaftliche Interessen?

Nicht ausschließlich. Ich würde sogar die Betonung auf die Sicherheitsinteressenlegen. Sowohl die Sowjetunion wie auch Japan sind daran interessiert, den Friedenzu bewahren und den Grad der militärischen Konfrontation in der gesamten Regionzu verringem. Es ist ganz offensichtlich, daß Japan aufgrund seiner geographischenLage und seiner Bevölkerungsdichte im Falle eines Konflikts in höchstem Maßeverwundbar ist. Und diese Verwundbarkeit kann nicht mit Hilfe von Aufrüstung undMilitärallianzen aufgehoben werden. Der einzige Weg für Japan, seine eigeneSicherheit zu gewährleisten, besteht darin, in der gesamten Region den Frieden unddie Entspannung zu festigen, was vielleicht auf längere Sicht zu einem System derkollektiven Sicherheit und Zusammenarbeit führen wird.Was den wirtschaftlichen Aspekt anbelangt, so bietet die Region des nördlichen

Pazifiks außerordentlich günstige Möglichkeiten für eine wirtschaftlicheZusammenarbeit. Diese Region, die die westlichen Teile der USA und Kanadas, diefernöstlichen Gebiete der Sowjetunion sowie Japan und andere Lander umfaßt,verfügt zusammengenommen über ein ungeheures wirtschaftliches Potential. Eineallseitige Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichen und wissenschaftlichenBindungen ist möglich und sollte angestrebt werden. Die sowjetisch-japanischeZusammenarbeit kann zu dieser Entwicklung in ganz wesentlichemMaße beitragen.

Jimmy Carter, den man als ein Produkt von David Rockefellers ‘TrilateralCommission’ bezeichnen könnte, hatte ein Netz enger Zusammenarbeit zwischenJapan, Westeuropa und den Vereinigten Staaten zum Ziel. Ruft diese gezielte‘Dreieckspolitik’ in Moskau das Gefühl der Einkreisung hervor?

An und für sich weckt die Zusammenarbeit zwischen Japan, Westeuropa und denVereinigten Staaten keine solchen Gefühle in Moskau. Es hängt

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alles von dem politischen Kontext ab, in dem eine solche Stärkung der Bindungenstattfindet. Sollten sie sich in einer allgemeinen Situation der Entspannung entwickelnund Hand in Hand einhergehen sowohl mit einer wachsenden Zusammenarbeitzwischen den sozialistischen Ländern und den Staaten, die dieses kapitalistischeDreieck bilden, wie auch zwischen all diesen Ländern und der Dritten Welt, so wäredaran nichts auszusetzen.Wenn jedoch diese verstärkte Zusammenarbeit zwischen den drei kapitalistischen

Zentren in Verbindung mit einer Neubelebung des Kalten Krieges stattfindet undeine Stärkung der militärischen Bindungen bedeutet sowie die Anhäufung eines nochgrößeren militärischen Potentials, das sich gegen die Sowjetunion oder irgend einanderes Land richtet, dessen Politik demWesten vielleicht imMoment nicht genehmist; wenn die Koordinierung auf wirtschaftlichem Gebiet die Teilnahme aller Länderdes Dreiecks an von Washington angeführten Boykottmaßnahmen, Blockaden oderEmpbargos bedeutet, dann sind wir ganz entschieden gegen diese Art derDreiecksbeziehungen.Aber selbst wenn es zu einem derartigen Zusammenschluß des Westens auf

antisowjetischer Basis kommen sollte, was ich sehr bezweifle, glaube ich nicht, daßdas bei uns ein ‘Einkreisungs-Syndrom’ hervorrufen wird. Wir waren vor demZweiten Weltkrieg wahrhaftig eingekreist, und doch haben wir seither viel erreicht.Inzwischen gibt es andere sozialistische Länder, und ein Großteil derEntwicklungsländer ist an guten Beziehungen zur Sowjetunion interessiert. Es bestehtauch wenig Aussicht, daß derWesten - einerlei wie sich die Dinge entwickelnmögen- eine derartig monolitische antisowjetische Haltung einnehmen wird, wie das voreiniger Zeit der Fall war.Eine ganz andere Sache ist, daß solch ein Zusammenschluß auf antisowjetischer

Basis die Gefahr einer militärischen Konfrontation um ein Vielfaches erhöht. Aberdas sollte nicht nur uns Anlaß zur Besorgnis geben, sondern auch Japan, Westeuropaund den Vereinigten Staaten.

Offensichtlich platzt die japanische Wirtschaft aus allen Nähten. Es erscheint alseine natürliche Entwicklung, daß Japan mit aller Kraft versuchen dürfte, in denchinesischen Markt einzudringen.

Natürlich, Japan würde gerne den chinesischen Markt für sich gewinnen. DiesesVerlangen hat tiefe historische Wurzeln. Aber wir haben ja bereits über die Grenzengesprochen, die einem Handel mit den Chinesen gezogen sind. Handel ist kein Aktder Mildtätigkeit, und ich glaube nicht, daß die japanischen Geschäftsleute einenMarkt suchen, auf dem sie ihre Waren praktisch verschenken müßten. Natürlich, dasPotential

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für einen japanisch-chinesischen Handel würde zunehmen, könnte Japan, das selbstfast keine Rohstoffe besitzt, diese aus China beziehen. Aber bislang gibt es keinewirklichen Beweise dafür, daß China in beträchtlichem Umfang über Rohstoffeverfügt. Sollten in der Zukunft größere Funde gemacht werden, so werden riesigeInvestitionen und viel Zeit erforderlich sein, um sie zu erschließen. Solche Plänesind jedoch nicht unbedenklich angesichts der labilen Situation in China.

1973 führte ich mit dem damaligen japanischen Premierminister Kakuei Tanaka einGespräch. Damals hegte man hohe Erwartungen sowohl hinsichtlich einer raschenEntwicklung der Freundschaft mit den Chinesen, wie auch hinsichtlich einer raschenExpansion der Investitionen und der Wirtschaftsbeziehungen. Vor kurzem nun trafich mit dem ehemaligen Außenminister Saburo Okita zusammen, der manchmal auchwegen seiner Wirtschaftskenntnisse der Robert McNamara Japans genannt wird. Erwar von der derzeitigen Führung in Peking in seiner Eigenschaft als Vorsitzenderdes japanischen Wirtschaftsforschungszentrums eingeladen und um seinen Rat zuFinanz- und Wirtschaftsfragen gebeten worden. Was rasche Geschäftsabschlüsseund eine rapide Entwicklung des Handels betrifft, so schien Saburo Okita vor allzuübertriebenem Optimismus zu warnen.

Genau davon spreche ich. Die Euphorie ist vorbei. Es ist Zeit für eine nüchteme undrealistischere Einschätzung.

Takashi Watanabe, Vorsitzender der Trilateralen Kommission in Japan undehemaliger Präsident der asiatischen Entwicklungsbank in Manila, versicherte mir,daß historisch und kulturell gesehen die Japaner den Chinesen natürlicherweisenäher stünden. Er fügte hinzu: ‘Die sowjetische Diplomatie uns gegenüber ist oftmals“ungeschickt”.’

Ich weiß nicht, was er mit ‘ungeschickt’ meinte. Vielleicht die Tatsache, daß wirgegenüber den territorialen Ansprüchen nicht nachgegeben haben, aber nachzugebenwäre noch viel ‘ungeschickter’, fürchte ich. Was uns angeht, so gibt es ebenfallsmanche Aspekte der japanischen Außenpolitik, die wir nicht schätzen, aber ich würdesagen, daß wir und die Japaner nicht jene Dinge betonen sollten, die wir an derjeweiligen Politik des anderen nicht mögen, sondern mehr über Wege nachdenkensollten, die der Entwicklung wahrhaft konstruktiver Beziehungen auf der BasisgegenseitigenNutzens dienen, liegen doch solche Beziehungen im objektiven Interessebeider Länder.Was die ‘natürliche Nähe’ zwischen Japan und China betrifft - nun,

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zieht man in Betracht, wie oft und über welche Zeiträume hinweg die beiden Ländergegeneinander gekämpft haben, so könnte man diese ‘Nähe’ wohl auch ein weniganders interpretieren, als Takashi Watanabe dies tut. In vielen Fällen tragen dieJapaner die Verantwortung für diese Zusammenstöße, in anderen trifft die Chinesendie Schuld. Es wird erzählt, daß Japan einmal durch ‘Kamikaze’, den heiligenWind,gerettet wurde, der die feindliche Flotte, die sich vom chinesischen Festland hernäherte, zerstreute. Heutzutage ist es schwierig, sich auf heilige Winde zu verlassen.Viel wichtiger ist es, eine kluge, umsichtige Außenpolitik zu betreiben. Im übrigenbin ich sicher, daß die Beziehungen zwischen Japan und China von sehr vielkomplizierteren Dingen bestimmt werden als lediglich von historischen undkulturellen Gemeinsamkeiten oder ethnischen Ähnlichkeiten.Ich möchte an dieser Stelle eine allgemeine Bemerkung machen. Wir in der

Sowjetunion sind selbstverständlich darüber besorgt, daß die USA, Westeuropa undJapan zusammenmit China imAntisowjetismus eine gemeinsameGrundlage finden.Wir sehen darin eine Gefahr für die ganze Welt.Wir sind jedoch weit davon entfemt, uns der Entwicklung normaler Beziehungen

zwischen China und anderen Ländern zu widersetzen. Es ist nicht unser Ziel, dieIsolation Chinas zu verewigen oder diesem großen Land auf der internationalenEbene in irgendeiner Weise die Rolle eines Ausgestoßenen zuzuweisen.Mehr noch, wir hoffen, daß sich China früher oder später (vorzugsweise früher)

als emsthafter und konstruktiver Partner an den Bemühungen um eine Stärkung desFriedens, an einer Begrenzung und Verminderung der Rüstung und an derEntwicklung der internationalen Zusammenarbeit beteiligt. Dies wäre von großerBedeutung sowohl für die Sache des Friedens wie auch für das leidgeprüftechinesische Volk selbst. Die Sowjetunion ist bereit, zu solch einer Entwicklungbeizutragen.

Wenden wir uns Europa zu, wo der italienische Diplomat Graf Carlo Sforza 1936schrieb: ‘Entweder werden wir dem europäischen Ideal dienen, oder wir werdenuntergehen.’ Wie kam es ursprünglich zu den Planen der Sowjets für einegesamteuropäische Konferenz, die dann für lange Zeit ein immer wiederkehrendesThema der sowjetischen Diplomatie waren?

Wir ergriffen bereits 1955 zum ersten Mal eine entsprechende Initiative. Späterschlugen wir dann die Unterzeichnung eines gesamteuropäischen Vertrags zurkollektiven Sicherheit vor, der eine Laufzeit von 50 Jahren haben sollte. Danachforderten wir die Einberufung einer Ost-West-

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Gipfelkonferenz, auf der die grundlegenden Prinzipien der Ost-West-Beziehungenerarbeitet werden sollten. Die Vorstellungen von einer gesamteuropäischenKonferenzwurden in ihrer jetzigen Form 1966 auf dem Bukarester Treffen des PolitischenBeratenden Ausschusses der Warschauer Pakt-Staaten vorgelegt. 1967 wurden sieschlieβlich auf einem Treffen der Kommunistischen Parteien Europas in KarlovyVary noch einmal bekräftigt.

Der norwegische Professor Johan Galtung schlägt eine gesamteuropäische Symbiosevon Ost und West vor, aus der heraus ein politischer und wirtschaftlicher Koloßentstünde, der sich durch eine verflochtene Zusammenarbeit und gemeinsamesHandeln auszeichnen würde.

Es sollte festgehalten werden, daβ diese Idee nicht neu ist. Vor achtzig Jahren hatman in diesem Zusammenhang für gewöhnlich von den ‘Vereinigten Staaten vonEuropa’ gesprochen. Diese Idee wurde von W.I. Lenin aufs schärfste kritisiert, derdavon ausging, daβ eine solche Symbiose unter den damais herrschendenBedingungenentweder gänzlich unmöglich sei oder einen reaktionären Charakter haben würde,sich also in letzterem Fall als eine Allianz imperialistischer Staaten erweisen würde,die sich vereinigen, um das System der kolonialen Ausbeutung zu konsolidieren.

Aber welche Haltung nimmt die Sowjetunion heute gegenüber einem VereinigtenEuropa ein?

Die Frage ist, in welchemUmfang vereinigt? Falls man dabei an das Entstehen einerneuen Supermacht denkt, so scheint es sich um eine recht utopische Perspektive zuhandeln.Wir sehen objektive Tendenzen, die die wirtschaftliche Integration in Europawie auch ganz allgemein auf der Welt begünstigen, obwohl wir gleichzeitig dieSchwierigkeiten erkennen, die diesem Prozeβ entgegenstehen, wie auch dessenwidersprüchlichen Charakter. Es genügt, auf die bestehenden Ungleichheiten unddie für den Kapitalismus so typische Vorherrschaft der reicheren und mächtigerenStaaten hinzuweisen. Es ist kaum zu erwarten, daβ dieser Prozeβ in naher Zukunftin irgendeiner Form zur Vereinigung der europäischen - oder auch nur derwesteuropäischen - Volkswirtschaften führt. Die übrigen Aspekte des Problems, dienicht wirtschaftlicher Natur sind, sind sogar noch komplizierter. Denken Sie nur andas anwachsende ethnische Bewuβtsein, wie es besonders in jüngster Zeit in einigenunerwarteten Fällen in ziemlich scharfer Form zutage tritt: bei den Wallonen inBelgien, den Schotten und Walisern in Groβbritannien, den

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Korsen in Frankreich; ganz zu schweigen von den Ländern, in denen die ethnischenProbleme den Charakter offener bewaffneter Konflikte angenommen haben, wie inNordirland oder demBaskenland.Wie kannman eine Verschmelzung zur Supermachterwarten, wo die europäischen Nationen sich in wichtigen Wesenszügen so sehrunterscheiden?Ich habe bis jetzt über historische Tendenzen gesprochen. Was nun die politischen

Vorhaben anbelangt, die mit solchen Plänen der ‘Vereinigung’ verbunden sind, somachen sie auf uns einen ziemlich unheilvollen Eindruck.

Warum?

In aller erster Linie deshalb, weil diese Vorhaben nur eine Vereinigung deskapitalistischen Europas enthalten, weshalb wir nicht umhin können, in diesen Pläneneinen Versuch zu sehen, die Teilung Europas in zwei sich feindseliggegenüberstehende militärisch-politische Blöcke zu festigen und zu verewigen. Wirvertreten, wie Sie sicher wissen, eine Position, die darauf abzielt, diese abnormaleSituation zu beenden und schlieβlich sogar zur völligen Auflösung der beiden Blöckeoder zumindest ihrer militärischen Organisationen führen soil.

Faβt man eine Vereinigung ganz Europas ins Auge, so erhebt sich sofort die Frage- auf welcher Grundlage?Die sozialistischen Länder haben nicht vor, kapitalistisch zu werden, und, soweit

uns jedenfalls bekannt, hegt derWesten keine Plane, in allernächster Zeit sozialistischzu werden. Wollte man versuchen, der anderen Seite sein eigenes Systemaufzuzwingen, so würde das Krieg bedeuten.

Sie sehen also letzten Endes auch für die nächsten Jahre eine Teilung Europas vorher.

Wenn Sie dabei an die Existenz sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaftenin Europa denken - ja. Aber dies bedeutet nicht, daβ feindselige Beziehungen undSpannungen in Europa unvermeidlich sind. Ich habe ja, was unsere Einstellung zurBlockbildung betrifft, schon ausführlich dazu Stellung genommen. Wir treten füreine weitere Entwicklung der politischen Zusammenarbeit ein, mit dem Ziel, dieRüstungskontrolle und die Abrüstung voranzutreiben und zu gröβerem gegenseitigenVertrauen zu gelangen. Wir befürworten auch eine umfassende Entwicklung derwirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit innerhalbEuropas, der kulturellen Bindungen, des Tourismus und anderer Arten vonKontakten.Wir sind davon überzeugt,

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daβ die beiden Teile Europas miteinander in einemZustand der Sicherheit, der engenZsuammenarbeit und, wenn man so will, der Harmonie leben können, ungeachtetihrer unterschiedlichen sozio-ökonomischen Systeme.

Wie würden Sie unter dem Aspekt politischer Konzeptionen die Sicherheitsproblemein Europa bewerten?

In erster Linie besteht das Problem darin, daβ das ganze System der internationalenBeziehungen in dieser Region ziemlich radikale Veränderungen erfahren muβ. InEuropa treffen Länder, die den beiden verschiedenen gesellschaftlichen undwirtschaftlichen Systemen angehören, unmittelbar aufeinander. Und diesesAufeinandertreffen gilt nicht nur für den politischen Bereich, sondem gleichermaβenfür den militärischen. Es gibt keine andere Region auf dieser Welt, in der dieverheerendsten Waffen, die denkbar sind, in solchem Ausmaβ angehäuft wurden,und auch keine andere Region, die ein vergleichbares Pulverfβb geworden ist, einPulverfβb, das im Falle eines Konflikts sehr leicht explodieren kann. Hier stellt sichuns die wichtigste, ja ich würde sagen, die alles entscheidende Frage ganz besondersdeutlich, namlich die Frage, ob friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit überhauptmöglich sind. In gewisser Hinsicht ist Europa zum Prüfstand für die Lösung derwesentlichsten Probleme unserer Zeit geworden.Die ersten eineinhalb Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gaben in dieser

Hinsicht allen Anlaβ zu Pessimismus. Die Situation begann sich jedoch in densechziger Jahren zu ändern, als es zu einer bedeutenden Verbesserung dersowjetisch-französischen Beziehungen kam.Dieser Entwicklung folgten bald weitere ähnliche Ereignisse, unter anderem auch

die bedeutsame Verbesserung der Beziehungen zwischen der UdSSR und derBundesrepublik Deutschland. All das stellte, im Hinblick auf die beiderseitigeSicherheit und die friedliche Koexistenz, einen wichtigen Durchbruch dar. Der Prozeβder Normalisierung der Beziehungen erfaβte den gesamten europäischen Kontinentund sogar Kanada und die Vereinigten Staaten. Das war in der Tat eine Entwicklungvon groβer Bedeutung.

Willy Brandt hinterlieβ bei mir den Eindruck, daβ er seine Ostpolitik weder alsvollkommen gescheitert, noch als besonders erfolgreich ansieht.

Gibt es denn wirklich viele Beispiele dafür, daβ menschlichem Bemühenuneingeschränkter Erfolg beschieden war?Insgesamt gesehen hat Brandts Ostpolitik ohne Zweifel zu bedeutenden

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Ergebnissen geführt. Ich glaube, daβ Willy Brandt und seine Mitarbeiter auf das,was sie geleistet haben, stolz sein können, haben sie doch dazu beigetragen, dieEntspannung in der potentiell explosivsten Region in die Wege zu leiten, in einerRegion, in der dem Ost-West-Konflikt eher zentrale denn periphäre Bedeutungzukommt. Es ist ganz wesentlich, daβ diese Entwicklung beibehalten und weitervorangetrieben wird. Die bestehenden Probleme und Schwierigkeiten zeigen, daβdie politischen Beziehungen in Europa nicht in wünschenswertemMaβe umgestaltetwurden, und daβ, zu welchen Veränderungen es auch immer gekommen sein mag,man noch nicht davon ausgehen kann, daβ diese Entwicklungen nicht wiederrückgängig gemacht werden könnten. Diese Tatsache mindert jedoch keineswegsdie Bedeutung der positiven Veränderungen in Europa, zu denen die Ostpolitik einensehr wichtigen Beitrag geleistet hat.

Zum Abschluβ des Besuchs von Generalsekretär Breschnew 1978 in Bonn wurdendie gemeinsame Erklärung und das Abkommen über die Entwicklung und Vertiefungder langfristigen Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und industriellen Bereichunterzeichnet. Der Moskaubesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Juli 1980führte zu einer Reihe von spezifischen Maβnahmen, die der Durchführung diesesAbkommens dienen. Das ist eine für Europa ungeheuer wichtige Tendenz.

Ja, das kann für Europa eine sehr wichtige Rolle spielen.Wir streben eine langfristigewirtschaftliche Zusammenarbeit mit den einzelnen westeuropäischen Ländern an,wobei wir gleichzeitig auf eine breite, gesamteuropäische Zusammenarbeit aufwirtschaftlichem Gebiet hinarbeiten. Leonid Breschnew hat dazu verschiedeneVorschläge auf dem Energiesektor, beim Umweltschutz und in anderen Bereichengemacht.Ohne Zweifel erfordert eine langfristige Zusammenarbeit Stabilität und Vertrauen

zu den jeweiligen Partnern. Andererseits kann eine solche Zusammenarbeit einwichtiger Faktor der Stabilität und des gegenseitigen Vertrauens werden.

Trotz dieser positiven Entwicklungen hält der Verteidigungsminister derBundesrepublik Deutschland, Hans Apel, daran fest, die Gespräche zwischen Ostund West würden zu nichts führen, wenn sie nicht von militärischen Vorbereitungenbegleitet würden.

Das ist wohl genau die Auffassung, die man von einem westdeutschenVerteidigungsminister erwarten würde, obwohl damit nur dem Wettrü-

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sten und einer Verstärkung der Spannungen Vorschub geleistet wird. Gerade diemilitärischen Vorbereitungen sind es, die heutzutage zu nichts führen. Hinter unsliegen drei Jahrzehnte, die von solchen Anstrengungen bestimmt waren. Haben sieuns bei den Verhandlungen geholfen oder haben sie auch nur ein einziges Mal zueinemÛbereinkommen oder zur Zusammenarbeit geführt? ‘Si vis pacem para bellum’- dieses ewig gleiche Lied vom ‘Frieden durch Krieg’ hort die Menschheit schon seitJahrhunderten. Aber hier und heute hat dieser Aphorismus keine Gültigkeit mehr.

Denkt man zurück an die Schluβakte von Helsinki von 1975, so erscheint das Bildvom Europa der achtziger Jahre wirklich düster.

Nun, nach meiner Auffassung hatte die Entspannung die spektakulärsten Erfolge inEuropa erzielt, und zwar vor allem in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Nach1975wurde die ganze Sache komplizierter undwidersprüchlicher - vor allem aufgrundder amerikanischen Haltung. Das wurde schon auf der Belgrader Konferenz von1977 deutlich.

Wie schätzen Sie diese Konferenz ein?

Kein völliges Desaster, aber dennoch in vieler Hinsicht ein enttäuschendes Ereignis.

Und die Madrider Konferenz?

Mein Eindruck war, daβ es ganz einfachWashingtons Absicht war, sie zu sabotieren.Es mag genügen zu erwähnen, daβ einer der Führer der amerikanischen Delegationfrüher ein Mitglied des ‘Committee on the Present Danger’ war. Im übrigen war esdie erklärte Absicht der USA, die Sowjetunion auf der Konferenz anzuklagen. Alldas erweckte den Eindruck, die Carter-Administration handle, was die europäischeSicherheit betrifft, in beispiellos fahrlässiger Weise. Ich habe den Verdacht, daβ esin Wirklichkeit ihr Ziel war, die Unzufriedenheit der Europäer mit AmerikasNeuauflage der Politik des Kalten Krieges zu beschwichtigen und Entschuldigungendafür zu konstruieren. Es bleibt abzuwarten, ob die Europaer ihrerseits bereit sind,in diesem Spiel des Weiβen Hauses die Rolle des Betrogenen zu übernehmen.

Madrid spiegelt also eine Verschlechterung dergesamten Situation in Europa wider?

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In dem Augenblick, in dem dieses Buch in Druck geht, dauert die Konferenz immernoch an. Und ich habe durchaus Hoffnung, daβ es zu Verbesserungen kommt. WennSie mich nach einer Einschätzung der ersten Phase der Madrider Konferenz fragen,so würde ich sagen, daβ die allgemeine Situation in Europa besser ist als die Situationder Konferenz. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost- undWesteuropa wurden weiterentwickelt.Gleichzeitig gab es auch einige negativ zu bewertende Tatsachen. Am meisten

beunruhigt dabei, daβ bei der Rüstungsbegrenzung keine positiven Resultate erzieltwurden. Ganz imGegenteil, die Nato hat 1978 und 1979 verschiedene Entscheidungengetroffen, durch die sich die militärische Rivalität noch zuspitze.Aber ich möchte noch einmal betonen, daβ sich nicht nur ein ausschlieβlich

negatives Bild ergibt, wenn man die Zeit seit den frühen siebziger Jahren oder selbstnur die Zeit seit Helsinki in Betracht zieht und die Entwicklungen bewertet, zu denenes seither in Europa kam. Ich glaube, daβ die Grundlagen der Entspannung in Europaintakt geblieben sind, was man von unseren Beziehungen mit den USA nichtunbedingt sagen kann.

Zur Frage der Abneigung Europas, sich Washingtons neuem Feldzug des KaltenKrieges anzuschlieften, stellte Kissinger zusammenfassend fest: ‘Es geht nicht an,daβ die Europäer einMonopol darauf haben,maβigend zu wirken, wahrend die USAdas Monopol darauf haben, Druck auszuüben.’

In der Tat ist solch eine Rollenverteilung nicht die beste Lösung. Wir würden es sehrviel üeber sehen, wenn sowohl Westeuropa wie auch die USA mit uns Beziehungenunterhielten, die eher auf Müβigung denn auf Druck und eher auf Zusammenarbeitdenn auf Konfrontation beruhen.Wenn es dazu nicht kommt, so solite Kissinger nicht den Europäern die Schuld

dafür geben. Die Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropahaben ihre Wurzeln in der amerikanischen Politik, in dem Kurswechsel, bei dem dieEntspannung durch eine Steigerung der Spannungen abgelöst wurde. Mit anderenWorten, und darauf habe ich bereits hingewiesen: Die Europäer nehmen dieEntspannung ernster als die Amerikaner.

Sie haben zwar darauf an früherer Stelle hingewiesen, ich möchte Sie aber noch umeine detailliertere Analyse bitten.

In erster Linie sind die Europaer sensibler, was die Kriegsgefahr anbe-

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langt. Wie der berühmte amerikanische Historiker Charles Beard sagte, sind dieProblème Europas ‘überzogen von einer Blutkruste, die fünfzigmit Kriegen angefüllteJahrhunderte hinterlassen haben’.5Und schlieβlich sind es auch nicht die Amerikaner,sondern die Europäer, die in unmittelbarer Nähe jener sowjetischer Panzer und SS20-Raketen lebenmüssen, derentwegen die Nato soviel Aufhebens macht. Ein Kriegin Europa mag sich für die USA wie ein ‘lokaler’ Konflikt ausnehmen, aber dieserKriegsschauplatz ist, wie weit er auch von Washington entfernt sein mag, für dieEuropäer der einzige Lebensraum, über den sie verfügen. Deshalb ist für sie solchein - aus amerikanischer Sicht - ‘lokaler’ Krieg eine Angelegenheit auf Leben undTod.Zweitens ware zu erwahnen, daβ im Zusammenhang mit der Entspannung für die

Europäer ein sehr viel gröβerer wirtschaftlicher Einsatz auf dem Spiel steht. Undschlieβlich gibt es noch die menschlichen Kontakte, das Gefühl, durch eingemeinsames Schicksal verbunden zu sein, das gemeinsame kulturelle Erbe, in dassich alle Völker Europas, Ost und West, teilen.Es gibt viele starke historische Bande, unser gemeinsamer Kampf gegen Hitler,

an dem auch die USA teilnahmen, war eine Erfahrung, die die Europäer einanderbesonders nahebrachte. Sowjetbürger, die den Konzentrationslagern in Westeuropaentfliehen konnten, beteiligten sich am Kampf der WiderstandsbewegungenFrankreichs, Italiens, Belgierts und vieler andere Länder. Franzôsische Offizierekämpften in unserer Luftwaffe. Die sowjetische Armee spielte eine entscheidendeRolle bei der Befreiung Europas - das haben die Europäer besser begriffen als dieAmerikaner. Die Gräber sowjetischer Soldaten, die ihr Leben dafür gaben, daβ dieNazis besiegt wurden, liegen über den ganzen Kontinent verstreut.Alles in allem wird dem Frieden und der Entspannung in Westeuropa eine sehr

viel höhere Priorität eingeräumt als in den Vereinigten Staaten. In gewisser Hinsichtgeriet Amerika bei der Entspannung manchmal richtiggehend in den Sog, der vonWesteuropa ausging, und heute leistet Europa, wenn auch vielleicht mitunter nurzôgernd und widersprüchlich, Widerstand gegen die Versuche der Amerikaner, denKalten Krieg aufs neue zu beleben.Ich will damit nicht sagen, daβ die ½berbleibsel des Kalten Krieges schon aus den

Kôpfen aller Europäer verbannt wären. Es gibt in Westeuropa Kräfte, die dieEntspannung fürchten und einer angespannteren Atmosphäre imOst-West-Verhältnisden Vorzug geben würden.

An welche Kräfte denken Sie dabei?

5 Ronald Radosh, Prophets on the Right, New York, 1977, S. 32

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Nun, zum einen hat jedes westeuropäische Land sein eigenes militärisch-industriellesMacht- und Interessenkartell, das zur Entspannung so ziemhch die gleiche Haltungeinnimmt wie das amerikanische. Es gibt Leute, die iiber die ‘innenpolitischeInstabilität’ in ihren Ländern besorgt sind und auf der Suche nach einem Sändenbockdie Entspannung als einen Hauptgrund für diese ‘Instabilität’ hinstellen. In ihrenAugen stellt ein von neuerlichen Ost-West-Feindseligkeiten und einer neuerlichenPolarisierung geprägtes Klima ein wirksames Mittel dar, um jene zu disziplinieren,die für gesellschaftliche Veränderungen in Westeuropa kämpfen. Zugleich stellt esauch ein Mittel dar, um unter dem Motto der äuβeren Bedrohung die ‘nationaleEinheit’ herzustellen, gleichgültig, ob es eine solche Bedrohung nun gibt oder nicht.Man sollte auch den Antikommunismus nicht unerwähnt lassen. In Westeuropa,

vor allem in jenen Ländern, in denen die Kommunisten eine ernstzunehmendepolitische Kraft darstellen, nimmt der Antikommunismus andere Formen an als inden Vereinigten Staaten. Dennoch gibt es ihn, und er trägt nicht unerheblich zu denverstärkten internationalen Spannungen bei.Schlieβlich spielt, was die Spannungen in Europa anbelangt, solch ein traditioneller

Faktor wie die imperialen Bestrebungen der Deutschen eine Rolle. Selbstverständlichsind diese Bestrebungen heute schwächer als vor 40 oder 70 Jahren, aber es gibt inder Bundesrepublik Deutschland immer noch Leute, darunter sehr einfluβreiche Teileder Machtelite, die glauben, Deutschland sollte ein weiteres Mal versuchen, dieHegemonie über Europa und andere Teile der Welt zu erlangen. Ihnen sind diebestehenden Beschränkungen, die den Deutschen immilitärischen Bereich auferlegtsind, ein Dorn im Auge.

Die Bundeswehr hat bereits Zugang zu Nuklearwaffen.

In gewisser Hinsicht. Die mit Nuklearsprengköpfen bestückten amerikanischenRaketen, die in Europa stationiert sind, werdenmit Hilfe von zwei Schlüsseln aktiviert,davon wird einer von der Bundeswehr verwahrt. Dasselbe wird, so wie es aussieht,für die amerikanischen eurostrategischenWaffen (Pershing 2 undMarschflugkörper)gelten, die von 1983 an in erster Linie in der Bundesrepublik stationiert werdensollen. ½berdies wird die Möglichkeit diskutiert, ein gemeinsamesfranzösich-deutsches Arsenal von Nuklearraketen aufzubauen.

Solange aber 300 000 amerikanische Soldaten in Westeuropa stationiert sind, wirdwahrscheinlich der amerikanische Atomschirm aufrechterhalten werden.

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In der Theorie ist vorgesehen, daβ im Rahmen der Nato-Verpflichtungen der USAder Atomschirm, von dem Sie sprechen, Europa abdeckt. Was die 300 000amerikanischen Soldaten anbelangt, so stellen sie einerseits Amerikas Beitrag zuden regulären Streitkräften des Bündnisses dar, während man in ihnen andererseitsauch eine Art von Geiseln sehen kann. Denn die Vereinigten Staaten müβten dannim Falle eines Krieges auch tatsächlich kämpfen, und sei es nur deshalb, um dieseSoldaten nicht im Stich zu lassen. Dies entspricht der traditionellen Denkweise, diedavon ausgeht, daβ allein durch militärische Mittel die Sicherheit gewβhrleistetwerden kann.Nebenbei gesagt, führt das in diesem Fall zu einigen unlösbaren Problemen

spezifischer Art. Unter den gegenwärtigen Umstanden schüren manche Amerikanergenauso wie gelegentlich auch jene Europäer, die das Wettrüsten unterstützen,künstliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Granatien, für die sich Amerika mitseiner Nuklearstreitkraft verbürgt. Diese Leute weisen auf das strategischeGleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR hin, sowie darauf, daβ die USAim Falle eines gröβeren Konflikts in Europa die Europäer ihrem Schicksal überlassenwürden, da ein Atomkrieg für die Vereinigten Staaten mittlerweile einem Selbstmordgleichkäme. Diese Ängste und Zweifel haben bei der Debatte, die der jüngstenEntscheidung der Nato zu den Pershing II-Raketen und den Marschflugkörpernvorausging, eine gewisse Rolle gespielt. Aber wie wir im Laufe unserer Diskussionschon an anderer Stelle festgestellt haben, löst diese Entscheidung das ‘Problem’,das es zu lösen vorgibt, nicht.

Was sollen die angstlichen Europäer also tun?

Das gleiche wie die angstlichen Russen und die angstlichen Amerikaner. Sie solltenbegreifen, daβ militärische Stärke allein keine Gewähr für Sicherheit bietet, und daβfür einen dauerhaften Frieden Entspannung und Rüstungsbegrenzung sowie eineverstärkte Zusammenarbeit zwischen Ost und West erforderlich sind. Auβerdemsollten die Europäer nicht den Ängsten Raum geben, die die Verfechter einesfortgesetzten Wettrüstens verbreiten, indem sie eine angebliche ‘Wehrlosigkeit’ derEuropäer an dieWand malen. Alles, was durch die Abschreckung überhaupt erreichtwerden kann, kommt auch den Europäem zugute. Denn ein Krieg in Europa istzugleich ein Weltkrieg, und zwar ein Atomkrieg. Das ist die politische Realität derWelt von heute. Ich bin überzeugt, daβ man das in der Sowjetunion ganz genaubegriffen hat. Es wäre nur zu wünschen, daβ man das im Westen ebenfalls begreift.

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Kennedy lieβ es sich nicht nehmen, bei seinem Berlin-Besuch der Bevölkerung -wenn auch mit ausländischem Akzent - zuzurufen: ‘Ich bin ein Berliner!’ Ähnlichspäter Jimmy Carter. Er betonte, er würde Westdeutschland verteidigen, ‘als sei esunser eigenes Land’.

In solcher Rhetorik kommen ganz deutliche antisowjetische Tendenzen zumAusdruck.Sie zielt darauf ab, antisowjetische Gefühle zu schüren. Gegen wen sollte CarterWestdeutschland eigentlich verteidigen? Wir haben nicht die Absicht anzugreifen.Un die meistenWesteuropäer wissen das. Die Ängste aus der Zeit des Kalten Krieges,wonach die Russen versuchen würden, Westeurpa zu erobern, haben viel von ihrerGlaubwürdigkeit verloren. Heute scheinen sich die Amerikaner wegen dieser garnicht bestehenden ‘Gefahr’ vielmehr Sorgen zu machen als die Völker inWesteuropa- was die tatsächliche Situation auf dem Kontinent ziemlich genau kennzeichnet.

Auch wenn man zugeben muβ, daβ sich das 1949er Modell der sowjetischenBedrohung Westeuropas heute recht sonderbar ausnimmt, so bestehen doch nochimmer Ängste, die Sowjets könnten militarisch vorgehen - sagen wir als Antwort aufeine Krise in Osteuropa.

Ja, die gegenwärtigen Überlegungen innerhalb der Nato gehen in diese Richtung.Manmuβ ein glaubhaftes Feindbild vorweisen können, um die vernünftigen Zweifel,die in der Öffentlichkeit auftreten, im Zaum halten zu können. Ich bezweifle aber,ob die Leute dieses neueste Produkt, das sich die Nato ausgedacht hat, glaubhaftfinden werden.Überlegen Sie sich das einmal. Man behauptet, man müsse Westeuropa gegen

einen denkbaren sowjetischen Angriff verteidigen, zu dem es infolge von Ereignissenin Osteuropa, die der Sowjetunion möglicherweise miβfallen, kommen könnte. Fallshier überhaupt ein logischer Zusammenhang besteht, dann doch nur unter derAnnahme, daβ Westeuropa mit solchen Ereignissen in Osteuropa sehr viel zu tunhat; stellt sich doch andernfalls die Frage, warum man von der Sowjetunionirgendwelche feindseligen Reaktionen gegenüber dem Westen erwartet.Um es einfacher auszudrücken: Es könnte sein, daβ die Nato versucht, die Absicht

zu verteidigen, sich in die inneren Angelegenheiten der osteuropäischen Staateneinzumischen. Hat solch eine Absicht irgend etwas mit den wahren InteressenWesteuropas zu tun, mit den Interessen ganz Europas? DerWesten muβ die Tatsacheakzeptieren, daβ der Sozialismus in Osteuropa von Bestand sein wird.

Was würden Sie unter diesem Aspekt zu Polen sagen? Sind nicht die jüng-

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sten Ereignisse dort Ausdruck einer ernstzunehmenden Unzufriedenheit mit dengegebenen Verhältnissen?

Ja, es gab Unzufriedenheit. Sie richtete sich jedoch nicht gegen dasGesellschaftssystem. Sie hängt vielmehr mit Dingen zusammen, die mit dem Systemals solchem nichts zu tun haben, Dingen, vor denen niemand sicher ist - den Fehlerneiniger Leute aus der Führung, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Korruptionund anderer Vergehen einiger Beamter.Dieses Land erlebt gegenwärtig schwere Zeiten. Aber das kann nicht über die

offenkundige Tatsache hinwegtäuschen, daβ Polen, einst eines der ärmsten LänderEuropas, unter dem Sozialismus sehr viel erreicht hat. Und dieses Land wird aucheinen Ausweg aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten finden.

Betrachtet die UdSSR die polnischen Ereignisse als eine Bedrohung?

Das hängt davon ab, an welche Ereignisse Sie denken.Wir unterstützen vorbehaltlosdie Beschlüsse, die das Zentralkomitee der Vereinigten Polnischen Arbeiterparteiauf seinen jüngsten Plenarsitzungen gefaβt hat und die besagen, daβ in derWirtschaftein effektivererer Führungsstil erforderlich ist, daβ die Politik derAuslandsverschuldung, die in den letzten Jahren betrieben wurde, nicht fortgeführtwerden kann, daβ Korruption und Bürokratismus bekämpft werden müssen und denBedürfnissen der breiten Bevölkerung gröβere Aufmerksamkeit geschenkt werdenmuβ. Dieses und vieles andere betrachten wir keineswegs als bedrohlich.Wir hoffen,daβ der politische Kurs, den die polnische Führung eingeschlagen hat, für das Landvon Nutzen sein wird.Aber es gibt auch noch andere Dinge - wie z. B. eine anarchistische Haltung

gegenüber staatsbürgerlichen Pflichten, fehlende Bereitschaft, den Ernst derwirtschaftlichen Lage zu begreifen, offen antisozialistische Erklärungen undAktivitäten, die vom Ausland her von antipolnischen und antikommunistischenElementen unterstüzt werden. Diese schädlichen Tendenzen können gefahrlich sein,wenn ihnen nicht entschlossen begegnet wird; wir hoffen jedoch, daβ die polnischenGenossen imstande sind, der Lage Herr zu werden.Die Sowjetunion ist von der Prämisse ausgegangen, daβ es sich dabei um eine

innerpolnische Angelegenheit handelt. Wenn wir darum gebeten wurden, haben wirbei der Lösung der Krise mitgeholfen, indemwir der polnischenWirtschaft finanzielleUnterstüzung gewährten. In allen Phasen der Krise haben wir die polnische Regierungunterstüzt. Andere sozialistische Nachbarn Polens haben sich ebenso verhalten.

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Andererseits jedoch betrachteten manche westliche Kreise die polnische Krise alseine günstige Gelegenheit, um sich in die inneren Angelegenheiten des Landeseinzumischen und zu versuchen, das sozialistische System Polens zu untergraben.

Könnten Sie das näher ausführen?

Auβer zu wütenden Propagandaausfällen kam es auch zu Erklärungen von FranzJosef Strauβ und anderen konservativen westlichen Politikern, die den Zweck hatten,die Emotionen anzuheizen. An solchen Versuchen beteiligten sich auch einigewestliche Gewerkschaftsführer, Industriebosse und Stiftungen. Des weiteren erhieltdie neue Gewerkschaft aus der Bundesrepublik, den Vereinigten Staaten und anderenLändern finanzielle Unterstützung.

Offensichtlich sind Sie nicht bereit einzugestehen, daβ der sowjetische Kommunismus,der in Polen nach 1944 eingeführt wurde, aufgrund seines Versagens und desWiderstands, der ihm von den Arbeitermassen entgegengebracht wird, an einemScheideweg angekommen ist.

Einer solchenAuffassung kann ich keineswegs zustimmen. Und ich bin fest überzeugt,daβ die Mehrheit der Polen dem genausowenig zustimmen würde.Sie werden sicher verstehen, daβ es nicht einfach ist, auf die polnischen Ereignisse

genauer einzugehen, da die Lage imMoment noch zu veränderlich ist. Zu viele Dingesind noch nicht abgeschlossen: Die neueWirtschaftspolitik ist noch nicht vollständigausgearbeitet, die Partei bereitet sich auf ihren nächsten Kongreβ vor, und was dieBeziehungen zwischen den neuen Gewerkschaften und dem Staat betrifft, so muβerst noch ein angemessener Modus gefunden werden.Aber ich möchte noch einmal wiederholen:Wir hoffen, daβ die polnische Führung

der Situation Herr werden wird.

Sie haben gesagt, Washington versuche, unter Ausnutzung der verstärkteninternationalen Spannungen, seine Beziehungen zu den Verbündeten zu stärken.

Ja, das versucht Washington. Man kann sogar unterstellen, daβ genau aus diesemGrund nicht wenigen amerikanischen Politikem die Entspannung miβfiel und sie einKlima der Spannungen bevorzugten, helfen doch Spannungen, die Zügel zu straffenund die Verbündeten, wie auch die eigenen Leute, zu ‘disziplinieren’.

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Was die Wirksamkeit dieser Taktik angeht, so bin ich der Meinung, daβ sie inbegrenztem Maβe und auf kurze Sicht zum gewünschten Ergebnis führt, währendsich gleichzeitig die langfristigen Problème, die zwischen Westeuropa und Amerikabestehen, zuspitzen und sowohl offene wie auch verborgene Spannungen in diesenBeziehungen verstärkt bzw. neu geschaffen werden.Tatsache ist, daβ wir heute schon Zeugen einer solchen Entwicklung sind.

Heiβt das Ihrer Meinung nach, daβ ein Kalter Krieg, dem keine ‘echten’ Motivezugrunde liegen, auch zu keiner ‘echten’ Einheit im Westen führen kann?

Ja, die Welt hat sich seit den fünfziger Jahren verandert, und gleichgültig, wie sehrman sich auch in Washington nach diesen Zeiten zurücksehnt - sie lassen sich nichtzurückholen. Nun, da die westeuropäischen Verbündeten wirtschaftlich sehr vielstarker und in politischer Hinsicht von den USA unabhängiger geworden sind, fordernsie, daβ ihre Interessen Berücksichtigung finden. Einige der auβenpolitischenEskapaden der Amerikaner haben unter den Verbündeten emsthafte Besorgnishervorgerufen. Sicherlich, Washington ist immer noch in der Lage, den Partnernseinen Willen aufzunötigen. Jedoch wird mit jedem derartigen Vorgehen dieBereitschaft der Westeuropäer, in Amerikas Fuβstapfen zu treten, geringer. DiesesVerhältnis kann nicht endlos so weitergehen, ‘es gibt eine Grenze, jenseits dererGeduld aufhört, eine Tugend zu sein’.

Wenn man in den Niederlanden in den sechziger Jahren Lyndon B. Johnson wegender Ereignisse in Vietnam öffentlich einen Mörder nannte, wurde man gerichtlichverurteilt. Heute stellen immer mehr Europäer Washingtons Vorgehen in Frage.

Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daβ das Vertrauen der westlichen Verbündetenin die amerikanische Führung erschüttert ist. Man vertraut Washington nicht mehrin dem Maβ, wie das vielleicht früher einmal der Fall war. Es ist nicht nur so, daβes für die Vereinigten Staaten schwieriger geworden ist,Westeuropa dazu zu zwingen,sich den amerikanischenWünschen zu beugen, sondern es hat umgekehrt der Einfluβder Verbündeten aufWashington in beachtlichemMaβe zugenommen. Der Standpunktund das UrteilWesteuropas hat heute gröβere Bedeutung für den Entscheidungsprozeβin der amerikanischen Auβenpolitik.

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Helmut Schmidt, Giscard d'Estaing und möglicherweise auch der spanischePremierminister Adolfo Suarez scheinen 1980 nach den Ereignissen in Afghanistanmäβigenden Einfluβ auf Washington ausgeübt zu haben.

Das mag der Fall sein, doch muβ erst noch abgewartet werden, wie nachhaltig dieseEinfluβnahme war und welche Bedeutung ihr zukommt.Die Versuche der USA, die Spannungen in der Welt und insbesondere auch in

Europa zu erhöhen, könnten die Besorgnis und die Ängste der Europäer für eineWeile verstärken und dazu führen, daβ Washington sein Ziel, Europa zu gröβererGefolgschaft zu verpflichten, zum Teil erreicht. Wie lange dieser Zustand andauemwird und ob nicht dadurch sogar noch stärkere Gegentendenzen verursacht werden,ist eine andere Frage.In gewisser Hinsicht ist eine solche Entwicklung bereits eingetreten. Denken Sie

an die Reaktion Amerikas auf das Treffen Giscard d'Estaing und L.I. Breschnewoder an die Weigerung der meisten west-europäischen Länder, sich dem Boykott derOlympischen Spiele in Moskau anzuschlieβen, oder an die Wirtschaftssanktionen,die gegen den Iran verhängt wurden.

Die meisten Europäer fühlen sich vielleicht belästigt und gelangweilt oder gar völligverwirrt, angesichts des endlosen Geredes von den unvorstellbaren Gefahren undvon Raketen, die ihre unheilvolle, zerstörerische Last mit Schallgeschwindigkeit‘durch die Lüfte tragen’.

Die Europäer geben ihrenWiderwillen klar zu erkennen, aber man kann das Problemdes Überlebens nicht einfach beiseite schieben. Widerwillen hilft nicht weiter, wennes um das Problem des Überlebens geht.Wenn Sie mir eine allgemeinere Bemerkung gestatten - ich möchte nicht den

falschen Eindruck erwecken, ich sei eine Art Eurozentrist, aber uns allen liegt dieserKontinent sehr am Herzen. Mit ‘uns allen’ sind nicht nur die Sowjetbürger diesseits,sondem auch jenseits des Urals gemeint und auch die Amerikaner, von denen diemeisten europäischer Abstammung sind. Es ist ungeheuer wichtig, diesen Kontinentzu erhalten und günstige Bedingungen für seine Zukunft zu schaffen. Es liegt in er-ster Linie an den Europäem selbst, dafür Sorge zu tragen. Aber das gleiche Anliegensollte auch bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eine Rolle spielen, istes doch eines der wichtigsten Problème. Diese Beziehungen können nicht losgelöstvon Europa betrachtet werden. Europa war sowohl die Brutstätte des Kalten Kriegeswie auch der Ge- burtsord der Entspannung.Bei dem Thema Europa handelt es sich nicht nur um das selbstlose Ein-

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treten zweier Supermächte für die Europäer. Es handelt sich um die Frage derSelbsterhaltung - das gilt sowohl für die UdSSRwie auch für die USA. Hieraus ergibtsich die dringende Notwendigkeit, ein hohes Maβ an Verantwortungsgefühl an denTag zu legen. Wenn ich das sage, denke ich in erster Linie an die Amerikaner, aberauch die Westeuropäer haben in dieser Hinsicht ein Wort mitzureden.

Sie meinen, was ihre Verantwortung anbelangt?

Ja. Und ich meine nicht nur Verantwortung für das, was sich in Europa ereignet,sondern auch Verantwortung für die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Mirscheint, daβ manche Europäer die entscheidende Bedeutung, die diese Beziehungenfür ihren Kontinent haben, nur dann anerkennen, wenn es zwischen den beidenGiganten nicht rei bungslos läuft und sich Problème ankündigen. Sobald sich jedochdie sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bessern, bekommen es dieselbenEuropäer mit der Angst zu tun, diese Beziehungen kônnten ‘zu gut’ werden. DieseGefahr besteht freilich im Moment nicht.

Was ware Ihrer Ansicht nach die für Europa erstrebenswerteste Situation im Hinblickauf die internationalen Beziehungen?

Ich würde sagen: Sicherheit von gröβtmöglicher Dauer und Zusammenarbeit inhöchstmöglichem Maβe. Um das zu erreichen, ist es notwendig, Schluβ zu machenmit der anomalen Situation, daβ der Kontinent in zwei feindliche Lager gespaltenist, die mit mächtigen nuklearen und konventionellen Waffen ausgerüstet sind undMilliarden und Abermilliarden für militärische Zwecke ausgeben.Deshalb befürworten wir die Auflösung der Militärblöcke oder, als einen ersten

Schritt, den Abbau der jeweiligen militärischen Organisationen. Die Charta desWarschauer Paktes enthält einen besonderenArtikel, demzufolge sich der Pakt auflöst,wenn die Nato nicht mehr besteht.

Indem Sie dieses Ziel anstreben,möchten Sie auch erreichen, daβ die USA aus Europaabziehen.

Wie kommen Sie darauf? Wir sind Realisten und stellen uns keine unlösbarenAufgaben. Auβerdem ist es undenkbar, daβ wir das Ziel, von dem ich sprach, ohnedie Zustimmung der Amerikaner erreichen, ja mehr noch, ohne ihre aktive Teilnahmeam Prozeβ der Entspannung und Abrüstung. Schlieβlich wünschen wir nicht nur,daβ es in Europa zu Ent-

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spannung, Sicherheit und Zusammenarbeit kommt, sondem daβ dies überall auf derWelt geschehe, wovon selbstverständlich auch das Verhältnis zwischen derSowjetunion und Amerika betroffen ist.Es liegt auf der Hand: wenn sich die Vereinigten Staaten die Intensivierung der

Spannungen und die Beschleunigung der militarischen Vorbereitungen der Nato zumZiel setzen, wenn sie ihren Einfluβ auf die Verbündeten dazu benutzen, die politischeAtmosphäre in Europa zu vergiften, dann können wir nur entschiedene Gegner diesesdestruktiven Einflusses der Amerikaner auf die europäischen Angelegenheiten sein.Wir setzen es uns jedoch nicht zum Ziel, im Kontext der Entspannung einen Keilzwischen Westeuropa und Amerika zu treiben.Meiner Ansicht nach fällt es schwer, sich ein stabiles System der internationalen

Beziehungen vorzustellen, wenn nicht gleichzeitig stabile, ausgeglichene undgleichberechtigte Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa bestehen. Undauβerdem - solange viele westeuropäische Staaten sich ihre Sicherheit nicht ohnedie Grande der Atommacht USA vorstellen können, könnte der Abzug der Amerikaneraus Europa - es sei denn, er geschieht im Rahmen einer allgemeinen Abrüstung - derWeiterverbreitung von Atomwaffen Vorschub leisten und einem neuen WettrüstenTür und Tor öffnen. Ich möchte noch einmal feststellen: Unser Ziel sind guteBeziehungen mit Westeuropa, gute Beziehungen mit den Vereinigten Staaten undgute Beziehungen mit allen anderen Ländern.

In Europa wird jedoch vor allem seit Afghanistan der politische Kurs der Sowjetsals ziemlich antiamerikanisch empfunden.

Das ist eine unmittelbare Konsequenz der Politik, die die Vereinigten Staaten heutebetreiben, eine sehr natürliche Reaktion auf diese antisowjetische Politik. Aber diesesThema haben wir schon erörtert. Wenn ich unser Gescpräch über die europäischenBelange zusammenfassen soil, so würde ich betonen, daβ Europa letztlich zu kleinwird und zu stark bevölkert ist, als daβ Raum bleibt für das Wettrüsten und fürFeindseligkeiten und Konfrontationen, die ihm von auβen aufgenötigt werden.

China, Japan, Indien und Europa haben für die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen zweifellos groβe Bedeutung. Aber in Zusammenhang mit den Prüfungenund Enttäuschungen, mit denen die Entspannung während der letzten fünf Jahreverknüpft war, denkt man an verschiedene Ereignisse - an Angola, an das Horn vonAfrika, an Afghanistan und selbstverständlich an den Nahen Osten. Die Ereignissein der Dritten Welt,

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die immer mehr Dynamik entwickeln, schaffen für eine Annäherung zwischen denUSA und der UdSSR Probleme. Umgekehrt komplizieren die erhöhten Spannungenzwischen den beiden Supermachten die Lösung der drängenden Probleme derEntwicklungsländer.

Die Welt hat sich in der Tat rasch verändert, und die Industrieländer kommen damitunterschiedlich gut zurecht. Ich glaube jedoch nicht, daβ es gerechtfertigt ist, dieSowjetunion und die Vereinigten Staaten über den gleichen Kamm zu scheren, wasihre Politik gegenüber den Entwicklungsländern betrifft.Werfen wir einen Blick auf einige grundlegende Tatsachen, die die Dritte Welt

betreffen. Während vieler Generationen war dieser Teil der Welt der koloniale bzw.halbkoloniale Hinterhof des kapitalistischen Westens. Sucht man nach Kräften, dievon auβen einwirken und für die schreckliche Lage von Hunderten von MillionenMenschen in Asien, Afrika und Lateinamerika verantwortlich sind, so trägt eindeutigder Westen die Verantwortung.

Und Ruβland...

Ruβland ist 1917 aus dem Kreis der Kolonialmächte ausgeschieden. Bis zu diesemZeitpunkt hatte Ruβland Teile des eigenen Landes in einem kolonialen Zustandgehalten und sie unbarmherzig unterdrückt und ausgebeutet. Es war eine derHauptaufgaben unserer Revolution, für eine politische Befreiung und einwirtschaftliches und kulturelles Wiedererstehen dieser Gebiete zu sorgen.

Es ist ganz offensichtlich - die zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion habenseit 1917 sehr groβe Fortschritte gemacht.

Ja, die Menschen dort haben in einer sehr kurzen Zeitspanne den Schritt von dermittelalterlichen Rückständigkeit in die moderne Zivilisation getan. Was ganausowichtig ist -ihr volkstümliches Erbe wurde nicht nur bewahrt, sondem ist neuaufgeblüht. Wir glauben also, daβ wir, soweit wir für das traurige Los dieserKolonialvölker direkt verantwortlich sind, das Notwendige getan haben, um diebegangenen Fehler wiedergutzumachen.

Bedeutet das, daβ Sie den Entwicklungsländern keine weitere Hilfe mehr gewährenwerden?

Nein. Wir leisten heute Hilfe, und wir werden das in der Zukunft tun, so

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gut wir können. Aber wir glauben auch, daβ die Lander, die Kolonialreiche besaβenund diese ausbeuteten sowie deren Reichtum und Rohstoffe veruntreuten, einebesondere Verantwortung tragen. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, daβPrivatunternehmen aus den Ländern, die einst die Kolonialmacht waren, weiterhinin den Entwicklungsländern investieren, um dort Riesengewinne herauszuziehen.

Bemühen sich denn nicht viele Entwicklungsländer nach Kräften um ausländischesKapital - sei es nun in Form privater oder öffentlicher Investitionen?

Sie haben recht, diese Länder haben einen ganz erheblichen Bedarf an Investitionen,Kapital, Technologie, Know-how, qualifizierten Arbeitskräften etc. Und diemultinationalen Konzerne verfügen über enorme Ressourcen, die der Dritten Weltzugute kommen könnten. Die groβe Frage ist nur - unter welchen Bedingungen undin wessen Interesse? Wenn ein Privatunternehmen in einem Land der Dritten Weltinvestiert, so ist das Hauptziel dabei, dort eine Profitrate zu erzielen, die in einemIndustrieland aufgrund der viel höheren Lohnkosten nicht möglich ist. Das bedeutetim wesentlichen die ‘Über-Ausbeutung’ der Entwicklungsländer. Hierin liegt eineder Ursachen für Konflikte zwischen diesen Ländern und dem Westen.

Was die multinationalen Konzerne anbelangt, nehmen die verschiedenenEntwicklungsländer offensichtlich eine unterschiedliche Haltung ein.

Das stimmt. Einige Regime in der Dritten Welt sind den multinationalen Konzernenvollständig oder nahezu vollständig ergeben, sie gewähren diesen freie Hand undlassen sich dafür bezahlen. Das Ergebnis ist für gewöhnlich immer das gleiche - dasLand blutet aus, es entsteht eine allgemeine Unzufriedenheit, die früher oder späterzum Staatsstreich oder gar zur Revolution führt, und das neue Regime versucht dann,mit denMultis bessere Bedingungen auszuhandeln. Über ein bereits abgeschlossenesGeschäft noch einmal zu verhandeln, ist jedoch immer ein äuβerst mühevoller Prozeβ.In vielen Fällen versuchen dieMultis, unterstützt von den Regierungen ihrer Länder,die ihnen Schutz gewähren, das neue Regime zu destabilieren oder zu bestechen. Sokommt es, daβ die Entwicklungsländer lernen, auf der Hut zu sein und nach anderenAuswegen zu suchen.

Sich also beispielsweise der Sowjetunion zuzuwenden?

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Für viele Entwicklungsländer stellen die Beziehungen zur Sowjetunion ein wichtigesGegengewicht dar, das bei Verhandlungen mit dem Westen ihre Position stärkt undihnen ermöglicht, den Multis bessere Bedingungen abzuhandeln. Hätte es nicht dieSowjetunion und andere sozialistische Länder als Alternative zum Kapitalismusgegeben, würde ein ganz erheblicher Teil derWeltbevölkerung noch heute in Kolonienleben.

Kann es denn je zu einer wirksamen Entspannung kommen, wenn die Haltung zumNationalismus in der Dritten Welt von Konkurrenzdenken bestimmt ist?

Nichts von dem, was wir in der DrittenWelt tun, ist mit dem Völkerrecht, der Chartader Vereinten Nationen oder den UN-Resolutionen und -Deklarationen unvereinbar.Übrigens hat mittlerweile sogar der Westen begriffen, daβ das Schema, nach demdie Beziehungen zu den Entwicklungsländem bislang abliefen, hoffnungslos veraltetist. Zu wiederholten Malen hat die Völkergemeinschaft ausdrücklich anerkannt, daβdie EntwicklungsländerAnspruch haben auf einen gerechtenAnteil an den Ressourcender Erde. Es Uegt im vitalen Interesse aller Industrienationen, dieses weltweiteProblem zu lösen - das ist der Kern der Bemühungen um eine neueWeltwirtschaftsordnung. Das Ziel der sowjetischen Politik gegenüber der DrittenWelt ist es mitzuhelfen, diese Probleme zu lösen. Warum das mit der Entspannungunvereinbar sein sollte, kann ich nicht einsehen.Selbstverständlich kann man die Dritte Welt in eine Arena des Machtkampfes

zwischen Ost und West verwandeln, man kann aber in den Problemen derEntwicklungsländer auch einen zusätzlichen Ansporn zu weltweiter Zusammenarbeitsehen. Den zuletzt genannten Weg würden wir vorziehen.

Was ist zu Angola zu sagen?

Gut, beginnen wir mit diesem Land. Die Krise in und um Angola brach 1975 aus.Die stärkste politische Kraft war damals wie heute die MPLA (Movimento Popularde Libertação de Angola). Seit den frühen sechziger Jahren führte sie einenBefreiungskampf gegen die portugiesische Herrschaft. Die Vollversammlung derUNO unterstützte diesen Kampf durch die Annahme einer Reihe von Resolutionenund die Aufforderung an alle Staaten, die Befreiungsbewegungen in ihrem Kampfgegen den Kolonialismus mit allen Mitteln zu unterstützen. Die MPLA ersuchteWashington um Hilfe, jedoch zeigte man ihr dort die kalte Schul-

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ter. So wandte sie sich an die Sowjetunion, und wir gewährten beträchtlichematerielleHilfe, von unserer moralischen und politischen Unterstützung ganz zu schweigen.All das geschah in voller Übereinstimmung mit den Beschlüssen der UNO. Tatsacheist, daβ auch andere Länder, darunter Schweden, die MPLA unterstützten.1974 fand in Portugal eine Revolution statt. Die neue Lissaboner Regierung

verkündete ihre Absicht, sich aus allen Koloniën, einschlieβlich Angola,zurückzuziehen. Die MPLA wurde von den meisten Angolanern, wie auch vonPortugal, als die führende politische Kraft des neu entstehenden Staates anerkannt.Die Vereinigten Staaten, China, Südafrika und Zaire jedoch mischten sich in dieinneren Angelegenheiten ein, indem sie die beiden rivalisierenden BewegungenFLNA und UNITA unterstützten. Der CIA pumpte Geld und Waffen in diese beidenpolitischen Gruppierungen, die selbst während der Kolonialzeit nahezu all ihreEnergie darauf verwendet hatten, die MPLA zu bekämpfen und darüber den Kampfgegen die portugiesische Fremdherrschaft hintanstellten. Die Südafrikaner fielen inangolanisches Territorium ein und stieäen dabei nahezu bis zur Hauptstadt des Landesvor.Mit dieser ausländischen Aggression konfrontiert, bat die angolanische Regierung

die UdSSR, Kuba und eine Reihe afrikanischer Staaten um Hilfe. Diese Hilfe wurdegewährt. Kuba entstandte sogar Militär. Entgegen westüchen Vorhersagen wurdeAngola aber weder in eine sowjetische Kolonie noch in einen sowjetischenMilitärstützpunkt verwandelt. Es scheint angebracht, an dieser Stelle zu erwähnen,daβ der Groβteil des angolanischen Erdöls von der in Pittsburgh (Pennsylvania)ansässigen Gulf Oil Company gefördert wird.

Äthiopien?

In Äthiopien bestand insofern eine ähnliche Situation, als sich ohne die ausländischeAggression gegen das Land die sowjetische Militärhilfe Oder die Entsendungkubanischer Truppen von Anfang an erübrigt hätte.

Die Somalis waren es, die den Krieg gegen Äthiopien begannen. Ich persönlich binüberzeugt, daβ sie ihren Nachbarn nie angegriffen hätten, wären sie nicht zu demGlauben verleitet worden, sie würden die Unterstützung der USA und einiger andererLander genieβen. Nebenbei gesagt, haben die Somalis in der Zeit, als wir nochfreundschaftliche Beziehungen mit ihnen unterhielten, nie gewagt, sich in dieäthiopischenAngelegenheiten einzumischen, geschweige denn territoriale Ansprüchegegenüber Äthiopien zu erheben.Wir haben den Somalis nie Grund zu der Annahmegegeben, sie könnten auf unsere Unterstützung oder Hilfe

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reduien, sollten sie sich zu einem Angriff entschlieβen. Und das, obwohl Äthiopienzu dieser Zeit noch eine pro-westliche Monarchie war.Ohne die Hilfe Kubas wäre Äthiopien, dieser älteste unabhângige Staat des

afrikanischen Kontinents, wahrscheinlich zerstückelt worden, was zu ungeheurenVerlusten unter der Zivilbevölkerung geführt hätte.

Aber warum wurden die Somalis zu der Annahme verleitet, sie könnten aufUnterstützung rechnen?

Weil Washington darauf aus war, unsere Freundschaft mit Somalia zu zerstören unddas Land zu seinem Satelliten zu machen, was seinen Grund darin hatte, daβ mander strategischen Lage dieses Landes, insbesondere der des Hafens Berbera amIndischen Ozean, groβe Bedeutung beimaβ.

Man hat aber der Sowjetunion vorgeworfen, sie habe in Berbera einenFlottenstützpunkt errichten wollen.

Genau in der Zeit, als man uns solche Pläne vorwarf, stimmten wir zu, mit den USAüber ein Abkommen zu verhandeln, das die Errichtung ausländischerMilitârstützpunkte im IndischenOzean verbieten sollte. Aber diese Gesprächewurdenvon den USA abgebrochen, und Berbera ist heute ein amerikanischerFlottenstützpunkt.

Der stellvertretende kubanische Ministerpräsident, Dr. Carlos Raphael Rodriguez,hat mir in aller Ausführlichkeit die Beweggründe der kubanischen Regierung für ihrVorgehen in Afrika dargelegt. Mich mag er damit überzeugt haben, aber Washingtondenkt ganz anders darüber.

Gewiβ denken die USA ganz anders darüber. Ich glaube, sie hätten hebersüdafrikanische Truppen in Angola gesehen oder die Zerstückelung Äthiopiens -allein um jeglichen sozialistischen Einfluβ fernzuhalten. Ich möchte mit Nachdruckbetonen, daβ der Beistand, den Kuba verschiedenen afrikanischen Staaten gewährt,die Normen des Völkerrechts in keiner Weise verletzt. Sowohl die MPLA wie auchder Revolutionsrat in Addis Abeba hatten nicht nur das volle Recht, um Hilfe zubitten, sondern auch alien Grund dazu. Ebenso war es das Recht der Kubaner, diesedringenden Bitten zu erfüllen.

Am meisten nahm Washington daran Anstoβ, daβ die Kubaner anscheinend imAuftrag und im Namen des Kremls gehandelt haben.

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Kuba ist ein unabhängiger, souveräner Staat, der nicht willens ist, sich zu einembestimmten Handeln drängen zu lassen oder blindlings demWillen anderer zu folgen.Es war die Entscheidung der Kubaner, den Angolanern zu helfen. Und wir haben ihrVorgehen unterstützt, weil wir den Zielen, für die die MPLA kämpft, wohlgesonnensind, nämlich dem Ziel der vollständigen Unabhängigkeit und der territorialenIntegrität Angolas, ein Ziel, das durch die militärische Intervention Südafrikas, durchweiβe Söldner und den CIA bedroht ist.

Die Amerikaner empfinden es als ein permanentes Ärgernis, daβ mit Kuba einVerbündeter der Sowjetunion vor ihrer Haustür lebt. Das ist auch eine neue Erfahrungin der amerikanischen Geschichte.

Ja, sie ist neu, genauso wie viele andere Dinge, mit denen die Vereinigten Staatenin Zukunft leben müssen. Eine wachsende Zahl von Ländern im näheren Umkreisder USA verfolgen heute eine unabhängige Politik. Es ist jedoch nicht einzusehen,warum ein unabhängiges Land unbedingt ein Ärgernis darstellen sollte.

In dem Gespräch mit Dr. Carlos Raphael Rodriguez ist mir klar geworden, daβ diekubanische Regierung bereit wäre,wieder normale Beziehungen aufzunehmen, sobaldWashington seine Blockade aufhebt.

Wir glauben, daβ solch eine Normalisierung möglich und längst überfällig ist. Wirsind voll und ganz dafür. Nichts anderes als die seit langem bestellenden Hemmungenvor diesem Schritt hindem Washington daran, Vernunft anzunehmen und seinefeindseligen Tätigkeiten gegen Kuba einzustellen.

Provokationen wie das groβe Flottenmanöver der USA im Mai 1980 in derKaribischen See sind ebenfalls völlig sinnlos. Was will man damit bezwecken?

Die jüngst zu beobachtende Zunahme der militärischen Aktivitäten der USA in derKaribik ergibt in der Tat keinen Sinn.

Welche Entwicklung ist Ihrer Meinung nach in nächster Zeit in Lateinamerika zuerwarten, wenn man in Betracht zieht, daβ es dort in den vergangenen Jahren zueiner Reihe von Revolutionen kam, wobei Nicaragua den Höhepunkt darstellte?

In Lateinamerika haben die USA mit mehr Sprengstoff ihre Politik ge-

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fährdet als irgendwo sonst auf der Welt. Seit den frühen Tagen des 19. Jahrhunderts,als die Monroe-Doktrin verkündet wurde, haben die Amerikaner Lateinamerika alsihre ureigenste Plantage betrachtet. (Nebenbei gesagt wird sehr oft vergessen, daβPräsident Monroe, als er den Anspruch auf eine Hegemonie Amerikas in derwestlichen Hemisphäre erhob, gleichzeitig auch gelobte, Amerika werde sichansonsten jeder Einmischung enthalten.) In keiner anderen Region können die USAso ungehindert schalten und walten wie in Lateinamerika. Hier wird die Ausbeutungdurch die US-Konzeme am deutlichsten, hier geschieht die Einmischung der USAin die Politik anderer Länder auf denkbar plumpeWeise, und hier ist auch die Haltungder Amerikaner insgesamt so kurzsichtig wie nirgends sonst.

Andererseits versuchte Franklin D. Roosevelt, eine Politik der guten Nachbarschaftzu betreiben, und John F. Kennedy rief die Allianz für den Fortschritt ins Leben.

Der harte Kurs, der für gewöhnlich die US-Politik gegenüber Lateinamerikaauszeichnet, erzeugt dort ganz offensichtlich Unzufriedenheit und Widerstand undführt zu einer Radikalisierung. Hin und wieder versucht es Washington mit einerreformistischen, versöhnlichen Haltung, gibt in Kleinigkeiten nach. Aber diese neuenMethoden haben das Wesen der amerikanischen Politik nicht verändert, deren Zieles ist, Lateinamerikas Rolle als Objekt der neokolonialen Ausbeutungaufrechtzuerhalten. Aus diesemGrund führen die Reformversuche auch nie zu einemErgebnis, das den Wünschen der Lateinamerikaner entspricht, worauf Washingtonwieder zum harten Kurs zurückkehrt und dabei militärische Stärke anwendet undpro-amerikanische Junten installiert.Ich würde nicht ausschlieβen, daβ wir gegenwärtig in der ganzen Region eine

Rückkehr zu einer Politik der harten Linie erleben. Der unmittelbare Anlaβ könntendie Revolutionen in der Karibik und in Mittelamerika sein. Genauso, wie man 1965die Dominikanische Republik überfiel, um ein ‘zweites Kuba’ zu verhindern, sinddie USA dabei, sich in El Salvador militärisch zu engagieren, um ein ‘zweitesNicaragua’ zu verhindern. Der CIA hat seine subversiven Maβnahmen gegen jeneRegierungen in der Region verstärkt, die nach Ansicht Washingtons gefährlich sind.Die Pseudokrise um Kuba vom September 1979 wurde wirkungsvoll dazu benutzt,eine neue Einschüchterungskampagne gegen dieses Land einzuleiten und diemilitärische Präsenz der USA in der Karibik zu erhöhen.

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Besteht IhrerMeinung nach die Gefahr, daβ es hier zu internationalen Komplikationenkommt?

Ja, und ich denke dabei nicht einmal an historische Parallelen, wie die unbestritteneTatsache, daβ wir dem Krieg nie näher waren als 1962 während der Raketenkriseum Kuba. Die achtziger und neunziger Jahre könnten für die westliche Hemisphärezu einer recht stürmischen Zeit werden, falls die USA bei ihrer derzeitigen Politikbleiben. Daraus folgt nicht, daβ Lateinamerika im Hinblick auf diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen ein Krisenfaktor ist, insbesondere daimnicht, wenn die Abkommen, denen beide Länder zugestimmt haben, beachtet werden.Hier handelt es sich vielmehr um einen Krisenfaktor, der die Beziehungen der USAmit den Ländern dieser Region betrifft, und eine Krise, die hier ihren Ausgang nimmt,wird möglicherweise für die internationale Situation insgesamt sehr gefährlich sein.

Um auf Afrika zurückzukommen - Sie bedauern also nicht, Angola und Äthiopiengeholfen zu haben?

Nein. Natürlich hätten sowohl die Kubaner wie wir selbst eine andere Situation sehrviel lieber gesehen, eine Situation, in der die Notwendigkeit, diesen beiden LändernMilitärhilfe zu gewähren, nicht bestanden hätte. Aber nach unserer Einschätzunglieβ die Entwicklung der dortigen Ereignisse eine solche Zurückhaltung einfach nichtzu. Tatsächlich ist es so, daβ heute nicht wenige Amerikaner, die der Sache derBefreiung Afrikas wohlwollend gegenüberstehen, anerkennen, daβ diese Hilfe einekonstruktive Rolle in Afrika gespielt hat. Ich glaube z. B., daβ unsere Hilfe für Angolaund Äthiopien ein wichtiger Faktor war, der zu einer friedlichen Regelung inZimbabwe beitrug. Ich bezweifle, ob Zimbabwe 1980 ein freies Land gewesen ware,hatte der Westen nicht früher schon die Erfahrung gemacht, daβ die afrikanischenBefreiungsbewegungen nicht hilflos sind. Es vergingen Jahrzehnte, in denen derWesten nur Heuchelei und Lippenbekenntnisse für die Sache der Entkolonialisierungübrig hatte. Um den Westen dazu zu bringen, seine Haltung zu ändem, bedurfte eseiniger starker Mittel.

Mit anderen Worten, die ‘sowjetische Bedrohung’ stellte sich in Wirklichkeit alssegensreich heraus?

Ich bin mit Ihrer Wortwahl ganz und gar nicht einverstanden. Es ist wichtig, dieSache der Völker, die gegen den Kolonialismus kämpfen, ernstzunehmen.

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Lassen Sie uns davon ausgehen, daβ die sowjetische und kubanische Unterstützungden Völkern Afrikas half; gleichzeitig hat sie aber der Entspannung geschadet, undwenn es nur dadurch war, daβ es nun zusätzliche Gründe gab, die sowjetischenAbsichten in Zweifel zu ziehen und der Sowjetunion Expansionismus vorzuwerfen.

Unsere Hilfe für Angola und Äthiopien wurde tatsächlich zum Anlaβ genommen,um solche Anschuldigungen zu erheben. Wäre die Entspannung stark genug, sokônnte sie dazu beitragen, Probleme zu vermeiden, die militärischen Beistanderforderlich machen, wie das in Äthiopien und Angola der Fall ist.

Was wäre bei einer ernsthafter betriebenen Entspannung anders gewesen?

Hätte 1974/75 in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Amerika gröβeresVertrauen geherrscht, und hätte die Frage der Militärbasen und der militärischenPräsenz fremder Mächte im Indischen Ozean damals durch ein entsprechendesfriedliches Übereinkommen ihre Bedeutung verloren, so hätten es die USAmöglicherweise nicht nur unterlassen, bei den Somalis falsche Illusionen zu wecken,sondern wahrscheinlich sogar einen mäβigenden Einfluβ ausgeübt. Auf diese Weisehätte es keinen Konflikt gegeben. Auch in Angola hätten viele Probleme durchKonsultation und Verhandlungen gelöst werden können.Die Entspannung kann die Völker in den ehemaligen Koloniën nicht des Rechts

berauben, für ihre Befreiung zu kämpfen - und zwar auch mit Waffengewalt, wenndies erforderlich ist. Entspannung, eine ruhige internationale Lage und eine Stärkungdes Vertrauens zwischen den Ländern - all das kann von Nutzen sein, um Situationenzu vermeiden, in denen sich Befreiungskämpfe zu internationalen Konflikten, jasogar zu einer Konfrontation zwischen Groβmächten ausweiten.

Ohne Zweifel war die Befreiung Zimbabwes ein Ereignis von historischer Bedeutung.Aber dieses Ereignis wurde überschattet von den Entwicklungen im Nahen Osten,am Persischen Golf und in Südwestasien. Seit mehr als einem Jahr ist die ganzeAufmerksamkeit vor allem auf den von Brzezinski so genannten ‘Bogen derInstabilität’ gerichtet.

In der Sowjetunion verwenden wir oft den Ausdruck vom ‘Nahost-Knoten’, wennwir über diese Probleme sprechen. Tatsächlich sind die dort anstehenden Fragen aufvielschichtige Weise miteinander verknüpft und berühren viele widerstreitendeInteressen. Soil ein den Weltfrieden bedrohender Gefahrenherd beseitigt werden, somuβ dieser Knoten aufge-

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löst werden. Unglücklicherweise war in den letzten ein, zwei Jahren genau diegegenteilige Tendenz zu beobachten. Neue Probleme, durch die die Situation sogarnoch komplizierter und explosiver wird, sind entstanden; u.a. ist hier die gestiegeneAbhängigkeit Amerikas vom Erdöl aus dem Nahen Osten zu nennen; die USAbenötigen heute mehr Öl aus dem Ausland denn je. Aber die Zeiten, da Erdöl billigwar, sind vorbei, und die ölproduzierenden Staatenmöchten ihre Ressourcen in einerWeise ausbeuten, die in erster Linie ihren eigenen Interessen dient. Hier besteht einsehr tiefgehender Widerspruch, doch Washington scheint offenbar zu glauben, eskônne das Problem mit den Mitteln der Stärke zu seinen Gunsten lösen.

Anscheinend miβbilligen Sie die mit Camp David verbundenen Vorstellungen zumNahost-Problem?

Wir sehen darin eine gefährliche Abweichung von den Bemühungen, zu einerumfassenden, friedlichen Regelung in dieser Region zu gelangen; ein erneutes Strebennach amerikanischer Hegemonie im Nahen Osten, einen Versuch, das zentraleProblem, nämlich die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser,auszuklammem. Trotz all der Enttäuschung darüber, daβ die USA ihre früherenZusagen nicht einhielten, glauben wir auch weiterhin, daβ eine Zusammenarbeitzwischen der UdSSR und denUSA, wie auch anderen Ländem, von vitaler Bedeutungist, um diese sehr komplizierten und wichtigen Probleme zu lösen. Dies läge nichtnur im Interesse der beiden Groβmächte und des Friedens allgemein, sondern auchin Interesse von ölimportierenden und ölexportierenden Staaten sowie im Interesseder Völker Palästinas und Israels.Was Camp David anbelangt, so wird mehr und mehr deutlich, daβ diese

Vereinbarungen nicht dazu taugen, dieses Problem zu lösen. Offensichtlich lag demÜbereinkommen die Überlegung zugrunde, daβ die USA nichts zu verlieren hatten,sollten andere Länder diese separaten Vereinbarungen unterstützen. Würde dieseUnterstützung ausbleiben, so wäre die Achse USA-Israel-Ägypten-Iran stark genug,um das amerikanische Interesse vertreten zu können, auch ohne die Bestätigungdurch die Genfer Konferenz oder ein anderes Gremium.

Doch dann fiel der Iran bei diesem Spiel aus.

Richtig, und die erwartete Unterstützung für die Camp-David-Vereinbarungen vonseiten konservativer arabischer Regierungen wie der von Saudi-Arabien und der vonJordanien, blieb aus. Der ganze Handel

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stimmte hinten und vorne nicht mehr und der laut hinausposaunte ‘Triumph’ derCarter-Administration erwies sich als ein Reinfall. Aber die Carter-Administrationtat ihr bestes, um das durch und durch gescheiterte Unternehmen zu retten. Einerseitsbemühte sie sich durch Kunststückchen, wie z. B. bei der Abstimmung desUN-Sicherheitsrats im März 1980, die Weltöffentlichkeit über die wahre Natur derCamp David Vereinbarungen hinters Licht zu führen.6 Zur gleichen Zeit bauten dieUSA unter allen möglichen Vorwänden ihre militärische Position im Nahen Osten,im Persischen Golf und im Indischen Ozean aus. Wir erlebten ein Erstarken dermilitärischen Komponente in der amerikanischen Politik in diesen Regionen.

Glauben Sie, daβ die USA Erfolg haben werden und ihren Willen auf diese Weisedurchsetzen können?

Das bezweifle ich sehr stark.

Warum?

Die Grenze solchen Unterfangens hat ein führender Politiker des Nahen Ostenseinmal so beschrieben: ‘Öl brennt’. Noch ehe Washington auch nur in die Näheseines Ziels der Hegemonie gelangt, werden wahrscheinlich die Spannungen undKonflikte, die sich aus einer solchen Politik unausweichlich ergeben, dieEnergieversorgung der Weltwirtschaft zum Erliegen bringen.

‘Öl brennt’ könnte auch das Motto des Krieges zwischen dem Iran und dem Iraksein.

Ja, was das Öl betrifft. Aber dieser Krieg weist auf viele weitere Aspekte hin. Inerster Linie zeigt er die Gefahren auf, die aus der allgemeinen Instabilität dieserRegion erwachsen, und die auch darin lauern, daβ neue Konflikte sich zu ernstenKrisen auswachsen können. Dies insbesondere, solange alte Konflikte in nächsterNähe weiterschwelen.

Unter diesen Umständen erweist sich die Taktik, die Camp David zugrunde liegt,sogar als noch gefährlicher?

Ohne Zweifel.

Hätte all das vermieden werden können?

6 Die USA stimmten damals einer Resolution des Sicherheitsrats zu, in der die SiedlungspolitikIsraels verurteilt wurde. (Anm. d. Übers.)

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All das hätte vermieden werden können, wenn 1977/78 eine vernünftige, flexibleund realistische Haltung in Washington vorgeherrscht hätte.

Ist es Ihrer Meinung nach immer noch möglich, zu jenem gemeinsamenamerikanisch-sowjetischen Ansatz zurückzukehren, der eine umfassende Regelungvorsah?

Nicht zurück, sondern vorwärts müssen wir gehen. Soweit das an uns liegt, ist derWeg dazu frei. Ich glaube, daβ der Meinungsumschwung zur Palästinafrage, der inWesteuropa in jüngster Zeit zu beobachten ist, dazu beiträgt, daβ es zu einerumfassenden Lösung kommt. Andererseits bleibt abzuwarten, welchen Standpunktdie neue Administration in Washington einnehmen wird. Einige der Männer in derUmgebung des neuen Präsidenten geben zu erkennen, daβ sie weiter eine separateLösung betreiben wollen.

Warum bestehen keine diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und Israel?Haben Sie die Absicht, diese wieder aufzunehmen?

Die diplomatischen Beziehungen zwischen der UdSSR und Israel wurden 1967während des Sechs-Tage-Krieges abgebrochen. Damit reagierten wir auf dieAggression Israels und seine Weigerung, seine territorialen Gewinne wiederabzutreten. Die diplomatischen Beziehungen können wieder aufgenommen werden,wenn die Krise im Nahen Osten in Übereinstimmung mit den allgemein bekanntenResolutionen des UN-Sicherheitsrats beigelegt wird.

Sie stellen das Existenzrecht des Staates Israel dabei nicht in Frage?

Nein, wir haben wiederholte Male in offiziellen Verlautbarungen erklärt, daβ dieGarantie des Existenzrechts und der Sicherheit für alle Staaten der Region,einschlieβlich Israels, ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil jeder Lösungdes Nahost-Problems sein sollte.

ImWesten werden Spekulationen darüber angestellt,welche Haltung die Sowjetunionin der Frage des Terrorismus einnimmt, insbesondere im Zusammenhang mit denEreignissen im Nahen Osten.

Wir sind gegen den Terrorismus.

Sie unterhalten aber freundschaftliche Beziehungen zu Arafat, obwohl die PLOoftmals mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht wird.

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Wir haben die Palâstinenser und ihren Kampf seit jeher untersützt. Das heißt nicht,daß wir jeden Schritt oder jede Aktion der verschiedenen extremistischenSplittergruppen billigen, zu denen diese sich in ihrer Verzweiflung getrieben fühlen.Was Yassir Arafat anbelangt, so halten wir ihn für den prominentesten undeinflußreichsten Führer der Palästinenser. Und diese Ansicht wird von einer immergrößeren Zahl führender Politiker, einschließlich solcher aus dem Westen, geteilt.Wenn wir vom Terrorismus in seiner ausgeprägtesten Form sprechen, so sollten

wir auch daran erinnern, daß Begin friiher selbst ein Terrorist war, was aber denWesten nicht daran hindert, ihn zu akzeptieren.

Die UdSSR wird beschuldigt, sie sei bestrebt, im Nahen Osten einen Zustand zuerhalten, den man als ‘weder Krieg, noch Frieden’ bezeichnen kann.

Wir treten für die Entspannung in diesemGebiet genauso ein wie für die Entspannungin allen anderen Teilen der Welt. Selbst wenn wir davon ausgegangen waren, daßeine Situation der ‘kontrollierten Spannungen’ - und das ist gewöhnlich mit demWort ‘weder Krieg, noch Frieden’ gemeint - unseren Interessen entsprechen würde,hätten wir sie nicht gewollt. Wir sind uns nämlich dessen vollkommen bewußt, daßeine Spannungssituation in einer derartig explosiven Region wie dem Nahen Ostennicht unbegrenzt lange unter Kontrolle gehalten werden kann. Deshalb käme einePolitik des ‘weder Krieg, noch Frieden’ einer Politik gleich, die den Krieg akzeptiert.Einerlei, ob das beabsichtigt ist oder nicht - es ist Tatsache, daß die Politik von CampDavid voller solcher Gefahren steekt.

Wie beurteilen Sie den Aufschwung, den der orthodoxe Islam in jüngster Zeit in Asiengenommen hat?

Ich würde die Rolle, die die Religion als eine unabhängige Kraft im gesellschaftlichenund politischen Leben einnimmt, nicht überschätzen. Die Neubelebung des Islam istAusdruck der wachsenden gesellschaftlichen Spannungen und der politischenUnruhenin Asien. Die Religion ganz allgemein und der Islam im besonderen kann beachtlicheideologische und manchmal auch politische Kräfte entfalten. Aber ich glaube, daßdie ‘islamische Welt’ ungefähr die gleiche Abstraktion darstellt wie die ‘christlicheWelt’. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Länder in Asien verwendenreligiöse Slogans, um damit verschiedene, manchmal sich sogar gegenseitgausschlieBende Ziele zu verfolgen. Der Aufbruch der breiten Massen in Asien zupolitischer Aktivität verleiht

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der islamischen Religion ganz offensichtlich einen neuen Inhalt; ein Zeichen dafür,daß sich diese Religion - wie jede andere auch - an die sich verändemden Umständepermanent anpassen muß, um zu überleben.

Ihnen ist bestimmt bekannt, welche Verwirrung in unserem Teil der Welt die Tatsacheauslöste, daß Moskau so viele Sympathien, vor allem bei islamischen Ländern undLändern der Dritten Welt aufs Spiel setzte, indem es das gegenwärtige Regime inAfghanistan mit militärischen Mitteln im Sattel hält.

Da Sie noch einmal die Rede auf Afghanistan gebracht haben, möchte ich eineallgemeine Bemerkungmachen. Ich rechne nicht damit, amerikanische oder westlicheLeser dazu überzeugen zu können, dem sowjetischen Standpunkt in Zusammenhangmit den Ereignissen in Afghanistan zuzustimmen. Auch rechne ich nicht damit,jemand dazu zu bekehren, daß er die dortige Revolution vom April 1978 unterstütztoder auf Babrak Karmals Seite steht, oder die sowjetische Entscheidung gutheißt,der Kabuler Regierungmilitärische Unterstützung zu gewähren. Sehen Sie, es handeltsich hier nicht nur um die bloße Kenntnis von Fakten, sondem um die Haltung, dieman zu diesen einnimmt. Und diese Haltungen werden nicht allein durch dieInformationen, sondern auch durch die Klassenzugehörigkeit und die ideologischenund politischen Sympathien und Interessen bestimmt.

Hat es dann überhaupt einen Sinn, diese Themen zu diskutieren?

Mir scheint, daß es dennoch von Nutzen sein könnte, weil dadurch amerikanischeund andere westliche Leser eine klarere Vorstellung von dem sowjetischen Standpunktgewinnen können. Das gilt um so mehr, als im Westen so viele Lügen über denwirklichen Sachverhalt verbreitet wurden.

Warum hat sich dann die Sowjetunion entschlossen, durch die militärischeIntervention in Afghanistan ein so hohes Risiko einzugehen?

Wir haben aus zwei eng miteinander verknüpften Grimden Trappen dorthin entsandt:um der nach dem Umsturz in Afghanistan gebildeten Regierung dabei zu helfen,Angriffe von auBen abzuwehren, und zu verhindem, daß Afghanistan zu einemanti-sowjetischen Stützpunkt an den Südgrenzen unseres Landes wird. Diese Trappenwurden erst auf wiederholtes Ersuchen der Kabuler Regierung nach Afghanistanentsandt.

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Darüber hinaus gibt es einen wichtigen rechtlichen Aspekt: Unser Beistand wurdeauf der Grundlage des im Jahre 1978 zwischen der UdSSR und Afghanistanunterzeichneten Vertrages gewährt.Wir haben nicht die Absicht, für immer in Afghanistan zu bleiben oder dieses

Land in ein Sprungbrett für Aktionen gegen andere Länder zu verwandeln. UnsereTruppen werden abgezogen, sobald die Gründe entfallen, die für ihre Stationierungverantwortlich waren.

Sie sagten, das Ziel der sowjetischen Truppenentsendung ware es gewesen, demRevolutionsregime zu helfen. Dieses Regime wurde aber von Hafizullah Aminangeführt, der beim Eintreffen der sowjetischen Truppen ermordet und von BabrakKarmal ersetzt wurde. Karmal brandmarkte Amin und änderte jäh den Kurs derKabuler Politik. Dies nimmt sich doch seltsam und widersprüchlich aus.

Vergessen Sie bitte nicht, daß wir von einer Revolution sprechen. Jede Revolutionmit ihren raschen Veränderungen, jähen und unerwartetenWendungen ist ein höchstkomplexes Ereignis, ein beständig wechselndes Spiel der Kräfte, wobei Leute überNacht die Seite wechseln.Ich habe bereits über die Ursachen gesprochen, die im April 1978 zur Revolution

in Afghanistan führten. Die unmittelbar nach dem Umsturz gebildete und von NoorMuhammad Taraki geführte Regierung erhielt eine breite Unterstützung. BabrakKarmal, wie auch Hafizullah Amin, gehürte zu den führenden Personen. DieRevolutionsregierung rief ein umfangreiches Programm sozialer Veränderungen insLeben; ein Programm, das sich auf die Landreform, auf Entwicklungsprojektezugunsten ethnischer Minderheiten, auf die Rechte der Frauen und auf dasBildungswesen konzentrierte.

Soviel ich weiß, wird dieser Politik Widerstand entgegengebracht. Wie kommt das?

Dadurch, daß er sich gegen die Interessen der ehemals herrschenden und 1978abgesetzten Klassen richtet, wie etwa gegen jene 40 000 feudalen Großgrundbesitzer,die das Land an die Bauem zurückgeben mußten. (Vor der Revolution gehörten 70Prozent des gesamten Landes diesen Leuten.) Dieser Widerstand ist bei jederRevolution ganz normal - keiner möchte auf seine Macht und seine Privilegiënverzichten, und es wird mit allen Mitteln versucht, den Status quo antewiederherzustellen.Die ihrer Privilegien beraubten Personengruppen bildeten das Rückgrat der

Konterrevolution in Afghanistan. Sie hätten allerdings keine so große Gefahrdargestellt, waren sie nicht von außen unterstützt worden.

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Einmischung von außen kommt überall vor.

Leider.

Jede Revolution muß mit Opposition rechnen, jedoch wäre diese für die neueRegierung gewiß nicht zu einer ernsthaften Bedrohung geworden, haften nicht einigeAspekte der Regierungspolitik zu verbreiteter Unzufriedenheit geführt.

Sicher, die neue Regierung beging Fehler; diese sind nun einmal bei jeder Revolutionunvermeidlich und besonders verstandlich im Falle eines so rückständigen Landes.Der größte Fehler bestand meiner Ansicht nach darin, daß man versuchte, zu vielesin zu kurzer Zeit zu tun - eine typisch linke Abweichung nach marxistischerSprachregelung.Schwerwiegende Fehler wurden auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen dem

Staat und der moslemischen Geistlichkeit begangen. Der größte Teil dieserGeistlichkeit wurde als konterrevolutionäre Kraft abgetan; manche der Mullahswurden verfolgt, Moscheen geschlossen. Und, nicht zu vergessen, die Lage wurdevon Hafizullah Amin und seiner Grappe nachhaltig verschlechtert.

Sie nannten ihn als einen der Führer der afghanischen Revolutionsregierung?

Ja. Eine von Babrak Karmal angefiihrte Fraktion innerhalb der Regierung versuchte,diese Fehler zu vermeiden, und drängte auf eine realistischere und demokratischerePolitik, wurde aber hauptsächlich aufgrand von Intrigen aus dem Lande vertriebenoder verhaftet. Dies erleichterte es Amin, einen harten Kurs zu steuern und das Landmit einer von Gewalt und Repression geprägten Politik zu überziehen. Es steht fest,daß die Schwierigkeiten der afghanischen Revolution in engem Zusammenhang mitder Persönlichkeit Amins zu sehen sind; war er doch einmachthungriger Verschwörer,ein skrupelloser Intrigant, der den revolutionären Aufschwung dazu benutzte, an dieSpitze zu gelangen und zum Alleinherrscher zu werden. In der Geschichte trifft manmehr als einmal auf solche Gestalten. Amin fiihrte im September 1979 einenStaatsstreich aus und tötete Präsident Taraki. Später wurde er von der Regierung desHochverrats beschuldigt.

Wenn die UdSSR schon nicht einverstanden war mit Amin, warum hat sie dann seinemHilfeersuchen entsprochen?

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Dies geschah ja nicht Amins wegen, sondern in der Absicht, die afghanischeRevolution zu retten. Darüber hinaus erhielten wir bereits früher ähnlicheHilfeersuchen von Taraki.

Das klingt eher wie eine Ausrede. Zu diesem Zeitpunkt war doch Amin der FührerAfghanistans.

Er ergriff widerrechtlich diese Position. Trotz all seiner Repressionen und Intrigengab es aber in der Partei, ja selbst in der Regierung, noch viele Leute, die sich seinerPolitik widersetzten und nachKräften darum bemühten, das Erbe der April-Revolutionvon 1978 zu retten. Diese Leute entmachteten ihn am Vorabend des Tages, an demdie Gruppe run Amin eine große Anzahl gefangener Revolutionsführer hinrichtenlassen wollte.

Warum aber hat die Sowjetunion zugelassen, daß Karmal außer Landes geschicktwurde und daß Amin seine Verbrechen beging?

Was heißt hier ‘zugelassen’?Wir haben der afghanischen Regierung geholfen, habensie beraten, aber wir konnten doch nicht den Verlauf der Revolution diktieren. Eswar dies kein von der Sowjetunion gesteuerter Prozeß, hätte dies auch nicht seinkönnen. Und was das von Ihnen berührte Problem anbelangt, so kann ich sagen, daßwir die afghanischen Führer warnten, schließlich war es ihre Revolution und siemußten die Entscheidungen treffen.

Ist es der Regierung Babrak Karmal gelungen, die Position der Revolutionsregierungzu stärken?

Karmal und seineMitarbeiter machten sich rasch daran, die Regierungspolitik wiederin die richtigen Bahnen zu lenken. Man befreite 15 000 politische Häftlinge, die unterAmin eingesperrt worden waren, bestrafte die für die Repressionen Verantwortlichenund erließ eine Generalamnestie für alle die jenigen, die aus dem Lande geflohenwaren. Man stellte die Religionsfreiheit wieder her und ergriff vernünftigewirtschaftspolitische Maßnahmen. Auf außenpolitischem Gebiet bemüht man sich,die Beziehungen zu den Nachbarn, insbesondere die zu Pakistan, zu normalisieren.

Dies bringt uns zum zweiten Motiv, der sowjetischen Truppenentsendung nachAfghanistan. Glaubte man inMoskau, daß ein Scheitern der afghanischen Revolutioneine Gefahr für die Sowjetunion darstellen könnte?

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Um diese Frage beantworten zu können, muß man eine Gegenfrage stellen. Warumhatten China und die USA so großes Interesse am Scheitern der afghanischenRevolution? Wir hatten Grund zu der Annahme, daß dieses Interesse hauptsächlichdeswegen bestand, weil beide Länder die Absicht hatten, Afghanistan als Basis fürAktionen gegen die Sowjetunion zu benutzen. Unsere Grenze mit Afghanistan ist2500 Kilometer lang, und jahrzehntelang war dies eine sehr friedliche und ruhigeGrenze.

Was glauben Sie, wäre in Afghanistan geschehen, hätte die Sowjetunion nicht Truppendorthin entsandt?

Denken Sie bitte nicht, die Entscheidung dafür wäre der Sowjetunion leicht gefallenund alle möglichen negativen Reaktionen darauf wären nicht bereits vorher bedachtworden. Die sowjetische Regierung kam zu der Schlußfolgerung, daß die afghanischeRegierung nicht in der Lage sein würde, die Revolution zu retten sowie die von außenkommenden Angriffe abzuwehren, und daß die weitere Entwicklung der Dinge indieser Region die Sicherheit der Sowjetunion bedrohen könnte.Für Afghanistan selbst hätte dies den Triumph der Konterrevolution mit all seinen

zwangsläufigen Begleiterscheinungen bedeutet - Terror, Blutvergießen, wütendeRache der Reaktion.

Welche spezielle Bedrohung ihrer Sicherheit befürchtete die Sowjetunion?

Afghanistan hätte in eine antisowjetische Basis verwandelt werden können, eineBasis, die von China und/oder den Vereinigten Staaten sogar zur Errichtung vonMilitärstützpunkten an unserer Grenze benutzt werden könnte.

Militärbasen?

Warum nicht? Es gab früher US-Militärstützpunkte im Iran, und die USA suchennun in der ganzen Region nach einem Ersatz dafür. Wieso also nicht in Afghanistan?

Nach einer im Westen weitverbreiteten Meinung entsandte die Sowjetunion deshalbTruppen nach Afghanistan, um einen direkten Zugung zu den warmen Meeren undzum Öl des Nahen Ostens zu erlangen.

Selbst vom rein militärischen Standpunkt aus betrachtet, ist dies Nonsens. DieSowjetunion befindet sich bereits nahe genug sowohl am Persi-

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schen Golf als auch am Indischen Ozean. Hätten wir beabsichtigt, einen direktenZugang zu erreichen, so hätten wir niemals Afghanistan mit seinem unwegsamenTerrain als Sprungbrett dafür gewählt.Wie ein amerikanischer Freund vonmir sagte,wäre dies genauso, als würden die Kalifomier bei einem Angriff auf Oregon erstNevada durchqueren. Das wichtigste Argument gegen den uns unterstellten Vorstoßzu den warmen Meeren ist aber, daß solch ein Schritt den Dritten Weltkriegherbeiführen würde. Anders als die amerikanische Propaganda behauptet, wird mansowjetische Panzer oder sowjetische Soldaten weder an den Küsten des PersischenGolfs, noch an den Küsten der anderen warmen Meere zu Gesicht bekommen.

Wie werden sich nun die Dinge um Afghanistan entwickeln?

Wir halten eine politische Lösung für möglich und unterstützen deshalb ohneEinschränkung den von der afghanischen Regierung am 14. Mai 1980 eingebrachtenVorschlag, der eine Normalisierung der Lage in dieser Region zum Ziel hat. Kabulist dazu bereit, mit seinen Nachbarn über eine Normalisierung der gegenseitigenBeziehungen zu sprechen.Mit Beginn des Jahres 1981 konnteman einige ermutigendeSignale feststellen, die einen Fortschritt in der Verständigung zwischen derafghanischen und der pakistanischen Regierung andeuteten. Der Weg für einefriedliche Regelung steht offen, und ich bin sicher, daß es möglich sein wird, zu einerVereinbarung zu gelangen. Falls Afghanistans Nachbarn und die USA einekonstruktive Haltung einnehmen, würde dies dann auch den Abzug sowjetischerTrappen beinhalten. Afghanistan war blockfrei und wird es auch bleiben. Was wirnicht wollen, ist ein uns feindlich gesonnenes Afghanistan - und dieser Wunsch istmeines Erachtens gerechtfertigt.

ImWesten wird behauptet, die Sowjetunion wäre darüber besorgt, daß die Errichtungeines militanten Moslemregimes in Kabul Unruhe unter die Moslems imzentralasiatischen Teil der UdSSR tragen könnte.

Das ist wirklich unglaublich. Vergleichen Sie doch einmal das arme, analphabetische,rückständige Afghanistan mit den zentralasiatischen Gebieten der Sowjetunion,Aserbeidschan und anderen ehemals islamischen Teilen der UdSSR. Diese sindwohlhabend, stabil und zufrieden. Kann denn wirklich jemand allen Ernstes glauben,daß eine rückständige, repressive Theokratie, wie sie die Konterrevolution inAfghanistan einsetzen wollte, eine ideologische Herausforderung an die Sowjetuniondarstellen könnte?

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Ich bin von der Republik Aserbeidschan mit ihrer großen islamischen Bevölkerungin den Obersten Sowjet der UdSSR gewahlt worden. Ich vertrete dort seit einigenJahren einen Bezirk dieser Republik und kann Ihnen aus erster Hand sagen, daß derIslam für die Sowjetunion kein politisches Problem bedeutet. Diejenigen, die anAllah glauben, können zu ihm beten; es gibt Moscheen, und die islamischeGeistlichkeit wird respektiert.

Sind Sie aber nicht rückblickend der Meinung, daß die UdSSR die Reaktionen desWestens auf die Ereignisse in Afghanistan im allgemeinen falsch einschätzte?

Nun, die Reaktionen anderer Staaten auf ein bestimmtes Ereignis lassen sich niemalsin allen Einzelheiten vorhersehen. Es gibt dabei immer sowohl erfreuliche als auchunerfreuliche Überraschungen. Im großen und ganzen jedoch haben wir die Lagemeiner Meinung nach richtig beurteilt. Sehen Sie, wir gingen davon aus, daß dieamerikanische Politik ihren Kurs geändert hatte. Diese Ansicht vertraten wir bereitsvor Afghanistan. Ich glaube, man konnte in Moskau wohl erwarten, daß die USAund einige andere westliche Länder die Ereignisse in Afghanistan als Vorwand füreine antisowjetische Kampagne benutzen würden. Indem es diese Kampagne startete,hat Washington, wie ich meine, extrem überreagiert und nicht nur seinen, sondernauch den Interessen aller anderen Länder geschadet. Diese Überreaktion kann bis zueinem gewissen Grad mit den fieberhaften Bemühungen der Carter-Administrationerklärt werden, einen Ausweg zu finden aus den innen- und außenpolitischenSchwierigkeiten - wie etwa im Iran oder demNahenOsten. In diesemZusammenhangschienen die Vorgänge in Afghanistan eine günstige Gelegenheit zu bieten (die sichjedoch nicht erfüllt hat), die USA als eine für die islamische Welt möglicherweisenützliche Kraft darzustellen.In gewisser Weise handelte es sich um einen Gefühlsausbrauch, den einige Leute

in der Carter-Regierung nicht zu kontrollieren wußten.

Sie bestreiten aber nicht, daß auch ehrliche Emotionen und aufrichtige Empörungdarüber im Spiel waren, daß eine Großmacht sich mit Waffengewalt in dieAngelegenheiten eines kleinen Staates einmischte?

Ich kann mir vorstellen, daß Teile der Öffentlichkeit, die nur sehr unklareVorstellungen über die Lage hatten, solche Empfindungen hegten. Es fällt jedochschwer zu glauben, solche Emotionen hätten das Vorgehen der westlichenRegierungen, insbesondere die Schritte der Vereinig-

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ten Staaten, beeinflußt. Es gibt einen weiteren Grund dafür, warum es uns schwerfällt,in diesen Aktionen einen Ausdruck politischer Moral zu sehen. Afghanistan zähltenämlich zu den Staaten, in denen die USA einen blutrünstigen Diktator unterstützten- in diesem Fall Amin. Hier sehen wir uns erneut einer doppelten Moral gegenüber.Betrachten wir doch einmal drei in diesem Punkt sehr ähnliche Fälle: HafizullahAmin in Afghanistan, Idi Amin in Uganda und Pol Pot in Kamputschea. In jedemdieser Fälle wurde ein blutrünstiger Diktator mit Hilfe militärischer Unterstützungaus dem Ausland von den vereinten Kräften der nationalen Opposition - innerhalbund außerhalb des Landes - gestürzt.Was Afghanistan und Kamputschea betrifft, so haben die Umstürze in diesen

Ländern im Westen eine unglaubliche Empörung hervorgerufen. Haben wir aber jeauch nur ein einziges Wort der Entrüstung darüber gehört, was in Uganda geschah?Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um eine Frage des Prinzips, sondern umpolitische Zweckmäßigkeit. Wenn dem tatsächlich so ist, so sollte man nicht alsstrenger Moralist auftreten.Ichmöchte unser Gespräch zumThemaAfghanistan noch einmal zusammenfassen:

Ich hoffe, daß sich die Voraussetzungen für eine nüchterne Betrachtungsweiseeinstellen, sobald sich der Staub der antisowjetischen Kampagne legt. Unter solchenVoraussetzungen wird es weitaus leichter fallen, die Vorgänge in den entsprechendenProportionen und in der richtigen Perspektive zu sehen, sie in angemessener Weisezu bewerten und zu entscheiden, ob diese Ereignisse es wert sind, deshalb all das zuzerstören, was lebenswichtig ist - in erster Linie die Hoffnung auf einen dauerhaftenFrieden und die Einstellung des Wettrüstens.

Aber meinen Sie nicht, daß die Betrachtung anderer, vielleicht viel wichtigererThemen nachhaltig verhindert wird, solange die Ereignisse in Afghanistan sich inder jetzt eingeschlagenen Richtung fortentwickeln?

Zunächst einmal hoffe ich, daß es schon in nächster Zukunft zu einer politischenLösung kommen wird. Und ich glaube, es liegt im Interesse des Westens, seineHaltung zu den Problemen in dieser Region zu überdenken. Auf lange Sicht gesehenist der Westen nämlich nicht an einer weiteren Destabilisierung der Situation inSüdwestasien interessiert. Falls dies zutrifft, kann ihm auch nicht an einerDestabilisierung der Lage in Afghanistan und an einer Ausweitung der Konfrontationgelegen sein. Im Gegenteil, je schneller sich die Lage hier normalisiert, desto besserist dies für die Menschen in dieser Region, für denWesten und für die gesamteWelt.

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Ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, inwieweit Vorgänge in derDritten Welt die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen beeinflussen. Immer öfterhört man heute im Westen, daß die Zusammenstöße in der Dritten Welt zumhauptsächlichen Störfaktor der Entspannung geworden sind.

Ja, diese Meinung ist weit verbreitet. Ob sie aber richtig ist, bezweifle ich sehr. Esist enorm wichtig zu prüfen, warum diese Ansicht eine so weite Verbreiding findenkonnte.Der erste Grund dafür dürfte sein, daß die Großmächte eingesehen haben, daß eine

direkte Konfrontation zwischen ihnen extrem gefährlich, ja sogar selbstmörderischist. Sie vermeiden direkte Zusammenstöße, die ihre Beziehungen zentral betreffen.Dies erweckt den Eindruck, als wäre die Dritte Welt jetzt die wesentlichsteGefahrenquelle.Der zweite Grund ist wohl die große, nicht zu bestreitende Unbeständigkeit der

Situation in der Dritten Welt. Bei einer ganzen Reihe in jüngster Zeit unabhängiggewordener Staaten kann sich die Lage jederzeit verändern, gibt es doch dort dieverschiedensten Gruppierungen nationaler Befreiungsbewegungen.Der dritte Grund ist, daß einige Großmächte - und ich muß hier wiederum auf die

USA verweisen - aus strategischen Gründen ein ungewöhnlich starkes Interesse ander DrittenWelt zeigen. Für den Fall eines Konflikts mit der Sowjetunion und anderensozialistischen Ländern möchte der Westen in der Dritten Welt Stützpunkte und gutgesicherte Verbindungslinien haben.Als vierter Grund wäre die große Bedeutung zu nennen, die die Vereinigten Staaten

und ihre Verbündeten den Entwicklungsländern als Lieferanten für Rohstoffe -besonders Erdöl - beimessen.

Mit anderen Worten, Sie bestätigen, daß die Dritte Welt zur größten Gefahrenquellefür den Frieden geworden ist.

Keineswegs. Weit davon entfernt, die Bedeutung der Entwicklungsländer zuunterschätzen, möchte ich betonen, daß der Gang der Dinge in diesen Ländern,insbesondere was die Schwere eines Konflikts und dessen Auswirkung auf dieinternationale Lage betrifft, weitgehend vom Stand der sowjetisch-amerikanischenBeziehungen abhängt. Nehmen Sie beispielsweise denYom-Kippur-Krieg imOktober1973. ImKontext der Entspannungwar es möglich, eine Ausweitung dieses Konfliktszu verhindern, und es konnte sogar ein erster Rahmen für eine umfassende Regelungder Probleme in dieser Region ausgearbeitet werden. Mich schaudert allein schonbei dem Gedanken, daß dieser Krieg auch in

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einem Klima der Spannungen - auch von der Art, wie sie jetzt bestehen - hättestattfinden können.Nein. Was ich gesagt habe, führt zu einer anderen Schlußfolgerung; nämlich zu

der, daß hierbei sehr viel von der politischen Lage in den Ost-West-Beziehungenabhängt, also von den Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischenLändern, zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Werden dieseBeziehungen durch den Kalten Krieg bestimmt, so wird die Dritte Welt zu einemseiner gefährlichsten Schauplätze, auf dem die einander feindlichen Kräfte ihreRivalität austragen. Sollte sich jedoch die Idee der Entspannung durchsetzen, sokönnte die Dritte Welt eine wesentliche Sphäre der Zusammenarbeit allerwirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten werden. Diese könnten dann gemeinsamdazu beitragen, die Entwicklung der Länder der Dritten Welt zu beschleunigen,brauchbare Sicherheitssysteme in den verschiedenen Regionen zu schaffen sowiedie Ressourcen dieser Länder wohlüberlegt und unter angemessener Berücksichtigungder Interessen und Bestrebungen der jeweiligen Bevölkerung zu nutzen.Selbstverständlich müssen wir uns der Widersprüche und Spannungen bewußt sein,die der Befreiungsprozeß in der DrittenWelt mit sich bringt. Für denWesten bedeutetdies ein schmerzliches Umdenken. Doch diese Prozesse sind ‘so natürlich wie dasWachsen eines Baumes’ - ein Wort, mit dem Richter Oliver Wendell HolmesRevolutionen einmal beschrieb.Die Dritte Welt wird weder den USA noch der UdSSR, weder dem Westen noch

dem Osten zuliebe ihren geschichtlichen Weg gehen, wird nicht derentwillenFortschritte machen und Rückschläge erleiden. Sie wird für sich selbst da sein undsich um ihretwillen entwickeln. Der größte Teil der Weltbevölkerung lebt in denStaaten der Dritten Welt, und die Menschen in diesen Ländern haben den gleichenAnspruch auf das Recht und auf die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, wiesie die Europäer und Amerikaner haben. Mehr noch, sie wissen dies und sie sindentschlossen, für eine bessere Existenz zu kämpfen.

Viele Experten im Westen betonen, daß es keine Hoffnung auf Entspannung gibt,wenn für die Supermächte nicht bestimmte Regeln im Umgang mit der Dritten Weltgelten sollen oder wenn nicht sogar ein Mechanismus des Krisenmanagementsentwickelt wird.

Der Gedanke einer bilateralen Zusammenarbeit bei der Beilegung von Krisen undbei ihrer Verhütung gehörte von Anfang an zum Konzept der Entspannung. Was denNahen Osten beispielsweise angeht, so entstand in Form der Genfer Konferenz fastein Mechanismus des Krisenmana-

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gements. Daß dieser Weg nicht weiter verfolgt wurde, war nicht unsere Schuld. Diegleiche Idee liegt dem umfassenden, von Generalsekretär L.I. Breschnew imDezember 1980 vorgebrachten Plan zur Entmilitarisierung der Region am PersischenGolf zugrunde. Dieser Plan kann als Grundlage dienen für eine Stabilisierung dieserso äußerst kritischen Region der heutigenWelt. Eine weitere, seit langem bestehendesowjetische Initiative, die die Ächtung der Anwendungmilitärischer Gewalt vorsieht,könnte sehr wohl Grundlage dieser neuen Verhaltensregeln werden. Wir denkennicht an ein Kondominium der Supermächte, die denWeltpolizisten spielen, sondernwir sind der festen Überzeugung, daß die Entspannung eine Menge von demZündstoff, der die Krisen nährt, aus demWege räumen könnte, und daß gemeinsameAnstrengungen der Supermächte zur Beilegung und Verhütung von Krisen einwesentlicher Bestandteil der Entspannung werden könnte.

Glauben Sie, daß die beiden Giganten, Amerika und Rußland, am Ende desJahrhunderts eine größere oder eine weniger gewichtige Rolle in der Welt spielenwerden?

Falls die Entwicklungsländer Erfolg haben in ihren wirtschaftlichenAngelegenheiten,dann dürfte sich der Anteil aller Industrienationen am Bruttosozialprodukt dergesamten Welt verringern. Generell gesagt, die Weltbühne wird gegen Ende desJahrhunderts abwechslungsreicher werden - politisch, kulturell und philosophisch.Dies würde nur eine angemessene und gesunde Entwicklung darstellen.In der vorhersehbaren Zukunft jedoch werden die beiden Großmächte weiterhin

eine Hauptrolle spielen, und sei es nur der Dimensionen ihrer äußerenMacht wegen.Wichtig ist dabei, daß ihr militärisches und wirtschaftliches Potential ihnen nichtetwa besondere Rechte und Privilegiën verleiht, sondern ihnen einzig und alleinbesondere Verantwortung auferlegt. Sie schulden der ganzen Menschheit dafürVerantwortung, daß sie normale und friedliche Beziehungen zueinander unterhaltenund eine konstruktive Rolle spielen bei der Lösung jener Probleme, denen sich dieganze Welt gegenübersieht.

Eindnoten:

1 The Washington Post, 1. September 1980, S. A-102 Washington Quarterly, Herbst 19793 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968-1973, München 1979, S. 8124 Newsweek, 21. April 1980, S. 56

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VII) Einige Worte zur Zukunft

Nachdem wir viele Stunden mit Diskussionen zugebracht haben und zahlreicheWochen der Aufarbeitung folgten, möchte ich die eingangs gestellte Frage nocheinmal an Sie richten: Werden die achtziger Jahre das Jahrzehnt des zweiten KaltenKrieges werden?

Ich würde nicht ein einziges Wort von dem zurücknehmen, was ich am Anfang zudieser Frage gesagt habe. Aber ich könnte noch ein paar Worte hinzufügen.

Genau deshalb habe ich diese Frage noch einmal gestellt.

Zu dem bereits Gesagten wäre noch hinzuzufügen, daß ein zweiter Kalter Krieg sichauch in dieser Hinsicht vom ersten unterscheiden würde, daß er ein unechter KalterKrieg wäre, ein ‘drôle de guerre froide’, wie die Franzosen sagen würden. Er wäredeshalb unecht, weil anders als beim ersten Kalten Krieg kaum echte Überzeugunghinter ihm stünde. Die Überzeugung, die dem ersten Kalten Krieg zugrunde lag, warfalsch, ging von unangebrachten Ängsten aus, von Vorurteilen und Unwissenheit -trotzdem gab es sie, und sie war ein wichtiger psychologischer Faktor.Dieses Mal muß man schon eine sehr geringe Meinung von den geistigen

Fähigkeiten der Leute haben, Herr Oltmans, wenn man von den Europäern erwartet,sie sollten in den achtziger Jahren noch all das glauben, was etwa Ihre Familie inden vierziger Jahren dazu bewogen hat, nach Südafrika auszuwandern. Ja selbst dieAmerikaner scheinenmir etwas zu aufgeklärt zu sein, als daßman sie so ohne weiteresin jenen Zustand versetzen könnte, der für sie in den späten vierziger und frühenfünfziger Jahren bezeichnend war. Es fällt schwer zu glauben, daß ihre Prophetenabermals Leute werden könnten wie Senator Joseph McCarthy oder derKongreßabgeordnete Parnell Thomas - diese Hohepriester des ersten Kalten Krieges,die, wie sich später herausstellte, simple Betrüger waren (oder Betrüger, denen derKalte Krieg half, Hohepriester zu werden - wie man's nimmt). Tatsächlich würde essich um einen künstlichen Kalten

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Krieg handeln, in dem nur wenige Sinn und Zweck sehen könnten. Wesentlichernoch: Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Entspannung würden nicht viele in einemsolchen Krieg die einzige Alternative zum heißen Krieg sehen.Auch wäre es ein künstlicher Kalter Krieg in dem Sinn, daß die Vereinigten Staaten

versuchen würden, ihn anzuzetteln, ohne über die notwendigen Mittel zu verfügen,um ihn zu gewinnen Sie konnten den ersten Kalten Krieg nicht gewinnen, als ihrePosition gegenüber der Welt ungleich stärker war als heute. Es ist ein Ding derUnmöglichkeit, daß die USA solch einen Krieg im letzten Viertel dieses Jahrhundertsgewinnen. Die Tatsache jedoch, daß es sich bei denen, die ihn trotzdem zu entfachenversuchen, um Amerikaner handelt, deutet auf eine starke Gefährdung desWeltfriedens und der Stabilität hin.

Wie stellen Sie sich die Zukunft der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen vor?

Ob es überhaupt eine Zukunft geben wird, hängt davon ab, ob es wenigstens einbescheidenes Minimum an Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA gibt.Wenn es um die wünschenswerteste Zukunft geht, so würde ich ohne Zögern sagen,daß sie von friedlicher Koexistenz, Entspannung, Rüstungsbegrenzung undAbrüstungsowie von einer breiten Zusammenarbeit und wachsendem gegenseitigemVertrauengeprägt sein müßte.Aber leider muß ich sagen, daß es in diesem Moment nicht den Anschein hat, als

gingen wir solchen Beziehungen entgegen. Es macht sich - auch bei manchenAmerikanern - Besorgnis darüber breit, daß die Vereinigten Staaten einen Kurseingeschlagen haben, der verstärktes Wettrüsten, Anstrengungen zur Stärkung ihrermilitärischen Allianzen - diesmal nicht nur des Trilaterialen Blocks, sondern auchChinas - und im Bedarfsfall eine größere Bereitschaft zur Anwendung militärischerGewalt vorsieht.Wenn es dazu kommt, dann wird sich die Situation wahrscheinlich erst einmal

verschlechtern, ehe sie wieder besser wird.

Kann sie sich denn überhaupt noch verschlechtern?

Unglücklicherweise ja. Ohne Zweifel hatWashington 1980 alles unternommen - vondirekten militärischen Feindseligkeiten abgesehen -, um die politische Atmosphärezu verderben, die verbale Auseinandersetzung aufzuheizen und wirtschaftliche,kulturelle und andere Beziehungen abzubrechen und die Gespräche einzufrieren.

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Am Schluß der Amtszeit hat die Carter-Administration Schritte unternommen, umdie sowjetisch-amerikanischen Beziehungen in nahezu allen Bereichen sogar nochweiter zu verschlechtern. Es ist denkbar, daß das gemacht wurde, um denNachfolgernein möglichst schweres Erbe zu hinterlassen.Dennoch, es kann noch schlimmer werden. Und zwar insofern, als das Einfrieren

der Beziehungen auf einem so niedrigen Niveau zusätzliche Schwierigkeiten schafftund den Preis, der für die angespannte Lage zu entrichten ist, erhöht. Ich spreche vorallem von den Gefahren, die aus einem verstärkten Wettrüsten, aus weiterenVerzögerungen beim Abschluß von Vereinbarungen zu den drängendsten Fragender Rüstungskontrolle und aus einer Eskalation der Konflikte in den verschiedenenRegionen der Welt erwachsen. Bestehen die Spannungen auf dem gegenwärtigenNiveau weiter, so werden dadurch die feindseligen und negativen Gefühle verstärktund weiter gefestigt, wodurch es immer schwieriger wird, zu normalen Beziehungenzurückzukehren. Die Kontakte auf den verschiedenen Ebenen werden dabeigeschwächt und zerstört, wobeiman die ungeheurenAnstrengungen, die unternommenwurden, um sie zustande zu bringen, vergeudet.Was den Handel anbelangt, so werdenunsere entsprechenden Stellen daraufhin zu anderen Partnern überwechseln, undzwar auf langfristiger Basis.

Würden Sie ausschließen, daß es zu irgendwelchen mutigen neuen Initiativen oderzu unerwarteten Maßnahmen kommt bzw. daß die Ereignisse eine unerwarteteKehrtwendung nehmen, wodurch es, was die Weltlage einschließlich dersowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft, zu bedeutsamen Verbesserungenkommen könnte?

Natürlich, solche Initiativen, Maßnahmen oder Kehrtwendungen können nichtausgeschlossen werden.Mehr noch, ich bin sogar sicher, daß die Sowjetunion solche Initiativen ergreifen

wird, wie sie das auch in der Vergangenheit getan hat. Aber eine Verbesserung derBeziehungen erfordert auf beiden Seiten guten Willen, und ich bin mir keineswegssicher, ob wir von der anderen Seite solche Initiativen erwarten können. Nun sicher,Ihre Frage gait unerwarteten Ereignissen - jenen, die gegenwärtig nicht vorherzusehensind. Wenn es angenehme Überraschungen gibt, würden wir das natürlich begrüßen.Aber man sollte nicht vergessen, daß Überraschungen auch unangenehm sein können,und - so fürchte ich - in einer Situation zunehmender internationaler Spannungenwären unangenehme Überraschungen sehr viel wahrscheinlicher. Auf jeden Fall istes immer sehr schwer, unerwartete Ereignisse vorherzusagen.

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Vorhersagen werden folglich immer ungenau sein, denn das Leben ist vollerÜberraschungen.

Sicher. Deshalb auch bewahrheiten sich Vorhersagen, die einfach darauf basieren,gegenwärtige Tendenzen in die Zukunft zu projizieren, so gut wie nie. Folgendes istein gutes Beispiel dafür. Mir wurde von einem der allerersten Versuche erzählt, dieEntwicklung urbaner Probleme vorherzusagen, den die Pariser Behörden in derMittedes letzten Jahrhunderts unternommen haben.Die Behörden baten die Experten, eine Prognose zu den wichtigsten Problemen

abzugeben, denen die Hauptstadt Frankreichs im 20. Jahrhundert gegenüberstünde.Die Fachleute dachten darüber nach, und ihre Antwort lautete: Pferdemist. Sie sagtenangesichts der damaligen Zuwachsrate bei Pferdefuhrwerken voraus, daß Paris unterihm buchstäblich begraben werden würde.Ich glaube nicht, daß wir dem Beispiel dieser frühen Futurologen folgen sollten.

Wir müssen in Betracht ziehen, daß es möglicherweise zu Überraschungen kommt,sowohl zu positiven wie auch zu negativen. Ich würde noch weiter gehen. Eines derHauptargumente, das für die Entspannung spricht, besteht darin, daß sie zusätzlicheGarantien für den Fall schafft, daß es zu bösen Überraschungen kommt und damitden Frieden wie auch die internationale Ordnung beständiger macht. Deshalb ist esauch so schlimm, daß sich mit dem Eintritt in die achtziger Jahre die internationalenBeziehungen durch den Rückfall in Feindschaft und Kalten Krieg so ernsthaftverschlechtert haben.

Die Wahl 1980 muß Ihren negativen Erwartungen im Hinblick auf das kommendeJahrzehnt weitere Nahrung gegeben haben. Selbstverständlich will ich Sie nicht zueiner endgültigen Beurteilung dieses Themas drängen, denn schließlich finden dieseunsere letzten Gespräche am Vorabend der Amtseinführung von Ronald Reaganstatt. Dennoch die Frage: Welche Auswirkungen könnte diese Wahl auf dieamerikanische Außenpolitik haben, insbesondere auf die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen?

Der Wahlkampf hat sicherlich neue Probleme geschaffen, wie das ja auch mancheWahl in der Vergangenheit schon getan hat. Die Beziehungen zwischen unserenLändern sind für zu viele amerikanische Politiker, die für ein Amt kandidieren, zueiner Spielwiese geworden, auf der sie sich austoben. EineMenge guter, vernünftigerIdeen blieb während dieses Wahlkampfs auf der Strecke, genauso wie einebeträchtliche Zahl fähiger politischer Führer, die über jahrelange Erfahrung in derAußenpolitik und in Fragen der Rüstungskontrolle verfügen. Was schließlich

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das Ergebnis der Wahl anbelangt, so ist es schwieriger, seine Auswirkungen auf diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen einzuschätzen. Schließlich waren dieseunter Carter und Brzezinski schlecht genug, und wer weiß, was eine zweite Amtszeitdieser beiden alles gebracht hätte. Andererseits brachte der neue Präsident einigesan ideologischem Gepäck ins Weiße Haus mit - einschließlich der entsprechendenideologischen Gepäckträger -, was die Aufgabe, die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen wieder ins Lot zu bringen, weiter erschweren kann.

In einem Fernsehinterview haben Sie kurz nach der amerikanischen Wahl gesagt,Reagan bewege sich auf die Mitte zu.

Ich glaube, die letztenWochen des Wahlkampfs haben das sehr deutlich gezeigt, vorallem, was den Bereich der Außenpolitik und der sowjetisch-amerikanischenBeziehungen betrifft. Es war z. B. offensichtlich, daß Reagan besorgt darüber war,er könnte als Kriegstreiber erscheinen, konnte das doch ihn und die GOP1 um denSieg bringen. Tatsächlich erwuchsen aus dem Thema ‘Krieg und Frieden’ die größtenGefahren für Reagans Chancen auf einen Sieg. Reagan antwortete darauf mit demVersuch, gemäßigtere Positionen einzunehmen, was ihm auch ohne Zweifel geholfenhat, die Wahlen zu gewinnen. Einige der Erklärungen, die er nach der Wahl abgab,ließen auch anklingen, daß er es für angebracht hielt zu zeigen, daß er sehr wohl umden Unterschied wisse, der zwischen einer Bewerbung um die republikanischePräsidentschaftskandidatur und der Ausübung der Regierungsgewalt besteht. Wasdas alles für die praktische Politik der neuen Regierung bedeutet, bleibt abzuwarten.

Die Verfechter einer harten Linie unter den Anhängern Reagans sind aber daraufeingeschworen, jegliche Mäßigung bei den Sachaussagen zu verhindern. Was ist zuden Gruppen der ‘Neuen Rechten’ zu sagen, die, wie sich herausstellte, eine sowichtige Rolle im Wahlkampf 1980 spielte?

Je näher ich die sogenannte ‘Neue Rechte’ betrachte, desto weniger neu erscheintsie mir. Sicherlich gibt es einige neue Gesichter, Organisationen und Taktiken, einigeneue, sehr wesentliche Verbindungen zu jenen, die an der Spitze der amerikanischenMachtstruktur stehen, vielleicht auch eine neue Fähigkeit, aus den Ângsten undFrustrationen der amerikanischen Mittelklasse Kapital zu schlagen. Aber ihre Zielesind die gleichen wie die der extremen Rechten vor 10, 20 oder 30 Jahren: mehrMilliarden für das Pentagon, die Vorbereitung auf einen nuklearenEntscheidungskampf mit der Sowjetunion, die Entsendung von Marine-

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infanteristen für den Fall, daß es zu Schwierigkeiten kommt, und schließlich dasHerumstoßen der Verbündeten. Innenpolitisch treten sie für den Polizeistaat ein -dieses Mal vielleicht mit einer speziellen Polizei zur Überwachung der Gesinnung- und für alles, was sonst noch das alte Programm der extremen Rechten ausmacht.

Sehen Sie in der ‘Neuen Rechten’ eine ernstzunehmende, einflußreiche Kraft despolitischen Lebens Amerikas?

Ich glaube, daß ihr Einfluß von den amerikanischen Medien ziemlich überschätztwird, was z. T. auch deshalb geschieht, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeitvon weniger in Erscheinung tretenden und wichtigeren Leuten des rechten Flügelsabzulenken. Dennoch ist es denkbar, daß die Neue Rechte an Einfluß gewinnt, wennsich die vielschichtige Krise der amerikanischen Gesellschaft weiter zuspitzt. Wenndie Bürger eines Landes den Eindruck gewinnen, es gehe bergab; wenn sichEnttäuschung breit macht über die wachsende Unfähigkeit der Gesellschaft und desStaates, jene Probleme zu lösen, denen man zu Hause wie auch draußen in der Weltgegenübersteht; wenn die alten Wege nicht mehr länger akzeptabel und zugleichneue noch nicht klar zu sehen sind - dann kann es sein, daß die skrupellosenDemagogen der extremen Rechten eine Chance haben. In der Regel ist es so, daßdiese Leute nicht gerade die Gescheitesten sind, wenn es gilt, die komplexenRealitàten der heutigen Welt zu begreifen, wohl aber können sie recht clever sein,wenn es darum geht, die öffentliche Unzufriedenheit so zu steuern, daß ihnen einVorteil erwächst. Sie sind sich ihrer Sache so absolut sicher - oder sehen wenigstensso aus, als waren sie es -, daß gar mancher hilflose Kleinbürger in Versuchungkommen kann, ihnen zu folgen.Wenn es dazu käme, wäre das für alle Menschen eine Tragödie - Amerika selbst

aber würde am meisten darunter leiden.Im Moment jedoch halte ich die Neue Rechte nicht für eine so starke Kraft.

Amerika mag in Schwierigkeiten stecken, aber ich glaube, in einer so tiefen Krisenoch nicht.

Präsident Reagan macht den Eindruck, als fühle er sich diesen Leuten zu Dankverpflichtet.

Ja, sie betrieben seine Kandidatur seit langem, und er möchte auch ihre Unterstützungnicht verlieren. Aber ich glaube, er hat ziemliche Schwierigkeiten, für sie Verwendungin seinem Regierungsapparat zu finden. Sie sind Ideologen und keine Politiker derTat, noch dazu Ideologen einer ganz besonderen Art. William F. Buckley jr., ein‘Neuer Rechter’

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der vorhergehenden Generation, hat es einmal als die Aufgabe seiner Bewegungbezeichnet, sich dem Zug der Zeit in den Weg zu stellen und ‘Halt’ zu rufen.Erwachsene wissen, daß man mit der Eisenbahn keine solchen Spielchen treibt.Außerdem haben die ‘Neuen Rechten’ etwas an sich, das die Leute erschreckt - undzwar auch Leute aus dem Establishment. Es sieht heute so aus, als würden in derneuen Regierung nicht sehr viele wichtige Ämter an ‘Neue Rechte’ vergeben werden- vielleicht mit Ausnahme des Stabs des Nationalen Sicherheitsrates. DieMitarbeiterder Reagan-Administration sind konservative Leute, einige davon sogar sehrkonservativ, aber ich glaube, es verläuft zwischen ihnen und der Neuen Rechten eineTrennungslinie.

Was ist von der Reagan-Administration hinsichtlich der sowjetisch-amerikanisckenBeziehungen zu erwarten?

Ich glaube, niemand kann das heute mit Sicherheit sagen. In den Vereinigten Staatenbraucht eine neue Administration für gewöhnlich mindestens ein Jahr, ehe sie mitallen Einzelheiten vertraut ist, selbst ein Regierungsapparat mit mehr Erfahrung undeiner anderen ideologischen Ausgangsbasis.Was die Ideologie anbelangt, so möchteich, nebenbei gesagt, ihre Auswirkungen auf die praktische Politik der US-Regierungnicht allzu vereinfacht darstellen. Ich erinnere mich an mehr als nur eineAdministration mit liberalen Neigungen, mit der wir am Anfang großeSchwierigkeiten hatten.

Aber es sieht so aus, als würde es Reagan ernst meinen, wenn er von einer härterenGangart spricht: ‘Meine Haltung der Sowjetunion gegenüber kann in einem Satzbeschrieben werden. Wir erklären dem russischen Reich, daß wir keine weiterenZugeständnisse mehr machen werden, wenn es nicht im Gegenzug ebenfalls zuZugeständnissen kommt.’2

Falls Reagan von Gegenseitigkeit spricht, so handelt es sich dabei genau um dasPrinzip, auf dem wir unsere Beziehungen zu den USA aufbauen möchten - aufgegenseitigen Zugeständnissen und Kompromissen. Schließlich haben uns die USAnie einseitige Vorteile gewährt. Nehmen Sie die Entspannung, die Abmachungenzur Rüstungskontrolle, die Verbesserung der politischen Atmosphäre - all das beruhteauf gegenseitigen und nicht auf einseitigen Zugestàndnissen. Ist damit gemeint, dieAufrechterhaltung des Friedens sei ein einseitiges Zugeständnis Amerikas gewesen?Natürlich beruhten unsere Beziehungen auf der Basis der Gegenseitigkeit, wie das

ja auch zwischen gleichberechtigten Partnem der Fall sein

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muß. Aber vielleicht beabsichtigte Reagan damit gar nicht, das Offenkundige erneutzum Ausdruck zu bringen? Es scheint, daß seine Feststellungen über diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen darauf abzielten, einen Schatten vonArgwohn auf all jene Vereinbarungen zu werfen, die unsere beiden Staaten vor ihmgetroffen haben. Falls dies mit der von Ihnen zitierten Erklärung beabsichtigt war,gibt das zur Besorgnis Anlaß, bedeutet es doch, daß - entgegen seinen eigenenWorten- von der Sowjetunion einseitige Zugeständnisse gefordert werden; darauf einzugehen,war die Sowjetunion nie bereit und wird es auch nie sein.

Bei den Hearings vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats anläßlich seinerNominierung für das Amt des Außenministers sagte Alexander Haig: ‘Wir müssenfür unsere Ideale kämpfen.’3Aus demMunde eines Generals hört sich das alarmierendan.

Wir erwarten von den Vereinigten Staaten nicht, daß sie ihren Idealen entsagen,genausowenig, wie wir unseren entsagen werden. Das ist ein grundlegendes Prinzipder friedlichen Koexistenz. In diesem Sinne mag an HaigsWorten nichts auszusetzensein. Aber wenn Haig dabei von Idealen spricht, wie z. B. von gottgegebenenNotwendigkeiten und von amerikanischen Ansprüchen auf besondere Rechte undPrivilegien, was internationale Angelegenheiten anbelangt, so verspricht eine solcheHaltung neue Probleme in der Welt zu schaffen. Auch bin ich nicht sicher, ob HaigsVorstellungen von dem Begriff ‘kämpfen’ hinreichend zivilisiert sind. EinigeAmerikaner geben ihrer Besorgnis Ausdruck, daß die Vereinigten Staaten eineZeitlang zwei Verteidigungsminister und keinen Außenminister haben werden. ImRahmen dieser Anhörungen traf Haig, nebenbei gesagt, auch folgende Feststellung:‘Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Frieden.’ Nun, das klingt reichlich ominös,und es wundert mich nicht, daß es so negative Reaktionen in Westeuropa hervorrief.Wenn sich die amerikanische Politik solche Ideen zur Leitlinie wählt, wird niemanddarauf Gewinn ziehen und Amerika wird der größte Verlierer sein.

Offenbar fördern solche Erklärungen nicht gerade optimistische Erwartungen.

Sicher nicht. Andererseits waren auch einige andere Stellungnahmen zu hören.Während seiner Wahlkampfauseinandersetzungen mit Präsident Carter beschriebRonald Reagan seine Haltung gegenüber der Sowjetunion als Partner bei derRüstungskontrolle folgendermaßen: ‘Wir werdenmit ihnen Solange verhandeln, wiees sich als notwendig erweist,

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um eine vernünftige Reduzierung der nuklearen Waffen zu erreichen, so daß keinervon uns für den anderen eine Bedrohung darstellt.’ Falls das Präsident ReagansStandpunkt sein sollte und die Verhandlungen unvoreingenommen aufgenommenwerden sollten, dann besteht Hoffnung auf eine Verbesserung dersowjetisch-amerikanischenBeziehungen. Die Sowjetunionwürde keine Zeit verlierenund auf eine solche Verbesserung hinarbeiten.

Aber es sind so viele gegenteilige Worte gesagt worden...

Wissen Sie, die Welt hat so oft erlebt, daß positive Versprechen gebrochen wurden,so daß es vielleicht an der Zeit ist, einige negative zu brechen.Wenn jedoch die negativen Versprechungen eingehalten werden, dann steht uns

allen mit großer Wahrscheinlichkeit ein Wettrüsten von unverminderter Heftigkeitbevor, was zur wahrscheinlich gefährlichsten Phase der Menschheit in derNachkriegsgeschichte führen würde. Die politischen Entwicklungen werden dannvon Tendenzen verstärkt, die, einerlei wer gewählt wurde und wer welchesRegierungsamt inne hat, wirksam werden.Ich denke hierbei zuallererst an die Beschleunigung der wissenschaftlichen und

technologischen Entwicklung, die viele neue tödliche Waffenarten hervorbringen,wie auch die Gefahr der Weiterverbreitung nuklearer Waffen erhöhen kann.

Richard Barnett hat darauf hingewiesen, daß im Jahr 2000 schon etwa 100 Länderin der Lage sein werden, Nuklearwaffen herzustellen.

Gut möglich, und einige könnten sich tatsächlich für Nuklearwaffen entscheiden,wenn die Welt nichts unternimmt und die Zeit verstreichen läßt. Die jüngstenEntwicklungen bei der Weiterverbreitung sind in der Tat sehr alarmierend. Es gabBerichte, wonach Südafrika und Israel eine Bombe gezündet haben bzw. daß PekingPakistan angeboten hat, seine erste Bombe auf chinesischem Territorium zu testen.Hier kommen wir auf einen weiteren sehr gewichtigen Faktor zu sprechen, den

wir auch schon vorher erwähnt haben und der dazu führt, daß sich die Ereignisse derachtziger Jahre nur sehr schwer vorhersehen lassen: nämlich die zunehmende Zahlderer, die an der Weltpolitik teilhaben werden.Um auf die Vereinigten Staaten zurückzukommen, mir scheint, daß

unvorhersehbare, reflexhafte Reaktionen immer typischer werden für dasamerikanische Verhalten in weltpolitischen Angelegenheiten.

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Bisweilen ist das vielleicht absichtlich so. Richard Nixon ist ein aktiver Verfechterder ‘mad president’-Theorie, laut der Amerikas internationaler Einfluß zunimmt,wenn die andem glauben, dem Präsidenten sei alles zuzutrauen, bis hin zu einemvöllig unverantwortlichen Handeln. Ich wurde daran erinnert, als ich von dem imApril 1980 unternommenen Versuch hörte, die amerikanischen Geiseln im Iran zubefreien.

Besteht Ihrer Meinung nach überhaupt Aussicht auf eine Verbesserung dersowjetisch-amerikanischen Beziehungen?

Auf lange Sicht ist das fast unvermeidlich, weil es im wahrsten Sinne des Worteskeine akzeptable Alternative zur Entspannung gibt. Sollte es jedoch in naher Zukunftzu einer spürbarenVerbesserung kommen, sowäre das eine angenehmeÜberraschung.Auch bin ich überzeugt, je später es zu solch einer Wende kommt, desto größereAnstrengungen sind erforderlich, um das wieder aufzubauen, was so übereilt zerstörtwurde.

Wenn wir hier die Möglichkeit, die Entspannung in naher Zukunft zurückzuerlangen,nur als eine angenehme Überraschung bezeichnen, dann sind die Aussichten für diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen und für die internationale Lage insgesamtsehr düster.

Lassen Sie mich das näher erklären. Wir stehen bei den sowjetisch-amerikanischenBeziehungen am Scheideweg. Es muß eine Entscheidung getroffen werden, wohindie Reise gehen soll - größeren Spannungen entgegen, in die Schützengräben einesweiteren Kalten Krieges oder in die Richtung von Verhandlungen, Entspannung undZusammenarbeit. Sehr viel wird davon abhängen, was in allernächster Zukunftgeschieht - also 1981. Unglücklicherweise hat dieses Jahr mit einer sehr schwierigenSituation begonnen. Unbestreitbare Tatsache ist nun einmal, daß die gegenwärtigenTendenzen in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und einiger anderer Ländersehr negative Auswirkungen auf die weltpolitische Lage haben können.Man muß aber auch die gegenläufigen Tendenzen sehen, die heutzutage wirksam

sind und das gewiß auch in den achtziger Jahren bleiben werden. Diese Tendenzenresultieren aus sehr konkreten, und ich möchte hinzufügen, immer zwingenderwerdenden Interessen der beiden Länder und der ganzen Welt, nämlich aus demInteresse an der Sicherung des Friedens, an einem Abbau der Bürde, die dasWettrüsten darstellt, und an einer Entwicklung der Zusammenarbeit. Wenn ich dielangfristigen Entwicklungen betrachte, so bin ich nach wie vor überzeugt, daß diepositiven und realistischen Tendenzen wieder erheblich stärker werden

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und daß sie angesichts der tatsächlichen Probleme, denen wir gegenüberstehen, nochmehr an Relevanz gewinnen.

Warum sind Frieden und Koexistenz in diesem Jahrzehnt noch maßgeblicher?

Ich möchte nicht behaupten, daß meine Beurteilung der Lage frei von Emotionen ist- ich möchte, daß es so ist. Und das ist nicht nur meine persönliche Haltung. Ich binsicher, daß ich hier die allgemeine sowjetische Haltung wiedergebe. Ich glaube, diemeisten Europäer und Amerikaner fühlen genauso. Aber hinter dieser Haltung stehtmehr als nur Gefühle. Meine Analyse läßt mich zu dem Schluß kommen, daß einePolitik, die auf eine Rückkehr des Kalten Krieges abzielt, nicht von allzu großerDauer sein kann, und zwar deshalb nicht, weil ihre Ziele weder mit den vitalenInteressen der Staatengemeinschaft - die Vereinigten Staaten eingeschlossen - inEinklang zu bringen, noch zu erreichen sind. Die militärische Aufrüstung und dasVorantreiben des Wettrüstens, so wird gesagt, seien für die Gewährleistung dernationalen Sicherheit der USA erforderlich - tatsächlich aber ist es das Wettrüsten,das die Hauptgefahr für diese Sicherheit darstellt.Die Bemühungen um militärische Überlegenheit sind genauso verkehrt, denn es

ist ausgeschlossen, daß Amerika oder irgend jemand sonst sie erlangen kann.Die Wiederbelebung der Interventionspolitik ist gleichermaßen sinnlos imd

gefährlich. Ich glaube nicht, daß selbst die denkbar beste ‘mobile Eingreifreserve’eine Situation wie die im Iran hätte verhüten können. Außerdem werden die USAkaum in der Lage sein, ein größeres oder besseres Expeditionskorps aufzustellen alsdas in Vietnam besiegte. Keinerlei militärische Kraft wird je in der Lage sein, einenununterbrochenen Ölstrom aus dem Nahen Osten zu garantieren. Noch halte ich dasNato-Programm für realistisch, das eine stetige Steigerung der Rüstungsausgaben inden nächsten Jahren vorsieht.

Erwarten Sie, daß der Westen wegen dieses Programms bankrott macht?

Nein, aber für Kanonen und Butter zugleich zu sorgen, wird in zunehmendemMaßeproblematischer. Amerika stehen, wie vielen anderen Ländern, magere Jahre insHaus. Die Unruhen vonMiami Beach von 1980 waren eine unerbittliche Erinnerungdaran, daß sich in den amerikanischen Städten ein Pulverfaß aus Groll undUnzufriedenheit anfüllt. Sogar für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft zusorgen und ihren Energie- und Rohstoffbedarf zu decken, wird immer schwieriger,

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was auch für die Wahrung von Amerikas Stellung auf dem Weltmarkt gilt. Unterdiesen Umständen werden viele Dinge zu einem Luxus, den man sich nicht mehrlänger leisten kann.

An welchen Luxus denken Sie dabei?

An uneingeschränktes Wettrüsten, an Spannungen und an das Fehlen vonZusammenarbeit.Wenn wir für unser Überleben und für ein leidlich gutes Leben auf diesem immer

kleiner und immer komplexer werdenden Planeten Sorge tragen wollen, dann werdenwir unser Verhalten ändern müssen. Ich fürchte, die Erde ist für eine gesteigerteinternationale Rivalität zu zerbrechlich. Zusammenarbeit wird zumGebot der Stunde,wenn wir überleben und ein annehmbares Dasein führen wollen.

Heißt das, daß die Probleme und Schwierigkeiten, denen die beiden Länder und dieWelt ganz allgemein gegenüberstehen, bei der Verbesserung der Beziehungen undder Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten letztlichdie treibende Kraft sein werden?

Aus dem einen oder anderen Grund erweisen sich Gefahren und Schwierigkeiten alsstärkerer und wirkungsvollerer Ansporn für eine Zusammenarbeit als abstrakteErwägungen über den gegenseitigen Nutzen.Angesichts der Aggression Hitlers brauchten Amerikaner, Briten, Franzosen,

Holländer und andere nicht sehr lange, um unsere Verbündeten zu werden. Ich binfest davon überzeugt, daß wir, sollten außerirdische Wesen in feindlicher Absichtauf unserem Planeten auftauchen, über Nacht wieder zu Verbündeten werden würden.Immer dann, wenn es einen besonders greifbaren gemeinsamen Feind gibt,

insbesondere einen tödlichen Feind, wird die Zusammenarbeit sehr leicht.Unglücklicherweise ist es weitaus schwieriger zusammenzuarbeiten, wenn dieBedrohung nicht so deutlich verkörpert wird und personifiziert ist, auch wenn dieseBedrohungen genauso ernst sind wie der Kerl, der mit der Pistole auf uns zielt.

Welche tödlichen Gefahren könnten letztlich Ost und West enger zusammenbringen?

Nun, eine offensichtliche Gefahr ist die Kriegsgefahr, die wir schon ausführlicherörtert haben.Eine weitere ist die Verschlimmerung weltweiter Probleme wie die Ver-

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sorgungmit Energie und Rohstoffen, das Problem der Ernährung, des Umweltschutzesund der Armut in der Dritten Welt. Man kann über die Genauigkeit der Schätzungendes Club of Rome und anderer Experten streiten. Aber ich glaube, daß sie ein echtesProblem ansprechen. Es wird erwartet, daß die Weltbevölkerung von gegenwärtig4,5 Milliarden Menschen auf über 6 Milliarden im Jahr 2000 anwächst, d.h., wirwerden in den nächsten beiden Jahrzehnten Aufgaben bewältigen müssen, die früherin Jahrhunderten bewältigt wurden. Die Nachfrage nach Rohstoffen wird unerhörtzunehmen, besonders die nach Energieträgern. Die Versorgung mit Nahrungsmittelnwird schwieriger zu bewerkstelligen sein. Falls die gegenwärtigen Tendenzenanhalten, wird die Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1Milliarde anwachsen.

Und Sie erwarten, daß das unabweisbare Gebot, für diese Probleme Lösungen zufinden, ein mächtiger Ansporn zur Entspannung und Zusammenarbeit sein wird?

Ja. Um einen Satz von Präsident Carter aufzugreifen, diese Bedrohungen können alsmoralisches Äquivalent zum Krieg aufgefaßt werden, in dem Sinn, daß sie diegrößtmöglichen Anstrengungen erfordern und die Zusammenarbeit aller Staatennotwendig machen, in erster Linie die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunionund den Vereinigten Staaten.

Bedrohungen und Ängste bleiben starke Antriebskräfte, wenn es darum geht,vernünftig zu handeln.

Nun, die Menschheit befindet sich immer noch in einer Entwicklungsphase, deshalbist das verständlich. Außerdem gibt es die Bedrohungen tatsächlich, sie sind nichtnur ein Mythos. Was die Angst anbelangt, so bleibt sie eines der stärkstenmenschlichen Gefühle. Das Wichtige dabei ist, daß sie nicht mißbraucht undfehlgeleitet wird.Ich würde es sehr viel lieber sehen, wenn Barmherzigkeit und Liebe die

Beweggründe der Menschen wären, aber dazu sind wir noch nicht reif genug.

Sie erwarten von mir wohl nicht, daß ich glaube, Sie würden solche Gefühle für diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen für wichtig erachten.

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Nein, und zwar nicht aus Zynismus heraus. Vielleicht kommt es hier in der Zukunftzu Veränderungen - heute jedoch sprechen wir nicht von Liebe, sondern von einervernünftigen und genauenWahrnehmung der eigenen Interessen. Als Russe muß ichAmerika nicht gleich lieben, um für gute sowjetisch-amerikanische Beziehungeneinzutreten - es ist ausreichend, wenn ich ein zutiefst überzeugter sowjetischer Patriotbin, sind doch solche Beziehungen im Interesse meines Landes.Das gleiche gilt für jeden Amerikaner. Es ist nicht erforderlich, daß der einzelne

die Russen oder die Kommunisten liebt, nicht einmal, daß er den Russen vertraut,um gute Beziehungen zur UdSSR anzustreben. Es genügt, wenn jemand ein guteramerikanischer Patriot ist und sein Land liebt.Sicherlich, falls nach einiger Zeit zu diesen rationalen Überlegungen und

Eigeninteressen noch freundliche Gefühle hinzukommen, so ist das nur hilfreich.Aber in diesem Moment stellt das einen weiteren Luxus dar, auf den wir verzichtenkönnen.

Aber werden die Russen, die Amerikaner und alle anderen vernünftig genug sein,um diese Bedrohungen zu vermeiden?

Auf lange Sicht, glaube ich, wird das der Fall sein - vorausgesetzt, sie überleben bisdahin.Ich denke, der bekannte sowjetischeWissenschaftler und Nobelpreisträger Nikolai

Semjonow hat das Problem sehr treffend formuliert. Er vertritt die Ansicht, daß dieMenschheit entsprechend den Kriterien und Gesetzmäßigkeiten sowohl organischerals auch anorganischer Natur aus dem Stadium der frühen Kindheit noch nichtherausgekommen ist. Wenn sie sich weiterentwickelt und heranreift, wird es keinProblem geben, das sie nicht lösen könnte. Die Gefahr besteht darin, daß sie in der‘Kindheit’ einige fürwahr üble, nicht mehr zu korrigierende, unwiderrufliche Fehlerbegeht. Semjonow denkt dabei an zwei Möglichkeiten: an einen Atomkrieg und aneinen nicht mehr gutzumachenden Zusammenbruch des Gleichgewichts zwischendem Menschen und seiner natürlichen Umwelt.

Welche Prognose würden Sie der Menschheit stellen: Gedeihen oder Verderben?

Wissen Sie, jede Vorhersage von gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungenist unweigerlich bis zu einem gewissen Grad wertorientiert und programmatisch.Das ist anders als bei der Wetter- oder Erdbebenvorhersage. Wir nehmen an denGeschehnissen teil und wir treffen

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Vorhersagen, damit wir sie besser beeinflussen können, damit wir sie nachMöglichkeit in den Griff bekommen.Der programmatische Leitfaden, der in meine Vorhersage eingeht, ist die

Entspannung. Die Verbindung, die zwischen der Entspannung und der Verhütungeines Krieges besteht, liegt offen zutage.Was die weltweiten Probleme anbelangt, so werden sie durch die Entspannung an

sich nicht gelöst, aber ohne Entspannung ist es zwecklos, auch nur daran zu denken,mit ihrer Lösung zu beginnen. Worauf ich hinaus will, ist dies: das Überleben, jasogar Wohlstand, sind sehr wohl möglich, aber eine Vorbedingung dafür ist diefriedliche Koexistenz und die Entspannung.

Aber wie findet man auf den Weg der Entspannung zurück? Wann werden beideSeiten reif genug sein, um ihre Notwendigkeit zu begreifen?

Ich kann Ihnen versichern, daß man sich in der Sowjetunion nach wie vor dessenbewußt ist, daß die Entspannung im allgemeinen und normale Beziehungen mit denVereinigten Staaten im besonderen eine Notwendigkeit sind.

Professor Dieter Senghaas von der Hessischen Stiftung für Friedens- undKonfliktforschung bemerkte kürzlich, daß niemand auf der Welt wirklich weiß, wasMoskau denkt.

Ich halte das für eine Feststellung, die von Unwissenheit zeugt. Es ist weithinanerkannt, daß die sowjetische Außenpolitik folgerichtiger und vorhersehbarer istals die Politik vieler anderer Länder. Es ist keineswegs schwierig, in Erfahrung zubringen, was man in Moskau denkt. Außerdem unterhalten wir mit praktisch allenLändern die Art von Beziehungen, die es erlaubt, im Bedarfsfall Fragen zu stellen.Das wäre, was ich Professor Senghaas antworten könnte.

Er hat möglicherweise dabei an die allerjüngste Vergangenheit gedacht, also an dieZeit seit Ende 1979, als die Verschlechterung der weltweiten Situation zu einemZusammenbruch des Dialogs führte und zu einer allgemeinen Schwächung derKontakte.

Jede Verschlechterung dieser Art hat unausweichlich solche Folgen, und zwar nichtnur weil die Kontakte erschwert werden. Mir scheint, daß Spannungen immernachhaltige emotionale Auswirkungen auf das Denken der Menschen haben und aufihre Fähigkeit wahrzunehmen und zu begreifen. Jemand, der von Emotionen wieHaß und Hurrapatriotis-

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mus erfüllt ist, ist ein schlechter Partner für einen Dialog, weil ihm die Fähigkeit, zuverstehen und verstanden zu werden, abhanden gekommen ist.

Nein, die Umstände für eine Rückkehr zur Entspannung sind im Moment wahrhaftignicht günstig. Die Welt wird warten müssen, bis das Pendel wieder auf die andereSeite ausschlägt, ehe sich neue Möglichkeiten ergeben werden.

Herkömmliche Einsicht würde genau dies nahelegen: Wie bei einem Familienstreitsollte man sich abwartend verhalten, bis sich die Leidenschaften gelegt haben, underst dann wieder Frieden schließen.Aber die Logik des politischen Geschehens paßt sich nicht herkömmlichen

Einsichten an. Ginge es nach herkömmlichen Einsichten, hätte die Entspannung nichteinmal eingeleitet werden können. In den frühen siebziger Jahren waren nicht nurdie Leidenschaften in hellem Aufruhr, sondern es gab auch einen Krieg - den Kriegin Vietnam. Junge Amerikaner starben in diesem Krieg, viele durch Waffen, die ausder Sowjetunion stammten. Junge Männer aus der Sowjetunion starben in Haiphongund Hanoi durch amerikanische Bomben und Minen.Das Verhalten Amerikas war von unserem Standpunkt aus zügellos und

unglaublich: in Vietnam, im Nahen Osten und an anderen Orten. Man kann sich gutvorstellen, daß es in unserer Politik viele Dinge gab, die Washington nicht behagten.Das erste Gipfeltreffen hing an einem seidenen Faden.Und dennoch wurde die Entspannung eingeleitet. Hätten wir aber auf günstigere

Umstände gewartet - was hätten wir dabei gewonnen?

Glauben Sie, daß diese Frage auch heute wieder zutrifft?

Ja, es wäre keineswegs sinnvoll abzuwarten, bis die Situation für eine Rückkehr zurEntspannung günstiger geworden ist. Die gegenwärtigen Tendenzen sind dergestalt,daß die Situationmöglicherweise nicht von selbst zur Ruhe kommen kann.Man kanndamit rechnen, daß die Spannungen weiter zunehmen, wenn wir nur warten undnichts unternehmen. Mit anderen Worten, die Zeit arbeitet nicht für uns.

Gut, nur irgend jemand muß den ersten Schritt machen.

Ich glaube nicht, daß wir die Situation unter diesem Blickwinkel betrachten sollten.In diesem Augenblick besteht das Problem nicht darin, daß niemand wagt, das ersteWort zu sagen, weil man nicht der sein möchte,

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der die Nerven verliert, oder weil man Angst hat, zurückgewiesen zu werden, odereinfach nur aus Vorsicht.Wir haben einen Versuch unternommen und wären abermalsdazu bereit, aber so, wie es von Moskau aus gesehen den Anschein hat, wollte dieUS-Regierung bis zum heutigen Tag (d.h. bis zum Januar 1981) einfach keineMinderung der Spannungen.

Würde sich die Situation ändern, wenn die Sowjetunion den Amerikanern einenSchritt entgegenkäme und, sagen wir, mit dem Abzug ihrer Truppen aus Afghanistanbeginnen würde?

Wenn Sie darunter auch eine politische Lösung des Afghanistanproblems verstehen,so sind wir uneingeschränkt dafür. Das ist unsere offizielle Haltung. Auch dieafghanische Regierung unterstützt eine politische Lösung.Wenn Sie aber damit den Abzug unserer Militàrkontingente aus diesem Land

meinen, ohne daß eine Lösung getroffen wird - was würde das schon bringen? DieBestätigung dafür, daß die Sowjetunion nur die Sprache der Drohungen, derErpressung und des Drucks versteht? Ich habe ganz massive Zweifel, ob dadurchirgendwelcheMöglichkeiten geschaffen würden, um die sowjetisch-amerikanischenBeziehungen auf den Weg der Entspannung zurückzubringen. Außerdem gibt es jadie Probleme, die zu der gegenwärtigen Situation in Afghanistan führten. Die Gründe,die uns bewogen haben, ein militärisches Kontingent dorthin zu entsenden, müssenbeseitigt werden.

Welche weiteren, konkreten Schritte könnten unternommen werden, um diesowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder ins Fahrwasser der Entspannungzurückzubringen?

Ich glaube nicht, Herr Oltmans, daß wir - Sie und ich - so beschlagen sind, umbestimmte diplomatische Maßnahmen zu erörtern. Vorausgesetzt, daß auf beidenSeiten die Absicht besteht, zur Entspannung zurückzukehren, sollte es nicht allzuschwierig sein, eineMöglichkeit zu finden, um einen ersten Schritt in diese Richtungzu tun. Haben wir nicht schon einmal erlebt, daß ein Tischtennisturnier einenernsthaften ersten Schritt zur Aufnahme von Beziehungen darstellte?

Allerdings. Aber es gibt da noch eine andere Frage: Sollte die amerikanische Seite,die nach Ihrer Ansicht diese Beziehungen verdorben hat, auch den ersten Schritt zuderen Verbesserung tun?

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Ganz allgemein gesprochen wäre es nur logisch, zumal in vielen Fragen - an ersterStelle ist hier die Ratifikation von SALTII zu nennen - die Amerikaner am Zug sind.Aber ich denke nicht, daß die Sowjetunion die Frage, wer den ersten Schritt tun

sollte, zum Prinzipienstreit erheben will. Ganz im Gegenteil: Im Verlauf des Jahres1980 hat sie bereits eine Reihe von Schritten unternommen, die man als Einladungan die amerikanische Führung betrachten kann, unsere Beziehungen zu normalisieren.

Welche zum Beispiel?

Beispielsweise die Unterbreitung des Vorschlags, sofort Verhandlungen über dieBegrenzung der nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa aufzunehmen, und zwarin Verbindung mit dem dortigen amerikanischen System der Vorwärtsverteidigung,sowie unsere neuen Vorschläge zu den Wiener Gesprächen.Unsere Bereitschaft, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern

und mit der neuen amerikanischen Regierung in einen Dialog einzutreten, wurdewiederholte Male in öffentlichen Erklàrungen unserer Führung zum Ausdruckgebracht, wie auch in Gesprächenmit Senator Charles Percy imNovember 1980 undbei vielen weiteren Gelegenheiten.

Falls es ein zweites Mal zur Entspannung kommen sollte, in welcher Hinsicht solltesie dann besser angelegt sein als die erste Entspannungsperiode?

Zum einen ware zu sagen, daß die Rüstungsbegrenzung wàhrend der Entspannungweit hinter dem Fortschritt auf politischem Gebiet zurückblieb. Um genauer zu sein,das Wettrüsten wurde fortgesetzt und sogar noch verstärkt, obwohl es zu politischenFortschritten, zu atmosphärischen Verbesserungen und sogar teilweise zuVereinbarungen zur Rüstungskontrolle kam. Dadurch geriet die Entspannung ingroße Bedrängnis, wie Leonid Breschnew bereits 1973 gewarnt hatte. Das Bestellengegenläufiger Tendenzen zur gleichen Zeit konnte unmöglich lange andauern. Deshalblautet die Lehre daraus; den Problemen der Rüstungsbegrenzung muß größereAufmerksamkeit gewidmet werden, und sie müssen schneller und tiefgreifendergelöst werden. Und selbstverständlich sollten keine Versuche unternommen werden,militärische Überlegenheit zu bewahren oder wieder zu erlangen - es muß zuwesentlich stärkeren Einschränkungen bei den militärischen Programmen kommen.

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Eine weitere wertvolle Lehre aus der ersten Entspannungsperiode ist die, daß es sichdabei nicht um ein neues geologisches Zeitalter handelt, das Tausende, wenn nichtgar Millionen von Jahren währt, sondern um eine Situation, die einigeMöglichkeiteneröffnet, die dann auch entsprechend schnell genutzt werden sollten. Es ist wichtig,daß man ständig Ergebnisse erzielt. Ich würde den Entspannungsprozeß mit demRadfahren vergleichen: je schneller, desto sicherer - kein Stillstand.Zu einer weiteren Beobachtung. Ich habe bemerkt, daß unsere westlichen Partner,

besonders die Amerikaner - und hierbei spreche ich nicht von führendenRegierungsvertretern, sondern von einigen sehr einflußreichen politischen undakademischen Kreisen-unter dem durchaus akzeptablen Vorwand, sich greifbarereResultate zu wünschen, anfingen, wachsende Skepsis an den Tag zu legen. Nahezuvon den allerersten Schritten der Entspannung an nahmen sie in gewisser Weise eineabwertende Haltung ein, was die Bedeutung der Gesamtatmosphäre der Beziehungen,der weiteren Arbeit an allgemeinen Prinzipien und anderen ähnlichen Problemenbetraf.

Nun, Sie haben aber selbst gesagt, daß die abwertende Haltung gegenüber mehrallgemeinen Themen von dem schlichten Verlangen motiviert gewesen sein könnte,greifbare Resultate auf bestimmten Gebieten zu erzielen.

Das könnte sein. Aber unglücklicherweise fehlt solch einem Verlangen oftmals dieGrundlage und läßt es sich unmöglich verwirklichen. Mir scheint, daß diese Leutetatsächlich unterschätzten, welches Maß an Arbeit geleistet werden mußte, um einefeste Grundlage für Beziehungen zu schaffen, die die Kluft, die durch dieAsymmetrien im politischen Denken und in den politischen Ansätzen bedingt ist,überbrücken zu können - einfach, um zu lernen, die andere Seite, ihre Besorgnisse,ihre Ängste und ihre Enttäuschungen besser zu verstehen. Ein kluger amerikanischerFreund von mir hat das einmal so ausgedrückt: Wenn man bei der Beurteilung deranderen Seite gleich das Schlechteste annimmt und alle kleineren Übel ausschließt,könnte tatsächlich das Schlimmste heraufbeschworen werden.Ich möchte noch auf ein weiteres, sehr wesentliehes Problem hinweisen, darauf

nämlich, wie wichtig es ist, an der Schaffung von gegenseitigem Verständnis undVertrauen zu arbeiten. Die Bedeutung, die dem zukommt, sollte nicht nur von derRegierung, sondern auch von den Medien erkannt werden. Die Entspannung liegtim Interesse der überwiegenden Mehrheit. Aber das bedeutet, daß man für sie eineAnhängerschaft schaffen muß, die so breit wie möglich ist, sich artikuliert, sowieaufgeklärt und politisch aktiv ist.

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Nichts von alledem ist leicht.

Richtig. Aber nur diese Dinge können die Entspannung - die ‘zweite Entspannung’,wenn man so will - dauerhaft machen. Die Erfahrungen, die wir mit densowjetisch-amerikanischenBeziehungen gemacht haben, zeigen unmißverständlich,daß es eine quälend harte Arbeit ist, die Überbleibsel des Kalten Krieges auszuräumen,Zurückhaltung an den Tag zu legen, für das gegenseitige Verständnis zu arbeiten,Lösungen zu suchen, die für beide Seiten akzeptabel wären, Kompromisse zuschließen - kurzum all das zu tun, was für die Entspannung erforderlich ist; dieseArbeit erfordert große Anstrengungen, Geduld, Weisheit und politischen Mut.Entspannung verlangt diese Qualitäten in einem ungleich höheren Maß, als dies derKalte Krieg tut, mit seinen gefühlsgeladenenAusbrüchen und seiner Zurschaustellungvon politischerMännlichkeit bzw. Kraftmeierei. Entspannung ist zugegebenermaßenschwer zu betreiben. Aber ich bin sicher, daß nur die Entspannung die geeignete Elleist, um im Atomzeitalter politische Führer zu messen und auf die Probe zu stellen.Heute ist die richtige Wahl der Politik wichtiger als je zuvor. In der Tat stehen

nicht mehr viele Wege offen. In letzter Konsequenz gilt die ewige Wahrheit, die vorlanger Zeit Plato ausgesprochen hat: ‘Jeder muß sein Leben in Frieden leben, so lang,und so gut wie möglich.’

Darf ich eine persönliche Frage an Sie richten. Wir haben in unserer Diskussion einbreites Spektrum an Problemen erörtert. Wie betrachten Sie die Dinge persönlich,als Mensch, als Bürger Arbatow?

Ich glaube, ich sollte wiederholen, was ich einmal in Newsweek geschrieben habe,denn ich bin sicher, daß dieser Gedanke in der Sowjetunion von den meistenMenschen meiner Generation geteilt wird.Mein Vater zog in den Krieg, als er 18 war. Ich zog in den Krieg, als ich 18 war.

Wir hatten beide Glück - wir kamen wieder zurück nach Hause. Und ich bin sehrfroh, daß mein Sohn, der jetzt 30 ist, in keinemKrieg kämpfen mußte. Denn aus demKrieg, der dieMenschheit heutzutage bedroht, wird niemandmehr heimkehren. Undes wird keine Sieger geben.

Hegen Sie Sympathien für jene jungen Leute von heute, die pessimistisch in dieZukunft blicken und die Hoffnung auf eine vernünftigere und friedlichere Weltaufgegeben haben?

Antonio Gramsci bezeichnete als die beste Verbindung, die Pessimismus

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und Optimismus im menschlichen Gemüt eingehen können, den Pessimismus desVerstandes und den Optimismus des Willens. Ich glaube, er meinte damit, daß dieMenschen in der Lage sein sollten, all die Bedrohungen und widrigen Tendenzen zusehen und zu erkennen, daß sie aber entschlossen sein sollten, diese zu überwindenund eine bessere Welt zu errichten. Unglücklicherweise erleben wir recht oft dieumgekehrte Verbindung, wenn die Leute nâmlich vor einer wirklich unerbittlichenkritischen Überprüfung der Realität zurückschrecken und sich hilflos und verzagtden Krisen ausgeliefert fühlen.Mich persönlich würde es schaudern, das Schicksal der Welt einer Generation

anzuvertrauen, die die Hoffnung verloren hat. Sicher, einige der gegenwärtigenHerausforderungen sind einzigartig, was das Ausmaß der Gefahr anbelangt, die siefür die Menschheit bedeuten. Aber nach all dem, was meine Generation zu meinenLebzeiten erfahren hat, bin ich überzeugt, daß dieMenschheit über dieMittel verfügt,um sich mit diesen Herausforderungen zu messen. Der entscheidende Faktor ist derWille, diese Herausforderungen anzunehmen.Ich denke nicht, daß die gesamte Jugend von heute pessimistisch ist. Diejenigen,

die es sind, kann ich in gewissem Maß verstehen. Sie stoßen auf ernste Problemeund erfahren tiefe Enttäuschungen. Und man sollte ihnen dafür nicht die Schuldgeben. Nach meinem Dafürhalten trägt die ältere Generation hier eine großeVerantwortung. Wir müssen der Jugend nicht nur die Hoffnung auf ein besseresLeben auf diesem Planeten erhalten, sondem auch den Planeten selbst.

Eindnoten:

1 ‘Grand Old Party’, traditionell für Republikanische Partei2 Time, 9. Januar 19813 International Herald Tribune, 10. Januar 1981

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Namenregister

Afanasew, Viktor 245Agnew, Harold 38Albert, Carl 247Alford, Jonathan 18Allison, Royal 174Amin, Hafizullah 311 ff., 317Apel, Hans 284Arafat, Yassir 308f.Ash, Roy 38Austin, Paul 38

Baker, Howard 38, 247Barnett, Richard 329Bartholomew, Reginald 55Beard, Charles 287Begin, Menachem 309Bell, Daniel 232Biden, Joseph 38, 247Blumenthal, Michael 38Bohlen, Charles 76Brademas, John 247Brandon, Henry 236Brandt, Willy 59, 86, 283f.Breschnew, Leonid I. 11, 60, 99, 124f., 147, 165, 168f., 180, 212, 233, 245,261, 267, 284, 294, 320, 338Brooke, Alan 78Brown, George S. 124Brown, Harold 38, 128, 164, 272Brzezinski, Zbigniew 13, 17, 22, 38, 42, 81, 99, 101ff., 113ff., 122, 125f., 262,270, 305, 325Buckley, James 38, 256Buckley, Williamf., jr. 38, 326Bundy, McGeorge 161Burger, Warren 38Burns, Arthur 38Burns, T.S. 178

Caddell, Patrick 20f.Calvin, Melvin 241Capote, Truman 245Carter, Amy 100Carter, Jimmy 12, 18, 20, 30, 42, 48, 51, 81, 86, 97 ff., 101 ff., 110, 113, 118,126, 128, 130, 150, 163, 169, 182, 193f., 197, 203, 214, 220, 253, 277, 285,290, 307, 316, 323, 325, 328, 333Carter, Rosalynn 130

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Castlereagh, Robert Stewart 263Castro, Fidel 243Chalfont, Alun Gwynne John 131Chruschtschow, Nikita 32, 81Churchill, Winston 70, 76, 78, 92f.Clausen, A.W. (Tom) 38Clausewitz, Karl von 26Colby, Bainbridge 70f.Cooper, Hugh 72Cox, Arthur 176Culver, John C. 128

Davis, Angela 38Deng Xiaoping 261Disraeli, Benjamin 136Dobrynin, Anatoli 81Dostojewski, Feodor M. 245Doty, Paul 38, 165, 176Dreiser, Theodore 215, 245Dulles, Allen 75Dulles, John Foster 94

Einstein, Albert 219f.Eisenhower, Dwight D. 20, 81, 94f., 141f., 143, 175Ellis, Richard M. 174Ellsberg, Daniel 253Evans, Rowland 144

Fallaci, Oriana 261Faulkner, William 245Feld, Bernard 176Ford, Gerald 20, 31, 48, 97 ff., 168Forrestal, James 76

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Galbraith, John K. 38, 87, 142Galtung, Johan 281Garn, Edwin J. 38Garwin, Richard L. 176Gaulle, Charles de 59Gavin, James 38, 174Gazenko, Oleg G. 241Gelb, Leslie 38, 56Geng Biao 272Ghandi, Indira 261Gilpin, Robert 196Giscard d'Estaing, Valéry 294Goldman, Marshall 213Goldwater, Barry 89Gorki, Maxim 245Gramsci, Antonio 340Gromyko, Andrej 104, 107, 169Groschkow, Sergej 176

Haig, Alexander 328Hall, Gus 38Hammer, Armand 69Harriman, Averell 38, 70Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 116Helms, Richard 143Hemingway, Ernest 245Hiss, Alger 90, 97Hitler, Adolf 41, 139, 239, 332Hoffman, Stanley 38, 47Holmes, Oliver Wendell 319Hoover, J. Edgar 236Hough, Jerry 242Humphrey, Hubert 90, 247Huntington, Samuel 197, 210f.

Jackson, Henry M. 58, 106, 194, 256, 262Johnson, Lyndon B. 19, 20, 88, 154, 236, 293Johnson, Samuel 17Jordan, Vernon 237

Kahn, Herman 175Kaplan, Fred 169Karmal, Babrak 310ff.Kaufman, Henry 150Kaufmann, William W. 176Keegan, George 173Keita, Modibo 110

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Kendall, Don 38Kennan, George 38, 144, 242Kennedy, Edward 19, 38, 248Kennedy, John F. 82, 93f., 130, 142, 290, 303King, Martin Luther 237Kintner, William 38Kirillin, Wladimir 211Kissinger, Henry 14, 19, 81, 89, 96f., 101, 103, 108ff., 130, 135ff., 263f., 268f.,286Kistiakowsky, George 120, 143, 176Kolchak, Alexander W. 67Kraft, Joseph 236Kreisky, Bruno 23

Laird, Melvin 124LaRocque, Gene 38, 174Laqueur, Walter 242f.LeMay, Curtis 124Lenin, Wladimir I. 17, 33, 68ff., 207, 281Lincoln, Abraham 66Litwinow, Maxim Maximowitsch 44f., 226Lodal, Ian 176Lodge, Henry Cabot 78Luns, Joseph 122, 146

Mao Tse Tung 33, 265, 267, 271Martens, L. 69Marx, Karl 207, 215Mathias, Charles 207, 248McCarthy, Eugene 89, 232, 262, 321McHenry, Donald F. 107McNamara, Robert 128, 279Metternich, Klemens von 263Metzger, Robert 165Miller George 174Mondale, Walter 38Monroe, James 303Mossadegh, Mahammed 91Muskie, Edmund 38, 169Myrdal, Gunnar 49

Nehru, Jawaharlal 110, 261Nitze, Paul 58, 122, 145f.Nixon, Richard 20, 36, 48, 86ff., 90, 95ff., 110ff., 137, 176, 236, 260, 268f.,329Nkrumah, Kwame 110Novak, Robert 144Nunn, Sam 248

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Oates, Joyce Carol 245Okita, Saburo 279Orwell, George 41

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Panofsky, Wolfgang 176Percy, Charles 338Perry, William 144, 272Pilsbury, Michael 268Pipes, Richard 58, 122, 242Plato 340Poe, Edgar Allen 245Pol Pot 51, 317Ponomarew, Boris 250Power, Jonathan 125Powers, Gary 81Pranger, Robert 38

Rathjens, George 176Reagan, Ronald 31, 105, 109, 150, 155, 162f., 172, 182, 185, 198, 273, 324ff.,328Reed, John 67Reston, James (Scotty) 100Reuther, Victor 72Reuther, Walter 72Ribicoff, Abraham 247Robbins, Raymond 69Rockefeller, David 38, 277Rockefeller, Nelson 101Rodgers, Bernard 172Rodriguez, Carlos R. 301f.Roosevelt, Franklin D. 41, 73f., 76, 92f., 226, 303Rosenfeld, Stephan 118Rostow, Eugene 83f.Rusk, Dean 82Russell, Richard 19

Sacharow, Andrej 100, 255f.Salinger, J.D. 245Schlesinger, James 99, 128, 262Schmidt, Helmut 164, 169, 284, 294Schtscharanski, Anatoli 194, 198Scott, Hugh 247Scoville, Herbert 176Scowcroft, Brent 174Semjonow, Ataman 67Semjonow, Nikolai 334Senghaas, Dieter 335Sforza, Carlo 280Sheehy, Gail 130Shulman, Marshall 38Sihanuk, Norodom 52

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Sinclair, Upton 245Skinner, B.F. 24Snepp, Frank 237Solschenizyn, Alexander 245, 255Stalin, Josef 239, 242, 260Stimson, Henry 76Strauß, Franz Josef 262, 292Suarez, Adolfo 294Sulzberger, C.L. 74Sukarno, Achmed 110Symington, Stuart 207

Talleyrand, Charles Maurice 263Tanaka, Kakuei 279Taraki, Noor Muhammad 311ff.Taylor, Maxwell 150, 174Teller, Edward 162f.Thomas, Parnell 321Thornton, Tex 38Tolstoi, Leo 245Toon, Malcolm 26Tower, John G. 38Toynbee, Arnold 215Truman, Harry S. 76, 93, 140, 187Tschechow, Anton 245Tschitscherin, Georgij 70Twain, Mark 245

Ulam, Adam 242Updike, John 245Ustinow, Dmitri 125

Vance, Cyrus 38, 100f., 104, 107Vandenberg, Arthur 140Vanik, Charles 38, 106, 194Volcker, Paul 220Vonnegut, Kurt, jr. 245

Warnke, Paul 150Watanabe, Takashi 279Watson, Thomas J., jr. 144Wiesner, Jerome 18, 131, 176Williams, Tennessee 245Winston, Henry 38Wise, David 236Wohlstetter, Albert 169

York, Herbert 130, 176

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Zumwalt, Elmo R., jr. 176, 178

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