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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Der Euro und die Schuldenkrise in Europa Heft 63 2012

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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA

Der Euro und die Schuldenkrise in Europa

Heft 63 – 2012

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DEUTSCHLAND & EUROPA

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,Geographie, Kunst und Wirtschaft

USA, China und die EU – Systeme und ihre Zukunftsfähigkeit

THEMA IM FOLGEHEFT 64 (NOVEMBER 2012)

HEFT 63–2012

»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben.

DIREKTOR DER LANDESZENTRALELothar Frick

REDAKTIONJürgen Kalb, [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected]

BEIRATGünter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, StuttgartRenzo Costantino, Studiendirektor, Ministerium für Kultus, Jugend und SportProf. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität KonstanzDietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., FilderstadtLothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi-nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen /NeckarDr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studien haus WiesneckDr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bon-hoeffer-Gymnasium WertheimLothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische BildungJürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politi-sche Bildung

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77

SATZSchwabenverlag Media der Schwabenverlag AGSenefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-RuitTelefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179

DRUCKSüddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH89079 Ulm

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EURJahresbezugspreis: 6,– EURAuflage 20.000

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wie-der. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.

Griechische Euromünze auf einem Foto der Akropolis in Athen. Nach monatelangen Debatten einigte sich die »Troika« aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und inter-nationalem Währungsfonds Ende Februar 2012 mit der griechischen Regierung unter Lukas Papademus. Das Paket besteht aus neuen öffentlichen Krediten von 130 Milliarden Euro, die zu den im ersten Paket vom Mai 2010 beschlossenen 110 Milliarden Euro hinzukommen. Die aus dem ersten Programm noch nicht ausgezahlten rund 35 Milliarden Euro werden in das neue Programm überführt, so dass Athen insgesamt weitere 165 Milliarden Euro zur Verfü-gung stehen. Wie bisher wird sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligen. Den europäischen Beitrag finanzieren der Euro-Krisenfonds EFSF und dessen Nachfolger ESM. Private Gläubiger verzichten auf Forderungen von rund 107 Milliarden Euro, was einem Schuldenerlass von rund 70% entspricht. Der griechische Ministe rpräsident Lukas Papademos sprach von einem »historischen Tag«. Die Erfüllung der drastischen Bedingungen für die Kre-dite erfordere aber noch viel Arbeit. Auch der Vorsitzende der Eurogruppe, der luxemburgi-sche Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, sagte, das Hilfspaket gebe Griechenland Zeit für strukturelle Reformen. © Federico Gambarini, picture alliance, dpa, 20.6.2011

Europawoche vom 2.–14. Mai 2012• 4.5.2012: Europa in Stuttgart, Marktplatz, 13.00–18:30

Diskussionen mit EU-Kommissar Günther H. Oettinger, dem Europa minister Baden-Württembergs Peter Friedrich, dem Ober-bürgermeister der Stadt Stuttgart Dr. Wolfgang Schuster, MdEP Heide Rühle, MdEP Michael Theurer, MdEP Rainer Wieland, u. a.

Rahmenprogramm mit zahlreichen musikalischen und kulturellen Präsentationen sowie Infoständen zur Europäischen Union

• 11.5.–12.5.: Fachkongress »Europa im Unterricht. Perspektiven eines modernen Europaunterrichts« im Stuttgarter Rathaus (ausführlich S. 78–79)

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Der Euro und die Schuldenkrise in EuropaVorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

DIE SCHULDENKRISE IN EUROPA

1. Von der Staatsschuldenkrise zur politischen Krise in der Europäischen Union? Jürgen Kalb 3

2. Die »Euro-Krise« – Motor oder Sprengsatz für die europäische Integration? Rolf Caesar 10

3. Von Krise zu Krise: Die Euro-Krise in einer ökonomisch und politisch hochintegrierten Region Hans-Jürgen Bieling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

4. Ist der Euro noch zu retten? Dirk Wentzel | Hanno Beck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

5. Staaten im Süden der EU: Wirtschaftsgeographische Grundlagen, Probleme und Chancen Horst-Günter Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

6. Konsens und Konflikt: Krisenpolitik in Großbritannien und Irland Georg Weinmann . . . . . 46

7. Die Macht der internationalen Finanzmärkte in der Diskussion Hanno Beck | Dirk Wentzel 54

8. Die Vorgeschichte des Euro und der Vertrag von Maastricht Eberhard Keil . . . . . . . . . . 62

9. Das Bundesverfassungsgericht im System des Europäischen Unionsrechts Martin Seidel . . 70

Glossar zum Euro und der Schuldenkrise Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

»Europa in der Schule« – Perspektiven eines modernen Europaunterrichts: Kongress im Stuttgarter Rathaus 11.5.–12.5.2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

D&E Autorinnen und Autoren – Heft 63 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

»E-learning-Kurse für Europa« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

D&E

Inhalt I n h a l t

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I n h a l tHeft 63 · 2012

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Lothar Frick Jürgen Kalb, LpB,Direktor der Landeszentrale Chefredakteur vonfür politische Bildung »Deutschland & Europa«in Baden-Württemberg

Renzo CostantinoMinisterium für Kultus, Jugend und Sportin Baden-Württemberg

Die aktuelle »Staatsschuldenkrise« wichtiger Euroländer schärft die Aufmerksamkeit für Europa. Die Lösung der aktuellen Krise erfordert dabei weitreichende wirtschafts- und gesellschaftspoli-tische Entscheidungen in der EU und in den Mitgliedstaaten. An-dererseits fragen viele angesichts der Risiken und Lasten der Euro-Rettungs-Programme in Milliardenhöhe nach dem Sinn und Wert der europäischen Integration. Es scheint, als ob eine wach-sende Zahl von Menschen sich in den vermeintlichen Schutz einer nationalstaatlichen Idylle zurück träumen möchte. Längst ver-gessen geglaubte Stereotype über »den Griechen« oder »den Deutschen« tauchen europaweit in Schlagzeilen nicht nur der Boulevardmedien auf. In den Staatsschuldenländern äußern sich nationalistische Ausbrüche längst nicht überall in friedlichen Pro-testen. Das Scheitern des »europäischen Integrationsprojekts« erscheint nach Aussage des Präsidenten des europäischen Parlaments, Martin Schulz, plötzlich als ein realistisches Szenario. Die Europä-ische Union fordert erstmals in ihrer über sechzigjährigen Ge-schichte größere Anstrengungen und Opfer. Den Beteiligten in der EU wird klar, dass der Abbau der Schulden in den Mitglied-staaten harte Sparmaßnahmen und einschneidende Reformen zur Folge haben wird.Was ist den Beteiligten die europäische Einigung Wert? Welche Chancen bietet die EU ihren Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber auch ihrer Jugend? Wohin steuert die Europäische Union? Die enormen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Vorteile der europäischen Einigung sehen, heißt aber nicht, nicht auch einen scharfen Blick auf deren Mängel zu werfen. Auch wenn schnelle Entscheidungen ökonomisch notwendig er-scheinen, muss Unmut entstehen, wenn auf einsamen »Strand-spaziergängen« einflussreicher Staatenlenker grundlegende Vor-entscheidungen über die EU getroffen werden, die möglicherweise das Haushaltsrecht der Parlamente unterlaufen. Zudem entsteht nicht nur in stark überschuldeten Ländern der Eindruck, es mangle an einer sozial gerechten Verteilung der Lasten in und zwischen den Mitgliedstaaten. Damit diese Diskussion öffentlich und auch in unseren Schulen geführt werden kann, hat sich die vorliegende Ausgabe von Deutschland & Europa zum Ziel gesetzt, unterschiedliche und bewusst gegensätzliche Positionen vorzu-stellen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine vergleichbare Krisendis-kussion, die zeitgleich Europa, Amerika und Japan betrifft. Die Probleme der großen Wirtschaftsmächte des vorigen Jahrhun-derts mindern den politischen Einfluss der betroffenen Staaten und bedrohen die globale Konjunktur. In den USA besteht die Be-fürchtung, dass die Schuldenproblematik die Inflation weiter in die Höhe treibt, während in Europa der Bestand der Gemein-schaftswährung zum Dauerbrenner politischer Diskussionen avancierte. Um die ökonomische Stabilität der Welt zu erhalten, ist ein ge-meinsames und koordiniertes Handeln der Regierungen erfor-derlich. Die Staats- und Regierungschefs der Euroländer haben mittlerweile mehrere Rettungspakete für den Euro geschnürt, deren Wirksamkeit in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert wird.

Für den schulischen Unterricht bieten die aktuellen Diskussionen und politischen Lösungsbemühungen rund um den Euro und die Schuldenkrise in Europa interessante Themenfelder. Die wach-sende Komplexität wirtschaftlicher und politischer Strukturen und Prozesse lassen sich ideal aufzeigen und können zum besse-ren Verständnis der Interdependenzen zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beitragen.

Im Lichte der aktuellen Krise wird auch diskutiert, wie eine leis-tungsstarke Europäische Union idealerweise gestaltet sein muss, um die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft bewälti-gen zu können. Dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas zufolge kommt es nach Überwindung der gegenwärtigen Krise darauf an, die Verrechtlichung von Herrschaft nach demokratischen Verfah-ren an die Stelle von Problemlösungsmechanismen mit sinkender Legitimation zu setzen.

Zu den genannten und zahlreichen weiteren Aspekten finden sich in der vorliegenden Ausgabe von »Deutschland & Europa« fun-dierte Beiträge für eine differenzierte Befassung mit dem »Euro und der Schuldenkrise in Europa«. Das Heft will die Dimensionen der Krise aufzeigen und zum Nachdenken und Diskutieren darü-ber anregen, wie die Euroländer die Stabilität ihres Wirtschafts- und Währungssystems künftig besser organisieren können.

Geleitwort des Ministeriums

Vorwortdes Herausgebers

V o r w o r t & G e l e i t w o r t

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Heft 63 · 2012D&E

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DIE SCHULDENKRISE IN EUROPA

1. Von der Staatsschuldenkrise zur politi-schen Krise in der Europäischen Union?

JÜRGEN KALB

Die »Eurokrise« beherrscht seit geraumer Zeit die Schlagzeilen der internationalen Presse.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die damit ver-bundenen Gefahren mit ihrer Aussage »Stirbt der Euro, stirbt Europa« in eine griffige Formel ge-presst. Dabei hat sich der Außenwert des Euro im Vergleich zum US-Dollar seit seiner Einführung im Jahre 1999 zunächst sogar stark verbessert und sich dann im Wesentlichen stabil halten können (| Abb. 1 |, S. 10I). Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt spitzt deshalb in seiner Rede zur angeblichen Eurokrise auf dem SPD-Parteitag Ende 2011 seine Aussage dramatisch zu, wenn er sagt: »(…) Eine angebliche Krise des Euro ist leicht-fertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern.« (| M 1 |, S. 14). So sollte man ge-nauer, wie es im Moment übrigens auch dem offi-ziellen Sprachgebrauch der EU und der Bundesre-gierung entspricht, von einer »Staatsschuldenkrise im Euroraum« sprechen und hier – noch etwas prä-ziser – vor allem von der Staatsschuldenkrise der »PIIGS«-Staaten, also der Euro-Staaten Portugal, Irland, Ita-lien, Griechenland und Spanien. Die drei großen Ratingagen-turen (Fitch, Standard & Poor’s und Moody’s) haben 2012 auch insbesondere deren Staatsanleihen abgewertet, im Falle von Griechenland sogar auf »Ramsch-Niveau«, wie es in den Me-dien heißt. Andererseits sind nicht nur die Finanzmärkte in Sorge um die Entwicklungen in der Europäischen Union und die zukünftige Stabilität des Euro. Auch große Teile der Bür-ger innen und Bürger in der EU scheinen sich zunehmend vom Ziel einer immer weiter voranschreitenden europäischen Inte-gration abzuwenden. Nicht nur in Griechenland mehren sich derzeit deutlich antieuropäische und speziell antideutsche Stimmen. Auch in Finnland, Schweden, Österreich, den Nie-derlanden, in Frankreich oder in Ungarn erringen antieuropä-ische Parteien und Gruppierungen erstaunliche Wahlerfolge. Der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz sprach in seiner Antrittsrede davon, dass Europa derzeit »stürmische Zeiten« durchlebe, ja dass es sich hierbei um eine tiefgreifende Vertrauens- oder Legitimationskrise der euro-päischen Institutionen und der europäischen Idee handle: »Zum ersten Mal seit ihrer Gründung wird ein Scheitern der Europäi-schen Union zu einem realistischen Szenario.« (Martin Schulz, 18.1.2012)

Gibt es eine »Eurokrise«?

Die Rede von einer »Eurokrise« ist vor allem in Deutschland ver-bunden mit einer in der Gesellschaft nach wie vor vorhandenen D-Mark-Nostalgie, die trotz gegenteiliger statistischer Belege an der »Teuro-Legende« festhält. Dabei zeigt die Entwicklung der In-flationsrate im Euroraum keinen signifikanten Unterschied z. B. zur Zeit der D-Mark in der Bundesrepublik (I M 2 S. 68I). Beobach-tungen im Gastronomiebereich, in dem es tatsächlich mit der Umstellung auf den Euro in größerem Umfang Preiserhöhungen gegeben haben mag, werden unzulässig verallgemeinert. Nicht zuletzt die Boulevardpresse bläst gerne ins gleiche Horn, verbun-den mit der Mobilisierung von Ängsten, nach denen durch die

horrenden Staatsschulden in den Euro-Krisenstaaten die Erspar-nisse des deutschen Steuerzahlers wie schon bei den Währungs-reformen 1923 und 1948 im Kern gefährdet seien. Die Verantwort-lichen in den nationalen Regierungen und in Europa bemühen sich oft vergeblich, sachlich dagegen zu argumentieren.

Der europäische Binnenmarkt – eine Erfolgsstory

Unstrittig verfügt zunächst einmal der europäische Binnenmarkt über eine ganz erstaunliche Erfolgsgeschichte. Er stellt ein zwei-fellos originäres Projekt wirtschaftlicher Integration im Bereich von 27, bald 28 souveränen Nationalstaaten dar. Seine Anzie-hungskraft für Neumitglieder ist nach wie vor enorm. Die Ver-wirklichung der »vier Grundfreiheiten« in der Europäischen Union ist beispiellos: Hier gelten der unbeschränkte Handel mit Waren und Dienstleistungen, Kapitalverkehrsfreiheit inklusive Nieder-lassungsfreiheit sowie die nahezu schrankenlose Freizügigkeit der Arbeitnehmer.Dies bedeutet in erster Linie die Öffnung der nationalen Märkte gegenüber den Anbietern und Nachfragern der Partnerstaaten. Diese Idee ging erfolgreich davon aus, dass Integration vor allem durch den Abbau von Hindernissen bei allen grenzüberschreiten-den wirtschaftlichen Transaktionen erreicht werden kann und dass durch den zunehmenden Wettbewerb effizienz- und wachs-tumsfördernde Prozesse ausgelöst würden und auch tatsächlich wurden. Ziele dieser Integration sind dabei eine effizientere in-ternationale Arbeitsteilung, eine Ausdehnung der Absatzmärkte mit der damit verbundenen Massenproduktion, eine Förderung des technischen Fortschritts und der Produktivität sowie eine größere Produktvielfalt bei Waren und Dienstleistungen und mit großer Wahrscheinlichkeit zudem günstigere Preise für die Ver-braucher. Durch die freie Mobilität von Arbeit sollte schließlich auch dieser Produktionsfaktor dorthin wandern können, wo er am effizientesten genutzt werden kann. Migrationsprozesse sind damit in der EU eine konsequente Folge des Binnenmarkts und letztlich politisch gewollt. Eine weitergehende Stufe der Integration und für viele die logi-sche Konsequenz sollte dann eine Wirtschafts- und Währungs-

Abb. 1 »Der Gladiator in der Arena … « © Oliver Schopf, 16.1.2012

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Von der Sta atsschuldenkrise zur politischen Krise in der Europäischen Union?Heft 63 · 2012D&E

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union von derzeit 17 Euro-Staaten werden. Und tatsächlich entfielen seit 1999 durch den Euro die Wechselkursrisiken für Exporte in die Euroländer. Die Einführung der gemein-samen Währung erhöhte zudem schlagartig für die Konsumenten und Produzenten die Preistransparenz und senkte die Transakti-onskosten bei Geschäften innerhalb der ge-meinsamen Währungszone. Gleichzeitig er-höhte sich der Preiswettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt. Nach Schätzun-gen der Deutschen Bundesbank im Jahre 2012 hat der deutsche Außenhandel mit den anderen Euro-Staaten seit der Wechselkurs-fixierung jährlich mindestens um 5 Prozent zugenommen, wenngleich allerdings der Handel mit außereuropäischen Nationen sogar um 6,5 % zunahm. Besonders bei lang-fristigen Investitionsentscheidungen entfie-len durch den Euro die Kosten für eine sonst nötige Absicherung gegen Wechselkurs-schwankungen. Außerdem wird nicht nur von der Seite der Bundesregierung, sondern auch von zahlreichen Industrieverbänden immer wieder betont, dass doch insbesondere Deutschland enorm davon profitiere, dass der Euro in den vergangenen Jahren nicht so stark aufgewertet werden musste, wie es die D-Mark vermutlich getan hätte. Insge-samt führte dies dazu, dass deutsche Unternehmen ihre Güter auf dem Binnenmarkt, aber auch auf den Weltmärkten billiger anbieten konnten. Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unter-nehmen sei also auch durch den Euro enorm gestärkt worden. Nach Angaben der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bringe der Euro Deutschland einen Wohlstandsgewinn von jährlich bis zu 30 Milliarden Euro. Und in den vergangenen zwei Jahren (2010–11) habe die Mitgliedschaft in der Währungsunion der deutschen Volkswirtschaft sogar einen Gewinn von 50 bis 60 Milliarden Euro beschert, ließ jüngst der Chefvolkswirt der Bank, Norbert Irsch, in der «Frankfurter Rundschau» (20.1.2012) verlau-ten. Zu den eindeutigen Gewinnern zählen insbesondere die Indust-riezweige, die sich auf erfolgreiche Exportgüter spezialisi ert haben und die nach wie vor ihren Firmensitz in der Bundesrepub-lik haben. Dazu gehören insbesondere die (deutsche) Automobil-,

Maschinen- und Werkzeugindustrie, aber auch z. B. die Pharma- und Chemiebranche.Kritiker des gemeinsamen Währungsraumes verweisen dabei da-rauf, dass man den erfolgreichen Binnenmarkt nicht mit dem ge-meinsamen Währungsraum vergleichen könne. Insbesondere Volkswirtschaften, deren Industrieproduktion nicht so konkur-renzfähig sei – wie z. B. in Griechenland –, könnten durch die feh-lende Möglichkeit einer Währungsabwertung nunmehr schwer auf dem Weltmarkt Tritt fassen.Zudem werde bei Argumentationen für den Euro zumeist unter-schlagen, dass eine mögliche Aufwertung (z. B. einer D-Mark) auch importierte Vorleistungen verbilligen würden. Immerhin be-stünden deutsche Exporte zu rund 40 Prozent aus solchen Vor-leistungen. Außerdem werde verschwiegen, dass eine Aufwer-tung deutliche Vorteile für die hiesigen Konsumenten mit sich brächte. Diese würden davon profitieren, dass importierte Kon-sumgüter oder Dienstleistungen (auch zum Beispiel Urlaubsrei-sen) günstiger würden. Diese Vorteile für Konsumenten durch billigere Importe und eine größere Produktvielfalt seien im Übri-gen zentrale Begründungen der volkswirtschaftlichen Theorien

für die Vorteilhaftigkeit inter-nationalen Handels.

Ist die »Eurokrise« eine »Staatsschulden-krise«?

Ist die »Eurokrise« nun tat-sächlich vor allem eine Staatsschuldenkrise der PI-IGS-Eurostaaten? Die Ökono-men Rolf Caesar sowie Dirk Wentzel und Hanno Beck legen dazu in dieser Ausgabe von D&E weiterführende Un-tersuchungen vor. Professor Rolf Caesar geht in seinem Beitrag »Die »Euro-Krise« – Motor oder Sprengsatz für die europäische Integration?« der These nach, ob Deutschland durch die gemeinsame Wäh-rung Gefahr laufe, quasi in eine Transferunion gezwun-gen zu werden, die die im

Sorgenkinder der EurozoneAngaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)

Portugal Irland GriechenlandItalien Spanienzum Vergleich:Deutschland

2011 und 2012 geschätzt Quelle: Eurostat, EU-Kommission

-9,8

2010 2011 2012 2010 2011 2012 2010 2011 2012 2010 2011 2012 2010 2011 2012 2010 2011 2012

-5,8 -4,5

-31,3

93,393,393,3101,6101,6101,6

111,0111,0111,0

94,994,994,9108,1108,1108,1

117,5117,5117,5 118,4118,4118,4 120,5120,5120,5 120,5120,5120,5

144,9144,9144,9

162,8162,8162,8

198,3198,3

61,061,061,069,669,669,6 73,873,873,8

83,283,283,2 81,781,781,7 81,281,281,2

-10,3-8,6

-4,6 -4,0-2,3

-10,6-8,9

-7,0-9,3

-6,6 -5,9 -4,3-1,3 -1,0

© Globus

Haushaltsdefizit

Schuldenstand

4621

Abb. 2 »Die PIIGS-Staaten: Sorgenkinder der Eurozone« © dpa Infografik, 2011

Abb. 3 »Griechenland, sparen!« © Gerhard Mester, 2012

Von der Sta atsschuldenkrise zur politischen Krise in der Europäischen Union?

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Heft 63 · 2012

JÜRG

EN K

ALB

D&E

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»Maastrichter Vertrag« vereinbarte »No bail-out«-Klausel, d. h. das Verbot der Übernahme der Schulden anderer Mitgliedstaaten, außer Kraft zu setzen drohe. Ganz ähnlich argumentieren auch die beiden Pforzheimer Ökonomie-Professoren Dirk Wentzel und Hanno Beck in ihrem Beitrag: »Ist der Euro noch zu retten?«. Selbst der Austritt eines Eurolandes – z. B. Griechenlands – aus dem gemeinsamen Währungsverbund, so ihre Argumentation, dürfe dabei kein Tabu sein. Ihre These lautet, dass mit Sparpake-ten, Schuldenbremsen oder EU-Haushalts-aufsichten allein der Euro nicht zu retten sei. Und tatsächlich: Über Jahre hinweg haben nahezu alle Staaten, auch in der Eurozone, mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. In der Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise (D&E Heft 59, 2010) der Jahre 2008ff, in denen weltweit milliar den-schwere Rettungspakte für (systemische) Banken und zur Ankurbelung der Wirtschaft aufgelegt werden mussten, hatte sich die Staatsverschuldung weiter dramatisch ver-schärft. Besonders augenfällig wurde dies in der Folge bei den »Sorgen-kindern der Eurozone« (| Abb. 2 |), neben Griechenland auch das ökonomisch wesentlich stärkere Italien, wo sich die Staatsschuld auch auf mehr als 120,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ange-häuft hat. Ökonomen halten schon einen Wert von über 80 % für langfristig nicht tragbar. Deshalb wird diesen Ländern dringend empfohlen, möglichst rasch ihre Schuldenberge abzutragen und zumindest in der Eurozone eine institutionell verankerte »Schul-denbremse« nach deutschen Vorbild, wo diese inzwischen im Grundgesetz verankert ist, zu etablieren. Eine konkrete Umset-zung erfolgte auf europäischer Ebene schließlich im sog. »Fiskal-pakt«, dem immerhin 25 der 27 EU-Mitgliedern (Ausnahmen Großbritannien und Tschechien) auf europäischer Ebene (im Rat) zustimmten. Ihre nationale Umsetzung in den Länderparlamen-ten steht jedoch noch weitgehend aus.

Problem: Ausgabenseite

Bei den tieferen Ursachen der Staatsschuldenkrise muss zunächst zwischen der Ausgaben- und der Einnahmeseite unterschieden werden. Gerade bei den aktuellen Diskussionen um die Bedingungen für weitere Milliardenkredite als Rettungsschirm für Griechenland durch die sogenannten »Troika« (Europäische Kommission, Euro-päische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) zeigt sich, wie schwer sich krisengeschüttelte Staaten bei der Umset-zung nachhaltiger Programme zur Schuldensanierung tun. So verlangt die »Troika« in Griechenland nicht nur massive Lohn-senkungen, Rentenkürzungen, den Abbau von 150.000 Staatsbe-diensteten bis 2015, die Privatisierung von Staatsunternehmen, etc., sondern auch die Garantie der jetzigen Regierung und des Parlaments, dass auch nach Neuwahlen an den vereinbarten Kür-zungen festgehalten werde. Umfragen in Griechenland zeigen, dass die Parteienlandschaft längst erodiert und radikale Grup-pierungen massiv Zulauf bekommen. Gewalteskalationen auf Athens Straßen verschärften die Konflikte weiter.Aber nicht nur in den Krisenstaaten, auch in der Bundesrepublik mehren sich kritische Stimmen, wenn etwa ein »Fiskalpakt«, der zu einer »Stabilitätsunion« (Schäuble) führen solle, von Brüssel aus (Rat, Kommission, EU-Parlament) »verordnet« würde. Die na-tionalen Parlamente fürchten nahezu überall den Verlust ihrer Souveränität, vor allem wenn dabei sogar ihr »Königsrecht«, die Etathoheit, tangiert wäre. Martin Seidel hat in seinem Beitrag

»Das Bundesverfassungsgericht im System des Europäischen Unions-recht« aus juristischer Sicht dazu interessante Details dargelegt. Dies zeigt erneut die Komplexität – auch aufgrund des wieder-kehrenden Kompetenzgerangels im System der »Subsidiarität« des Lissaboner Vertrags – im europäischen Mehrebenensystem. Zu befürchten ist, dass solche Prozesse einer europäischen und nationalen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln sind und sie die Entwicklung zur »Politikverdrossenheit« der Unionsbürgerin-nen und Unionsbürger weiter befördern könnten. Ein europä-ischer »Demos«, von manchen ersehnt, von anderen gefürchtet, scheint noch in weiter Ferne. Wütende Demonstrationen in zahl-reichen EU-Mitgliedstaaten zu Sparauflagen und nationalen Aus-teritätspolitiken (Sparprogrammen) legen beredtes Zeugnis davon ab.

Ist die Eurokrise im Grunde eine »Zahlungsbilanzkrise«?

Und wie sieht es mit der Einnahmeseite in den Krisenstaaten aus? Nicht nur in Griechenland wird beklagt, dass es dort kaum eine funktionierende Steuerverwaltung gebe, die es erreichen könnte, dass z. B. auch die Wohlhabenden und Vermögenden ihren qua Gesetz zu leistenden Steuersatz tatsächlich zahlten. Andererseits hat der Vorschlag des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, deutsche Finanzbeamte für den Aufbau einer effekti-ven Steuerverwaltung in Griechenland zur Verfügung zu stellen, im Land selber für helle Empörung gesorgt. Längst ist es nicht mehr nur die EU, sondern immer mehr Deutschland und seine Re-gierungschefin und ihr Finanzminister, die Ziel aggressiver Pro-teste geworden sind. Schon ist immer häufiger von »Fremdherr-schaft« die Rede, und zwar in einem Land, das im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt war. Aber auch aus Deutschland wird insbesondere über die hiesige Boulevardpresse heftiges Griechenland-Bashing betrieben: »Diese faulen Griechen!«, »Verschwendung unsere Steuergel-der!«. Dies sind noch die harmloseren Floskeln in einer sich immer emotionaler gerierenden publizistischen Auseinandersetzung. Die BILD-Zeitung und das Magazin FOCUS wurden bereits in Athen wegen der »Verunglimpfung griechischer Staatssymbole« angeklagt. Und immer wieder tauchen die Bundeskanzlerin und der deutsche Finanzminister in griechischen Zeitungen – reich-lich geschmacklos – als Fotocollagen in Nazi-Uniformen auf.Andererseits wird insbesondere in Deutschland und im Norden Europas häufig übersehen, welche Sparanstrengungen die letz-

Abb. 4 »Mon Dieu, wie hässlich! Unnatürlich! Krank!« © Gerhard Mester, 2012

Von der Sta atsschuldenkrise zur politischen Krise in der Europäischen Union?

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Heft 63 · 2012D&E

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ten beiden griechischen Regierungen bereits getroffen haben. Eine massive Anhebung der Mehrwehrtsteuer auf 21 % bzw. 23 %, massive Sparbeschlüsse und die Veröffentlichung von rund 4.000 griechischen Steuersündern durch die griechische Regierung tauchen in den deutschen Medien oft nur – wenn überhaupt – als Randnotizen auf. Wenig Informationen erhält man auch darüber, dass begüterte Griechen längst ihre Vermögen ins Ausland trans-feriert haben. Die Schlagzeilen über die »Eurokrise« und einen bevorstehenden möglichen »Staatsbankrott« in Griechenland haben diese Transfers zweifelsohne noch verschärft. Längst wird von dreistelligen Milliardensummen griechischen Vermögens al-lein in der Schweiz ausgegangen.

Problem: »Einnahmemisere«

Aber wie kann die chronische Einnahmemisere in den Krisenstaa-ten gelöst werden? Verordnete Spar- und Sanierungsprogramme scheinen die Situation zunächst nur zu verschärfen. Ohne Wirt-schaftswachstum konnte sich noch nie ein Staat aus einer Staats-schuldenkrise lösen. Und am relativ erfolgreichen Sanierungs-weg Irlands zeigt sich, dass sich die Krisenstaaten zwar zu einem drastischen Sparprogramme bei den Sozialausgaben durchrin-gen konnten, aber unbedingt an ihrer »flat-Tax«-Strategie bei der Unternehmensbesteuerung festhalten wollen. Die Probleme werden mittel- und langfristig noch dramatischer, betrachtet man die Entwicklung der Leistungsbilanz- bzw. Zah-lungsbilanzdefizite der Krisenländer. Nicht zufällig verfügen alle sog. PIIGS-Staaten über eine chronisch negative Leistungsbilanz. Professor Horst-Günter Wagner hat auch deshalb seinem Bei-trag: »Staaten im Süden der EU: Wirtschaftsgeographische Grundlagen, aktuelle Probleme und Chancen« am Beispiel von Italien, Spanien und Griechenland im Einzelnen aufgezeigt, welche tief greifende ökonomische Defizite diese Krisenländer aufweisen und wie schwer ihnen der Anschluss an den sich verschärfenden globalen Wettbewerb in den letzten Jahren gefallen ist. Insbesondere in den strukturschwachen Gebieten in den genannten Ländern scheinen die bisher bereits versuchten Strukturstärkungsmaß-nahmen wenig von Erfolg zu zeugen. Dabei wird am Beispiel Griechenlands besonders deutlich, wie schwer sich die internationalen Berater tun, wenn sie Griechen-land Ratschläge zur Verbesserung seiner Außenhandelsbilanz geben sollen: weiterer Ausbau der Touristikbranche, Aufbau einer wettbewerbsfähigen Solarindustrie, Stärkung der bestehenden Pharmaproduktpalette (»Generika«) sowie Ausbaus des mariti-men Transportsystems. Für die ebenfalls empfohlene Privatisie-rung von griechischen Staatsunternehmen (Hafen, Telekommu-nikation, Eisenbahn, etc.) fanden sich zudem bisher kaum Käufer, so dass sich sehr schnell auch die aktuellen Bedingungen, die als Voraussetzung für eine Sanierung gefordert werden, noch einmal als zu optimistisch erweisen könnten. Überzeugend wirken diese Strategien ohne größere Kapitalzufuhr ohnehin nicht. Eine Sanie-

rung der maroden Infrastruktur und Bildungssituation ver-schlänge zudem weitere Milliarden. Die Möglichkeiten der abermaligen Senkung der Löhne, Gehälter und der Lohnsonderzahlungen, die gerne noch in der deutschen Boulevardpresse mit Schlagzeilen wie: »Die Griechen gegen eine Streichung ihres 14. Monatsgehalts!«, angereichert werden, sto-ßen langsam an eine deutliche Grenze der Zumutbarkeit und ins-besondere der politischen Akzeptanz im Land. Die beängstigend ansteigende Arbeitslosenquote, vor allem diejenige der Jugendli-chen, bereitet bei überzeugten Europäern längst größte Besorg-nis. Solidaritätsdemonstrationen mit Griechenland in London, Paris und Berlin im Februar 2012 legen Zeugnis davon ab.Dabei bestreitet kaum jemand, dass grundlegende Strukturrefor-men in den Krisenländern dringend notwendig sind. Der reine Erhalt überkommener maroder Strukturen unter den herrschen-den korrupten Verhältnissen böte höchst kurzfristig eine Erleich-terung. Darin kann keine Alternative zum aktuellen Sparpro-gramm liegen.Um sich aber wieder dauerhaft selbst refinanzieren zu können, brauchen die Krisenländer eine verlässliche Perspektive. Am wei-testen reicht dabei das Modell eines »europäischen Marshall-plans« (| M 9 |, S. 45). In den unmittelbaren Nachkriegsjahren (1948–52) hatte die US-Regierung Westeuropa ein Wiederaufbau-programm, offiziell »European Recovery Program« genannt, in Milliardenhöhe finanziert, das insbesondere in der 1949 neu ge-gründeten Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) zu einem »Wirtschaftswunder« ohnegleichen führte.

»Modell Deutschland«?

Im Jahre 2012 gilt vielen die ökonomische Entwicklung in Deutsch-land als Vorbild. Nicht nur, dass sich vermutlich hierzulande im Unterschied zu vielen anderen EU-Mitgliedstaaten im Jahre 2012 noch keine Rezession einstellen wird; die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Produkte, ihre Qualität und der damit verbundene Service scheinen auf dem Weltmarkt nach wie vor unerreicht. Nicht zuletzt in den Schwellenländern mit ihren enormen Wachs-tumsraten erfreuen sich die deutsche Exportschlager einer unge-brochenen Nachfrage. Zudem entwickelte sich die Lohnquote in Deutschland im Vergleich zu vielen Euro-Krisenstaaten nur sehr moderat. Die Lohnzurückhaltung der deutschen Gewerkschaften war sicher auch ein wesentlicher Teil des deutschen Exporterfolgs im vergangenen Jahrzehnt. Deshalb wurde bis vor kurzem der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy nicht müde, die in Deutschland unter einer rot-grünen Bundesregierung begonnenen inneren Arbeitsmarktre-formen (Agenda 2010, Rente mit 67, Hartz IV-Reform, etc.) als Vorbild für ganz Europa und speziell Frankreich auszuloben. Gleichzeitig wachsen in Europa aber auch Stimmen, die in den enormen Handelsüberschüssen Deutschlands mit eine Ursache für die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der jeweils heimischen Produkte sehen. Wenig bemerkt von der Öffentlichkeit hat Brüs-

Abb. 5 »Man kauft deutsch!« © Süddeutsche Zeitung, 7.1.2012, S. 26/27

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sel Ende 2011 ein Gesetzespaket zur früheren Erkennung wirtschaftlicher Ungleichge-wichte beschlossen – als Teil der sogenann-ten »Sixpack-Verordnungen«. Nach dieser Verordnung können in Zukunft EU-Staaten mit Sanktionen belegt werden, wenn sie zu hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufwei-sen, Länder also, die mehr exportieren als importieren. In einer Begründung des EU-Parlaments hierzu heißt es, »dass auch Länder wie Deutschland oder die Niederlande der Grund für Instabilität in Europa sein können«. Ab einem Leistungsbilanzüberschuss von sechs Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts drohen nun-mehr Sanktionen. Noch hatte die Bundesre-gierung verhindern können, dass die Grenze bei 4 %, wie ursprünglich geplant, liegen solle. Allerdings will die Mehrheit der Europa-parlamentarier die neuen Regeln gegen Deutschland auch tatsächlich rasch ange-wendet sehen. Der deutsche Präsident des »Verbandes der Automobilindustrie« Mat-thias Wissmann reagierte bereits erregt: »Berlin müsste alarmiert sein, angesichts der in-dustriepolitischen Giftspritzen, die Brüssel gerade aufgezogen hat. (…) Deutschland darf für (seine) Erfolge nicht gemaßregelt werden. Denn an-dere Länder haben es zu lange an der notwendigen Stabilitätskultur man-geln lassen. Der Ausweg aus ihrem Dilemma kann nur die Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit sein. Dieser Weg ist lang und steinig, er führt auch über Lohnzurückhaltung, Konsumverzicht und Konsolidierung.« (FAZ, 22.12.2011, S. 10).Das müssen die anderen EU-Mitglieder aber noch lange nicht auch so sehen. Europäische Kritiker sprechen gar davon, dass Deutschland sich nicht nur durch die gemeinsame Währung Wettbewerbsvorteile verschaffe, sondern auch sehenden Auges und gezielt Produkte an überschuldete Kunden verkaufe und diese damit immer tiefer in die Schuldenfalle treibe. Wenn letzte-res Argument sicher auch übertrieben sein mag, der Druck inner-halb der EU auf Deutschland als Exportvizeweltmeister wächst. Und in die EU werden nach wie vor die meisten Produkte des deutschen Exports geliefert. Implizit wird in der Diskussion in Deutschland dabei stets unter-stellt, zunehmende Exportüberschüsse seien uneingeschränkt ein ökonomischer Gewinn für Deutschland als Ganzes. Dabei wird oft vergessen, dass sich Exportüberschüsse durchaus auch als zweischneidig erweisen können. Wenn eine Volkswirtschaft mehr exportiert als importiert, legt sie faktisch Ersparnisse im Ausland an. Im umgekehrten Fall verschuldet sie sich im Ausland. Volks-wirtschaften mit Export- und Importüberschüssen stehen sich somit wie Gläubiger und Schuldner gegenüber. Zudem kann der Aufbau von Auslandsersparnissen dazu führen, dass Kapital im Inland fehlt. Anstatt die Ersparnis hiesigen Unternehmen für In-vestitionen zur Verfügung zu stellen, fließt es an ausländische Regierungen, Konsumenten oder Betriebe. Die deutschen Ex-portüberschüsse führen also dazu, dass weniger Kapital für In-vestitionen in Deutschland zur Verfügung steht.Die Vorwürfe an Deutschland aus der EU gehen im Übrigen noch weiter. Auch der aus Deutschland stammende EU-Kommissar Günther Oettinger wird auf seinen Vorträgen in Deutschland nicht müde, zu betonen, man müsse in der deutschen Öffentlich-keit stärker bedenken, wie sehr Deutschland, genauer die »Deut-schen Staatsanleihen«, gerade von der aktuellen Staatsschulden-krise profitierten. So schrieb die »Neue Züricher Zeitung« (NZZ) am 18.1.2012: »Ex-perten erklären den anhaltenden Ansturm auf kurzfristige deutsche Schuldtitel mit der Suche der Anleger nach ›sicheren Häfen‹, in denen Mit-tel in Zeiten der Krise »geparkt« werden können. Da sich die Banken ge-genseitig nicht über den Weg trauen, suchen sie verzweifelt nach anderen Möglichkeiten, ihre überschüssige Liquidität zu bunkern. (…) Vor Kurzem

nahmen Investoren sogar erstmals Negativzinsen in Kauf, um dem Bund für sechs Monate Geld leihen zu dürfen. Sie zahlten also gewissermaßen eine Sicherheitsgebühr, um ihre Mittel dort parken zu können, wo ein Zahlungsausfalls auf kurze Sicht als so gut wie ausgeschlossen gilt.«Allerdings ist trotz aller Euphorie in Deutschland Vorsicht gebo-ten: In dem Moment, in dem die Zinskosten steigen, trifft auch Deutschland die Schuldenbremse voll. Denn laut GG hat es sich ja nicht nur verpflichtet, keine neuen Schulden mehr zu machen. Es soll – wie alle Schuldenstaaten – in den kommenden 20 Jahren seine Gesamtverschuldung auf 60 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts (BIP) reduzieren. Im Moment profitiert die Bundesrepublik dagegen selbst von der relativen Schwäche des Euro. Für deut-sche Unternehmen ist der etwas sinkende Wechselkurs sogar eine Art Krisenpuffer. Einerseits sinkt durch die Krise in der Euro-Zone zwar dort die Nachfrage, was für deutsche Firmen schlecht ist: Immerhin gehen rund 40 Prozent ihrer Exporte in die Euro-Zone. Außerhalb des gemeinsamen Währungsraums aber werden deutsche Produkte durch die Euro-Schwäche immer günstiger und gewinnen so erneut an Wettbewerbsfähigkeit. Ob allerdings die global so erfolgreiche deutsche Exportindustrie tatsächlich ein Modell für die restliche EU sein kann, darf bezwei-felt werden. Nicht nur in Großbritannien, auch z. B. in Frankreich ist der industriell-produzierende Bereich in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der Markt für Industrieprodukte ist global dank der asiatischen Konkurrenz sehr eng geworden.Aber dass Deutschland eher von der Staatsschuldenkrise profi-tiert, darf denn doch als gesichert gelten. Es gibt in Europa sogar Pressestimmen, die behaupten, die europäische Lösung der Staatsschuldenkrise dauere auch deshalb so lange, weil Deutsch-land an einer raschen Einigung ökonomisch gar nicht interessiert sein könne.

Anhaltende »Bankenkrise« und die Spätfolgen der Finanzkrise

Welche Rolle spielen in der aktuellen Staatsschuldenkrise nun aber die Banken und die Finanzwirtschaft insgesamt? Waren es nicht zuletzt deren riskante Geschäfte, ihre für viele undurchsich-tigen Verbriefungen oder der enorm angestiegene Derivatehan-del, also die Termingeschäfte bzw. Wetten zur Absicherung von Marktrisiken, sei es über die Börse oder auch außerbörslich, die schließlich zum großen Börsencrash nach der Immobilienblase in den USA oder auch der Lehman-Brothers-Insolvenz führte? Rührte nicht daher die Weltwirtschaftskrise der Jahre 2009ff?

Erdrückende Zinslast für Staatsanleihen

Quelle: Bloomberg *k.A. für Irland

5 %

10 %

15 %

20 %

25 %

15722

Griechenland

Portugal

Deutschland

Spanien

Italien

8,02 %2.6.

21.11.4,91

2,66

4,25

4,4225,17

10,56

1,87

6,46

6,65

Entwicklung der Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen von Deutschland und den Euro-Sorgenkindern* in %

2010 2011

Abb. 6 Entwicklung der Zinsen für Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit © dpa Infografik, Dezember 2011

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Die Kreditwirtschaft fühlt sich hier ganz zu Unrecht an den Pran-ger gestellt. Nicht die Banken seien – nach Auffassung der Bran-che – für die gegenwärtige Krise verantwortlich, sondern in aller erster Linie die überschuldeten Staaten. Das Hauptproblem sei, dass Staatsanleihen nicht mehr als sichere Geldanlage gelten könnten. Für deren Kauf mussten Banken bisher keine Eigenkapi-talreserven vorweisen. Das Problem der Risiko behafteten Staats-anleihen werde aber nicht dadurch gelöst, dass die Politik den Banken nun höhere Eigenkapitalquoten abverlange und Auf-sichtsbehörden mit neuen Funktionen ausstatte (EBA – European Banking Authority). Stattdessen müssten die Krisenländer der Euro-Zone endlich ihre Haushaltsprobleme lösen und das Ver-trauen in die Solidität ihrer Finanzen wiederherstellen, argumen-tiert insbesondere die Finanzindustrie. Ausgangspunkt der Krise sind dagegen aus der Sicht zahlreicher Politiker auch die »Übertreibungen an den Finanzmärkten« (Schäuble): Wenn sich die dortigen Akteure mit ihren Spekulati-onsgeschäften nicht so weit von der Realwirtschaft entfernt hät-ten, wäre es nicht zu der Finanzkrise, dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, der Weltrezession 2009 und explodierenden Staatsschulden durch Konjunkturprogramme gekommen. Deren Kosten kämen schließlich zu den alten Schul-den noch hinzu. Um auch die Finanzmärkte an den Kosten, die den Staaten zu Lasten gelegt wurde, zu beteiligen, sollten zumin-dest Deutschland und Frankreich bzw. die Euro-Zone, am besten aber die ganze EU, eine »Finanztransaktionssteuer« (ehemals »Tobin-Tax«) mit einem Kleinststeuersatz durchsetzen.Bis heute bestehen bei Politikern und bei großen Teilen der Be-völkerung erhebliche Zweifel, ob die in der Folgezeit seit 2008 er-griffenen Maßnahmen tatsächlich zur Regulierung der internati-onalen Finanzmärkte ausreichten und ein neuerliches Ausbrechen einer globalen Finanzkrise verhindern könnten. Der Widerstand dagegen war und ist besonders in den USA und in Großbritannien ungebrochen groß. Dr. Georg Weinmann hat in seinem Beitrag »Konsens und Konflikt: Krisenpolitik in Großbritannien und Irland« aus diesem Grund einen intensiven Blick auf die »Londoner City«, aber auch das PIIGS-Land »Republik Irland« und seine Sanie-rungserfolge geworfen. Nicht nur von den Krisenstaaten drohen nämlich Angriffe auf eine Fortführung der europäischen Integra-tion, auch Großbritannien mausert sich unter dem konservativen Premierminister David Cameron immer mehr zu einem Protago-nisten, der die Europäische Union lieber bei einem »Common Market« beließe als es gar zu einem wie auch immer gearteten Bundesstaat fortzuschreiben. »Federal« hat in Großbritannien eine weitaus negativere Konnotation als z. B. in Deutschland, der »Federal Republik of Germany«.

Die Wirtschaftsprofessoren Hanno Beck und Dirk Wentzel stellen in ihrem Beitrag »Die Macht der internationalen Finanzmärkte in der Diskussion« zunächst die Notwendigkeiten, das Ausmaß und auch die Probleme der an den Börsen und außerbörslich gehandelten Finanzpapiere vor. Kontrastiert wird dies dann durch kritische Stimmen aus dem Kreis der »Occupy-Wallstreet-Bewegung«, aber auch in Form einer Stellungnahme von Tho-mas Straubhaar, Ökonomieprofessor in Hamburg und seit 2005 Direktor des Ham-burgischen Welt-Wirtschafts-Instituts (HWWI), der seine Position zu den Finanz-märkten heute weitaus kritischer definiert als vor der Lehman-Insolvenz. Der Korres-pondent der Stuttgarter Zeitung in Brüssel, Christopher Ziedler, sieht die EU erst am An-fang der Kontrolle der Fiskalmärkte. Zudem zeigen die Verflechtungen der Banken mit den Staatsanleihen verschiedener Eurostaa-ten, z. B. Griechenlands (| M 11 |, S. 45), dass es nicht immer nur um die mögliche Insol-

venz eines Staates, sondern auch um eventuelle massive Verluste von Banken und deren Anteilseigner bei der Griechenland-Hilfe gehe.

Ökonomische Krise und europäische Integration

Wenn auch die Ursachen für die horrenden Staatsschulden in den Krisen-Eurostaaten selbstverständlich nicht nur durch die Spät-folgen der globalen Finanzkrise erklärt werden dürfen, zeigt sich an der Diskussion über die Euro-Rettungsschirme, die Diskussion um »Eurobonds« oder die Fiskal- bzw. Wirtschaftsunion immer wieder von Neuem, wie eng politische Rahmenbedingungen mit den politisch gewollten liberalisierten Märkten innerhalb und au-ßerhalb der Europäischen Union zusammenhängen. Der Tübinger Professor für Politik, Wirtschaft und Wirtschaftsdi-daktik Dr. Hans-Jürgen Bieling hat in seinem Beitrag »Von Krise zu Krise: Die Euro-Krise in einer ökonomisch und politisch hochintegrierten Region« eine Einordnung der Triebkräfte, aber auch der hemmen-den Kräfte für eine weiter gehende europäische Einigung vorge-stellt. Dabei betont er auch die politische Ebene als gestalteri-sche Kraft, die trotz aller Rückschläge oftmals die Kraft hatte, neue Integrationsschritte zu wagen und die europäische Integra-tion voranzutreiben. Mit Jacques Delors, Janusz Lewandowski und Fritz W. Scharpf (| M 1 |, | M 3 |, | M 5 |, S. 22–25) werden im Mate-rialteil zu seinem Beitrag überzeugte Europäer vorgestellt, die weitgehend Bieling in seiner Argumentation unterstützen. Eberhard Keil, Geschichtsfachleiter am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart (Gymnasien), konnte zudem in seinem Beitrag »Die Vorgeschichte des Euro und der »Vertrag von Maastricht« aufzeigen, wie eng bereits bei der Vorgeschichte des Euro, weit zurückgehend vor den entscheidenden »Maast-richter Vertrag«, machtpolitische Erwägungen in Europa ökono-mische Strukturen erst geschaffen und ausgestaltet haben, im Übrigen nicht immer zugunsten aller Beteiligter.

Die Diskussion um die Demokratisierung der EU

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle hat die politische Bedeutung der »Eurorettung« mit dem treffenden Satz charakterisiert: »Es wäre fatal, wenn wir auf dem Weg zur Rettung des Euro und zu mehr Integration die Demokratie verlieren.« Und weiter heißt es in seinem Artikel in der FAZ: »Der demokratische Wahlakt ist in seiner Legitimationskraft unerreicht. In dem Prinzip, dass alle Stimmen gleich zählen, manifestiert sich das Ideal

Höhe der Auslandsforderungen von Banken aus... (in Mrd. US-Dollar)

Frankreich

3 266,3

671,6671,6671,6

56,956,956,928,328,328,330,130,130,1

146,1146,1146,1

410,2410,2410,2

Deutschland

23,823,823,8 38,938,938,9116,5116,5116,5

177,9177,9177,9

164,9164,9

3 087,3

522522522

Großbritannien

14,714,714,7 26,626,626,6136,6136,6136,6

100,8100,8100,8

68,968,968,9

4 097,6

347,6347,6347,6

übrigem Europa

32,532,532,5110,8110,8110,8

95,195,195,1

212,4212,4212,4

175,1175,1175,1

8 222,5

625,9625,9625,9

Insgesamt

an EU-Schuldenstaaten

davon an

Italien

GriechenlandPortugal

IrlandSpanien

Risikobehaftete Kredite

Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Sep. 2011 Stand: Ende März 201115501

Abb. 7 Risikobehaftete Kredite der europäischen Großbanken aus verschiedenen Ländern © dpa, 9/2011

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gleicher Freiheit und Würde. In Europa ist die Gleichheit der Wahl nicht gewährleistet.«Ziehen die einen daraus den Schluss, es müsse deshalb zu einer Renationalisierung in der EU kommen, fordern die andern eine konsequentere Stärkung der demokratische Legitimation der EU. So hat sich z. B. der baden-württembergische Europaminister Peter Friedrich in einer Rede in Stuttgart im Januar 2012 zu einer Stärkung des Europäi-schen Parlaments und der Europäischen Kommission bekannt: »Wir haben ein Legitima-tionsproblem der Institutionen des Euros und der Europäischen Union, das wird in der Staatsschul-den- und Finanzkrise besonders deutlich. Dem viel-fach angeführten fehlenden Vertrauen der Finanz-märkte steht ja eben kein Vertrauensüberschuss der Bürgerinnen und Bürger entgegen. Vielmehr geht das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungen der politischen Akteure Europas mit dem Misstrauen der Finanzmärkte in deren Hand-lungsfähigkeit einher.«So effektiv die Ergebnisse der in den Medien inszenierten Strandspaziergänge des französischen Staatspräsi-denten und der deutschen Bundeskanzlerin zur Implementierung einer Fiskalunion auch gewesen sein mögen, so beeindruckend das Volumen des neuen Griechenland-Rettungspakets aus dem Frühjahr 2012 mit seinen 130 Milliarden verbilligten Krediten und weiteren 100 Milliarden Schuldenerlass privater Gläubiger auch sein mag, die Methoden von »Merkozy« und der »Troika« können schwerlich, auch wenn sie der Geschichte der EU mit der »Me-thode Monnet« durchaus ähneln, die Frage der demokratischen Legitimierung von Entscheidungen innerhalb der EU ersetzen. Selbst auf die Gefahr hin, dass Rückschläge das »europäische Projekt« zurückwerfen könnten, weil die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger (noch) nicht bereit sind, zentrale Fragen auf euro-päischer Ebene entscheiden zu lassen, sollten doch deren Parla-mente, insbesondere das Europaparlament, stärker und früher in die europäische Entscheidungsfindung mit einbezogen werden. Zur Beteiligung des Bundetages sollte nicht immer das Bundes-verfassungsgericht angerufen werden müssen. Gleichzeitig darf allerdings die europäische Ebene in ihrer demo-kratischen Legitimierung nicht hinter dem Demokratiestandard etwa des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu-rückfallen. Das bedeutet andererseits auch, dass allen Bürgerin-nen und Bürgern der EU vergleichbare Chancen der politischen, aber auch der ökonomischen Beteiligung, etwa im Sinne des Er-werbs einer Ausbildung und der fairen Chance auf einen Arbeits-platz, ermöglicht werden müssen. Eine Jugendarbeitslosigkeit von nahezu 50 % in Griechenland oder Spanien kann auf Dauer sicher kein geeintes Europa befördern.Und noch immer gilt offiziell das Tabu der »No bail-out«-Klausel des Maastrichter Vertrags, das unverändert in den Lissaboner Vertrag übernommen wurde. Gleichzeitig beobachtet eine euro-päische Öffentlichkeit zunehmend, dass diese Formel längst nicht mehr der politischen Realität entspricht. Tagtäglich liest man in der Presse Meldungen, dass nunmehr die »Troika« Milliar-denkredite als Rettungsschirm für Griechenland zur Verfügung stellen wird, was letztlich auch der Bankenrettung in den Geber-ländern diene (| Abb. 7 |). In Zusammenhang mit den EU-Ret-tungsschirmen »ESM«, der Mitte 2012 den »EFSF« (vgl. Glossar S. 76f) ersetzen soll und dann fest etabliert wird, ist gar schon von einer Billiarde Euro die Rede. Die EZB kaufte zudem in Milliar-denumfang Staatsanleihen von EU-Schuldenstaaten auf. In mindestens 7 Mitgliedstaaten wechselten in Folge der »Staats-schuldenkrise in den Eurostaaten« 2010/11 die Regierungen, wobei in Italien und Griechenland sogenannte parteiübergrei-fende »Fachleute« an deren Spitze traten (| Abb. 8 |). Und immer mehr entstand dabei der Eindruck, dass die Impulse dazu in ers-

ter Linie von den Märkten, jedenfalls nicht von den Wählern und Wählerinnen stammten. Von einer Beteiligung des Europäischen Parlaments war in den Medien kaum die Rede. Die europäische Willens- und Meinungsbildung erscheint immer undurchschau-barer, sie als »demokratisch« zu charakterisieren, fällt immer schwerer. Dabei befinden wir uns längst faktisch in einer »Transferunion«, wenn sie auch insbesondere in Deutschland nicht so genannt werden darf. Hierzulande gehört es fast schon zum Ritual, sich davon zu distanzieren, vergessend, wie sehr gerade die Bundes-republik von der europäischen Einigung und dem Euro profitiert.Über das Ausmaß des Transfers, aber auch die Bedingungen für nachhaltige Strukturförderungen in der EU muss allerdings im demokratisch legitimierten Europaparlament – über die nationa-len Interessen hinweg – gestritten und gerungen werden. Eine eigene Einnahmequelle der EU, etwa durch die Einführung einer »Finanztransaktionssteuer« könnte dafür eine zusätzliche ökono-mische Basis liefern.Dann könnte auch die EZB ihre zentrale Aufgabe, nämlich für die Stabilität des Euro zu sorgen und zumindest in Krisenzeiten die Konjunktur zu beleben, wieder ehrlicher betonen, ohne als Not-helfer der Politik die »No bail-out-Klausel« zu unterlaufen.

Literaturhinweise

Bergmann, Jan (2012) (Hrsg.): Handlexikon der Europäischen Union. Nomos-Verlag. Baden-Baden. 4. Auflage

Friedrich, Peter (2012): Aktuelle Herausforderungen für Europa und Baden-Württemberg – wohin steuert die Europäische Union?? Rede des Ministers für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten Baden-Württembergs (unveröffentlichtes Manuskript 17.1.2012)

Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas. Edition Suhrkamp. Frankfurt/M.

Politische Bildung (4/2011): Staatsverschuldung. Wochenschau Verlag. Schwalbach/Ts.

Schirrmacher, Frank (2011): Demokratie ist Ramsch. FAZ, 2.11.2011, S. 29

Voßkuhle, Andreas (2012): Über die Demokratie in Europa. FAZ, 9.2.2012, S. 7

Abb. 8 Regierungswechsel in Euroschuldenstaaten 2010–2011 ©dpa Infografik, Dezember 2011

In diesen Ländern verloren Staats- und Regierungschefs bereits ihr Amt im Zuge der Krise

15640

Rollende Köpfe in der Euroschuldenkrise

Portugal Jun. 2011

Abwahl von Minister-präsident Sócrates

Irland Feb. 2010

Wahlniederlage vonPremierminister Cowennach Haushaltsloch

Slowenien Sep. 2011

Sturz von Regierungs-chef Pahor, Neuwahlenim Dezember

Griechenland Nov. 2011

Ministerpräsident Papandreoumacht Platz für Übergangsre-gierung unter Papademos

Italien Nov. 2011

Premier Berlusconi trittzurück, NachfolgerMonti kündigt umfas-sende Reformen an

Slowakei Okt. 2011

MinisterpräsidentinRadicovas verliertVertrauensfrage imStreit um Euro-Rettung

Spanien Nov. 2011

Vorgezogene Wahlen, Minister-präsident Zapatero verzichtetauf erneute Kandidatur

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Zuge der »Euro-Krise« insbesondere im Jahr 2011 deutlich nachge-geben, bewegt sich aber insgesamt weiter über dem langjährigen Durchschnitt und kann insgesamt als durchaus angemessen ein-gestuft werden. Von einer »Krise des Euro« kann insofern weder im Binnen- noch im Außenverhältnis ernsthaft die Rede sein.Tatsächlich sind die seit zwei Jahren zu beobachtenden krisenhaf-ten Zuspitzungen der Reflex zunehmender Zahlungsbilanzprob-leme und daraus folgender Liquiditätsprobleme in einzelnen Euro-Ländern, die aus einer leichtfertig betriebenen Politik for-cierter Staatsverschuldung während der ersten Dekade des Euro resultieren. Sie sind auch nicht die Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009; diese hat lediglich die wirtschaftspolitischen Verfehlungen der Krisenländer offenge-legt und z. T. verschärft. Es handelt sich also um hausgemachte Probleme, nicht um eine Krise der europäischen Währung als ganzer.

Das heißt freilich nicht, dass die Europäische Währungsunion mit diesen Problemen nicht zu tun hätte. Im Gegenteil hat die 1999 ein-geführte Einheitswährung maßgeblich zur Explosion der Staatsdefizite in den Peripheri-eländern beigetragen, weil sie eine Egalisie-rung der Zinsen bewirkt hat, die zu einer Fi-nanzierung von Staatsausgaben ›auf Pump‹ eingeladen hat. Zugleich hat die mit der Währungsunion verbundene unwiderrufliche Festschreibung der Wechselkurse den Euro-Länder das Instrument der Wechselkurs-änderung genommen, mit dem zuvor höhere Lohn- und Preissteigerungen in einzelnen Ländern kompensiert werden konnten. Auf diese zu befürchtenden Fehlanreize und Fehlentwicklungen hatten die Kritiker einer allzu frühen Einführung der Währungsunion vor allem aus dem akademischen Bereich be-reits frühzeitig 1992 (»Manifest der 60 Profes-soren«) und 1998 (»Der Euro kommt zu früh«) hingewiesen, sie waren aber seinerzeit als Europa-Gegner diskreditiert worden. Ihre da-

Seit zwei Jahren beherrscht die sogenannte »Euro-Krise« die politische Diskussion in Europa. Vielfach werden die

Finanzprobleme, die in Griechenland und mehreren anderen Mitgliedsländern der Euro-Zone (Irland, Portugal, Spanien, Italien) zu dramatischen Entwicklungen bis hin zu Regie-rungswechseln geführt haben, mit einer »Krise des Euro« gleichgesetzt. Damit verbunden werden öffentliche Beschwö-rungen wie beispielsweise von der deutschen Bundeskanzle-rin Angela Merkel: »Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa«. Damit wird wie selbstverständlich unterstellt, dass eine »Rettung des Euro« zum Erhalt der europäischen Integra-tion unabwendbar sei – »koste es, was es wolle«. Andere schimpfen, dass »alles Gerede und Geschreibe über eine an-gebliche Krise des Euro (…) leichtfertiges Geschwätz von Me-dien, von Journalisten und von Politikern« sei (Altbundeskanz-ler Helmut Schmidt, | M 1 |). Und den Luxemburger Premier Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Euro-Gruppe, macht es »wütend«, wenn er höre, »der Euro sei in der Krise«.

Die »Euro-Krise« – eine Krise des Euro?

In der Tat ist es unzutreffend und sogar irreführend, von einer »Krise des Euro« zu sprechen. Das wäre vertretbar, wenn der Euro entweder im Inneren oder im Außenverhältnis instabil wäre, d. h. wenn entweder die Binnen-Stabilität (= die Geldwertstabilität) oder die Außenstabilität (= der Wechselkurs gegenüber anderen wichtigen Währungen der Welt) ernsthaft gefährdet wäre. Von beidem kann aber keine Rede sein. (| Abb. 1 |) Die Inflationsrate im Euro-Raum ist zwar in letzter Zeit gestiegen, lag aber im zehn-jährigen Durchschnitt unter dem von der Europäischen Zentral-bank (EZB) als Preisniveaustabilität definierten Wert von zwei Prozent, und die EZB rechnet nach einer deutlich erhöhten Infla-tionsrate im Jahr 2011 bis Ende 2012 mit einem erneuten Rück-gang auf ca. zwei Prozent. Der Wechselkurs des Euro hat zwar im

DIE SCHULDENKRISE IN EUROPA

2. Die »Euro-Krise« – Motor oder Spreng-satz für die europäische Integration?

ROLF CAESAR

Abb. 1 Der Euro im Außenwert zum $ sowie seine Entwicklung an den Terminbörsen © FAZ, 6.1.2012, S. 20

Abb. 2 »Ausweg aus der Schuldenkrise?« © Gerhard Mester, 2011

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D&ED ie »Euro - K rise« – M o tor oder Sprengs at z f ür die europäis che Integr ation? Heft 63 · 2012

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maligen Sorgen sind durch die aktuelle Krisen nun im Kern bestä-tigt worden.

Die Politik der »Rettungsschirme« – ein Fortsetzungsroman ohne Ende

Im Mittelpunkt der Rettungsmaßnahmen steht seit zwei Jahren Griechenland. Nachdem der griechische Staatshaushalt im Feb-ruar/März 2010 erstmals unter EU-Kontrolle gestellt worden war, zeichnete sich bald ab, dass das Land auf eine internationale Zah-lungsunfähigkeit zusteuerte. Von nun an betrieb man in der EU eine Politik zunehmender Kredithilfen, mit denen die Insolvenz Griechenlands verhindert werden sollte. Das erste Rettungspaket für Griechenland vom Mai 2010 umfasste Kreditzusagen in Höhe von 110 Mrd. Euro. Gleichzeitig übertrug sich die Skepsis der in-ternationalen Finanzmärkte auf weitere Krisenländer (Irland, Portugal, dann auch Spanien sowie 2011 darüber hinaus auf Ita-lien und Belgien), die nur noch zu beträchtlich höheren Zinsen als zuvor Kredite zur Refinanzierung fälliger Schulden aufnehmen konnten; die Renditeunterschiede auf Staatsanleihen (»spreads«) weiteten sich enorm aus, was die Refinanzierungsbemühungen entsprechend verteuerte. Die Reaktionen der Politik bestanden zum einen in der Schaffung eines multilateralen Rettungsschirms, der »Europäischen Finanz-stabilisierungsfazilität« (EFSF), im Mai 2010 mit einem gewaltigen Garantievolumen von 440 Mrd. €, sowie eines zusätzlichen »Euro-päischen Finanzstabilisierungsmechanismus« (EFSM) in Höhe von 60 Mrd. €, der durch den EU-Haushalt besichert wird. Hinzu kam ein Beitrag des IWF in Höhe von 250 Mrd. €, sodass der ge-samte Rettungsschirm 750 Mrd. € umfasste. Zum anderen fasste die EZB im Mai 2010 einen Grundsatzbeschluss, Staatsanleihen kriselnder Länder ggfs. anzukaufen. Der Rettungsschirm des EFSF wurde dann im November 2010 erstmals von Irland sowie im Mai 2011 dann auch von Portugal in Anspruch genommen Im März 2011 wurde die Kreditvergabekapazität des EFSF im März erneut aufgestockt. Zudem wurde – in eindeutigem Widerspruch zu vor-hergegangenen Beteuerungen der politischen Akteure (Bundes-kanzlerin Angela Merkel im September 2010: »Eine einfache Ver-längerung solcher Fonds, wie wir sie jetzt haben, wird es mit Deutschland nicht geben«) – im März 2011 vereinbart, ab Mitte 2013 einen dauerhaften Krisenfonds in Form des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit einem Volumen von 700 Mrd. € einzurichten. Im Juli 2011 einigte man sich über ein zweites Ret-tungspaket für Griechenland in Höhe von 109 Mrd. € sowie eine weitere Erhöhung des EFSF-Garantievolumens auf 780 Mrd. Euro. Im Oktober 2011 folgte ein Beschluss, das Garantievolumen des EFSF durch eine »Hebelung« (d. h. eine Ausweitung des Rettungs-volumens) auf über 1000 Mrd. € zu erhöhen, und eine nochmalige Aufstockung des 2. Griechenland-Pakets auf 130 Mrd. Euro. Schließlich wurde im Dezember 2011 vereinbart, den ESM um ein Jahr auf Juli 2012 vorzuziehen; außerdem soll die Eurogruppe künftig über Hilfsaktionen des ESM nicht mehr einstimmig, son-dern mit einer qualifizierten Mehrheit entscheiden. Eine Beteili-gung privater Gläubiger bei einem eventuellen Schuldenschnitt ist nun nicht mehr vorgesehen. Gleichzeitig sollen die Mitglieds-länder einer strengeren Haushaltsaufsicht durch die EU unter-stellt werden.Neben der permanenten Ausweitung der »Rettungsschirme« wurde von der Europäischen Kommission, aber auch von den süd-lichen Mitgliedsländern der Eurozone (sowie auch von den USA und Großbritannien), wachsender Druck auf die EZB ausgeübt, nicht nur Staatsanleihen Griechenlands, sondern auch solche an-derer Krisenländer anzukaufen. Hatte die EZB derartige – nach Ansicht mancher Europa-Juristen vertragswidrige – Transaktio-nen zunächst seit Mai 2010 nur für griechische Anleihen getätigt (und dabei in fragwürdiger Weise mit »Störungen des geldpoliti-schen Transmissionsprozesses« begründet), so weitete sie die Käufe ab August 2011 auch auf italienische und spanische Staats-

papiere aus. Unter anderem von Frankreich erhobene Forderun-gen nach einer Zusage über einen unbegrenzten Ankauf für alle Euro-Länder hat die EZB bislang immerhin ebenso abgelehnt wie die Forderung nach einer Vergemeinschaftung von Schulden durch sogenannte »Euro-Bonds« mit gemeinschaftlicher Haf-tung; für die letzteren hat die Europäische Kommission bereits verschiedene Varianten präsentiert, die aber bislang am Wider-stand insbesondere Deutschlands gescheitert sind.

Die Rettungsschirme – ein Erfolg?

Die geschilderten Maßnahmen sind von Vertretern der Bundesre-gierung wie auch von Bankenvertretern gerne als notwendige Elemente einer Strategie zur »Rettung des Euro« und zur Verhin-derung eines Zusammenbruchs der Europäischen Währungs-union, ja der Europäischen Union insgesamt, bezeichnet und viel-fach gar als »alternativlos« dargestellt worden. Offenkundig ist es aber trotz der zuvor kaum vorstellbaren Dimensionen der Finan-zierungszusagen im Rahmen der Rettungsschirme nicht gelun-gen, das Vertrauen der Investoren in die längerfristige Solvenz vor allem Griechenlands, aber auch einiger anderer Krisenländer (Portugal, Spanien), wiederherzustellen. Für eine Rückkehr dieser Länder an den internationalen Kapitalmarkt ist aber das Ver-trauen in die Fähigkeit zu einer dauerhaften Lösung der Verschul-dungsprobleme entscheidend. Gleichzeitig hat die Politik der permanenten Ausweitung der Rettungsschirme in Kombination mit den zunehmenden Ankäufen von Staatspapieren der Krisen-länder für die Kreditgeberländer, aber auch für die EZB, zu einer Anhäufung gewaltiger Risiken geführt, die z. B. im Falle Deutsch-lands das Volumen des Bundeshaushalts übersteigen. Dass die eingegangenen Eventualverbindlichkeiten (Bürgschaften) bis-

Abb. 3 Die »Rettungsschirme« in der EU – EFSF und ESM. Der Beginn des ständigen Rettungsschirms ESM wurde auf Mitte 2012 vorverlegt. © picture alliance, dpa

15450

GRE IRL* POR ?

1.Rettungsschirm ständigerRettungsschirm ESM

1. Rettungs-paketmöglicheDarlehenbis zu:

mögliche Zahlungennoch nichtkompletterfolgt

110 Mrd. €

750 Mrd. €

500Mrd. €

8030

Euro-staaten

440+60

EFSFEU-Kommission

265222,545

IWF

250IWF

mögliche Darlehenbis zu:

mögliche Dar-lehen bis zu:

Beschlossen:Mai 2010 Mai 2010 ab Mitte 2013

Rettungspakete für verschuldete Staaten

EFSF = Europäische FinanzstabilisierungsfazilitätESM = Europäischer StabilitätsmechanismusQuelle: EU- Kommission, Europäische Zentralbank

*17,5 Mrd. bringt Irland selbst auf

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lang nicht in Anspruch genommen worden sind, ändert nichts an dem fiskalischen Risikopotential, das mit den bislang betriebe-nen Rettungsmaßnahmen entstanden ist.Hervorzuheben ist überdies, dass die gesamten Maßnahmen al-lein auf die Verhinderung von Liquiditätsproblemen ausgerichtet waren und auch so begründet wurden. Zumindest im Fall Grie-chenlands liegen aber keine vorübergehenden Liquiditätsschwie-rigkeiten vor, sondern es besteht in Wirklichkeit ein (verstecktes) Insolvenzproblem, d. h. ein Problem der Zahlungsunfähigkeit. Der Ende Oktober 2011 vereinbarte Schuldenschnitt von 50 v. H. ist hierbei nur ein erster Schritt; um Griechenlands Schulden-stand auf ein längerfristig tragbares Niveau zurückzuführen, wer-den weitere Schuldenerlasse unumgänglich sein.Selbst wenn aber die Finanz- bzw. Liquiditätsprobleme lösbar wären, bleibt der realwirtschaftliche Kern der Krisenursachen be-stehen: Die griechischen Probleme liegen letztlich nicht im finan-ziellen Bereich, d. h. in der Verhinderung der Zahlungsunfähig-keit. Vielmehr geht es um die verlorene internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes aufgrund der realen Überbe-wertung, die sich aus den weit über allen anderen EWU-Ländern liegenden Steigerungen der Lohnstückkosten und den daraus re-sultierenden Preissteigerungen in Griechenland (sowie in schwä-cherem Maße auch in den anderen Krisenländern) ergeben hat. Diese realwirtschaftlichen Ursachen, die den eigentlichen Kern der Schuldenkrisen bilden, sind mit den Liquiditätshilfen der Ret-tungsschirme nicht zu lösen.

Wege aus der »Euro-Krise«?

Angesichts der fehlenden Erfolge der Rettungsschirm-Politik und des nach wie vor gestörten Vertrauens der Finanzmärkte haben sich die Stimmen gemehrt, die als Lösungswege aus der »Euro-Krise« noch weitergehende Eingriffe der Finanzpolitik, aber auch der EZB als der verantwortlichen Instanz für die Geldpolitik in der Eurozone, fordern. So wird als finanzpolitisches Allheilmittel zum einen die Einführung von Gemeinschaftsanleihen mit gesamt-schuldnerischer Haftung aller Euro-Staaten (sog. »Eurobonds«) verlangt. Damit würde aber das – bereits durch die bisherigen

Rettungsmaßnahmen de facto verletzte – marktwirtschaftliche Grundprinzip, dass Entscheidung und Haftung zusammenfallen müssen, endgültig außer Kraft gesetzt. Da durch Eurobonds das Risiko der individuellen Zahlungsunfähigkeit beseitigt würde, wäre für die Problemländer jederzeit eine Refinan-zierung zu niedrigen Zinsen gewährleistet. Die Folge wäre, dass jeglicher Anreiz für die Krisenländer entfiele, ihre öffentlichen Fi-nanzen selbst in Ordnung zu bringen. Die Marktdisziplin im Euro-Raum wäre damit völ-lig außer Kraft gesetzt.Zum anderen drängt insbesondere Frank-reich seit längerem darauf, dem EFSF eine Banklizenz zu erteilen, damit dieser die von ihm angekauften Staatsanleihen der Krisen-länder bei der EZB refinanzieren und sich auf diesem Wege neues Zentralbankgeld be-schaffen könnte. Zudem solle die EZB eine unbegrenzte Ankaufszusage für alle Staats-papiere der Krisenländer erteilen. Beide Maßnahmen würden jedoch auf eine mone-täre Staatsfinanzierung durch die EZB hin-auslaufen, die aus gutem Grund durch den Maastrichter Vertrag ausdrücklich verboten worden ist. Die Geschichte aller großen In-flationen lehrt, dass es immer der Miss-brauch der Notenbank durch die Finanzpoli-tik auf dem Weg über eine monetäre

Staatsfinanzierung gewesen ist, der zur Zerrüttung von Wäh-rungsordnungen und zu galoppierenden Inflationen oder gar Hy-perinflationen geführt hat. Diese Erfahrung ist der Kern der öko-nomischen Argumente für eine nicht nur juristische, sondern auch faktische Unabhängigkeit der Notenbank von der Politik. Schien diese Überzeugung in den Neunzigerjahren mit den Refor-men der Währungsordnungen in Europa und den Bestimmungen des Maastrichter Vertrags endgültig akzeptiert zu sein, werden diese Errungenschaften offensichtlich wieder in Frage gestellt und damit ein Kernelement einer stabilen Währungsordnung aufs Spiel gesetzt. Das ist ein riskanter Rückfall in überwunden geglaubte Fehler, vor dem nur gewarnt werden kann!Das Zwischenfazit lautet somit: Sowohl die Einführung von Euro-bonds als auch die Erteilung einer Banklizenz für den EFSF und eine unbegrenzte Ankaufszusage durch die EZB sind gefährliche Irrwege, die die »Euro-Krise« nicht lösen werden.

Alternative Lösungsansätze

Was dagegen notwendig wäre, ist zum einen eine Rückkehr zu den Grundlagen einer stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Währungsunion. Dazu gehören, wie z. B. die Stiftung Marktwirt-schaft jüngst betont hat, – die Bereitschaft, die Marktkräfte wieder wirken zu lassen und

nicht zu versuchen, sie durch gemeinschaftliche Haftung außer Kraft zu setzen;

– die Glaubwürdigkeit der zentralen, bereits im Maastrichter Vertrag verankerten, »No Bail-out«-Klausel (d. h. des Verbots einer Mithaftung für Staatsschulden anderer Länder) wieder-herzustellen und zugleich die Anreize zu einer Lösung der Schuldenprobleme in den einzelnen Euro-Ländern zu verstär-ken, z. B. durch Einführung nationaler »Schuldenbremsen« nach dem Vorbild der Schweiz und Deutschlands;

– in den »Stabilitäts- und Wachstumspakt« echte Sanktions-Au-tomatismen gegenüber Schulden-Sündern einzubauen, damit nicht – wie in der Vergangenheit allzu oft geschehen – die vor-gesehenen Regeln durch willkürliche und tagespolitisch moti-vierte Eingriffe umgangen bzw. ausgehöhlt werden;

15667

Finanzierungsdefizit in % des BIP

2011 2012

Staatsverschuldung in % des BIP

Wirtschaftswachstum Veränderung des BIP in %*

Arbeitslosenquote in %**

Eckdaten zu den sogenannten PIIGS-Staaten

0,5

120,5 120,5

8,1 8,2

14,4 14,312,6 13,616,6 18,4 20,9 20,9

-2,3-10,3 -8,6 -4,0-5,8 -4,5 -6,6 -5,9 -4,7

9,7 9,8

-3,9-8,9 -7,0

108,1 117,5101,6 111,069,6 73,8 82,5 84,9

162,8198,3

0,11,1 1,1

-1,9 -3,0

0,7 0,7 1,6 0,6

-5,5-2,8

*im Vergleich zum Vorjahr **der zivilen ErwerbspersonenQuelle: EU-Kommission (Herbstprognose 2011)

GriechenlandPortugal SpanienItalien EUIrland

Hoch verschuldete Euro-Länder

Abb. 4 Eckdaten zu den sogenannten PIIGS-Staaten © picture alliance, dpa

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– im Euroraum (aber auch in der EU insgesamt) eine Majorisie-rung der Geberländer durch Nehmerländer zu verhindern, damit weder der Europäische Rat noch der EZB-Rat zu »Selbst-bedienungsläden« degenerieren;

– die juristische und politische Unabhängigkeit des ESZB, d. h. der EZB und der nationalen Zentralbanken, zu respektieren und allen Versuchen zu wehren, die europäische Geldpolitik dauerhaft in den Dienst der Finanzpolitik zu stellen.

Zum anderen muss es vor allem das Ziel sein, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der überschuldeten Länder auf längere Sicht wiederherzustellen. Dazu gibt es prinzipiell zwei Wege: Ent-weder müssten Krisenländer wie Griechenland über einen viele Jahre dauernden Zeitraum hinweg gewaltige Sparprogramme durchhalten und eine reale Abwertung anstreben. D. h., sie müss-ten eine Lohnkostenentwicklung akzeptieren, die beträchtlich unter derjenigen der Konkurrenzländer in der Währungsunion liegt. Es ist aber mehr als fraglich, ob eine solche Politik politisch durchzuhalten ist. Zudem würde sie mit dauerhaften Deflations-effekten einhergehen.Die Alternative wäre ein (gegebenenfalls temporäres) Ausschei-den eines Landes wie Griechenland aus der Eurozone, um durch die dann wieder gegebene Möglichkeit einer nominalen Abwer-tung der Währung die internationale Konkurrenzfähigkeit zu ver-bessern. Natürlich wäre auch dieser Weg mit erheblichen Belas-tungen für das ausscheidende Land sowie auch für die Eurozone insgesamt verbunden. Entscheidend ist aber der Vergleich der Nutzen und Kosten dieser Alternative mit denjenigen einer ufer-losen Fortführung der Rettungsschirm-Politik. Die Meinungen hierzu sind freilich keineswegs einheitlich. So wurde in politi-schen Kreisen auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland, sowie von Seiten der Banken ein Ausscheiden Griechenlands lange als undenkbar bezeichnet; dieses Tabu ist inzwischen gefal-len, und es werden in Ministerien wie in volkswirtschaftlichen Bankabteilungen realistische Szenarien für einen Euro-Austritt Griechenlands durchgerechnet. Auch im akademischen Bereich werden unterschiedliche Positionen vertreten. So plädiert eine Reihe von Ökonomen für ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro (z. B. Hans-Werner Sinn/Ifo-Institut München, Dirk Meyer/Universität Hamburg, Otmar Issing/ehemaliger Chefvolkwirt der EZB sowie nicht zuletzt der Verfasser dieses Beitrags). Demge-genüber befürwortet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einen Verbleib Grie-chenlands in der Eurozone und schlägt stattdessen einen »Schul-dentilgungspakt« zur Beruhigung der Finanzmärkte vor (der frei-lich das Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands nicht lösen würde).

Europa – Quo vadis?

Insgesamt betrachtet, haben sich die bisherigen Maßnahmen zur »Rettung des Euro« nicht nur als weitgehend unwirksam erwie-sen, sondern sie haben auch gewaltige Risiken für die Steuerzah-ler in Europa sowie gerade auch in Deutschland entstehen lassen. Darüber hinaus haben sie das politische Klima in der EU und spe-ziell in der Eurozone in einer bedenklichen Weise verschlechtert. Prominente ausländische Ökonomen wie der frühere US-Präsi-dentenberater Martin Feldstein konstatieren, dass der Euro nicht nur die Hauptursache der gegenwärtigen Krise sei, sondern sogar »den Frieden in Europa gefährde«. Aus einer solchen pessi-mistischen Perspektive sind der Euro und die »Euro-Krise« kein Motor der europäischen Integration, sondern eher ein ökonomi-scher und politischer Sprengsatz für die EU. Feldsteins Fazit lau-tet: »Die Einführung des Euro hat Spannungen und Konflikte ge-schaffen, die es andernfalls nicht gegeben hätte«. Angesichts der Hilflosigkeit und der Zerstrittenheit der europapolitischen Ak-teure in der gegenwärtigen Krise kann man sich diesem desillusi-onierenden Urteil wohl leider nur anschließen.

Literaturhinweise

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung (2011): Schuldenkrise in Europa: Eine Chronologie der europäi-schen Maßnahmen, in: Jahresgutachten 2011/12, Wiesbaden, S, 125–126.

Plickert, Philip (2011): Der Euro gefährdet den Frieden“, in: Frankfurter Allge-meine Sonntagszeitung vom 11.12.2011.

Walter, Norbert (2011): Deutschland einig Euroland? Die Zukunft der Ge-meinschaftswährung, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Politische Studien, Nr. 440 (62. Jg., November-Dezember 2011), S. 54–57.

Mussler, Werner (2011): Mehr Haushaltsaufsicht für 26 EU-Länder, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung vom 10.12.2011.

Vorholz, Fritz (2011): Der Euro sprengt Europa, in: ZEIT Online v. 22.8.2011.

Manifest von 60 Ökonomen gegen Maastricht (1992), in: Frankfurter Allge-meine Zeitung vom 11.6.1992 (wieder abgedruckt in: Der Vertrag von Maast-richt in der wissenschaftlichen Kontroverse, hrsg. v. R. Hrbek, Baden-Baden 1993, S. 159–161).

Abb. 5 Lohnstückkosten und Produktivität international © Pressemitteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln, 13.1.2012

Lohnstückkosten und Produktivität internationalim Verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2010

Deutschland = 100

Lohnstückkosten Produktivität

Vereinigtes Königreich

Frankreich

Italien

Dänemark

Deuschland

Norwegen

Belgien

Spanien

Schweden

Finnland

Österreich

Niederlande

Griechenland

Tschechien

Estland

USA

Südkorea

Japan

Slowakei

Polen

Litauen

Ungarn

Lohnstückkosten: Verhältnis von Arbeitskosten je Beschäftigtenstunde in Preisen und Wechelkursen von 2010 zur Produktivität; Produktivität: Bruttowertschöpfung je ge-leistete Stunde in Preisen und Wechselkursen von 2010; Ursprungsdaten: Deutsche Bundesbank, Eurostat, nationale Quellen, OECD, Statistischs Bundesamt, U. S. De-partment of Labor

115 65

113 88

107 66

102 104

100 100

100 133

98 102

91 66

90 95

87 104

87 101

86 112

85 43

84 28

83 22

76 118

75 47

73 95

72 33

71 20

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MATERIALIEN

M 1 Rede des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf dem SPD- Bundesparteitag am 4.12.2011 in Berlin: »Motive und Ursprünge der Europäischen Integration«

Auch wenn in einigen wenigen der rund 40 Nationalstaaten Euro-pas das heutige Nation-Bewusstsein sich erst verspätet entfaltet hat – so in Italien, in Griechenland und in Deutschland – so hat es doch überall und immer wieder blutige Kriege gegeben. Man kann diese europäische Geschichte – von Mittel-Europa aus be-trachtet – auch auffassen als eine schier endlose Folge von Kämp-fen zwischen Peripherie und Zentrum und umgekehrt zwischen Zentrum und Peripherie. Dabei blieb das Zentrum immer wieder das entscheidende Schlachtfeld. (…)Heutzutage sind die konfligierenden territorialen Ansprüche, die Sprach- und Grenzkonflikte, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bewusstsein der Nationen eine sehr große Rolle gespielt haben, de facto weitgehend bedeutungslos gewor-den, jedenfalls für uns Deutsche.Während im Bewusstsein der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung in den Nationen Europas die Kenntnis und die Erinnerung der Kriege des Mittelalters weitgehend abge-sunken sind, so spielt jedoch die Erinnerung an die beiden Welt-kriege des 20. Jahrhunderts und an die deutsche Besatzung immer noch eine latent dominierende Rolle.Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn Deutschlands – und außerdem fast alle Juden auf der ganzen Welt – sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zur Zeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Periphe-rie geschehen sind. Wir Deutschen sind uns nicht ausreichend im Klaren darüber, dass bei fast allen unseren Nachbarn wahrschein-lich noch für viele Generationen ein latenter Argwohn gegen die Deutschen besteht.Auch die nachgeborenen deutschen Generationen müssen mit dieser historischen Last leben. Und die heutigen dürfen nicht ver-gessen: Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Ent-wicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der europäischen Integration begründet hat.Churchill hatte 1946 zwei Motive, als er in seiner großen Züricher Rede die Franzosen aufgerufen hat, sich mit den Deutschen zu vertragen und mit ihnen gemeinsam die Vereinigten Staaten Eu-ropas zu begründen: Nämlich erstens die gemeinsame Abwehr der als bedrohlich erscheinenden Sowjetunion – aber zweitens die Einbindung Deutschlands in einen größeren westlichen Ver-bund. Denn Churchill sah weitsichtig die Wiedererstarkung Deutschlands voraus.Als 1950, vier Jahre nach Churchills Rede, Robert Schuman und Jean Monnet mit dem Schuman-Plan für den Zusammenschluss der westeuropäischen Schwerindustrie hervorgetreten sind, ge-schah dies aus dem gleichen Motiv, aus dem Motiv der Einbin-dung Deutschlands. Charles de Gaulle, der zehn Jahre später Kon-rad Adenauer die Hand zur Versöhnung geboten hat, hat aus dem gleichen Motiv gehandelt.All dies geschah aus realistischer Einsicht in eine als möglich er-achtete und zugleich befürchtete künftige Entwicklung deut-scher Stärke. Nicht der Idealismus Victor Hugos, der 1849 zur Ver-einigung Europas aufgerufen hat, noch irgendein Idealismus stand 1950/52 am Beginn der damals auf Westeuropa beschränk-ten europäischen Integration. Die damals führenden Staatsmän-ner in Europa und in Amerika (ich nenne George Marshall, Eisen-hower, auch Kennedy, vor allem aber Churchill, Jean Monnet, Adenauer und de Gaulle oder auch de Gasperi und Henri Spaak) handelten keineswegs aus Europa-Idealismus, sondern aus Kenntnis der bisherigen europäischen Geschichte.Sie handelten aus realistischer Einsicht in die Notwendigkeit, eine Fortsetzung des Kampfes zwischen Peripherie und deut-schem Zentrum zu vermeiden. Wer dieses Ursprungsmotiv der

europäischen Integration, das immer noch ein tragendes Element ist, wer dies nicht verstanden hat, dem fehlt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Lösung der gegenwärtig höchst prekären Krise Europas.De Gaulle und Pompidou haben in den 1960er und frühen 1970er-Jahren die europäische Integration fortgesetzt, um Deutschland einzubinden – nicht aber wollten sie auch ihren eigenen Staat auf Gedeih und Verderb einbinden. Danach hat das gute Verständnis zwischen Giscard d’Estaing und mir zu einer Periode französisch-deutscher Kooperation und zur Fortsetzung der europäischen In-tegration geführt, eine Periode, die nach dem Frühjahr 1990 zwi-schen Mitterand und Kohl erfolgreich fortgesetzt worden ist. Zugleich ist seit 1950/52 die europäische Gemeinschaft bis 1991 schrittweise von sechs auf zwölf Mitgliedstaaten gewachsen.Dank der weitgehenden Vorarbeit durch Jacques Delors (damals Präsident der Europäischen Kommission) haben Mitterand und Kohl 1991 in Maastricht die gemeinsame Euro-Währung ins Leben gerufen, die dann im Jahre 2001, zehn Jahre später, greifbar ge-worden ist. Zugrunde lag abermals die französische Besorgnis vor einem übermächtigen Deutschland – genauer gesagt: vor einer übermächtigen D-Mark.Inzwischen ist der EURO zur zweitwichtigsten Währung der Welt-wirtschaft geworden. Diese europäische Währung ist nach innen wie auch im Außenverhältnis bisher stabiler als der amerikani-sche Dollar – und stabiler als die D-Mark in ihren letzten 10 Jahren gewesen ist. Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche »Krise des Euro« ist leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern.Seit Maastricht 1991/92 hat sich aber die Welt gewaltig verändert. Wir haben die Befreiung der Nationen im Osten Europas und die Implosion der Sowjet-Union erlebt. Wir erleben den phänomena-len Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer »Schwellen-länder«, die man früher pauschal »Dritte Welt« genannt hat. Gleichzeitig haben sich die realen Volkswirtschaften größter Teile der Welt »globalisiert«, auf Deutsch: Fast alle Staaten der Welt hängen von einander ab. Vor allem haben die Akteure auf den glo-balisierten Finanzmärkten sich eine einstweilen ganz unkontrol-lierte Macht angeeignet. (…) Unsere Volkswirtschaft hat sich – beginnend in den 1970er-Jah-ren, damals noch zweigeteilt – zur größten in Europa entwickelt. Sie ist technologisch, sie ist finanzpolitisch und sie ist sozialpoli-tisch heute eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Unsere wirtschaftliche Stärke und unser seit Jahrzehnten vergleichsweise sehr stabiler sozialer Friede haben auch Neid ausgelöst – zumal unsere Arbeitslosigkeitsrate und auch unsere Verschuldungsrate durchaus im Bereich der internationalen Nor-malität liegen.Allerdings ist uns nicht ausreichend bewusst, dass unsere Wirt-schaft in hohem Maße sowohl in den gemeinsamen europäischen Markt integriert als auch zugleich in hohem Maße globalisiert und damit von der Weltkonjunktur abhängig ist. Wir werden des-halb im kommenden Jahr erleben, dass die deutschen Exporte nicht mehr sonderlich wachsen.Gleichzeitig hat sich aber eine schwerwiegende Fehlentwicklung ergeben, nämlich anhaltende enorme Überschüsse unserer Han-delsbilanz und unserer Leistungsbilanz. Die Überschüsse machen seit Jahren etwa 5 Prozent unseres Sozialproduktes aus. Sie sind ähnlich groß wie die Überschüsse Chinas. Das ist uns nicht be-wusst, weil es sich nicht mehr in DM-Überschüssen niederschlägt, sondern in Euro. Es ist aber notwendig für unsere Politiker, sich dieses Umstandes bewusst zu sein.Denn alle unsere Überschüsse sind in Wirklichkeit die Defizite der anderen. Die Forderungen, die wir an andere haben, sind deren Schulden. Es handelt sich um eine ärgerliche Verletzung des einstmals von uns zum gesetzlichen Ideal erhobenen »außenwirt-schaftlichen Gleichgewichts«. Diese Verletzung muss unsere Partner beunruhigen. Und wenn es neuerdings ausländische, meistens amerikanische Stimmen gibt – inzwischen kommen sie von vielen Seiten – die von Deutschland eine europäische Füh-

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rungsrolle verlangen, so weckt all dies zusam-men bei unseren Nachbarn zugleich zusätzli-chen Argwohn. Und es weckt böse Erinnerungen.Diese ökonomische Entwicklung und die gleichzeitige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der Europäischen Union haben Deutschland abermals in eine zentrale Rolle gedrängt. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten hat die Kanzlerin diese Rolle willig akzeptiert. Aber es gibt in vielen europäischen Hauptstädten und ebenso in den Medien mancher unserer Nachbarstaaten abermals eine wachsende Besorgnis vor deut-scher Dominanz. Dieses Mal handelt es sich nicht um eine militärisch und politisch über-starke Zentralmacht, wohl aber um ein ökono-misch überstarkes Zentrum! (…) Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, ge-stützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu bean-spruchen oder doch wenigstens den »primus inter pares« zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit un-serer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Die Besorgnis der Peripherie vor einem allzu starken Zentrum Europas würde ganz schnell zurückkehren. Die wahrscheinlichen Konsequenzen sol-cher Entwicklung wären für die EU verkrüppelnd. Und Deutsch-land würde in Isolierung fallen.Die sehr große und sehr leistungsfähige Bundesrepublik Deutsch-land braucht – auch zum Schutze vor uns selbst! – die Einbettung in die europäische Integration. Deshalb verpflichtet seit Helmut Kohls Zeiten, seit 1992 der Artikel 23 des Grundgesetzes uns zur Mitwirkung »… bei der Entwicklung der Europäischen Union«. Der Art. 23 verpflichtet uns für diese Mitwirkung auch zu dem »Grund-satz der Subsidiarität …«. Die gegenwärtige Krise der Handlungs-fähigkeit der Organe der EU ändert nichts an diesen Grundsät-zen.Unsere geopolitische Zentrallage, dazu unsere unglückliche Rolle im Verlaufe der europäischen Geschichte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, dazu unsere heutige Leistungsfähigkeit, all dies zusammen verlangt von jeder deutschen Regierung ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Interessen unserer EU-Partner. Und unsere Hilfsbereitschaft ist unerlässlich.Wir Deutschen haben doch unsere große Wiederaufbau-Leistung der letzten sechs Jahrzehnte auch nicht allein und nur aus eigener Kraft zustande gebracht. Sondern sie wäre nicht möglich gewe-sen ohne die Hilfen der westlichen Siegermächte, nicht ohne un-sere Einbettung in die europäische Gemeinschaft und in das at-lantische Bündnis, nicht ohne die Hilfen durch unsere Nachbarn, nicht ohne den politischen Aufbruch im Osten Mitteleuropas und nicht ohne das Ende der kommunistischen Diktatur. Wir Deut-schen haben Grund zur Dankbarkeit. Und zugleich haben wir die Pflicht, uns der empfangenen Solidarität würdig zu erweisen durch unsere eigene Solidarität mit unseren Nachbarn! (…) Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der in Lissabon geschaffenen Organe der Europäischen Union darf nicht Jahre andauern! Mit der Ausnahme der Europäischen Zentralbank haben die Organe – das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Brüsseler Kommission und die Ministerräte – sie alle haben seit Überwindung der akuten Bankenkrise 2008 und be-sonders der anschließenden Staatsverschuldungskrise nur wenig an heute wirksamen Hilfen zustande gebracht.(…)Wenn sonst keiner handeln will, dann müssen die Teilnehmer der EURO-Währung handeln. Dazu kann der Weg über den Artikel 20 des geltenden EU-Vertrages von Lissabon gehen. Dort ist aus-drücklich vorgesehen, dass einzelne oder mehrere EU-Mitglied-staaten »…untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit be-gründen«.

Jedenfalls sollten die an der gemeinsamen EURO-Währung betei-ligten Staaten gemeinsam für den EURO-Raum durchgreifende Regulierungen ihres gemeinsamen Finanzmarktes ins Werk set-zen. Von der Trennung zwischen normalen Geschäftsbanken und andererseits Investment- und Schattenbanken bis zum Verbot von Leerverkäufen von Wertpapieren auf einen zukünftigen Ter-min, bis zum Verbot des Handels mit Derivaten, sofern sie nicht von der offiziellen Börsenaufsicht zugelassen sind – und bis hin zur wirksamen Einschränkung der den EURO-Raum betreffendenGeschäfte der einstweilen unbeaufsichtigten Ratingagenturen. (…) Wenn die Europäer den Mut und die Kraft zu einer durchgrei-fenden Finanzmarkt-Regulierung aufbringen, dann können wir auf mittlere Sicht zu einer Zone der Stabilität werden. Wenn wir aber hier versagen, dann wird das Gewicht Europas weiter abneh-men – und die Welt entwickelt sich in Richtung auf ein Duumvirat zwischen Washington und Peking.Für die unmittelbare Zukunft des EURO-Raumes bleiben gewiss-lich all die bisher angekündigten und angedachten Schritte not-wendig. Dazu gehören die Rettungsfonds, die Verschuldungso-bergrenzen und deren Kontrolle, eine gemeinsame ökonomischeund fiskalische Politik, dazu eine Reihe von jeweils nationalen steuerpolitischen, ausgabenpolitischen, sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Reformen. Aber zwangsläufig wird auch eine gemeinsame Verschuldung unvermeidbar werden. Wir Deut-schen dürfen uns dem nicht national-egoistisch verweigern. Wir dürfen aber auch keineswegs für ganz Europa eine extreme Deflationspolitik propagieren. Vielmehr hat Jacques Delors recht, wenn er verlangt, mit der Gesundung der Haushalte zugleich wachstumsfördernde Projekte einzuleiten und zu finanzieren.Ohne Wachstum, ohne neue Arbeitsplätze kann kein Staat seinen Haushalt sanieren.Wer da glaubt, Europa könne durch Haushaltseinsparungen al-lein gesund werden, der möge gefälligst die schicksalhafte Wir-kung von Heinrich Brünings Deflationspolitik 1930/32 studieren. Sie hat eine Depression und ein unerträgliches Ausmaß an Ar-beitslosigkeit ausgelöst und damit den Untergang der ersten deutschen Demokratie eingeleitet.

© Helmut Schmidt: Rede auf dem SPD-Parteitag am 4.12.2011

M 2 Rede des ehemaligen Bundeskanzlers (1974–1983) Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag am 4.12.2011 in Berlin © picture alliance, dpa

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M 3 » Sollen die Griechen raus aus dem Euro?« Streit gespräch zwischen Bundes finanzminister Wolfgang Schäuble und Otmar Issing, ehemali-ger Chefvolkswirt der EZB, in der FAS

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Herr Schäuble, Herr Issing, Sie verstehen sich beide als leidenschaftliche Europäer, vertreten aber in der Frage der Rettung Griechenlands dia-metral unterschiedliche Ansichten.Schäuble: Ich teile viele Ansichten von Herrn Issing, aber ich glaube, wir sollten die Prob-leme der Eurozone lösen, ohne dass ein Land die Eurozone verlassen muss. Der Euro muss sich darin bewähren, dass alle Mitglieder der gemeinsamen Währungszone ihre Probleme auch gemeinsam lösen. Das ist für Ansehen und Stabilität dieser Währung eine unerläss-liche Voraussetzung.Issing: Ich denke, dass der Euroraum wie ein Club funktionieren sollte. Wenn ein Mitglied permanent gegen die Regeln des Clubs ver-stößt, dann muss als letzte Möglichkeit ein solches Mitglied aus dem Club ausscheiden können. Ich bin nicht der Meinung, dass man Griechenland ausschließen sollte, was übrigens auch rechtlich gar nicht geht. Die Frage ist nur, wie lange man Griechenland trotz mehrfach gebrochener Versprechen Finanzhilfen gibt. Und ob Griechenland dann selbst die Konsequenz zieht.FAS: Müssen die Griechen gleich aus der Eurozone austreten, wenn sie kein Geld mehr bekommen?Issing: Natürlich muss Griechenland selbst entscheiden, was zu unternehmen ist, wenn es kein Geld mehr bekommt und der Staat de facto pleite ist. Welcher Schuldenschnitt dann kommt, ist die souveräne Entscheidung der Griechen.FAS: Griechenland wird im kommenden Jahr eine Schuldenquote von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Wird es diese Schulden je zurückzahlen können?Schäuble: Wir haben klar verabredet, dass die vierteljährlichen Kredittranchen nur ausbezahlt werden, wenn Griechenland die verabredeten Auflagen erfüllt. Das zu beurteilen obliegt der so-genannten Troika. Die Troika muss dabei auch die Schuldentrag-fähigkeit der Griechen beurteilen. Wenn der aktuelle Bericht vor-liegt, wissen wir mehr.FAS: Sie erwarten, dass die Griechen ihre Schulden bedienen können?Schäuble: Wir haben klargemacht, dass Griechenland sich an die Abmachungen halten muss. Da kann es keinen Rabatt geben. Die Staats- und Regierungschefs haben bereits im Juli beschlossen, dass es ein zweites Griechenland-Programm geben muss. Dazu gehört – wie im Juli beschlossen – eine Verbesserung der Schul-dentragfähigkeit, indem die griechische Gesamtverschuldung reduziert wird. Sagen Sie es klar: Es geht um Umschuldung und Haircut?Schäuble: Ich spreche über eine Reduzierung der Gesamtver-schuldung mit einer Beteiligung des Privatsektors – wie stark diese sein muss, werden wir sehen, wenn der Troikabericht vor-liegt. Möglicherweise sind wir bisher von einem zu geringen Pro-zentsatz der Schuldenreduktion ausgegangen.Issing: Die EZB hat in einem ihrer letzten Monatsberichte ein Sze-nario dargestellt, nach dem Griechenland im nächsten Jahr eine Gesamtverschuldung von 160 Prozent erreicht und nach zehn Jahren hartem Sparen schließlich bei 120 Prozent anlangt. Gleich-zeitig wird unterstellt, dass das Land einen Pfad konstanten Wachstums erreicht. Die EZB nimmt das als Beleg für die Schul-dentragfähigkeit Griechenlands. Dabei sagen die Zahlen nach meiner Einschätzung das Gegenteil. Ich halte es für ausgeschlos-sen, dass ein Land über zehn Jahre ein solches drakonisches Spar-programm durchhält. Ich sehe auch nicht, wo der Optimismus für

das Wachstum herkommen soll. Für mich heißt das: Griechenland kann seine Schulden nicht bedienen.FAS: Was folgt daraus?Issing: Wir brauchen einen Schuldenschnitt von mindestens fünf-zig Prozent. Was nicht geht, ist, dass Griechenland sich dann wei-ter bei der EZB refinanzieren kann. Denn das würde eine ganz neue Ansteckungsgefahr provozieren: Alle Reformbemühungen anderer Länder, beispielsweise in Irland, würden von einem Mo-ment auf den anderen in sich zusammenbrechen. Denn man kann einer Bevölkerung schwer zumuten, Reformen und Einschnitte hinzunehmen, wenn es mit einem Schuldenschnitt auch einfacher geht.FAS: Also muss Griechenland raus aus dem Euro?Issing: Es wird wohl nicht anders gehen. Alles andere wäre ein Freibrief für die anderen Länder.Schäuble: Das sehe ich anders. Alles hängt von den Bedingungen ab, wie man die privaten Gläubiger beteiligt, wie wir es ja schon im Juli verabredet haben – mit damals womöglich noch zu gerin-gen Prozentsätzen der Schuldenreduktion. Klar ist aber immer, dass jede Schuldenreduktion mit unzweideutigen Auflagen ver-bunden sein muss. Nur wenn diese erfüllt werden, kann geholfen werden.FAS: Warum, Herr Schäuble, fürchten Sie den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion?Schäuble: Herr Issing und ich sind beide der Meinung, dass wir die Schulden Griechenlands reduzieren müssen. Aber für mich gilt: innerhalb der Eurozone. Ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone wäre die deutlich schlechtere Lösung. Gerade auch aus ökonomischen Gründen. Man müsste schwere Verwerfungen auf den Finanzmärkten befürchten. Es besteht die Gefahr, dass sich ganz Europa und die Weltwirtschaft anstecken. Ich glaube, wir können die Krise besser beherrschen, wenn alle Eurostaaten in der Eurozone bleiben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Reputation des Euros als Weltwährung nachhaltig geschädigt würde, wenn es uns nicht gelänge, dieses am BIP gemessen rela-tiv kleine Problem Griechenlands innerhalb des Systems zu lösen. Issing: Ich stimme Ihnen zu, Herr Schäuble, dass es keine risiko-lose Lösung gibt. Da muss ich mich auch über einige Vorschläge aus dem Bereich der Wissenschaft wundern. Ich stimme auch mit Ihnen überein, dass diese Krise eine Chance bietet, die für mich darin liegt, dass wir vor einem Schuldenschnitt und dem damit verbundenen Austritt eines Landes nicht zurückzucken. Ich sehe durchaus die Probleme der Ansteckung, dass sich die Spekulan-

M 4 »Solidarität mit Griechenland!« © Gerhard Mester, 2011

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ten dann sofort das nächste Land vorneh-men. Doch dagegen kann man sich wapp-nen, indem man den Zaun um die sechzehn anderen Länder sichtbar erhöht …FAS: … was für einen Zaun?Issing: … wir müssen bereit sein, den ande-ren Ländern gegen die Spekulation zu helfen. Ich verspreche mir aber auch einen positiven Ansteckungseffekt eines Austritts Griechen-lands aus dem Euro. Denn ein solcher Fall müsste auf alle anderen Mitglieder der Euro-zone abschreckend wirken. Das würde einen nie gesehenen Reformdruck erzeugen, wie man ihn durch keine internationale Abma-chung erzielen kann. Kein anderes Land will raus aus dem Euro. In Italien zum Beispiel würde das nachgeholt, was über Jahrzehnte an Reformen versäumt wurde, damit um jeden Preis das Schicksal Griechenlands ab-gewandt wird. Ich sehe also nicht nur nega-tive, sondern auch positive »Ansteckungen« durch den Euro-Austritt eines Landes. Alle übrigen Länder wollen den Selbstausschluss aus dem Club unter allen Umständen ver-meiden. Als man vor drei Jahren die Lehman-Bank fallenließ, hat man sich auch eine abschreckende Wirkung erhofft. In Wirklich-keit ist alles viel schlimmer gekommen.Schäuble: Natürlich ist die heutige Situation ganz anders. Wir haben zurzeit eine Staatsschuldenkrise. Aber nach allem, was wir wissen, gibt es auch heute ein hohes Risiko, dass sich diese Krise weiter zuspitzt und ausbreitet. Daher müssen wir in der Lage sein, Eskalationen durch spekulative Ansteckung einzudämmen. Dazu gehört unter anderen sicherzustellen, dass die Banken mit hinrei-chend Kapital ausgestattet sind.FAS: Was ist denn jetzt schon wieder mit den Banken los? Wir dachten, die seien nach der Finanzkrise gerettet und mit ausreichend Kapital aus-gestattet worden?Schäuble: Die Unruhe an den Finanzmärkten nimmt zu. Dies kann zu Rückkoppelungen in die Realwirtschaft führen, am ehes-ten über die Banken. So gibt es die Möglichkeit einer Eskalation. Dieser Möglichkeit müssen wir vorbeugen. Wir haben nach 2008 begonnen, die Finanzindustrie stärker zu regulieren und ihr ein höheres Eigenkapital vorzuschreiben. Aber der Prozess ist wo-möglich nicht schnell genug gegangen. Wir müssen schauen, dass alle Banken in Europa für alle Eventualitäten gerüstet sind.Issing: Die fragile Situation der Banken heute unterscheidet sich wesentlich von der Konstellation der Finanzkrise vor drei Jahren. Heute liegt die Krise darin, dass als sicher angesehene Wertpa-piere, nämlich Staatsanleihen, zu Risikopapieren geworden sind. Weil man diese für risikolos hielt, mussten die Banken dafür kein Eigenkapital vorhalten. Jetzt gibt es einen Abschreibungsbedarf, der einzelne Banken an den Rand der Vernichtung des Eigenkapi-tals bringen könnte. Da haben die Regeln versagt. Aber eine Ent-schuldigung ist das nicht. Die Banken sind sehenden Auges in ein Risiko gelaufen, weil sie Geschäfte machen wollten.FAS: Und jetzt soll die EFSF mit dem Geld der Steuerzahler auch wieder Banken retten?Schäuble: Nein. Die ertüchtigte EFSF kann lediglich Staaten hel-fen, wenn diese weder am Markt noch sonst wie in der Lage sind, ihre Banken zu stabilisieren. FAS: Banken müssen rekapitalisiert werden, damit Staaten umschulden können?Schäuble: Es geht darum, dass wir uns bestmöglich darauf vorbe-reiten, jegliche Zuspitzung abzufedern. Wir müssen dafür sorgen, dass Ansteckungseffekte in den Bankensektor und als Folgen der Spekulation so gut wie möglich ausgeschlossen werden, unab-hängig davon, ob man wie Herr Issing für ein Ausscheiden von Staaten aus dem Euroraum plädiert oder aber sie wie ich auf jeden Fall im Euro halten will.

FAS: Was meinen Sie, wenn Sie immer von Spekulanten sprechen? Ist es nicht rational, wenn Anleger sagen, das Risiko in Spanien oder Italien sei ihnen zu groß und sie deshalb jetzt keine Anleihen dieser Länder mehr kaufen?Issing: So ist es. Es gibt die Mär von der Spekulation. Eher ist es doch so, dass die Märkte zu lange geschlafen haben und Ländern mit ganz unterschiedlicher Bonität Kredite zu denselben niedri-gen Zinsen gegeben haben. Das hat die Illusion erzeugt, dass man sich niedriger langfristiger Zinsen erfreuen konnte, ohne dass man selbst entsprechende Anstrengungen unternehmen musste. Aber natürlich neigen die Märkte dann auch zur Übertrei-bung. Die Politik muss sich darauf konzentrieren, den Übertrei-bungen konsequent zu begegnen, ohne die Marktmechanismen auszuschalten. Die Risikoaufschläge, die die Länder jetzt zahlen müssen, die sogenannten »Spreads«, waren es doch, welche Staa-ten wie Italien sofort dazu bewogen haben, Reformen zu ergrei-fen. Kein Land kann es lange durchhalten, wenn die Refinanzie-rung der Schulden immer teurer wird. Dieses Element der Marktkontrolle muss erhalten werden. Ich habe Sorge, dass durch politischen Druck und zu frühe Interventionen des Euro- Rettungsfonds EFSF die Sanktionsmechanismen er Märkte unter-laufen werden.FAS: So weit ist es doch längst, wenn die EZB Staatsanleihen aus Spanien und Italien kauft?Schäuble: Seien Sie versichert, dass niemand das Zinsrisiko ver-gemeinschaften und damit falsche Anreize setzen will. Mit mir wird es auch keine Eurobonds geben. Die EFSF kann nur unter ganz engen Voraussetzung und als Ultima Ratio Übertreibungen der Märkte entgegenwirken. Voraussetzung dafür ist zudem eine vorherige Analyse der EZB, dass die Stabilität des Euro als Ganzes gefährdet ist.FAS: So oder so: Es ist ein Eingriff in den Markt, mit dem die Zinsen für die Schuldner künstlich niedrig gehalten werden.Schäuble: Nein, nein. Es gibt Geld von der EFSF nur, wenn die Län-der, die ihn in Anspruch nehmen müssen – zurzeit Irland und Por-tugal -, strenge Reform- und Sparauflagen einhalten und umset-zen. Dabei werden sie eng begleitet und kontrolliert. Der Mechanismus der EFSF funktioniert sehr gut. Schauen Sie sich an, zu welchen Reformen die Länder unter dem Druck der Pro-gramme in der Lage sind. So etwas hätte man sich früher nie vor-stellen können. Irland will 2012 sogar schon wieder auf den Ret-tungsschirm verzichten. Alle Staaten Europas sind jetzt auf dem Weg in Richtung einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik.

© »Sollen die Griechen raus aus dem Euro?« Wolfgang Schäuble und Otmar Issing im Ge-spräch, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8.10.2011

M 5 Pressekonferenz der Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Finanzministers Wolfgang Schäuble sowie des Mitglieds der Expertengruppe »Neue Finanzmarktarchitektur«, Otmar Issing, am 4.11.2010 im Bundeskanzleramt in Berlin © picture alliance, dpa

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Die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg fügte sich in die globale Konstellation des »eingebetteten Liberalismus« (Ruggie 1982) ein. Global sorgten die regulativen Arrangements des Bretton Woods Systems, also feste Wechselkurse, Kapitalverkehrskont-rollen und internationale Finanzierungshilfen – zunächst in Form des Marshall-Plans, später im Bedarfsfall über IWF-Kredite –, und national die wohlfahrtsstaatliche Expansion dafür, dass die Libe-ralisierungsdynamik eingehegt wurde. So konzentrierte sich die Liberalisierungspolitik vornehmlich darauf, die Zölle im Waren-handel zu reduzieren. Für den Agrar- und Textilhandel galten be-sondere Bestimmungen. Dienstleistungen, nicht-tarifäre Han-delshemmnisse und der internationale Kapitalverkehr waren hingegen von der Liberalisierung weitgehend ausgenommen; nicht nur global, sondern auch innerhalb Westeuropas. Was die Arbeitsmärkte, den Zollabbau, die sektorale Integration und auch die Formen der politisch-institutionellen Ver ge mein schaf-tung – Kommission, EuGH, Versammlung etc. – betraf, ging die EWG über die globalen Prozesse zugleich aber deutlich hinaus. Dies reflektierte sich nicht zuletzt in einer zunehmenden wirt-schaftlichen Verflechtung, die ihrerseits mit dazu beitrug, dass auf der Grundlage hoher Wachstumsraten und Produktivitäts-steigerungen die wohlfahrtsstaatlichen Systeme und Interventi-onskapazitäten deutlich ausgebaut werden konnten.Die hier nur knapp skizzierten Merkmale erodierten in dem Maße, wie in der zweiten Entwicklungsphase seit den 1980er-Jah-ren – im globalen wie europäischen Kontext – die Dynamiken einer »marktliberalen Entbettung« in den Vordergrund traten. Nach dem Zusammenbruch des Bretton Systems beschleunigte sich nicht nur die Globalisierung, auch die zentralen ökonomi-schen Integrationsprojekte, so vor allem der EG-Binnenmarkt, die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) oder zuletzt die Fi-nanzmarktintegration, erstreckten sich nunmehr auf viele der zuvor ausgeklammerten Aspekte (vgl. Bieling/Deppe 2003). So wurden die Kapital- und Kreditmärkte schrittweise integriert, die nationalen Dienstleistungssektoren liberalisiert, die öffentliche Infrastruktur (teil-)privatisiert oder zumindest marktkonform re-organisiert, nicht-tarifäre Handelshemmnisse durch das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung nationaler Regulierungsstan-dards wettbewerbspolitisch dereguliert und die Geldpolitik und partiell auch die Finanzpolitik durch die WWU vergemeinschaf-tet. Ungeachtet einiger flankierender Prozesse – so etwa der Agrar- und Regionalpolitik oder diverser Mindestregulierungen – sind durch die forcierte Markt- und Währungsintegration die na-tionalen Kapitalismus- und Wohlfahrtsmodelle insgesamt einem erhöhten Wettbewerbsdruck ausgesetzt worden. Die program-matischen Leitlinien der »Lissabon-Strategie«, die inzwischen durch die »Europe 2020«-Strategie ersetzt wurden, lassen denn auch erkennen, dass die europäische Handlungsarena die natio-nalen Entwicklungspfade kaum mehr stabilisiert, sondern vor-nehmlich darauf hin wirkt, eine markt- und wettbewerbsorien-tierte Modernisierung der staatlichen Infrastruktur, der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme wie auch der öffentlichen Haushalte zu organisieren.Im Zuge der Vertiefung und Beschleunigung der Markt- und Wäh-rungsintegration sind die nationalen Wirtschaftsräume demzu-folge unter Wettbewerbsgesichtspunkten regulativ und adminis-trativ angeglichen worden. Dieser Prozess ging keineswegs mit einem einfachen Rückzug der Politik einher. Im Gegenteil, auf europäischer Ebene sind die Kompetenzen einiger Institutionen, so etwa der Kommission oder des Europäischen Parlaments,

Durch die Weltfinanzkrise und nachfolgend die Staats- schulden- und Eurokrise sind die Europäische Union und

insbesondere die Eurozone schwer erschüttert worden. Wie tief und umfassend diese Erschütterung ist, lässt sich derzeit noch nicht gänzlich absehen. Wenn jedoch die Alt-Bundes-kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl eindringlich vor einem Scheitern der Währungsunion warnen oder der ehema-lige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors (2011), die Union am »Abgrund« wähnt (| M 1 |), verweist dies auf eine sehr ernste europapolitische Stimmungslage, die – angeheizt durch die Medien, einige Politiker oder Rating-Agenturen – zuweilen noch überzeichnet und dramatisiert wird. Mehr und mehr drängt sich daher die Frage auf, ob die Bestandsfähigkeit der Eurozone oder gar der Europäischen Union durch die Krise ernsthaft in Gefahr ist und wie die bis-lang ergriffenen Initiativen zur Rettung des Euro zu bewerten sind.

Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, sich des bislang erreichten Stands der europäischen Integration zu vergewissern. Dieser wird häufig in der Politikwissenschaft anhand eines (neo-)funktionalistisch inspirierten Stufenmodells diskutiert, das aus-gehend von der sektoralen Integration über die Zollunion und den Binnenmarkt bis hin zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur Politischen Union fortschreitet. Grundsätzlich liefert dieses Interpretationsraster eine grobe Orientierung. Zugleich ist es aber auch sehr schematisch angelegt, d. h. unsensibel für die spezifische historische Qualität der integrationspolitischen Dy-namiken und gesellschaftlichen Kontextbedingungen. Genau diese Dimensionen sind für die Analyse und Interpretation der aktuellen Krisenprozesse wie auch der Perspektiven der europäi-schen Integration jedoch von grundlegender Bedeutung.

Ein qualitativer Sprung: »Strukturwandel der europäischen Integration seit den 1980er-Jahren«

Im Rückblick war die funktionale Ausrichtung des Integrations-prozesses allgemein dadurch geprägt, zwischen den Erfordernis-sen der bereits nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Globa-lisierung und den begrenzten nationalen Märkten und staatlichen Gestaltungskapazitäten zu vermitteln (vgl. Statz 1989, S. 16f.; Bieling 2010, S. 57ff.). In diesem Sinne zielten die sektorale Integ-ration und die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemein-schaft (EWG) in Verbindung mit der begrenzten Ver ge-meinschaftung von Staatsfunktionen, also die Schaffung von supra-nationalen, mit eigenen Kompetenzen ausgestatteten Ins-titutionen darauf, die unterschiedliche Reichweite des ökonomi-schen und politischen Funktionsraumes zu überbrücken. Dabei spielten freilich auch sicherheits- und geopolitische Erwägungen, d. h. die Positionierung der westeuropäischen Staaten innerhalb der Konstellation des Kalten Kriegs, eine wichtige Rolle. Doch nicht nur diese Einflüsse, auch die gesellschaftspolitischen Dis-kussionen und Auseinandersetzungen verweisen darauf, dass sich die allgemeine politökonomische Funktionsbestimmung der europäischen Integration historisch unterschiedlich ausgeprägt hat. Sehr grob lassen sich zwei Entwicklungsphasen unterschei-den (vgl. Ziltener 1999):

SCHULDENKRISE IN EUROPA

3. Von Krise zu Krise: Die Euro-Krise in einer öko-nomisch und politisch hochintegrierten Region

HANS-JÜRGEN BIELING

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D&EDie Euro -Krise in einer ökonomis ch und p olitisch ho chintegrierten Region Heft 63 · 2012

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durchaus gestärkt und einige Organisatio-nen, z. B. die EZB, und viele Ausschüsse neu geschaffen worden. Außerdem haben sich auch viele Assoziationen – NGOs, Verbände, Parteien, Medien etc. – transnationalisiert, sodass in Ergänzung zur ökonomischen und politisch-institutionellen Integration durch-aus auch Keimformen einer entstehenden europäischen Zivilgesellschaft erkennbar sind.

Aspekte einer krisentheoretischen Integrationsperspektive

Ob und inwiefern die angesprochenen Di-mensionen der Vergemeinschaftung durch die Weltfinanz- und Eurokrise nicht nur er-schüttert, sondern letztlich vielleicht sogar gestärkt werden, ist nach wie vor offen. Dies hat grundsätzlich damit zu tun, dass Krisen, also auch Integrationskrisen immer eine Phase der Ungewissheit und Kontingenz sind. Wie diese Ungewissheit politisch bear-beitet wird, hängt von der spezifischen Kri-sensituation ab, ist aber auch durch den Einfluss konkurrierender Deutungen, Interessenlagen und Machtverhältnisse be-stimmt. Wenn mehrere Aspekte – eine weit-hin geteilte Krisendiagnose, ähnliche oder zumindest komplementäre Interessenlagen und überzeugende Initiativen oder Projekte der Krisenbewältigung – zusammen kom-men, können Krisen durchaus eine sehr produktive Wirkung er-zeugen. In diesem Sinne haben in der Vergangenheit europäische Krisen nicht selten dazu beigetragen, den Integrationsprozess voranzutreiben. Ob es um das Scheitern der Europäischen Vertei-digungsgemeinschaft (EVG), die französische »Politik des leeren Stuhls«, das Scheitern des »Werner-Plans«, die sog. »Euroskle-rose« oder die Krise des Europäischen Währungssystems (EWS) ging, stets bildeten Krisendynamiken einen Anlass dafür – oft freilich mit einer gewissen Verzögerung –, weitergehende Integ-rationsinitiativen zu ergreifen (vgl. Deppe 1993; Kirt 2001).Die Tatsache, dass sich Krisen in der Vergangenheit stets als »Ent-wicklungskrisen«, mithin als Schrittmacher der europäischen In-tegration entpuppt haben, lässt sich freilich keineswegs automa-tisch und bruchlos in die Zukunft fortschreiben. Nicht wenige befürchten, dass bereits der Übergang von der Weltfinanz- zur Staatsschulden- und Eurokrise das Potenzial einer »Existenz-krise« in sich birgt, deren Ausgang vollkommen offen ist. Dies wird denn auch deutlich, wenn die stabilisierenden und destabili-sierenden Faktoren der Integration genauer betrachtet werden (vgl. Deppe 1993, S. 11ff.). So hat auf der einen Seite in den letzten Dekaden der Grad der ökonomischen Verflechtung zugenom-men, die Regulierungskapazität des EU-Systems ist angewach-sen, und auch die Prozesse der gesellschaftsstrukturellen und kulturellen Konvergenz bis hin zur Herausbildung einer »europäi-schen Identität« haben – zumindest in den Kern-Ländern der EU – an Bedeutung gewonnen. Neben diesen stabilisierenden, lassen sich auf der anderen Seite aber ebenso einige destabilisierende Faktoren identifizieren. Diese bestehen in einer ungleichgewich-tigen und zum Teil auch ungleichzeitigen wirtschaftlichen Entwick lungsdynamik, in ungewissen weltpolitischen und welt-ökonomischen Einflüssen, in mitunter zugespitzten ge sell-schaftspolitischen Konflikten wie auch in divergierenden zwi-schenstaatlichen Krisen- und Problemdiagnosen und damit verbundenen intergouvernementalen Konflikten.In den letzten Jahren sind nun nicht nur die destabilisierenden Faktoren in den Vordergrund getreten. Es wächst auch mehr und

mehr die Befürchtung, dass sich die wirtschaftliche Verflechtung, einst eine zentrale Grundlage der Kooperation, unter Krisenbe-dingungen und verschärften Verteilungskämpfen schon längst in einen Faktor der Destabilisierung transformiert hat. Dies zeigte sich bereits in der Weltfinanzkrise, als die vielfältigen Unsicher-heiten der finanzmarktvermittelten, oft sehr kurzfristigen und von der übrigen Wirtschaftstätigkeit partiell entkoppelten Trans-aktionen eine transnationale Kreditklemme erzeugten. Aber auch in der sog. Staatsschuldenkrise wirken die finanzmarktver-mitteln Interdependenzen insofern destabilisierend, als sich hin-ter ihnen stark asymmetrisch strukturierte Gläubiger-Schuldner-Beziehungen verbergen, die sich – da auch die nationalen Wirtschaftsräume ungleich betroffen sind – in politisch divergie-renden verteilungspolitischen Interessen und Machtverhältnis-sen artikulieren. Den Regierungen der Gläubigerländer erschei-nen dabei die Vorteile weiterer Vergemeinschaftungsschritte unsicher und die potenziellen Ausfallkosten von Krediten oder Bürgschaften zugleich als sehr hoch und schwer kalkulierbar. Doch nicht nur die verteilungspolitische Unübersichtlichkeit, auch unterschiedliche, zuweilen konträre wirtschaftspolitische Konzeptionen machen es den Entscheidungsträgern schwer, neue europäische Projekte zu lancieren, die die konkurrierenden Sichtweisen und Interessen ausbalancieren und als eine mögliche »Win-Win«-Option auf breite Zustimmung stoßen.

Von der Euro-Krise zur Euro-Rettung?

In diesem Sinne haben nicht nur konfliktive Interessen, sondern auch die divergierenden Leitbilder und Konzeptionen die jünge-ren Diskussionen über eine angemessene und erfolgreiche Re-form der europäischen Geld-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik schwer belastet. Dies galt noch nicht für die Zeit unmittelbar nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise, die vor allem durch eine expansive Geld- und Finanzpolitik, d. h. Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme in Verbindung mit einem sehr niedrigen

Zeitplan & Ablauf des Europäischen Semesters

Januar Februar März April Mai Juni Juli

Europäische Kommission Jahreswachs-

tumsbericht

KOM verabschiedet Empfehlun-gen für die Einschätzungen des Rates zu den SCPs und länder-

spezifische Empfehlungen

MinisterratDebatte &

Orientierung

Rat verabschiedet Einschätzun-gen zu den SCPS und länderspezi-

fische Empfehlungen

Europäisches Parlament Debatte &

O rientierung

Europäischer Rat Jährliche Wirtschafts- und Sozial-

gipfel: Leitlinien für die Politik

Bildung der län-derspezifischen Empfehlungen

Mitgliedstaaten Verabschiedung der nationalen Re-formprogramme (NRPs) & Stabilitäts-

und Konvergenzprogramme (SCPs)

Abb. 1 Das »europäische Semester«: bereits ein halbes Jahr bevor die nationalen Parlamente darüber abstimmen, müssen die Mitgliedstaaten ihre Haushaltspläne der Kommission und den übrigen Mitglied-staaten vorlegen. © nach: Bundesministerium für Finanzen

Die Euro -Krise in einer ökonomis ch und p olitisch ho chintegrierten Region

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Leitzins und zusätzlichen Zentralbankkrediten, gekennzeichnet war. Als sich seit Ende 2009 dann aber die europäische Problem-lage und der Krisendiskurs wandelten und fortan von einer »Staatsschuldenkrise« die Rede war, traten die Gläubiger-Interes-sen dahingehend in den Vordergrund, dass auf eine Bedienung der vormals bereitgestellten Kredite gepocht wurde. Um dies zu ermöglichen, wurden Austeritätsprogramme eingefordert, eine Beteiligung der Gläubiger etwa auf dem Weg eines – partiellen – Schuldenerlasses hingegen lange abgewehrt. Die politischen Ak-teure – die Regierungen Deutschlands, Österreichs, der BeNeLux-Staaten sowie der skandinavischen Länder wie auch die Europäische Kommission – übernahmen diese Positionen weitge-hend, mussten in den Verhandlungen zum Teil aber auch die Inte-ressen der Defizitländer berücksichtigen (vgl. Bieling 2011). So waren die endlos erscheinenden Verhandlungsschleifen dadurch gekennzeichnet, dass die Einrichtung eines europäischen Ret-tungsfonds (EFSF bzw. ESM) und die weitere Kreditgewährung mit harten Auflagen, d. h. strikten Sparprogrammen und der Um-setzung einer finanzpolitisch disziplinierenden Reformagenda, verknüpft wurden. Die süd- und osteuropäischen Staaten beklag-ten dabei zwar die Verzögerungstaktik und die schulmeisterliche Bevormundung seitens der deutschen Bundesregierung, willig-ten letztlich aber ein; wohl auch, weil sich der finanzielle und po-litische Druck erhöhte und sich die Gläubiger-Perspektive in dem politischen Projekt der »Euro-Rettung« als allgemeinwohl-orien-tiert zu präsentieren vermochte.Die im Laufe der letzten Monate ausgehandelte Reform der WWU orientiert sich konzeptionell demzufolge sehr stark an ordo-libe-ralen Vorstellungen einer Regeln setzenden Politik (vgl. Scharpf 2011). Die politisch und institutionell unabhängige, möglichst nicht-interventionistische Geldpolitik der Zentralbank soll dabei durch eine verschärft restriktive Finanzpolitik ergänzt werden. Jenseits der unmittelbaren Einflussnahme auf die hochverschul-deten Länder durch EFSF-Kredite und Auflagen der Troika (beste-hend aus Europäischer Kommission, IWF und EZB) sind im Zuge der WWU-Reform zusätzliche europäische Kontrollinstrumente geschaffen worden. Diese stellen sich bislang wie folgt dar (vgl. Hacker/van Treeck 2010):• Erstens verständigten sich die Regierungen auf die Einfüh-

rung eines »Europäischen Semesters«. Dieses soll es der Europäi-schen Kommission und dem Europäischen Rat ermöglichen, gleichsam präventiv auf die Struktur und die politischen Prio-ritäten der nationalen Haushalte Einfluss zu nehmen. (| Abb. 5 |)

• Zweitens haben die Europäische Kommission, der Rat und das Europäische Parlament ein sog. »Six Pack« verabschiedet. Die-ses beinhaltet fünf Verordnungen und eine Richtlinie, durch die der Stabilitäts- und Wachstumspakt weitreichend refor-miert wird. Das neue Verfahren zur Überwachung und Korrek-tur makroökonomischer Ungleichgewichte erstreckt sich fortan auch auf die Leistungsbilanzen, vor allem aber können Sanktionen im Rahmen eines Defizitverfahrens nur noch durch Zweidrittel-Mehrheiten abgelehnt werden.

• Nach der französischen Forderung einer europäischen Wirt-schaftsregierung und dem deutschen Gegenvorschlag eines »Paktes für Wettbewerbsfähigkeit« verabschiedete der Europäi-sche Rat drittens einen »Euro plus Pakt«, der sich vornehmlich an der deutschen Initiative orientiert. Dabei sind die 17 Regie-rungen der Eurozone plus Bulgarien, Dänemark, Lettland, Li-tauen, Polen und Rumänien übereingekommen, auf freiwillig-unverbindlicher Grundlage eine wettbewerbsorientierte Lohn-, Arbeitsmarkt, Sozial- und Steuerpolitik zu koordinie-ren.

Die hier nur knapp skizzierten Reformmaßnahmen sind auf dem Krisengipfel im Dezember 2011 zuletzt nochmals bestätigt und punktuell – etwa mit Blick auf einen früheren Übergang zum ESM und das Projekt einer Fiskalunion – modifiziert worden. Sie lassen sich dahingehend interpretieren, dass die bisherige, vornehmlich austeritätspolitisch ausgerichtete Konzeption des europäischen

Wirtschaftsregierens grundsätzlich beibehalten, durch schärfere Kriterien und härtere Instrumente jedoch zugleich modifiziert wird. So betrachtet laufen die ausgehandelten Reformpakete auf eine selektive Vergemeinschaftung weiterer politischer Kompe-tenzen und Kontrollkapazitäten hinaus. Allerdings haben die ein-geleiteten Schritte, wie das Projekt der »Euro-Rettung« insge-samt, einen vornehmlich defensiv-reaktiven Charakter. Dies gilt umso mehr, als durch die schnelle Abfolge immer neuer Krisen-gipfel der Eindruck erzeugt wird, dass die politischen Entschei-dungsträger den Finanzmarktdynamiken, d. h. den Befürchtun-gen der Banken, institutionellen Anleger oder Rating-Agenturen, nur noch hinterher laufen, nicht aber aktiv gestalten. Durch die Versuche einer ad hoc Stabilisierung wird zuweilen zwar etwas Zeit gewonnen, ohne dass diese aber politisch genutzt würde.Offenkundig befinden sich die Regierungen in einem Dilemma: Wollen sie die Ursachen der aktuellen Krisenkonstellation besei-tigen, müssten sie eigentlich die Bewegungsspielräume der Fi-nanzmarktakteure deutlich beschneiden, was aber wiederum deren Liquidität und damit auch die derzeit erforderlichen Kre-ditangebote verknappen dürfte. Geben sie hingegen den Forde-rungen der Finanzwelt zu sehr nach, scheint die Entstehung neuer Blasen und Instabilitäten nur eine Frage der Zeit zu sein. Die in der EU eingeschlagene Strategie, durch eine selbstauferlegte austeritätspolitische Konsolidierungsstrategie das Vertrauen der Finanzmärkte wiederherstellen zu wollen, korrespondiert allge-mein mit der zweiten Handlungsoption, da die Finanzinstitute bislang kaum an den Kosten der Krise beteiligt werden. Im Ge-genteil, sie erhalten im Bedarfsfall sogar weitere Liquiditätssprit-zen, die aber keineswegs so angelegt sind – dies wäre die Funk-tion von Eurobonds oder einer von der EZB errichteten Brandschutzmauer gegen überhöhte Zinsen auf Staatspapiere –, dass den Spekulationen der Finanzmarktakteure ein Riegel vor-geschoben wird.Ob die diversen Rettungsschirme, Unterstützungsmaßnahmen und haushaltspolitischen Disziplinierungsinstrumente ausrei-chen, die Euro-Krise zu überwinden, ist letztlich daher zweifel-haft. Dies liegt zum einen daran, dass die europäischen Krisendy-namiken sehr umfassend und schwer kalkulierbar sind. In vielen Ländern überlagern sich zudem mehrere Krisendimensionen – Verschuldungsprobleme, Leistungsbilanzungleichgewichte und strukturelle Modernisierungsblockaden –, die durch ein strikte-res »Weiter so!« kaum in den Griff zu bekommen sind. Zum ande-ren folgen die punktuell erweiterten europäischen Kompetenzen und politischen Instrumente aber genau dieser Leitlinie. Die Vor-stellung, durch die fortschreitende Vertiefung der Markt- und Währungsintegration ein »Level Playing Field« und mehr Wettbe-werbsfähigkeit zu generieren, ist selbst unter Krisenbedingun-gen nur modifiziert, nicht aber aufgegeben worden. Gleichzeitig spielen all jene Konzepte, die darauf zielen, die ungleichen Ent-wicklungsdynamiken innerhalb der WWU durch eine Einschrän-kung der Kapitalmobilität und zusätzliche, vor allem industriepo-litische Instrumente zu korrigieren, in der Reformdiskussion bislang keine Rolle.

Wirkungen und Perspektiven

Die skeptische Analyse des europäischen Krisenmanagements schließt keineswegs gänzlich aus, dass die EU in der Lage ist, die Euro-Krise zu bewältigen. Unter den gegebenen Umständen müsste dies allerdings durch externe Impulse, etwa eine dynami-sche Weltkonjunktur in Verbindung mit chinesischen Finanzhilfen und Krediten, erfolgen. Bislang werden die internen Potenziale zur Überwindung der Euro-Krise jedenfalls nicht hinreichend mo-bilisiert und eingesetzt. Im Gegenteil, durch eine EU-Politik, die sich an der Konzeption einer austeritätspolitisch ausgerichteten Fiskalunion orientiert, wird eine konjunktur- und haushaltspoliti-sche Stabilisierung erschwert. Wahrscheinlich sind demzufolge weitere Krisendynamiken, deren mittel- und langfristige Effekte

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nicht zu unterschätzen sind. Vor allem zwei Dimensionen sind dabei von besonderer Be-deutung.(1) Die erste Dimension besteht darin, dass

die Euro-Krise vermittelt über die Austeri-tätspolitik (staatliche Sparprogramme) in vielen Ländern die »soziale Krise« ver-schärft. Nachdem die soziale Ungleich-heit bereits in den vergangenen Jahr-zehnten deutlich angestiegen war (vgl. OECD 2011), mehren sich in der Folge der Weltfinanz- und Euro-Krise die sozialen Problemlagen insbesondere in der EU-Peripherie. Schon unmittelbar nach Aus-bruch der Weltfinanzkrise war in vielen Ländern die Arbeitslosigkeit dramatisch angestiegen. Im Zuge der in einigen Län-dern äußerst drastischen Sparpro-gramme werden nun vielfach die Arbeits-plätze und Löhne im öffentlichen Sektor, das öffentliche Dienstleistungsangebot und auch einige Sozialleistungen gekürzt. Dies strahlt auch auf die Privatwirtschaft aus, mit der Folge, dass die atypischen, oftmals prekären Beschäftigungsformen weiter an Bedeu-tung gewinnen. Überproportional negativ betroffen sind von dieser Entwicklung vornehmlich gering qualifizierte Berufs-gruppen, in hohem Maße Jugendliche, aber auch viele Alte und zuletzt erneut Frauen.

(2) Die »soziale Krise« mündet vielfach in Resignation, zuweilen aber auch in öffentliche Proteste und Streikaktionen. Beide Phänomene weisen darauf hin, dass die »soziale Krise« in eini-gen Ländern bereits mit einer »Krise der Demokratie« korres-pondiert, d. h. einem rapiden Vertrauensverlust großer Bevöl-kerungsgruppen in die Gestaltungsfähigkeit der nationalen Politik. Durch die Reform des europäischen Wirtschaftsregie-rens, insbesondere durch die harten austeritätspolitischen Auflagen der sog. Troika – bestehend aus EU-Kommission, IWF und EZB – ist dieser Prozess maßgeblich gefördert wor-den. Was dies demokratiepolitisch bedeutet, ist unter ande-rem von Jürgen Habermas (2011, S. 81) mit dem Begriff des »Exekutivföderalismus«, d. h. der »intergouvernementalen Herrschaft des Europäischen Rates«, angesprochen worden. Noch im Konjunktiv formuliert, sieht er die Gefahr eines von Deutschland und Frankreich dominierten Steuerungszent-rums, das intransparente und »rechtlich formlose Vereinba-rungen« trifft, die »Imperative der Märkte an die nationalen Haushalte« weitergibt und dabei die nationalen Parlamente entmachtet, kurzum: das supranationale Gemeinwesen in ein »Arrangement zur Ausübung postdemokratisch-bürokrati-scher Herrschaft« transformiert.

Beide Krisendynamiken lassen befürchten, dass durch den einge-schlagenen Reformpfad der Prozess der europäischen Integra-tion nachhaltig beschädigt wird. Anstatt die Euro-Krise dazu zu nutzen, das erreichte ökonomische und politische Integrations-niveau zu festigen und aus zubauen, d. h. durch eine soziale Ein-bettung und industriepolitische Steuerung der Ökonomie und die Demokratisierung der politischen Entscheidungsabläufe zu sta-bilisieren, sorgt das marktliberal-austeritätspolitische Reform-konzept dafür, dass die gesellschaftlichen Krisendynamiken und letztlich auch zwischenstaatlichen Konfliktpotenziale weiter zu-nehmen. So ist es keineswegs gänzlich ausgeschlossen, dass durch die Euro-Krise ein Prozess der europäischen, auch poli-tisch-institutionellen Desintegration eingeleitet wird, in dem das bislang erreichte Integrationsniveau wieder abgesenkt wird.

Literaturhinweise

Bieling, Hans-Jürgen (2011): Vom Krisenmanagement zur neuen Konsolidie-rungsagenda der EU, in: Prokla 41(2), S. 173–194.

Bieling, Hans-Jürgen (2010): Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, VS-Verlag, Wiesbaden.

Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank (2003): Die neue europäische Ökonomie und die Trans-formation von Staatlichkeit, in: Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Leske & Budrich, Opla-den, S. 513–539.

Delors, Jacques (2011): „Wir stehen am Abgrund“. Interview, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. Sept., S. 25.

Deppe, Frank (1993): Von der „Europhorie“ zur Erosion -Anmerkungen zur Post-Maastricht-Krise der EG, in: Frank Deppe und Michael Felder, Zur Post-Maastricht Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG), FEG-Arbeitspapier Nr. 10, Marburg, S. 7–62.

Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Hacker, Björn/van Treeck, Till (2010): What influence for European gover-nance? The Reformed Stability and Growth Pact, the Europe 2020 Strategy and the “European Semester”, International Policy Analysis, December 2010, Friedrich Ebert Stiftung, http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/07724.pdf.

Kirt, Romain (Hrsg.) (2001): Die Europäische Union und ihre Krisen, Nomos, Baden-Baden.

Ruggie, John Gerard (1982): International Regimes, Transactions and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order, in: Internati-onal Organization 36(2), S. 379–416.

Statz, Albert (1989): Die Entwicklung der europäischen Integration – ein Pro-blemaufriss, in: Frank Deppe, Jörg Huffschmid und Klaus-Peter Weiner (Hrsg.), 1992 – Projekt Europa. Politik und Ökonomie in der Europäischen Gemeinschaft, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, S. 13–38.

OECD (2011): Divided We Stand. Why Inequality Keeps Rising, OECD-Publi-shing, Paris.

Ziltener, Patrick (1999): Strukturwandel der europäischen Integration. Die Europäische Union und die Veränderung von Staatlichkeit, Westfälisches Dampfboot, Münster.

Abb. 2 »Proteste nach den Sparbeschlüssen vor dem Parlamentsgebäude und auf dem Syntagma-Platz in Athen« © picture alliance, 16.11.2011

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MATERIALIEN

M 1 Jacques Delors: » Wir stehen am Abgrund« (Gespräch mit dem ehema-ligen EU-Kommissionspräsidenten in der FAZ)

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Was lief falsch bei der Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion, Monsieur Delors?Delors: Es war doch von Anfang an klar, dass eine gemeinsame Währungspolitik als zwei-ten Pfeiler eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik braucht. Das hatte auch der Bericht des »Weisenrates« verlangt, dem ich 1989 vorstand. Hätte es schon damals eine koordinierte Wirtschaftspolitik gege-ben, hätten die Griechen vor ihrem Beitritt größere Anstrengungen unternehmen müs-sen, um ihre Wirtschaft in Ordnung zu brin-gen. Damals waren aber unsere deutschen Freunde dagegen. Es stimmt, die Deutschen sind die größten Beitragszahler der Europäi-schen Union. Sie lassen es nicht an Solidari-tät fehlen. Aber sie haben sich lange gewei-gert, ihre Wirtschaftspolitik mit der der anderen Mitgliedstaaten zu koordinieren.FAZ: Fehlte es an der Kontrolle?Delors: Die Forderung der Kommission nach besseren Kontroll-mechanismen wurde damals abgelehnt. Es war immerhin richtig, eine »No-Bail-Out-Klausel« in die Verträge zu schreiben, also festzulegen, dass nicht ein oder mehrere Mitglieder für die Schul-den der anderen aufkommen. Der Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs hat jedoch vieles übersehen: man denke nur an die Statistik-Lügen Griechenlands, die exzessive Verschul-dung der privaten Haushalte in Spanien oder die gefährlichen Spekulationen der irischen Banken. Deshalb gibt es eine gera-dezu moralische Verantwortung der Politik dafür, dass der Euro ein dauerhafter Erfolg bleibt. Wir stehen am Abgrund – gerade deshalb müssen wir Griechenland retten. (…)FAZ: Haben Sie Verständnis für die Ängste der Deutschen?Delors: Zu meiner Zeit als Kommissionspräsident war Helmut Kohl deutscher Bundeskanzler und Theo Waigel sein Finanzmi-nister. Beide haben mir gesagt, dass zwei Drittel der Deutschen dagegen seien, die D-Mark aufzugeben. Die Deutschen hatten ihre Bedenken. Die Diskussion über die Preisgabe der eigenen Währung war in Deutschland viel intensiver als in Frankreich. Ich hatte durchaus Verständnis dafür. Dennoch haben die Deutschen den Euro akzeptiert. Das war ein großes Geschenk für Europa.FAZ: Wird Griechenland in der Eurozone bleiben können?Delors: Ja, ich glaube, dass Griechenland in der Eurozone bleiben wird. Was mich besorgt, ist die Leichtigkeit, mit der manche der politisch Verantwortlichen über diese Frage reden. Jeder sagt seine Meinung öffentlich, es gibt geradezu eine Kakophonie. Was sollen die Menschen denken, wenn die politischen Führungsfigu-ren so reden? Diese sollten vielmehr deutlich machen, dass sie gewillt sind, unser gemeinsames europäisches Unterfangen fort-zusetzen.(…)FAZ: Die Bundesregierung hat sich lange gegen eine europäische Wirt-schaftsregierung gewehrt, die Frankreich immer gefordert hat. Jetzt hat Bundeskanzlerin Merkel an der Seite von Präsident Sarkozy doch nachge-geben. Ist das, was die beiden angekündigt haben, wirklich eine Wirt-schaftsregierung für Europa?Delors: Was die Bundeskanzlerin und der französische Präsident angekündigt haben, ist keine Wirtschaftsregierung. Wenn die Staats- und Regierungschefs der Eurozone alle drei Monate bei ihren Zusammenkünften ohne spezielle Vorbereitung über ihre Wirtschaftspolitik sprechen, dann ist das nur Geschwätz. Hier

gibt es ein großes Missverständnis. Wenn wir vorankommen wol-len, dürfen wir nicht auf die intergouvernementale Methode hof-fen, also auf Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs. Wir müssen zur gemeinschaftlichen Methode zurückkehren, die sich bewährt hat. Die sozialstaatlichen Systeme werden sich wohl nie vollends aneinander angleichen, dafür sind die Traditionen viel zu unterschiedlich. Aber es wäre doch schon viel getan, wenn den Finanzministern der Eurozone das wenigstens mit der Unter-nehmensteuer gelänge. Lassen sie uns gegen Wettbewerbsver-zerrungen kämpfen, aber lassen sie jedes Land sein eigenes Sozi-almodell bewahren! (…) FAZ: Halten Sie Eurobonds für ein Mittel, die Lage des europäischen Fi-nanzsystems wieder zu stabilisieren?Delors: Die weltweite Liquidität hat sich seit dem Zusammen-bruch von Lehman Brothers verdreifacht. Dieses Geld will ange-legt sein. Da sind Eurobonds eine Möglichkeit, kein Wundermit-tel. Ich schlage vor, den am 21. Juli beschlossenen europäischen Stabilitätsmechanismus als juristische Struktur dafür zu nutzen. Aber natürlich muss die Ausgabe von Eurobonds strikt kontrol-liert werden. Es darf überhaupt nur in Maßen auf Eurobonds zu-rückgegriffen werden. Vergessen Sie nicht das Interesse Europas an einem großen Markt von Staatsanleihen in Euro. Das wäre hilf-reich für den Wettbewerb mit dem Dollar und würde Kapital an-ziehen. Es bleibt die Frage: Welche Kosten entstehen Deutsch-land dadurch? Ich glaube, wir können uns darüber verständigen, indem alle einen Beitrag dazu leisten, die Kosten für Deutschland zu verringern. (…)FAZ: Wir Deutschen haben ja viel vom Euro profitiert, haben Sie das Ge-fühl, dass wir uns jetzt undankbar verhalten?Delors: Nein, es fehlt nicht an Dankbarkeit, sondern an Realis-mus. Das ist es, was Frau Merkel zum Nachdenken gebracht hat. Die Kosten-Nutzen-Analyse spielt da eine Rolle. Man sollte die großen Vorteile des Euro stärker herausstellen. Dieses Argument habe ich bei den Grünen gehört, in der SPD, aber auch bei Minis-ter Schäuble. Ich bin optimistisch, dass sich ein Konsens heraus-bildet, am Euro festhalten zu wollen.FAZ: Wie steht es um Frankreichs europäische Verpflichtungen, etwa das Versprechen, im Namen der Stabilitätskultur eine Schuldenbremse einzu-führen?Delors: Ich muss erklären, was ich unter Stabilitätskultur ver-stehe. Für mich ist die Inflation das schlimmste Übel, sie bringt alle ökonomischen Rechnungen aus dem Gleichgewicht und las-tet auf den Ärmsten. Als ich Finanzminister wurde, lag die Infla-

M 2 Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission (1985–1994) Jacques Delors © Wiktor Dabkowski, picture alliance 2011

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tion bei elf Prozent. Ich habe mir gesagt: Ich werde gegen die Inflation kämpfen, wenn es sein muss, allein. Als ich aus dem Amt ge-schieden bin, lag die Inflation bei drei Pro-zent. Ich halte es für unverantwortlich, wie einige es heute empfehlen, über die Inflation die Schuldenkrise lösen zu wollen. Ich bin also ein Anhänger der Stabilitätskultur.FAZ: Ist die heutige Krise mit denjenigen, die wir früher erlebt haben, zu vergleichen?Delors: Nein, diese Krise ist nicht vergleich-bar, denn je weiter Europa fortschreitet, um so mehr steht auf dem Spiel, umso größer sind die Risiken. Aber natürlich hat es zuvor schwere Krisen gegeben. Erinnern Sie sich beispielsweise an die Zeit nach dem Öl-schock in den Siebzigerjahren. Die Energie-preise hatten sich verfünffacht. Aber Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing haben diese Krise überwunden, denn sie hatten eine eu-ropäische Gesinnung. Sie haben das europäi-sche Währungssystem begründet, ohne das es den Euro nicht gegeben hätte. Heute dro-hen zwei Risiken: Verschuldung und Rezes-sion. Wie kann man beides vermeiden? Für die Europäer muss das mehr Haushaltsdiszi-plin auf der nationalen Ebene bedeuten und mehr Konjunktur-programme auf der Ebene der EU. Mit Eurobonds sollte man zu-kunftssichernde Staatsausgaben finanzieren, wie staatliche Investitionen, Forschung und Bildung.

Jacques Delors: Wir stehen am Abgrund. Gespräch mit dem ehemaligen EU-Kommissions-präsidenten vom 26.9.2011 in der FAZ. Delors war von 1981–1984 Wirtschafts- und Finanz-minister im Kabinett des französischen Präsidenten François Mitterand.

M 3 Janusz Lewandowski: »Sparen allein reicht nicht!« (Gespräch in der StZ)

StZ: Herr Kommissar, beim EU-Gipfel (…) geht es um Wachstum und Be-schäftigung – das Eingeständnis, dass es bisher zu einseitig ums Kürzen geht?Lewandowski: Das Paradigma der europäischen Wirtschaftspoli-tik ändert sich gerade. Bisher ist das Sparen die Mutter aller Poli-tikentwürfe gewesen. Jetzt erkennen wir vor allem in Griechen-land, Italien und Spanien, dass das nicht reicht. Der Fokus verschiebt sich also ein wenig Richtung Wachstum und Arbeits-plätze – gleichwohl gibt es in dem neuen Fiskalpakt nichts dazu.StZ: In Polen sind Sie nicht eben als Keynesianer aufgefallen, haben als Minister Ihr Land nach dem Ende des Kommunismus quasi privatisiert. Nun sagen Sie, die öffentliche Hand solle Konjunkturimpulse setzen?Lewandowski: Sie haben recht, ich bin kein Keynesianer, gehöre eher der liberalen Freiburger Schule an. Trotzdem sehe ich die Nachfragelücke, die durch das Kürzen der öffentlichen Ausgaben entstanden ist. Deswegen sehe ich den EU-Haushalt als ein Inst-rument, um diese Lücke zumindest teilweise mit unseren Struk-turfonds zu schließen. Wir brauchen öffentliche Investitionen, um den Arbeitsmarkt zu beleben.StZ: Die Strukturhilfe fließt seit Jahrzehnten. Ihre Wirksamkeit aller-dings steht nach den Erfahrungen vor allem mit Griechenland, aber auch mit Italien und Spanien infrage.Lewandowski: Die Strukturfonds funktionieren. Mein Heimat-land Polen hat eine lange Phase des Wachstums hinter sich, die sich ohne die EU-Mittel nicht erklären lässt. Aber ich weiß natür-lich, dass es nicht überall so gut läuft. Das liefert den Euroskepti-kern die Argumente frei Haus. Die Strukturfonds wirken aber in den Ländern, in denen sie klug und gezielt eingesetzt werden.StZ: Wie das geht, wird den Griechen gerade von Brüsseler Kommissions-experten vermittelt.

Lewandowski: Viele Länder brauchen technische Hilfe, um das Geld abrufen zu können. Für Griechenland haben wir auch die so-genannte Co-Finanzierungsrate verringert. Die Griechen müssen also weniger Geld selbst beisteuern, um an EU-Mittel zu kom-men. (…)StZ: Welche Möglichkeiten haben Sie sonst, um den Etat konjunkturför-dernd auszurichten?Lewandowski: Mein Vorschlag für die nächste Finanzierungsperi-ode sieht zum Beispiel ein Einfrieren des absoluten Betrages im Agrarbereich vor, damit wird ein größerer Anteil für Wachstums-bringer frei. Wir stecken damit statt bisher 50 künftig 80 Milliar-den Euro in Forschung und Wirtschaft.StZ: Die Staats- und Regierungschefs könnten (…) festlegen, dass ein noch größerer Anteil des EU-Etats in diese Bereich fließt.Lewandowski: Wenn man Raum für Einschnitte sucht, würde ich wetten, dass es nicht im Agrarbereich stattfindet. Dazu kenne ich diese Verhandlungen einfach zu gut.StZ: Sie wollen unabhängiger vom Gefeilsche der Mitgliedstaaten wer-den und über eigene Einnahmen – zum Beispiel aus der Finanztransakti-onssteuer – verfügen. Die Reaktionen auf diesen Vorstoß waren vernich-tend.Lewandowski: Ich muss das ja immer wieder sagen: Wir wollen nicht mehr Geld. Im Gegenzug würde die Überweisung von Herrn Schäuble aus Berlin kleiner ausfallen.StZ: Apropos Berlin, dort hat Ihr Außenminister Radoslaw Sikorski ver-gangenes Jahr eine wohl historische Rede gehalten. Gehören Sie auch zu den Polen, die angesichts der großen Krise mehr die Untätigkeit Deutsch-lands als dessen Führungsanspruch fürchten?Lewandowski: Das war eine kopernikanische Wende im deutsch-polnischen Verhältnis. Aber es stimmt, was Sikorski sagt. Zwar kommt eine deutsche Führungsrolle im Ausland nicht immer gut an, genauso wenig der Führungsanspruch des Duos »Merkozy«, dabei ist das Voranschreiten bei Reformen sehr, sehr wichtig. Ich bin dafür, die »deutschen« Wirtschaftsstandards als allgemeine Standards in Europa zu übernehmen.

Janusz Lewandowski: »Sparen allein reicht nicht!«, Stuttgarter Zeitung vom 26.1.2012, S. 7, Das Gespräch führte Christopher Ziedler

M 4 Janusz Lewandowski, EU-Kommissar für Haushalt und Finanzen, am 23.1.2012 in Brüssel © Julien Warnard, picture alliance

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M 5 Fritz W. Scharpf: »Noch verteidigt Deutsch-land jeden Meter Boden« (Gespräch in der SZ)

Süddeutsche Zeitung (SZ): Europa schleppt sich von Gipfel zu Gipfel. Jedes Mal wird die ultimative Rettung ge-feiert, dann senken die Märkte den Daumen. Wie lange geht das noch?Fritz W. Scharpf: Bis die deutsche Regierung akzep-tiert, dass man Euro-Bonds braucht oder es der Euro-päischen Zentralbank (EZB) erlaubt, Staatsschulden zu kaufen. Solange die Chance besteht, dass der Ret-tungsschirm zu klein ist, wird die Spekulation weiter-laufen. Nur das deutsche Veto verhindert, dass die Spekulation gestoppt wird.SZ: Europa macht jetzt, was Berlin vorschreibt: sparen.Scharpf: Und zwar bevor man den großen Rettungs-schirm aufspannt. Die Deutschen meinen, damit aus erzieherischen Gründen warten zu müssen. So gerät ein Land nach dem anderen unter Druck.SZ: Wie könnte denn eine dauerhafte Lösung für den Euro aussehen?Scharpf: Man müsste zwei Probleme lösen. Da sind zum einen die Ungleichgewichte zwischen den Euro-Staaten: Leistungsbilanzdefizite bei den anderen, Überschüsse bei uns; die überbewerteten realen Wechselkurse der Defizitlän-der, der unterbewertete bei uns. Die deutschen Exporte werden dadurch mit etwa zehn Prozent subventioniert, die Exporte der Defizitländer entsprechend belastet. Solange man das nicht än-dert, bleiben die Defizitländer abhängig von internationaler Ka-pitalzufuhr.SZ: Was ist das zweite Problem?

Scharpf: Das sind die Realzinsen. Die EZB kann für die Euro-Staa-ten nur einheitliche Nominalzinsen vorgeben. Wenn sich aber die Inflationsraten unterscheiden, entstehen dadurch unterschiedli-che Realzinsen. Das hat uns Anfang des Jahrtausends geschadet, als uns hohe Realzinsen eine tiefe Rezession bescherten, wäh-rend die Südländer durch Realzinsen um null in eine Überkon-junktur getrieben wurden, was die bekannten Probleme verur-sachte. Jetzt ist es umgekehrt: Unsere Realzinsen sind bei null oder negativ, die der Südländer exorbitant hoch, wodurch wirt-schaftlich nichts in Gang kommen kann. Wenn man daran nichts ändern kann, ist es außerordentlich schwer, sich vorzustellen, wie die Euro-Zone ins Gleichgewicht finden sollte.SZ: Also müssen sich alle ändern, die anderen und die Deutschen?Scharpf: Die EU-Kommission, das EU-Parlament und fast alle Ökonomen außerhalb Deutschlands sind der Meinung, dass in Deutschland Preise und Löhne steigen, die Importe zunehmen und die Exporte nicht mehr so wachsen sollten; für die Defizitlän-der gälte das Gegenteil. Die Bundesregierung versucht aber, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie entsprechend in die Pflicht genommen wird. Eigentlich müssten wir zum Beispiel die Mehr-wertsteuer deutlich senken, um den Konsum und damit die Im-porte anzukurbeln.SZ: Die Deutschen sagen: Wir lassen uns nicht bestrafen für unseren Er-folg.Scharpf: Da sind sich alle einig: Die Gewerkschaften wollen die wiedergewonnenen Arbeitsplätze nicht riskieren, die Arbeitgeber nicht ihre Exportvorteile aufgeben. In einer Währungsunion kön-nen aber nicht alle Exportüberschüsse erzielen. Das ist ein Null-summenspiel. Es gibt gegensätzliche Interessen: Wir verlangen etwas von den Defizitländern, was diese nicht erreichen können, wenn wir unsere Überschüsse nicht reduzieren.SZ: Für die Währungsunion scheinen weder Bundesregierung noch Bun-desbank ein schlüssiges Konzept zu haben. Sie pochen nur auf die Regeln. Warum?Scharpf: Beide glauben offenbar noch immer, dass die Ursache der Krise überhöhte Staatsdefizite und unverantwortliches Ver-halten der Defizitländer waren; dass man das vermeiden hätte können, wenn sich alle besser an die Regeln gehalten hätten; und dass man jetzt besonders harte Regeln und Sanktionen braucht. Wenn diese Prämissen stimmten, wäre das eine konsequente Linie.SZ: Und wie kommen wir da wieder raus?Scharpf: Wir müssen erst einmal die Entstehung der Probleme verstehen und überlegen, wie man einem Gleichgewicht in der Euro-Zone näherkommt. Über Geldpolitik wird leider nicht disku-

M 7 »Auswege aus der Schuldenkrise?« © Klaus Stuttmann, 2011

M 6 »Zehnjährige Staatsanleihen, Renditen in Prozent« © Die Wandlung der EZB, Handelsblatt, 13.1.2012, S. 12

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tiert. Aber da liegt der Kern. Die einzelnen Öko-nomien der Währungsunion sind sehr heterogen. Eine einheitliche Geldpolitik treibt die einen in die Überkonjunktur, die anderen in die Rezes-sion. Helfen könnte nur eine differenzierte Geld-politik.SZ: Wie könnte die aussehen?Scharpf: Das weiß noch keiner so recht. Es gibt in der Literatur Andeutungen, dass die EZB un-terschiedliche Mindestreserven für Banken in verschiedenen Ländern festsetzen könnte. Mit dem Bankenabkommen Basel III ließe sich wohl auch die Arbitrage bremsen, die dadurch ent-stünde, dass das Geld im einen Land teurer wäre als im anderen. Aber die EZB lehnt jede Überle-gung in diese Richtung ab.SZ: Was bedeutet das für die Europa-Politik? Was müsste sich da ändern?Scharpf: In der nationalen Politik wird die Wirt-schaftsentwicklung üblicherweise mit vier Inst-rumenten beeinflusst: Geldpolitik, Währungspo-litik, Fiskal- und Lohnpolitik. Sie werden alle miteinander eingesetzt, um gleichzeitig Inflation zu verhindern, stetiges Wachstum zu ermögli-chen, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu erhalten. Dann kamen die Monetaristen und sagten, die Geldpolitik reiche; an ihr müssten sich Finanz- und Lohnpolitik ausrichten. Die Bun-desbank orientierte ihre Vorgaben präzise am Zustand der deutschen Wirtschaft. Das hat in Deutschland ziemlich gut funktioniert. Die EU übernahm den deutschen Monetarismus, jedoch mit einer Zentralbank, die sich nicht an einzelnen Wirtschaften, sondern am Durchschnitt aller ori-entiert.SZ: Das war der Fehler? Scharpf: Die einheitliche Geldpolitik hat Scha-den angerichtet: Überkonjunktur hier, Rezession dort. Geld- und Wechselpolitik wurden zentrali-siert, die anderen Instrumente verblieben bei den Mitgliedstaaten, reichten aber nicht, um die Fehlsteuerungen durch die Geldpolitik zu korri-gieren. Jetzt will man auch die Finanzpolitik zent-ralisieren – in der Diskussion über eine EU-Wirt-schaftsregierung oder politische Union geht es darum, Europa noch mehr Kompetenzen zu geben. Da die Staaten aber heterogen bleiben, verliert die Politik immer mehr die Passform, die für die einzelnen Staaten wirksam ist.SZ: Ließe sich das Problem nicht gerade mit einer politischen Union behe-ben?Scharpf: Wenn Sie damit meinen, dass der EU-Haushalt auf 30 Prozent des EU-BIP (Bruttoinlandsprodukt) angehoben wird, dass die EU eine Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, eine Arbeits-losenversicherung und eine gemeinsame Sozialpolitik erhält, dann könnte das funktionieren wie in den USA. Davon redet aber kein Mensch.SZ: Also gilt für den Euro: ganz oder gar nicht?Scharpf: In der Konsequenz ja. Wenn man das alles vorausgese-hen hätte, hätte man den Euro nicht einführen, sondern das Euro-päische Währungssystem verbessern müssen, das ganz gut funk-tionierte. Das Problem war, dass sich die anderen damals nach der Bundesbank richten mussten, die nur auf die deutsche Wirt-schaft schaute. Daher wollten sie dieses System loswerden.SZ: Und was nun?Scharpf: Dreierlei wäre zu tun: erstens, wie gesagt, nach Mög-lichkeiten differenzierter Geldpolitik zu suchen. Zweitens den Prozess der realen Abwertung zu verlangsamen, den wir den Defi-zitländern zumuten über niedrigere Preise und Löhne. Dieser Pro-

zess ist nötig, aber man kann das nicht so radikal und schnell durchziehen, ohne eine Katastrophe zu bewirken. Drittens brau-chen wir – neben einem Rettungsschirm, der die Kapitalmärkte beruhigt – reale Transfers, um die Produktivität in den Defizitlän-dern zu steigern. Das geht nur durch Subventionierung, freiwillig investiert dort noch keiner. Das ist die Idee eines europäischen Marshall-Plans: exportorientierte Investitionen subventionieren. Gleichzeitig müsste unsere Importnachfrage gesteigert werden, was auch hieße, dass wir unseren Haushalt nicht so schnell sanie-ren könnten wie geplant. (…) SZ: Was kommt, wenn wir all dieser Probleme nicht Herr werden? Eine soziale Krise?Scharpf: Die haben wir schon, schauen Sie nach Spanien oder Griechenland.SZ: Die Deutschen spüren das noch nicht.Scharpf: Weil wir noch profitieren. Uns geht es wie den Griechen, Spaniern, Iren. Wir werden von Europa in eine Hochkonjunktur getrieben. Aber das ist nicht die Belohnung für unsere moralische Überlegenheit.

Fritz W. Scharpf: Noch verteidigt Deutschland jeden Meter Boden, Interview vom Thomas Kirchner in Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2011

M 8 Die Entwicklung der Handelsbilanzen ausgewählter Euro-Länder in Milliarden Euro © Financial Times Deutschland, 10.1.2012, S. 16

Die Euro -Krise in einer ökonomis ch und p olitisch ho chintegrierten Region

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xibler Wechselkurse. In dieser Zeit entwickelte sich die Deutsche Mark (DM) spontan durch die Bewertung der Marktkräfte zur Leitwährung in Europa, bei der sich mehrere Zentralbanken frei-willig an die Geld- und Zinspolitik der Deutschen Bundesbank an-legten. Für Deutschland war diese Entwicklung aber keineswegs nur vorteilhaft, denn die DM stand unter permanentem Aufwer-tungsdruck. 1979 wurde dann auf Vorschlag des deutschen Bun-deskanzlers Helmut Schmidt und des französischen Staatspräsi-denten Valery Giscard d’Estaing das Europäische Währungssystem gegründet, in dem die DM die sog. Ankerfunktion ausfüllte. Im Anschluss daran gewann die Europäische Integration weiter an Fahrt.Ende der 80er-Jahre entwickelte sich das Grundmuster der heuti-gen Eurozone. Der vielbeachtete Cecchini-Report aus dem Jahr 1988 dokumentierte die »Kosten der Nicht-Verwirklichung Euro-pas« und die positiven Effekte des Binnenmarktes auf der Basis einer empirischen Befragung von 20.000 Unternehmen. Nur ein Jahr später wurde der Delors-Report vorgelegt, der die Einfüh-rung einer europäischen Währung in drei Stufen und die Vollen-dung des Binnenmarktes vorschlug. Dieser Bericht wurde auf dem Europäischen Rat im Juni 1989 in Madrid beschlossen. Aller-dings gewann die europäische Integration im gleichen Jahr noch auf ganz andere Weise an Tempo, denn im November 1989 fielen nicht nur die Berliner Mauer, sondern sämtliche sozialistischen Wirtschaftssysteme Osteuropas in sich zusammen, sodass eine umfassendere Lösung der europäischen Ordnungsfragen not-wendig wurde. Die Gründung der Europäischen Union mit dem Vertrag von Maastricht 1992 legte nunmehr den Weg zu einer schrittweisen Einführung des Euro fest.

Vertrag von Maastricht: Geburtsstunde des Euro

Für die Gründerväter des Euro war klar, dass die neue Währung dann und nur dann Akzeptanz bei den Menschen und an den Märkten würde gewinnen können, wenn der Euro mindestens so stabil sein würde wie die bisherige Ankerwährung, die Deutsche Mark. Um dies zu garantieren, wurden die sog. Stabilitätskrite-rien definiert, die in der Literatur als Maastricht-Kriterien bezeich-net werden.

Ist der Euro noch zu retten?, fragen viele Menschen in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt. Griechenland

steht ökonomisch und politisch am Abgrund und ein Krisen-gipfel jagt den nächsten. Gigantische Rettungsschirme wer-den gespannt, Hebel und Eurobonds gefordert oder ver-dammt. Die Finanzmärkte sind verunsichert und immer mehr Regierungen müssen in der Krise zurücktreten und werden wie in Italien von Finanzfachleuten ersetzt, denen man am ehesten einen Ausweg aus der Schuldenkrise zutraut. Die EZB stellt riesige Mengen zusätzlicher Liquidität bereit, um die drohende Kreditklemme an den Bankenmärkten zu verhin-dern. Die Menschen fragen sich zunehmend, ob ihr Geld noch sicher ist oder ob ein Währungs- und Schuldenschnitt droht. Wie konnte es so weit kommen?

Der Euro ist das sichtbarste Symbol der europäischen Integration und ein beispielloses wirtschaftshistorisches Experiment. Zwar gab es europäische Währungsunionen schon vorher – etwa die skandinavische (1872–1924) oder die lateinische Münzunion (1865–1914), aber einen derart weitreichender Verzicht so vieler Länder auf eigenständige Geldpolitik gab es noch nie. Ohne Zweifel hat der Euro für die Teilnehmerländer Vorteile gebracht, die aber in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausfallen. Die Länder Süd- und Osteuropas erlebten erstmals die Vorteile von dauerhafter Geldwertstabilität und niedrigen Zinsen. Die export-starken Länder Mittel- und Nordeuropas erlebten den Vorteil, dass die Nachbarländer nicht mehr durch strategische Wechsel-kursabwertungen die Produktivitätsnachteile ihrer Unternehmen ausgleichen konnten. Zunehmend werden aber auch die Kosten der Einheitswährung sichtbar und die offensichtliche Fehlkonst-ruktion des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der nicht die ge-wünschte Disziplinierungsfunktion entfalten konnte. Es drängt sich deshalb die Frage auf, ob der Euro in dieser Form noch geret-tet werden kann und welche ordnungspolitischen Weichenstel-lungen hierzu notwendig wären.

Der Weg zum Euro

Der Weg zum Euro war mit zahlreichen Hindernissen gepflastert. Noch bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemein-schaft 1957 hatten die Staaten ausdrücklich auf eine monetäre Integration verzichtet – zu wichtig schienen ihnen die nationalen geldpolitischen Befugnisse, als dass man den Nachbarn ver-trauen konnte, darauf Einfluss zu nehmen. Die europäische Inte-gration zeigte sich aber als ökonomische Erfolgsgeschichte mit großer Anziehungskraft. Im neu entstehenden Binnenmarkt er-wies sich die Vielfalt der Währungen als Hindernis für die Inten-sivierung des Handels, sodass erste Überlegungen über eine in-tensivere Kooperation in der Geldpolitik reiften. Diese wurden 1971 im sog. Werner-Plan gebündelt, benannt nach dem luxem-burgischen Premierminister, der erstmals eine europäische Wäh-rungsunion vorschlug und dessen Plan alle hierzu notwendigen Elemente enthielt. Der Werner-Plan wurde jedoch niemals umge-setzt, da er eine weitreichende Abstimmung der Wirtschafts- und Fiskalpolitiken vorsah, zu der die Mitgliedstaaten damals noch nicht bereit waren.Der Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton Woods 1973 führte danach weltweit zu einer begrenzten Phase völlig fle-

SCHULDENKRISE IN EUROPA

4. Ist der Euro noch zu retten?DIRK WENTZEL | HANNO BECK

Abb. 1 »Von Gipfel zu Gipfel …« © Klaus Stuttmann, 8.6.2009

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• Inflation: Die Inflation eines Landes darf nicht höher sein als der Durchschnitt der drei besten Länder zuzüglich zwei Pro-zent.

• Zinskonvergenz: Der Zinssatz für langfristige Staatsanleihen darf nicht mehr als zwei Prozent über dem Durchschnitt der drei stabilsten Länder liegen.

• Mindestens zweijährige störungsfreie Teilnahme am Wechsel-kursmechanismus des EWS

• Die kumulierte Staatsverschuldung darf 60 Prozent des BIP nicht übersteigen

• Grundsätzlich sollen die Haushalte der Mitgliedsländer aus-geglichen sein, aber im Krisenfall darf die Neuverschuldung eines Landes 3 Prozent des BIP betragen.

Es bleibt letztlich eine akademische Frage, ob die Stabilitätskrite-rien optimal gewählt sind. Je nach Exportstruktur und Produktivi-tät können Länder sehr unterschiedliche Zinslasten im Staats-haushalt tragen. Außerdem bestimmt die Sparquote eines Landes, wie hoch sich ein Staat bei der eigenen Bevölkerung ver-schulden kann. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass dauerhafte Überschuldung, unabhängig von der tatsächlichen Höhe in Pro-zent des BIP, früher oder später in den Staatskonkurs führen wird. Der Konkurs von Staaten ist aber keinesfalls ein neues Phäno-men, wie die aktuelle Studie von Reinhardt und Rogoff (2009) über hunderte von Staatskonkursen in der Geschichte dokumen-tiert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), gefordert von Deutschland und geformt vom damaligen Finanzminister Theo Waigel, war daher als Überwachungs- und Sanktionsinstrument geplant, um Überschuldungsneigungen einzelner Staaten wirk-sam entgegenzutreten. Da der Plan jedoch keine automatischen Sanktionen vorsah, sondern Sanktionen nur vom gemeinsamen Rat der Finanzminister (ECOFIN) beschlossen werden konnte, war der SWP vom ersten Tag an nicht durchsetzungsfähig und ein zahnloser Papiertiger. Der zentrale Mangel in der Konstruktion des Euro-Systems liegt in dem Umstand, dass nationalen Budget-defiziten nicht wirksam begegnet werden kann.Ein ausgeglichener und solider Haushalt ist jedoch kein Hexen-werk oder ein Wunder der Wirtschaftsgeschichte. In der Vorlauf-phase zur Währungsunion zwischen 1992 und 1999 zeigten die beitrittswilligen EU-Staaten eine erstaunliche Haushaltsdisziplin. Alle wollten wie bei einem sportlichen Wettkampf zum Stichtag

1. Januar 1999 fit sein für die Aufnahme in die Währungsunion und drei Jahre später den Euro einführen. Leider war die Konvergenz-Prüfung eine Stichtags-Prüfung und schon kurz nach Beginn der Währungsunion ließ die Haushaltsdisziplin nach, da ein einmal aufgenommenes Euroland nicht mehr herausgeworfen werden kann, selbst wenn es offensichtlich gegen die Regeln verstößt. Man kann von einem »Olympia-Syndrom« (Wentzel 2005b) spre-chen. Am Tag nach dem sportlichen Wettkampf, nach der Konver-genz-Prüfung also, begann das süße Leben wieder und die Fi-nanzminister der Eurozone nutzten die historisch niedrigen Zinsen zur Ausweitung ihrer Verschuldung. Es resultierte vor allem in den südlichen Staaten ein wirtschaftlicher Boom, ge-speist durch die massive Ausweitung der Staatsausgaben bei niedrigen Zinsen. Es war jedoch klar, dass diese Entwicklung nur kurzfristig sein konnte. Die dauerhafte und zum Teil sogar vor-sätzliche Verletzung der »Maastricht-Kriterien« – leider auch durch Deutschland und Frankreich 2005, führte dazu, dass prak-tisch alle Länder zu einer Politik der Verschwendung verführt wur-den, denn die zusätzlichen Staatsschulden wurden nirgendwo zu investiven Zwecken verwendet, sondern dienten ausschließlich der Finanzierung von Gegenwartskonsum und der Bezahlung von Wahlversprechen.Die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone im zweiten Anlauf war zudem ein schwerer ordnungspolitischer Fehler. Griechen-land legte gefälschte Statistiken vor, die Erfüllung der Stabilitäts-kriterien existierte nur dem Papier. Dennoch wurden die Grie-chen aufgenommen, die politische Logik wurde der ökonomischen Logik vorgezogen. Es dürfte aber auch eine ökonomische Fehlein-schätzung vorgelegen haben, denn noch im Jahr 2000 äußerte der erste Präsident der EZB, Wim Duisenberg, dass die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone unbedenklich sei, weil die Wirt-schaft Griechenlands viel zu klein wäre, um irgendeine Gefahr für die großen Euro-Länder zu bedeuten – aus heutigem Blickwinkel eine fundamentale Fehleinschätzung.

Bankenkrise 2008 und Staatskrise 2010

2008 kam es im privaten Geschäftsbankensektor durch den Kon-kurs der amerikanischen Lehman Brothers Bank zu einer Ketten-

Abb. 2 Die Entwicklung des Euro und sein Außenwert zum US $ © Stuttgarter Zeitung, 31.12.2011

EINE STABILE WÄHRUNGSUNION MIT VORBILDLICHER HAUSHALTSDISZIPLIN SOLLTE ENTSTEHEN

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Quellen: EZB Kurse, dpaStZ-Grafik: tkk

der bindendenWechselkurse inder EuropäischenWährungsunionam 31. Dezember(für Deutschland:1 Euro = 1,95583 DM)

von Euro-Münzen als „Starter-Kit“:(20 Münzen im Wert von 20 DM bzw. 10,23 Euro) am 17. Dezember.

...des Euro als Buch-geld am 1. Januar.

wird zwölftes Euro-land am 1. Januar.

wird sechs-zehntesEuroland am 1. Januar.

SlowakeiSlowakeiwird siebzehntesEuroland am 1. Januar.

EstlandEstlandDer Euro wird in 12 Ländern als Bargeld eingeführt.

2. Januar 2002:Der Euro kostet0,9038 US-Dollar

30. Dezember 2004:Der Euro kostet1,3604 US-Dollar

15. Juli 2008:Der Euro kostet1,5990 US-Dollar

Malta und ZypernMalta und Zypernwerden vierzehntes und fünf-zehntes Euroland am 1. Januar.

FestlegungFestlegung

Die ersten ElfDie ersten Elf

AusgabeAusgabeEinführungEinführung

GriechenlandGriechenland

Rat der EU benennt am 31. Dezemberdie ersten 11 Teilnehmerstaaten:

BelgienDeutschlandFinnlandFrankreichIrlandItalien

LuxemburgNiederlandeÖsterreichPortugalSpanien

30. Dezember 2011:Der Euro kostet1,2939 US-Dollar

wird dreizehntes Euroland am 1. Januar.

SlowenienSlowenien

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reaktion und zu einer schweren Vertrauenskrise an den Finanz-märkten. Die Immobilienkrise, die in den USA begonnen hatte, schwappte nach Europa über und bedrohte zahlreiche Kreditins-titute und Finanzintermediäre. Viele Banken standen durch not-wendige Abschreibungen auf toxisch gewordenen Wertpapiere nun mittelbar vor dem Konkurs und es drohte eine Kreditklemme, bei der keine Bank einer anderen mehr Geld lieh, weil jede Bank Angst vor dem Konkurs der anderen hatte. In dieser Situation mussten die Nationalstaaten als Retter einspringen und umfang-reiche Mittel zur Bankenrettung bereit stellen. Letztlich war dies der berühmte Tropfen, der auch das Fass der Staatsverschuldung zum Überlaufen brachte.Die Lehman-Pleite offenbarte schwere Mängel in der internatio-nalen Bankenregulierung. Die bewusste Umgehung der Kredit-würdigkeitsprüfung, die Gründung von sog. Zweckgesellschaften außerhalb der Bankenregulierung und weitere Fehlentwicklun-gen gefährdeten die Stabilität des Bankenwesens – auch in Deutschland (ausführlich Beck und Wienert 2010). Aus hochver-zinslichen Derivaten wurden toxische Produkte, der Abschrei-bungsbedarf der Banken explodierte und die Gefahr des Zusam-menbruchs großer »systemisch relevanter« Banken wuchs. Auch aufgrund der unterschiedlichen Regulierungsinteressen der OECD-Länder entwickelte sich eine Situation maximaler Unsi-cherheit und Unübersichtlichkeit.

Die Schuldenfalle

Im Januar 2010 verdichteten sich die Gerüchte, dass viele europä-ische Staaten zunehmend Schwierigkeiten bekamen, ihre Staats-papiere auf dem Markt zu verkaufen. Immer mehr Anleger miss-trauten diesen Papieren, sodass die betroffenen Staaten höhere Zinsen bieten mussten, um überhaupt noch Papiere platzieren zu können. Im Januar lag der Zinssatz für griechische Staatspapiere bei 6 Prozent, nur vier Monate später schon bei 25 Prozent: De facto war Griechenland vom privaten Kapitalmarkt abgeschnit-ten und musste die EU um Hilfe bitten, um den sofortigen Kon-kurs zu vermeiden. Im April 2010 erklärte der griechische Minis-terpräsident Papandreou, dass sein Land bald seine Schulden nicht mehr würde bedienen können. Ganz offiziell wurde die Eu-ropäische Union um Hilfe gebeten und die griechische Tragödie nahm ihren Lauf. Zunehmend gerieten weitere Staaten in massive Schieflage, allen voran Italien, Irland, Portugal und Spanien. Diese fünf Länder werden üblicherweise abkürzend als »GIIPS-Länder« zusammengefasst.

Es wäre jedoch unzutreffend, die gegenwär-tige Krise allein als Euro-Krise oder Banken-krise zu bezeichnen. In erster Linie handelt es sich um eine Krise überschuldeter Staaten, die keinen Zugang mehr zum Kapitalmarkt bekommen. Kaum ein privater Anleger wäre angesichts der jetzt bekannten Länderrisi-ken bereit, Anleihen dieser Länder zu kaufen. De facto haben sich die GIIPS-Staaten in eine Schuldenfalle manövriert, bei der ein Staat gezwungen ist, immer neue Schulden allein zur Bedienung der Altschulden aufzuneh-men. Von investiver Mittelverwendung mit Zukunftsrenditen kann längst keine Rede mehr sein.

Auswege aus der Schuldenkrise: Das Lehrbuch der Wirtschafts-politik

Wenn staatliche Überschuldung eingetreten ist, gibt es in der Theorie wie auch in der wirt-schaftspolitischen Praxis verschiedene Aus-

wege, die allerdings ausnahmslos eines gemeinsam haben: Sie sind für alle Beteiligten schmerzhaft und in der wirtschaftspoliti-schen Umsetzung schwierig, weil die Anpassungsreaktionen schwer prognostizierbar und nur schwer steuerbar ist.(1) Inflation: Die in der Wirtschaftsgeschichte vermutlich häu-

figste Form der Reduktion von Staatsschulden ist der Griff zur Notenpresse, also die direkte Finanzierung der Defizite über die Zentralbank. Die hieraus resultierende Inflation führt zur nominalen Abwertung bestehender Schulden und zur Umver-teilung von Gläubigern zu Schuldnern. Inflation wirkt de facto wie eine Steuer, die aber primär die Bezieher von kleinen Ein-kommen und Ersparnissen betrifft und auch deshalb als unso-zial einzustufen ist. Hinzu kommt der Umstand, dass Inflation nur die Schuldensituation eines Landes verbessert, wenn sie von den Gläubigern nicht erwartet wird. Erwarten sie nämlich steigende Inflationsraten, fordern sie höhere Zinsen für ihr Geld – der entlastende Effekt der Inflation verschwindet damit. Kein vernünftiger Ökonom könnte ernsthaft Inflation als Ausweg aus der gegenwärtigen Schuldenkrise vorschla-gen. Viele Ökonomen sehen allerdings in der gegenwärtigen Politik der EZB, die auf starke Ausweitung der Liquidität ange-legt ist, große Inflationsgefahren.

(2) Währungsabwertung: Sehr häufig geht eine Staatsschulden-krise zugleich mit einer Leistungsbilanzkrise einher. Ein Land mit schwach wettbewerbsfähigen Gütern exportiert deutlich weniger als es importiert – auch hier kann Griechenland wie-der als Anschauungsbeispiel dienen. Ein solches Leistungsbi-lanzdefizit muss aber finanziert werden, was üblicherweise durch Kapitalimporte geschieht. Eine Umkehr der Leistungs-bilanz setzt aber große wirtschaftliche Anstrengungen, han-delbare Güter und gesteigerte Produktivität voraus. Der ein-fachere und politisch leichter durchsetzbare Weg ist die Abwertung der heimischen Währung, die zu einer Verteue-rung der Importe und zu einer (preisbedingten) Steigerung der Exporte führt. In einem System flexibler Wechselkurse funktioniert dieser Prozess automatisch.Eine Währungsunion ist jedoch technisch nichts anderes als ein System fester Wechselkurse, die nicht mehr verändert werden können. Das Instrument der Währungsabwertung existiert also innerhalb der Eurozone in der gegenwärtigen Krise nicht mehr, weshalb die Anpassung der Ungleichge-wichte über interne Instrumente und Produktivitätssteige-rung gewährleistet werden muss. Ob dies gelingen kann, ist zweifelhaft.

Abb. 3 »Banken oder Schuldenkrise?« © Klaus Stuttmann, 2011

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(3) Ausstieg aus der Währungsunion: Der Ausstieg aus der Währungsunion wird vor allem von Kritikern Griechenlands gefor-dert. Diese Forderung ist in der Bevölke-rung der stabilitätsorientierten Länder populär, wo dieser Ruf vor allem bei rechtspopulistischen Parteien viel Gehör findet. Rein ökonomisch betrachtet ist diese Lösung jedoch für alle Beteiligten mit hohen Kosten verbunden und gerade auch für Griechenland kaum durchführ-bar.Eine Wiedereinführung der alten (neuen) Drachme würde dazu führen, dass die neue Währung gegenüber dem Euro mas-siv abwerten würde. Die bestehenden Staatsschulden sind jedoch in Euro nomi-niert, sodass dies wie eine Vervielfachung der gegenwärtigen Schulden wirken würde. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Griechen wohl kaum bereit wären, Bargeldbestände in Euro freiwillig gegen potentiell inflationäre Drachmen einzutauschenAußerdem ist zu bedenken, dass Grie-chenland auch bei einem Austritt aus dem Euro noch Mitglied der EU bliebe – und damit Anspruch auf Gewährung der vier Grundfreiheiten, zu denen auch der freie Kapitalverkehr zählt, hat. Es wäre des-halb zu erwarten und ist schon jetzt zu beobachten, dass grie-chische Bürger ihre Ersparnisse im Ausland anlegen. Für die notwendige Modernisierung Griechenlands ist diese Form von Kapitalflucht jedoch äußerst nachteilig.

(4) Die Schuldenübernahme durch Dritte – der »sog. bail out«: Artikel 125 des EU-Vertrags verbietet ausdrücklich die Schul-denübernahme überschuldeter Staaten durch die Gemein-schaft oder durch einzelne Staaten. In gewisser Hinsicht ist der Art. 125 das Herzstück der Währungsunion. Eine Über-nahme der Schulden würde massive Fehlanreize bewirken und politische Reformen zu mehr finanzieller Nachhaltigkeit so-fort beenden. Warum sollte eine Regierung sparen und auf Wahlgeschenke verzichten, wenn der reiche Nachbar jede Dif-ferenz ausgleicht? Dauerhafte Schuldenübernahme hat auch nichts mit einer vermeintlichen europäischen Solidarität zu tun, denn sie dient nicht der Finanzierung zukünftiger Er-träge, sondern verschleiert politische Fehlfunktionen. Auch die Einführung von sog. Eurobonds ist im Grundsatz nichts anderes als eine Schuldenübernahme, denn auch hier leihen sich die unsoliden Länder die Bonität der stabilen Länder, in dem sie sich zu deren niedrigen Zinsen verschulden können.

(5) Sparen: Sparen ist nicht nur eine klassische Tugend, sondern eine ökonomische Notwendigkeit. Nur durch Ersparnis wird Kapital gebildet, das später zu investiven Zwecken verwendet werden kann. Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt ist deshalb kein ordnungspolitischer Puris-mus, sondern eine Notwendigkeit auf der Basis wirtschafts-historischer und auch wirtschaftstheoretischer Erkenntnisse. Viele EU-Länder – allen voran die Nordländer – könnten durch konsequente Sparpolitik die gegenwärtige Schuldenkrise überwinden. Die Überlegungen zu einer europäischen Schul-denbremse deuten hier in die richtige Richtung.Im Fall Griechenlands dürfte es allerdings schon zu spät sein, da eine kumulierte Verschuldung von 360 Mrd. Euro mit jähr-lich zweistelligen Zuwachsraten nicht mehr rückzahlbar ist. Die griechischen Schulden wachsen exponentiell und die Wirtschaft schrumpft schon seit 6 Jahren in Folge. Die bisheri-gen drastischen Sparprogramme haben noch nicht einmal den Anstieg der Verschuldung gestoppt. Aus ökonomischem

Blickwinkel ist deshalb ein mehr oder minder drastischer Schuldenschnitt unvermeidbar.

(6) Der ungeregelte Bankrott: Die letzte und wirtschaftshisto-risch am weitesten verbreitete Form der Staatssanierung ist der mehr oder minder ungeregelte Bankrott, der Zusammen-bruch der Staatsfinanzen – wie etwa in Argentinien oder in Russland in jüngster Vergangenheit. Wie die anschließenden Eigentums- und Haftungsfragen geklärt werden, ist dabei völ-lig offen und nicht prognostizierbar. Es hängt letztlich vom Verhandlungsgeschick der Beteiligten sowie von den Macht-verhältnissen ab, wie eine Neuordnung des Finanzwesens er-folgt. Ordnungspolitisch ist der ungeregelte Bankrott nicht zu empfehlen.

Die Hilfsaktionen der EU

Angesichts der wenig erfreulichen Auswege aus der Schuldenfalle sind die Hilfsaktionen der EU letztlich als Versuch zu interpretie-ren, Zeit zu kaufen, um den privaten Banken die Gelegenheit zu geben, sich von griechischen Anleihen zu trennen, um die Anste-ckungsgefahr im Falle des offenen Konkurses zu verringern. Ein in sich geschlossenes ordnungspolitisches Konzept zur Rettung des Euro und zur Reform der Staatsfinanzen und der Finanz-märkte existiert bisher noch nicht, allenfalls einzelne Versatzstü-cke.Die erste Soforthilfemaßnahme der EU nach dem Hilfegesuch Griechenlands war die Ausspannung eines sog. Rettungsschirms, der unmittelbar Liquidität bereitstellte, um den offenen Konkurs zu verhindern. Daran anschließend wurde die sog. Europäische Finanzierungssicherungsfazilität (EFSF) eingeführt, ein komple-xes Konstrukt aus Finanzierungszusagen und Bürgschaften unter Beteiligung verschiedener europäischer Staaten und internatio-naler Institutionen. Dauerhaft soll nun ein Europäischer Stabili-sierungsmechanismus (ESM) geschaffen werden, der mit ausrei-chend Liquidität ausgestatten werden soll, um notleidenden Staaten bei Finanzierungsengpässen zu helfen. Der ESM ist quasi ein internationaler Währungsfonds im europäischen Kleinformat.Insgesamt ist allerdings festzuhalten, dass die Hilfsmaßnahmen und Reformen nicht ausreichen, um den Euro langfristig zu stabi-lisieren. Zu heterogen sind die Interessenlagen der beteiligten Länder, wie jüngst wieder beim EU-Gipfel im Dezember sichtbar

Abb. 4 »Immer herein spaziert in die gute Stube« © Burkhard Mohr, 2011

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wurde, als sich die Engländer massiv gegen Reformen sträubten, weil sie um die Stellung des Finanzplatzes London bangten. Die bis-herigen Hilfsmaßnahmen stellen immer wie-der neue Liquidität in Aussicht, ohne jedoch in den Einzelstaaten die notwendigen Ver-besserungen der Stabilität zu erwirken. Sie kurieren nur die Symptome, nicht die Ursa-chen der Krise.

Vorschläge zu einer langfristigen Stabilisierung des Euro

Bei den Vorschlägen zu einer Überwindung der Schuldenkrise ist zwischen kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen zu unter-scheiden. Kurzfristig geht es vor allem um die Sanierung Griechenlands durch einen Schuldenschnitt sowie um die Absicherung der Privatbanken, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Langfristig sind grundlegende Reformen nötig.

(1) Insolvenzordnung für StaatenZunächst ist es notwendig, eine Insolvenz-ordnung für Staaten zu entwickeln, um für einen möglichen (und historisch evidenten) Insolvenzfall vorbereitet zu sein. Der Markt-eintritt und der Marktaustritt sind Grundsatzfragen in jedem Wirtschaftssystem, für das es klar festgelegte Regeln geben muss. Die Haftung als konstituierendes Prinzip einer Wirtschafts-ordnung sollte auch für Staaten gelten.

(2) Vertragsänderungen und europäische SchuldenbremseDer bisherige Lissabon-Vertrag reicht in der vorliegenden Form nicht aus, weil er den Stabilitäts- und Wachstumspakt unzurei-chend schützt. Die Einführung einer europäischen Schulden-bremse mit entsprechender Verankerung in den nationalen Fi-nanzverfassungen ist dringend notwendig. Es müssen zudem glaubwürdige und automatische Sanktionen verankert werden, um Regelverletzungen ahnden zu können. Dies impliziert auch, dass Länder, die vorsätzlich und wiederholt die Regeln verletzten, ausgeschlossen werden können.Juristisch sind solche Vertragsänderungen keinesfalls einfach, da in allen 27 Mitgliedsländern unterschiedliche verfassungsrechtli-

che Vorgaben existieren. Gleichwohl ändert dies nichts an der Notwendigkeit, den bestehenden Ordnungsrahmen, der sich als unzureichend erwiesen hat, zu verändern.

(3) Zur Notwendigkeit der Wiedererlangung der Unabhän-gigkeit der ZentralbankDie Unabhängigkeit der Notenbank ist ein hohes juristisches und demokratisches Gut – vergleichbar einer unabhängigen Gerichts-barkeit. Ein sehr bedenklicher Kollateralschaden der gegenwärti-gen Finanzmarktkrise ist die Beschädigung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Wenn etwa Ungarn im Januar 2012 ganz offen die Abschaffung der Unabhängigkeit der EZB fordert oder wenn der polnische Finanzminister Rostowski im FAZ-Inter-view im November 2011 vorschlägt, die EZB solle direkt die Defi-zite der einzelnen Länder über die Notenpresse finanzieren, so gibt dies Grund zu äußerster Besorgnis.Die EZB hat in den ersten zehn Jahren, in den sie für den Euro ver-antwortlich war, eine beachtliche Stabilitätsperformance erzielt. Der Ankauf von Staatsanleihen notleidender Staaten – wenn auch nur am Sekundärmarkt – ist aber nicht mit dem Stabilitätsauftrag zu vereinbaren. Die EZB sollte nicht zu einer »Bad Bank« verkom-men, in der toxische Staatsanleihen gebunkert werden.

Die politische Akzeptanz der Finanzmärkte und des Euro

Ohne Zweifel steht die Europäische Union vor den wichtigsten Weichenstellungen ihrer bisherigen Geschichte. Bei den Refor-men ist Eile geboten, denn in zunehmendem Maße trocknen die Märkte für Staatsanleihen aus, weil immer weniger private Sparer und institutionelle Anleger bereit sind, in Staatspapiere zu inves-tieren. Diese haben den Nimbus der Unverletzlichkeit verloren, denn welcher normale Sparer wäre heute noch bereit, Anleihen des griechischen (oder italienischen) Staates zu kaufen? Die ge-genwärtige Praxis der Schuldenfinanzierung dürfte schon relativ bald an ihr Ende kommen und überschuldete Staaten zu einer Notbremse zwingen.Jede Wirtschaftsordnung bedarf der Akzeptanz der Bevölkerung. Die Finanzkrise 2008 und die daran anschließende Krise der Staatsfinanzen führen jedoch zu einem allgemeinen Vertrauens-verlust. Für viele Bürger ist es nicht mehr verständlich, wenn etwa bei Schulden und Bildung gespart wird, für angeschlagene Staa-

Mögliche Instrumente zur Euro-Rettung

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Diese Maßnahmen diskutiert die EU, um den Euro und die europäischen Märkte zu stärken:

Schuldenbremse• forciert schnelleren Schuldenabbau in Krisenstaaten

Sanktionen gegenDefizitsünder • sollen schneller und einfacher verhängbar sein

EU-Wirtschafts-regierung• legt gemeinsame Wirtschaftsziele fest z.B. zur Neuver-schuldung oder zum Arbeitsmarkt

Eurobonds• ermöglichen Krisen-ländern günstige Kredite

Finanztransaktions-steuer• gibt der EU zusätzliches Geld für Rettungsmaßnahmen• macht kurzfristige Finanzspekulatio-nen teurer und unattraktiver

Frühwarnsystem• durch Überwachung wirtschaftlicher Ungleichgewichte (z.B. Handelsdefizite)• durch einheitliche Standards für Statistiken und Haushaltspläne

Abb. 6 »Was wir jetzt brauchen« © Burkhard Mohr, 2011

Abb. 5 »Instrumente zur Euro-Rettung« © dpa-Infografik, 2011

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ten und Banken aber unbegrenzt Liquidität zur Verfügung gestellt wird. Viele Kommu-nen fordern deshalb schon eigene Rettungs-schirme.Zahlreiche Interessengruppen formulieren zunehmend Kritik an der Macht der Banken. In den Vereinigten Staaten hat sich hierzu beispielsweise eine bankenkritische Gruppe mit dem Namen »Occupy Wall Street« gebil-det. Forderungen dieser Gruppe beinhalten beispielsweise die Begrenzung von Schatten-banken, die Stilllegung der Steueroasen, die Abschaffung spekulativer Finanzinstru-mente, die Entmachtung der Rating-Agentu-ren, die Ausweitung der Geldschöpfung und die Einführung einer Finanztransaktions-steuer.Einige Appelle der Occupy-Bewegung sind durchaus nachvollziehbar – etwa die Begren-zung der Schattenbanken oder die Forderung nach Stilllegung der Steueroasen. Auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (»Tobin Tax«) scheint in Europa durchaus kon-sensfähig zu werden – mit Ausnahme Eng-lands. Fragwürdig erscheint jedoch die grundsätzliche Abschaf-fung der spekulativen Finanzinstrumente, denn es ist sicherlich unzweckmäßig, diese unter einen Generalverdacht zu stellen. Auch die Kritik an den Rating-Agenturen fällt bei der Occupy-Be-wegung nicht differenziert genug aus. Sicherlich kann man das enge Oligopol von nur drei amerikanischen Agenturen kritisieren und eine Öffnung des Wettbewerbs fordern, aber die Tatsache, dass solche Institutionen Bewertungen abgeben, ist eigentlich nicht zu kritisieren. Das schlechte Rating von Griechenland oder Ungarn ist nicht das Verschulden der Agenturen, sondern das Er-gebnis hochgradig verantwortungsloser Wirtschaftspolitik in diesen Ländern.Ordnungspolitisch unakzeptabel hingegen ist die Forderung nach »demokratischer Geldpolitik«, also die Geldschöpfung zur Finanzierung »demokratisch legitimierter Projekte«. Wer ernst-haft die Notenpresse wieder ins Finanzministerium stellen möchte, der hat aus der Geschichte nichts gelernt. Schon Me-phisto schlägt im Faust II dem Kanzler vor, er möge doch Geld drucken, um die Finanzprobleme des Reiches zu lösen. Der Kanz-ler war von diesem teuflischen Vorschlag wahrhaft begeistert.

Ausblick

Die größte Gefahr an den Finanzmärkten ist die Angst. Die Krise des Euro und der überschuldeten Staaten macht vielen Menschen Angst, weil sich langsam in der Wissenschaft wie auch in der Be-völkerung die Erkenntnis durchsetzt, dass die gegenwärtige Pra-xis staatlicher Verschuldung nicht mehr weitergeführt werden kann. Einige Länder können diese Erkenntnis noch in wirtschafts-politische Maßnahmen umsetzen, die den Kollaps verhindern, während es für andere Länder schon zu spät sein dürfte. Der Euro ist sicherlich noch zu retten, aber nur mit weitreichenden politi-schen Reformen, die der staatlichen Überschuldung glaubwürdig Einhalt gebieten.

Literaturhinweise

Beck, Hanno; Prinz, Aloys (2011), Abgebrannt. Unsere Zukunft nach dem Schuldenkollaps, Hanser Verlag.

Beck, Hanno/Wentzel, Dirk (2010), Eine Insolvenzordnung für Staaten?, Wirt-schaftsdienst, Heft 2, 90. Jg., S. 25–29.

Beck, Hanno/Wentzel, Dirk (2011), Eurobonds. Heilmittel oder Sprengsatz für die europäische Union? Wirtschaftsdienst, Heft 10, 91. Jg., S. 717–723.

Beck, Hanno/Wentzel, Dirk (2011), Ordnungspolitische Überlegungen zu einer Insolvenz von Staaten, in: ORDO, Band 62.

Beck, Hanno/Wienert, Helmut (2010), Zur Reform des Rating-(Un-)Wesens. Bestandsaufnahme und eine Reform-Option, Jahrbuch für Wirtschaftswis-senschaften 2010 (61), S. 45–67.

Issing, Otmar (2010), Gefahr für die Stabilität, in: FAZ, Nr. 263, 11. November 2010, S. 14.

Reinhart, Carmen M./Rogoff, Kenneth (2009), This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton and Oxford.

Rogoff, Kenneth (2011), Einige Länder sollten eine Auszeit nehmen, in: FAZ, 10.2.2011, Nr. 34, S. 12.

Shleifer, Andrei (2003), Will the Sovereign Debt Market Survive? In: American Economic Review, Vol. 93, 2003, S. 85–90.

Wentzel, Dirk (2005a), Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Prüfstein für ein stabilitätsorientiertes Europa, in: Wentzel, Dirk und Helmut Leipold (Hrsg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Schriften zu Ordnungs-fragen der Wirtschaft, Band 78, S. 311–331.

Wentzel, Dirk (2005b), Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach dem Scheitern des Stabilitätspaktes, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jahrgang, Heft 9, September 2005, 605–612.

Abb. 7 »Das Volk abstimmen lassen? – Wahnsinn!« © Klaus Stuttmann, 2011

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MATERIALIEN

M 1 Interview mit Martin Schulz, SPD, über Eurobonds. Vorsitzender der sozialistischen Fraktion im Europar-lament, ab Januar 2012 Präsident des Europäischen Parlaments.

Maja Weber, ARTE Journal: »Sie sagten, über kurz oder lang müssten die Eurobonds kommen. Was meinen Sie damit?«Martin Schulz: »Ich glaube, dass die Euro-zone wirtschaftlich sehr stark ist und sie könnte noch stärker werden, wenn die star-ken und die schwächeren Teile ausdrücken, dass sie zusammenhalten und sich nicht aus-einander dividieren lassen. Und dazu wären Eurobonds eine geeignete Maßnahme.«ARTE Journal: »Es heißt ja aus Kreisen der Bun-desregierung, wenn die ärmeren Staaten sich ver-schulden, dann würden mit den Eurobonds alle ge-meinsam die Schulden tragen. Ist das gerecht?«Schulz: »Ob das gerecht ist, steht gar nicht zur Tagesordnung. Es ist so. Wir sind in einer Währungsunion und in einer Währungsunion tragen wir die Er-folge und die Risiken gemeinsam. Es wird endlich Zeit, dass das die Regierungschefs den Völkern sagen. Eine Währungsunion ist nicht irgendwas, wo man reingeht und man hat gemeinsames Geld und man sagt: ja, aber was in dem anderen Land geschieht, interessiert mich nicht. Ich mache es umgekehrt. Was passiert denn, wenn der Euro zusammenbricht? Die Folgekosten für die Bundesrepublik Deutschland sind deutlich höher als ein leichter Zinsanstieg, den wir vielleicht bei Euroanleihen in Kauf nehmen müssen. Das ist eine Güterabwägung. Was ist teurer? Den Euro jetzt zu stabilisieren oder ihn auseinanderbrechen zu lassen? Teu-rer ist das letztere.«ARTE Journal: »Wie ist es denn rechtlich? Der Lissaboner Vertrag möchte ja eigentlich gerade nicht, dass die größeren Staaten, die finanzstärkeren Staaten, für die kleineren Staaten einstehen. Wie sehen Sie das?«Schulz: »Das ist eine Interpretationsfrage und da bin ich anderer Meinung als Frau Merkel. Ich teile da die Meinung des Wirt-schaftsweisen Peter Bofinger. Der Artikel 122 des Vertrages kann sehr wohl herangezogen werden. Dieser Artikel besagt, dass in besonderen Ausnahmesituationen – in Krisenfällen – Staaten sich helfen können. Dieser Artikel spricht zum Beispiel dafür, dass im Falle von Naturkatastrophen sich Staaten helfen können. Wenn es zum Beispiel in Frankreich ein großes Erdbeben gibt und der französische Staat Finanzhilfe braucht, dann darf Deutsch-land ihm helfen. Wenn es ein Erdbeben bei den Banken gibt, dann darf Deutschland ihm nicht helfen. Ich glaube, das Erdbeben bei den Banken ist zur Zeit gefährlicher für die Bürger als die Natur-katastrophen, die der Artikel 122 beschreibt. Man muss in Europa endlich zur Vernunft kommen. Wir sind in einer wirklich krisen-haften Situation, da hilft es uns nichts, wenn irgendwelche fein ziselierten Verfassungsrichter Vertragsexegese betreiben. Was wir brauchen, sind praktische Maßnahmen zum Schutz der sozia-len Grundlagen unserer Bürger.«ARTE Journal: »Wie sehen Sie den Vorschlag von Angela Merkel, dass auch private Gläubiger wie Banken einspringen, wenn man Staaten ret-ten muss?«Schulz: »Da hat sie recht. Wir schlagen seit Wochen, seit Monaten eine geeignete Maßnahme vor: die Finanztransaktionssteuer. Womit verdienen die Banken eigentlich ihr Geld? Mit den Finanz-transaktionen. Wenn Sie das besteuern würden, dann hätten sie die Banken schon herangezogen. Merkwürdigerweise höre ich da von Frau Merkel wenig. Das sind plakative Äußerungen. Es wäre besser, Frau Merkel würde konkret.«

ARTE Journal: »Könnten Eurobonds tatsächlich Spekulationen von Ban-ken, die auf den Staatsbankrott mancher Staaten setzen, eindämmen und verhindern?«Schulz: »Ich bin fest davon überzeugt, wenn wir über die Euroan-leihen ausdrücken, dass der größte und stärkste Wirtschafts-raum der Welt, der stärker ist als der amerikanische, der chinesi-sche oder der japanische Raum, wenn dieser also bereit ist, seine Wirtschaftskraft gemeinschaftlich einzusetzen bei der Finanzie-rung der Schulden, dann gehen die Zinsen automatisch nach unten. Denn das ist eine stabile Anleihe für die diejenigen, die sie kaufen, weniger Zinsen verlangen können und deshalb glaube ich: ja, das ist ein Element zur Stabilisierung des Euro.«ARTE Journal: »Letzen Freitag haben Frankreichs Präsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem Treffen ein klares Nein zu den Euro-bonds gegeben. Sie haben darauf gesagt, über kurz oder lang würden sie darauf zurückkommen müssen. Was macht Sie denn so sicher?«Schulz: »Merkel und Sarkozy reagieren immer mit Zeitverzug. Wenn Merkel und Sarkozy bei der Griechenland-Krise sofort re-agiert hätten, nicht erst drei Monate später, hätte das dem grie-chischen Steuerzahler Milliarden erspart. Aber immer mit Zeitver-zug. Weil die Strategie von Sarkozy und Merkel ist, nicht die Wahrheit zu erzählen. Zuhause erzählen sie, wir brauchen nicht zahlen, sie wissen genau, wir müssen den Euro gemeinsam stabi-lisieren. Notfalls auch mit Geld. Derjenige, der die Euroanleihen, also die sogenannten Eurobonds am meisten fordert, ist ja nicht irgendein durchgeknallter Linksextremist, sondern der Minister-präsident von Luxemburg. Luxemburg ist ein Land mit großer Er-fahrung in der Finanzindustrie. Dieser Mann, Herr Juncker, ist zu-gleich auch der Finanzminister des Landes und der Vorsitzende der Euro-Gruppe. Das heißt, das ist nicht ein spintisierter Linker, der wieder eine neue Steuer erfindet. Sondern das ist ein Mann, der sagt, wir haben Feuer in der Hütte. Das muss jetzt gelöscht werden. Und da er recht hat, werden sich Frau Merkel und Herr Sarkozy auf Dauer diesem Projekt nicht verschließen können. Juncker hat immer einen schönen Satz drauf. Ich bin eine Maus, eingeklemmt zwischen den Elefanten Deutschland und Frank-reich. Meine Erfahrung lehrt mich, dass Elefanten manchmal vor Mäusen davon laufen. In dem Fall sollten sie wieder zurückkom-men.«

© »Juncker ist kein durchgeknallter Linksextremist«, Interview mit Martin Schulz zur Euro-Krise, in: Arte Journal, 15.12.2010 (Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Eurogruppe, Mitglied der konservativen EVP, hatte bereits 2010 für Eurobonds plädiert)

M 2 Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso (rechts) begrüßt am 24.1.2012 den neu gewählten Präsidenten des Europäischen Präsidenten Martin Schulz, SPD © picture alliance

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M 3 »Euro-Bonds kleistern die Probleme nur zu«, Interview mit Jürgen Stark, zurückgetretener Chefvolkswirt der EZB

Handelsblatt: Herr Stark, alle diskutieren über Euro-Bonds. Wäre die Einführung einer europäischen Gemeinschaftsanleihe der erste Schritt in die Transferunion?Jürgen Stark: Euro-Bonds sind nicht nur der Einstieg in die Trans-ferunion, sie sind die Transferunion. Es ist ein Transfer von Bonität aus stabilen, soliden Ländern in Staaten, die weniger solide Staatsfinanzen haben. Die Länder, die schlechter dastehen, kön-nen sich mit Euro-Bonds günstiger refinanzieren. Für die anderen mit guter Kreditwürdigkeit wird es teurer.Handelsblatt: Werden falsche Anreize gesetzt?Stark: In jedem Fall. Es wird so getan, als wären die Euro-Bonds der Königsweg, um aus der Krise herauszukommen. Tatsächlich ist es ein Kurieren an den Symptomen und nicht an den Ursachen. Der Anreiz, die strukturellen Probleme in den Haushalten anzu-gehen, wird verringert.Handelsblatt: Was, wenn die Euro-Bonds nicht den gesamten Refinan-zierungsbedarf abdecken? Wenn bis zu 60 Prozent des Haushaltsdefizits über die sogenannten Blue Bonds abgedeckt werden. Und der Rest über Red Bonds, also Anleihen, die die Staaten weiterhin in eigener Verantwor-tung begeben?Stark: Länder, die Euro-Bonds fordern, erhoffen sich eine erhöhte Liquidität und dadurch eine niedrigere Liquiditätsprämie. (…) Handelsblatt: Also keine Lösung?Stark: Es ist eine Scheinlösung, die, wie gesagt, völlig falsche An-reize schafft. Etwas anderes wäre eine politische Entscheidung hin zu einer verstärkten europäischen Integration mit europäi-scher Fiskalpolitik und einem europäischen Finanzminister mit direkten Eingriffsrechten in die nationalen Haushaltspolitiken. Aber ich weiß nicht, wie das geschehen sollte. Wir bräuchten dann eine europäische Verfassung bei gleichzeitigem nationalem Souveränitätsverzicht. Danach würden auch Euro-Bonds Sinn machen.Handelsblatt: Erzwingt nicht der Druck der Märkte die Emission von Euro-Bonds?Stark: Wir brauchen ein Mehr an politischer Union und weniger Versprechen, die am Ende nicht eingehalten werden. Die politi-sche Union spielte schon bei den Verhandlungen zum Maastricht-Vertrag im Februar 1991 eine zentrale Rolle. Die dort niedergeleg-ten Haushaltsregeln und der Stabilitätspakt sind Teil einer politischen Union. Aber es wurde gegen Prinzipien verstoßen, Regeln außer Kraft gesetzt. Mit dem derzeitigen institutionellen Rahmen ist eine gesamtschuldnerische Haftung nicht möglich. Dies wurde im Maastricht-Vertrag ausgeschlossen. Das ist ein Verstoß gegen Artikel 125 des Vertrags. Der schließt aus, dass ein Mitgliedstaat für die Verbindlichkeiten des anderen haftet. Wenn man das ändern will, muss man den Vertrag ändern.Handelsblatt: Halten Sie das für realistisch?Stark: Die Diskussion über Euro-Bonds läuft so ähnlich wie die über die Einbeziehung es Privatsektors bei der Finanzierung Grie-chenlands oder bei der Forderung nach einer Umschuldung. Es ist der Versuch, leicht aus der Krise herauszukommen. Es geht aber nicht ohne Schmerzen. Euro-Bonds würden die Probleme nur zu-kleistern. Die Zinslasten würden für manche verringert, für an-dere erhöht.Handelsblatt: Was ist der Kern der Probleme?Stark: Er liegt in den öffentlichen Haushalten. Jeder Ausgabepos-ten muss überprüft werden, aber auch die Einnahmen. Wie wer-den direkte gegen indirekte Steuern ausbalanciert? Was ist opti-mal für die jeweilige Volkswirtschaft? Das sind die Fragen, die angepackt, die beantwortet werden müssen.Handelsblatt: Für welche Länder gilt das insbesondere?Stark: Schauen Sie sich an, wer die Euro-Bonds fordert. Natürlich verlangen die Märkte eine höhere Liquidität. Aber wer profitiert von den Euro-Bonds? Das sind die Länder mit einem sehr hohen Schuldenstand, die sich davon eine deutliche Zinsentlastung ver-

sprechen. Keine Rede ist mehr vom Zinsbonus, den die Staaten durch den Eintritt in die Währungsunion erhielten. Diese Divi-dende wurde bereits »verfrühstückt«, ohne dass die schon da-mals nötigen strukturellen Reformen vorangebracht wurden.Handelsblatt: Müssen Italien und Spanien schnell reagieren?Stark: Es gilt für alle Länder. Auch Deutschland muss seine Aus-gabenstruktur überprüfen. Das Land hat einen Rekordschulden-stand von 84 Prozent der Wirtschaftsleistung erreicht. Er ist in-folge der Schuldenkrise deutlich angestiegen, und das, obwohl durch die demografische Entwicklung künftige Generationen eine größere Last zu tragen haben. Das ist unfair.Handelsblatt: Brauchen wir, wie von der Kanzlerin gefordert, die Ein-führung einer Schuldengrenze in den Verfassungen der Staaten?Stark: Das ist unabdingbar. Die Schuldenobergrenze muss in die Verfassung der Mitgliedstaaten aufgenommen werden. Mittel-fristig müssen die Haushalte ausgeglichen sein. Nicht nur Deutschland ist hier ein Musterknabe. Auch die Schweiz hat eine Schuldenbremse in der Verfassung. In der vergangenen Woche hat das auch die italienische Regierung angekündigt. Ich halte das für eine wichtige Konsequenz aus der Krise, um über die außer Kontrolle geratenen Staatsfinanzen Herr zu werden. (…) Handelsblatt: Aber in Griechenland gehen die Leute auf die Straße.Stark: Griechenland ist problematisch, ohne Zweifel. Aber Sie müssen das in Perspektive setzen zu anderen Ländern, die eben-falls ein Hilfsprogramm des IWF durchlaufen haben und Opfer in Kauf nehmen mussten, nachdem sie über ihre Verhältnisse gelebt hatten. Hier sind politische Führung gefragt und eine klare Kom-munikation. Im Fall Lettlands hat es funktioniert. Der Staat war in einer ähnlichen Situation: Die Wirtschaftsleistung brach ein, die Arbeitslosigkeit schnellte nach oben, bei gleichzeitig fallenden Löhnen und Gehältern. Nach all diesen schmerzhaften Anpassun-gen steht das Land heute wieder gut da. Die Bürger haben ver-standen, warum die Schritte notwendig waren. In einer solchen Notlage ist auch ein parteiübergreifender Konsens nötig.

© »Eurobonds kleistern die Probleme nur zu«, Interview mit Jürgen Stark, Handelsblatt On-line, 22.8.2011

M 4 Jürgen Stark war Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB). Er hatte wegen inhaltlicher Differenzen mit dem Kurs der EZB seinen Vertrag nicht verlängert. © picture alliance, 12.12.2011

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M 5 »Die zwei Todsünden« – Gespräch zwischen den Ökonomen Peter Bofinger und Joachim Starbatty, Der Spiegel

SPIEGEL: Herr Starbatty, Herr Bofinger, ist der Euro noch zu retten?Starbatty: Alle Maßnahmen, die derzeit ge-plant sind, wirken langfristig. Aber gerettet werden muss jetzt. Also wollen viele Politiker die sogenannte »Bazooka« herausholen und über die Europäische Zentralbank Geld in den Markt schießen oder Euro-Bonds einfüh-ren. Beides sind Todsünden. Besser wäre es, die Währungsunion würde sich auf den har-ten Kern reduzieren, der den Euro aushalten kann.Bofinger: Das wäre eine Katastrophe. Aber ich stimme Ihnen zu, dass Eile geboten ist. Die hochverschuldeten Länder müssen sich zu moderaten Zinsen finanzieren können, damit sie nicht pleitegehen. Das ließe sich über Euro-Bonds erreichen. Und wenn die sich so schnell nicht verwirklichen lassen, muss die EZB das System stabilisieren. Sie würde damit nicht Inflation schaffen, sondern Deflation vermei-den.SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass in den Problemländern der Druck zum Sparen und Anpassen nachlässt, sobald die EZB die Bazooka erst mal ausgepackt hat?Bofinger: Die deutsche Politik erkennt nicht an, dass diese Län-der ihre Defizite schon deutlich reduziert haben. Die Defizite sind im Vergleich zu 2009 in allen Krisenländern gesunken. Und Italien ist das zweitsolideste G-7-Land, gleich nach Deutschland. Die Märkte haben das überhaupt nicht bemerkt.Starbatty: Die Politik will den Schuldenstaaten Zeit kaufen, indem sie ihnen Geld leiht, in der Hoffnung, es zurückzubekom-men, wenn die Länder sich erholen. Aber diese Strategie funktio-niert nicht. Das wissen die Märkte und treiben die Renditen nach oben.SPIEGEL: Die Renditen steigen, weil die Anleger die Schuldenpapiere ver-kaufen. Wie ist diese Flucht aus Staatsanleihen zu stoppen?Starbatty: Weil die Brandherde in der Euro-Zone nicht isoliert werden, springen die Funken über und stecken die gesunden Län-der an. Denn alle wissen: Wenn die schwächeren Länder gerettet werden sollen, sind es letztlich zwei, die das alles stemmen müs-sen – Deutschland und Frankreich. Die wichtigste Frage ist also: Wie lange sind die Deutschen bereit zu zahlen? Und wie lange sind die Franzosen in der Lage zu zahlen? Die Anleger glauben, nicht mehr lange. Und so sehen es auch die Rating-Agenturen.Bofinger: Sie beschreiben korrekt, wie die Euro-Zone jetzt auf-tritt, mit 17 verschiedenen Staaten, die individuell versuchen, die Probleme zu meistern. In der Tat stellt sich dann die Frage: Kann Deutschland am Ende für alle haften? Deshalb muss man die Ver-hältnisse umdrehen und sagen: Wir treten jetzt als Einheit auf. Wenn Italien sich über Euro-Bonds verschulden kann, bekommt es immer Geld, auch wenn es nächstes Jahr 300 Milliarden erset-zen muss. Man nimmt den Spekulanten so die Möglichkeit, die einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen.Starbatty: Für mich, ich sage es noch einmal, ist das eine Tod-sünde. Eine Haftungsgemeinschaft führt immer zum leichtferti-gen Umgang mit dem Geld anderer Leute.Bofinger: Natürlich müssen die Bonds mit verschärften Auflagen für die fiskalische Disziplin verbunden sein.Starbatty: Wir hatten eine feste Regel, die No-bail-out- Klausel …SPIEGEL: … wonach kein Euro-Staat für die anderen haftet.Starbatty: Aber diese Regel ist beiseite geschoben worden. Ma-dame Lagarde, die frühere französische Finanzministerin, sagt,

wir haben den Vertrag gebrochen, um den Euro zu retten. Und das wird man immer wieder tun.Bofinger: Das glaube ich nicht, wenn die Regeln gut gemacht sind.Starbatty: Ich finde Sie ein bisschen naiv. Man wird neue Haus-haltsregeln einführen, um die Euro-Bonds zu bekommen, und so-bald man sie hat, wird man die Regeln beim nächsten Problem wieder vergessen.Bofinger: Mit Euro-Bonds wäre es viel schwieriger, das System zu destabilisieren. Wenn alles abgesichert ist, kann ich im Zweifel auch Länder rausschmeißen, die sich nicht an die Regeln halten. Jedes Land müsste sich beispielsweise das Budget vom Europa-parlament genehmigen lassen. Wenn die Fiskalpolitik als unzu-reichend angesehen würde, könnte man Aufschläge auf die natio-nalen Steuern durchsetzen.SPIEGEL: Das liefe auf eine Fiskalunion hinaus.Bofinger: So weit müsste man noch nicht einmal gehen. Tempo-räre Aufschläge auf die Einkommen- oder Mehrwertsteuer wür-den reichen. Es müsste in den nationalen Verfassungen festge-halten werden, dass das geht.SPIEGEL: Wozu allerdings die nationalen Verfassungen geändert werden müssten.Bofinger: Ich glaube, als Gegenleistung für Euro-Bonds wären die meisten Länder bereit, sich darauf einzulassen.Starbatty: Sie sagen immer »könnte« und »müsste«. Einen Öko-nomen überzeugen solche normativen Sätze nicht. Der geht von Tatsachen aus. Bisher hat sich immer gezeigt, dass nicht die Re-geln das Verhalten bestimmt haben, sondern das Verhalten auf die Regeln durchschlug.Bofinger: Wenn man kein Vertrauen in den politischen Prozess hat, dann ist es konsequent, das ganze Ding in die Luft gehen zu lassen. Denn der Markt als Instrument zur Disziplinierung funkti-oniert nicht. Der Markt ist chaotisch. Bis 2008 hat er nicht ge-merkt, was in Griechenland los war, dann ist er wach geworden; jetzt hat er nicht gemerkt, dass die Länder ihre Defizite reduziert haben, er reagiert völlig undifferenziert.Starbatty: Wenn man versucht, ökonomische Gesetzmäßigkei-ten auszuschalten, dann kommt man in Schwierigkeiten. Ich sage Ihnen, was passiert, wenn Ihre Euro-Bonds kommen. Nach zwei, drei Monaten stehen Sie vor den gleichen Problemen wie vorher.SPIEGEL: Also muss die EZB doch die Bazooka rausholen?Starbatty: Die Konsequenz einer Staatsfinanzierung durch die Notenbank ist auf Dauer immer Inflation. Wenn die EZB auf die gleiche Menge Papier höhere Zahlen druckt, ist das Münzbetrug.

M 6 »Deutschland! Eurobonds! Deutschland! Eurobonds!« © Gerhard Mester 2011

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Bofinger: Wo würde denn Geld gedruckt? Was reden Sie denn da? Starbatty: Bazooka bedeutet nichts anderes als Gelddrucken.Bofinger: Wenn die EZB Anleihen von einer Geschäftsbank kauft, bekommt das Konto dieser Bank bei der EZB eine entsprechende Gutschrift. Da wird kein einziger Euro gedruckt. Inflation könnte nur dann auftreten, wenn die Bank angesichts des gering verzins-ten Guthabens bei der Notenbank anfängt, in großem Stil Kredite zu vergeben. So wie die Konjunktur sich entwickelt, werden die Banken aber einen Teufel tun, mit Krediten um sich zu werfen. Aber selbst wenn, kann die EZB den Zinssatz jederzeit nach oben setzen, um die Kreditvergabe zu drosseln.Starbatty: Der Notenbank ist es gesetzlich verboten, Staaten di-rekt zu finanzieren. Natürlich hängt es von den konjunkturellen Gegebenheiten ab, aber auf Dauer wird der Münzbetrug zu Infla-tion führen. Wenn die Herrscher früher aus einem bestimmten Schatz an Gold oder was auch immer die doppelte Menge an Münzen prägten, waren die weniger wert. Was die EZB machen soll, ist genau das Gleiche.Bofinger: Sie sprechen von einer steigenden Geldmenge. Aber bei dem, was die EZB macht, steigt die Geldmenge eben nicht. Sie steigt erst, wenn die Banken mehr Kredite vergeben. Und verbo-ten ist das, was die EZB tut, auch nicht. Das sind klassische Offen-marktgeschäfte, kein direkter Kauf neuer Staatsanleihen.SPIEGEL: Wenn die Flucht aus Staatsanleihen anhält, kommt die EZB wohl nicht umhin, Staatsanleihen direkt zu zeichnen.Bofinger: Die EZB müsste nur signalisieren, dass sie die Zinsen dieser Anleihen nicht über fünf Prozent steigen lässt. Das kann sie über den Sekundärmarkt steuern. (…) Aber sagen Sie doch mal, was Sie wollen!Starbatty: Konsolidierung des Euro!Bofinger: Wer denn? Wie denn?Starbatty: Die vertragswidrigen »Bail-out-Aktionen« müssen ge-stoppt werden. Staaten, die glauben, sie gehören dazu, können sich entsprechend anstrengen. Wer lieber austreten will, um durch eine Abwertung wieder wettbewerbsfähig zu werden, soll das tun. Sonst fliegt uns der Laden um die Ohren, da bin ich Ihrer Meinung.Bofinger: Aber so fliegt er uns erst recht um die Ohren. Wenn Länder aussteigen, gibt es eine Kettenreaktion. (…) Die Schwie-rigkeiten sind doch nicht gottgegeben. Sie resultieren doch dar-aus, dass Italien oder Spanien sieben Prozent Zinsen zahlen müs-sen.Starbatty: Wegen ihrer Probleme!Bofinger: Nein, weil die Märkte in Panik sind. Sie reagieren nicht auf die Fiskaldaten, sonst müssten Japaner und Amerikaner, die sich weniger anstrengen als Italien, auch sieben oder acht Pro-zent zahlen. Die Investoren haben einfach Angst um ihr Geld, sie folgen einem Herdentrieb.Starbatty: Nein. Die Investoren schauen genau hin, ob ein Land seine Schulden tragen kann. Und wenn sie glauben, dass es das nicht kann, gehen sie lieber jetzt raus als später.Bofinger: Aber so wird es zu einer Prophezeiung, die sich selbst erfüllt: Je mehr Investoren rausrennen, desto höher steigen die Zinsen, und desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein Land seine Schulden bedienen kann.Starbatty: Italien hatte vor dem Eintritt in die Währungsunion 1995 einen Weltmarktanteil von 6,2 Prozent. 2009 lag er nur noch bei 2,8 Prozent. Wie soll das Land die notwendigen Überschüsse erwirtschaften können? Diese Probleme werden weder durch Euro-Bonds noch über die Notenpresse gelöst.Bofinger: Wenn Länder wie Portugal ein Wettbewerbsproblem haben, liegt das auch daran, dass sie sehr viel mehr als Deutsch-land Konkurrenz durch Staaten wie China und Russland bekom-men haben. Das wäre auch ohne den Euro passiert.Starbatty: Aber mit einer eigenen Währung hätten sie abwerten können.SPIEGEL: Sind die Euro-Staaten also zu unterschiedlich, um sie in einer Währung zusammenzuschweißen – so wie es die Euro-Kritiker von An-fang an behauptet haben?

Bofinger: Große Unterschiede in der Leistungsfähigkeit gibt es auch in den USA. Das Problem ist, dass wir in Deutschland ver-sucht haben, durch Lohnzurückhaltung noch stärker zu werden. Heute zeigt sich, dass das die falsche Politik war. Wir haben zu dem Wettbewerbsgefälle in der Euro-Zone beigetragen, wie von der anderen Seite die Spanier und Portugiesen.Starbatty: Der Fehler liegt darin, dass die schwachen Länder in der Währungsunion ihre Politik nicht geändert haben. Sie haben die niedrigen Zinsen genutzt, um ein Fass aufzumachen, anstatt ihre Wirtschaft zu modernisieren. Deutschland hat sich anders verhalten, deshalb haben wir jetzt einen großen Riss in der Wäh-rungsunion. Die einen sind übermäßig konkurrenzfähig, die a deren können überhaupt nicht mehr mithalten. Der griechische Euro ist weit überteuert, der deutsche Euro ist stark unterbewer-tet. Deswegen sitzen wir wie die Chinesen auf der Anklagebank.SPIEGEL: Lassen sich die Unterschiede in der Währungsunion abbauen, oder müssen die starken Länder die schwachen auf Dauer alimentieren?Starbatty: Transfers sind die automatische Folge, wenn man in-nerhalb einer Währungsunion zu unterschiedliche Volkswirt-schaften hat. Die Schwachen importieren Stabilität und exportie-ren Arbeitsplätze. Das sehen Sie in Nord- und Süditalien sowie in West- und Ostdeutschland. Wenn man das nicht ändert, wird es weiter Transfers geben. Und zwar nicht wie bisher in der EU circa 15 Milliarden, sondern weit darüber hinaus. Das aber geht nicht ohne Änderung des Grundgesetzes, weil die Euro-Zone dann starke bundesstaatliche Züge annimmt. Andernfalls ziehen wir wieder vor das Bundesverfassungsgericht. Da müsste es eine Volksabstimmung geben.Bofinger: Ich sehe keinen Grund für permanente hohe Transfers. Die Länder sind doch schon auf dem Weg, ihre Leistungsbilanzde-fizite abzubauen. Voraussetzung ist, dass die Konjunktur nicht wegrutscht, dass die Zinsen vernünftig sind und dass man Wachs-tumspotentiale hebt.

© Die zwei Todsünden, Spiegel-Streitgespräch zwischen Peter Bofinger und Joachim Star-batty, Nr. 51, 17.12.2011, S. 76–79

M 7 Der Eurokritiker Professor Joachim Starbatty und der Wirtschaftsweise Professor Peter Bofinger im Spiegel-Streitgespräch © Bert Bostelmann, Der Spiegel, 17.12.2011, S. 76,

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Page 38: DEUTSCHLAND & EUROPA · turen (Fitch, Standard & Poor’s und Moody’s) haben 2012 auch insbesondere deren Staatsanleihen abgewertet, im Falle von Griechenland sogar auf »Ramsch-Niveau«,

sie auf. Harte Arbeitskämpfe mit den Gewerkschaften waren die Folge. Jahrelange Verluste der großen Staatsbetriebe erzwangen schließlich Privatisierung, Verkleinerung, weitere flexiblere in-nere Gliederung und die räumliche Dezentralisierung. Der Großraum Mailand/Turin bewahrte seine industrielle und ge-samtwirtschaftliche Führungskraft. Die Bevölkerungszahl stieg von 1,3 Mio. (1951) auf 4,5 Mio. (2011). Auch die metropolenferne-ren Gemeinden nahmen an diesem Zuwachs teil. Die meist welt-weit agierenden Konzerne haben unverändert hier ihre Hauptver-waltungen: Montedison, Pirelli, Falck, Borlatti, Phillips. In Mailand verbinden sich heute High-Tech-Innovationen mit welt-weit bedeutendem Industriedesign. Im Großraum Turin, histo-risch seit 1899 stark von Fahrzeug-, Flugzeugbau und Elektronik geprägt, überwiegen die Beschäftigten in Dienstleitungen, Wis-senschaft und Kultur, besonders seit den Olympischen Winter-spielen 2006. Der Wirtschaftsraum Mailand-Turin bildet jedoch die südlichste Flanke des breiten europäischen Industriebandes, das sich über die Rhôneachse, das Rhein-Main- und Ruhrgebiet bis nach Bel-gien, die Niederlande nach Südengland erstreckt (»Blaue Bana ne«). Hinsichtlich Pro-Kopf-Einkommen, Ausgaben für For-schung und Entwicklung, Anmeldungen von Patenten, in dus trie-orientierter Bildungseinrichtungen liegen die Lombardei, Emilia-Romagna und Venezien in der europäischen Spitzengruppe (| M 5 |), während die südlicheren Landesteile Italiens wesentlich geringere Werte erreichen. Damit blieb der von vor der staatli-chen Einigung Italiens (1861)vorhandene Nord-Süd-Gegensatz bis heute erhalten.

Italiens Süden: Trotz verbesserter Infrastruktur kein umfassender industrieller »take-off«

Nach dem 2.Weltkrieg hatte der italienische Staat versucht, den Entwicklungsrückstand des noch stark agrarischen Südens zu verringern. Starthilfe sollte die staatliche »Cassa per il Mezzogi-orno« leisten, eine bürokratische und deshalb äußerst schwerfäl-lige Finanzierungsorganisation. Die EU-Regionalpolitik steuerte über die Europäische Investitionsbank (EIB) wesentliche finanzi-elle Hilfen für Betriebsgründungen und Ausbau der Infrastruktur bei: Straßen- und Autobahnen, flächendeckende Wasser- und Energieversorgung, vielschichtige Bildungseinrichtungen, Ver-

Der »Barcelona-Prozess« (ab 1995) und die »Union für das Mittelmeer« verfolgten ab 2008 das Ziel, die südli-

chen Mittelmeeranrainer, also die Staaten im Mittleren Osten und in Nordafrika (MENA) in eine wirtschaftliche, gesell-schaftliche und kulturelle Einheit des Mittelmeerraumes ein-zubinden. Der Norden sollte seine Errungenschaften den süd-lichen Partnern nahebringen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat aber nun gezeigt, dass Europa noch nicht einmal die Prob-leme an seiner eigenen Südflanke, d. h. in Ländern mit 2000jähriger kultureller Tradition, mit demokratischem Staatsaufbau und z. T. langer gewerblicher Entwicklung lösen kann.

ITALIENs Norden: Von fordistischer Massenpro-duktion zu innovativen Milieus

Bereits seit der Frühneuzeit lagen die wichtigsten wirtschaftli-chen Zentren in Norditalien, besonders in der Lombardei und in Piemont. Hohe Dichte von Gewerbe und Industrie mit weit aus-greifenden Handelsverflechtungen machten diese Regionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei gleichzeitig intensiver Agrar-nutzung zum leistungsstärksten Industrieraum der Apenninen-halbinsel. Seine historischen Wurzeln waren: Arbeitserfahrung aus einem breitem Gewerbespektrum, Kenntnisse zu Betriebsor-ganisation und Marktzugang, die seit der Renaissance entwi-ckelte Finanzpolitik, hohe Kaufkraft und die Konzentration von Kapital. Auch die Hydro-Energie an den Alpenflüssen wirkte zu-nächst standortbildend. In neuerer Zeit entstanden Innovations-zentren mit großer Exportreichweite nicht nur im Umkreis Mai-lands und Turins, sondern auch in der Nähe kleinerer Städte und förderten Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik, Elektronik, Chemie sowie weltweit modebestimmende Textil-, Schuh- und Möbelindustrien. Es entstand die differenzierteste in-dustrielle Produktionspalette des Mittelmeerraumes. Die konti-nuierliche Zunahme von Arbeitsplätzen bewirkte die Zuwande-rung qualifizierter und ungelernter Arbeitskräfte zunächst aus Italien, später auch aus dem Ausland. Ausufernde Verstädterung war die Folge.Noch nach dem zweiten Weltkrieg war die großbetriebliche, »for-distische« Fließband- und Massenproduktion dominant. Mo-dernste Technologie erreichte ständige Produktivitätssteige-rung. Die vor- und nachgelagerten Produktionsstufen wurden einschließlich Forschung und Entwicklung sowie Vermarktung unter dem Dach branchenübergreifender privater oder staat-licher Konzerne zusammengefasst. Später gründete man zu-liefernde Betriebe in peripheren Gebieten, z. B. in Mittel- und Süditalien, teils um dort gewährte Subventionen und Steuerver-günstigungen wahrzunehmen, teils regionalpolitischen Auflagen folgend. Meist erreichte diese Dezentralisierung jedoch nur ge-ringe Rentabilität. Die Steuerung dieser vielgliedrigen Großun-ternehmen wurde trotzdem immer schwerfälliger. Insbesondere die staatlichen Konzerne litten unter Ertragsschwäche. Deshalb versuchte man die Konzerne durch Ausgliederung einzel-ner Fertigungszweige übersichtlicher, effizienter und konkur-renzstärker zu gestalten (»lean production«). Trotzdem blieben Schwächen der großbetrieblichen Massenproduktion bei Fahr-zeug-, Maschinenbau und Textilindustrie erhalten. In Phasen der Hochkonjunktur wurden sie nicht beachtet. Rezessionen deckten

SCHULDENKRISE IN EUROPA

5. Staaten im Süden der EU: Wirtschaftsgeogra-phische Grundlagen, Probleme und Chancen

HORST-GÜNTER WAGNER

Abb. 1. »Sündenböcke?« © Gerhard Mester, 2011

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besserung der Wohnverhältnisse. Auch die Einkommen sind ge-stiegen, während die Geburtenraten auch hier stark abnahmen.Seit 1957 waren alle Staatsunternehmen des Nordens verpflich-tet, 40 % ihrer Investitionen in den Süden des Landes zu lenken. So entstanden im Mezzogiorno zahlreiche Neuanlagen, überwie-gend jedoch kapitalintensive Großbetriebe, da auf diese Weise möglichst hohe Subventionssummen abzuschöpfen waren, z. B. petrochemische Grundstoffindustrien küstennah für die Öltan-ker aus dem Vorderen Orient in Brindisi, Augusta/Syrakus, Ra-gusa und Gela in Sizilien, Sarroch, Porto Torres in Sardinien.Am Hafen von Tarent wurde 1964 ein staatliches Italsider-Stahl-werk gegründet, das um 1975/80 als größtes Stahlwerk der EG eine Produktionskapazität für Rohstahl von 10 Mio. t pro Jahr und ca. 20.000 Beschäftigten hatte. Alle notwendigen Rohstoffe mussten importiert werden (Energie, Roherz, Schrott), der er-zeugte Rohstahl konnte nicht vor Ort verwendet werden. Daran zeigt sich das Grundproblem: Fast nirgends entwickelten sich weiterverarbeitende Industriebetriebe. Die hoch subventionier-ten Gründungen konnten die ihnen zugedachte Rolle als Entwick-lungspole mit Kettenreaktion zur »automatischen« Entstehung nahegelegener, arbeitsintensiver Unternehmen der Weiterverar-beitung nicht erfüllen. Politische und betriebswirtschaftliche As-pekte, auch Einflüsse von Korruption lenkten die Investitionen doch mehr nach Norditalien. Sozioökonomisch ist der Rückstand des Mezzogiorno insgesamt trotz vielfältiger Verbesserungen der technischen und sozialen Infrastruktur jedoch noch immer beträchtlich. Während in Nord-italien das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner Werte von 25–40 % über dem Mittelwert der EU-27 (vgl. für 2007/2008, Euro-stat Jahrbuch der Regionen 2010, S. 79) erreicht, liegt es in den südlichen Regionen Italiens (Kampanien, Basilikata, Apulien, Ka-labrien, Sizilien) um den gleichen Betrag darunter. Deshalb strebte die »Lega Nord« (ursprünglich »Lega Lombarda«) als poli-tische Partei eine Abkoppelung des als rückständig gebrand-markten und als nicht entwicklungsfähig erachteten Süditaliens vom wirtschaftlich erfolgreichen Norden (»Padania«) an.

Italien: Hemmnisse und Reformfähigkeit der Wirtschaft

Trotz der Probleme im Süden des Landes steht außer Zweifel, dass die Wirtschaft Italiens auch weiterhin eine führende Stellung sowohl in Europa und innerhalb der Eurozone als auch weltweit einnehmen wird. Gleichwohl wirken mehrere Problemfelder hem-mend. (1) Die Staatsverschuldung Italiens liegt seit der Mitte der 1990er-

Jahre konstant über 100 % des BIP. (2) Die statistisch nicht erfassbare, zwar für den Arbeitsmarkt

wichtige, die Steuereinnahmen aber stark mindernde Schat-tenwirtschaft (»economia sommersa«) wird im Verhältnis zum BIP auf mindestens 25–30 % geschätzt. In sie flüchten Hand-werker und kleine Gewerbetreibende, um durch Vermeidung der Steuerbelastung das betriebliche Überleben zu sichern. Enger als in anderen EU-Staaten hängt damit die zur Existenz-sicherung notwendige Beschäftigung in mehreren, z. T. illega-len Arbeitsverhältnissen zusammen. Auch größeren Unter-nehmen scheint es zu gelingen, wenigstens teilweise den Forderungen des Fiskus zu entgehen. Nach Schätzungen ver-ursacht die Schattenwirtschaft jährliche Steuerverluste des Staates von 100 Mrd. €.

(3) Den Staatshaushalt belastet ferner die großzügige Renten- und Frührentenregelung (z. T. schon nach 25 Arbeitsjahren) bei im EU-Vergleich hoher Lebenserwartung. Hier können Re-formen den Weg zur Stabilisierung verbessern.

(4) Der hohe Anteil geringer Betriebsgrößen bremst die Dynamik des Wirtschaftswachstums. Allerdings profitieren kleine Be-triebe oft von der Fähigkeit zu schneller Marktanpassung. Be-lastend ist jedoch für sie die in Italien seit ca. zehn Jahren stär-

ker als in den nördlichen EU-Staaten erfolgte Zunahme der Lohnkosten um 25 %. Daraus ergab sich zumindest eine Ver-zögerung des Produktivitätsanstiegs. Nach Einschätzung des Centrums für Europäische Politik (CEP, Länderbericht Italien 2011, www.cep.eu) ist die Senkung der Arbeitnehmerentgelte Voraussetzung für die notwendige Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit.

(5) Breite Spektren von Korruption und Schutzgeldsystemen wu-chern nicht nur in Süditalien. Sie reichen bis in die aufgeblähte staatliche Bürokratie und in die offizielle Wirtschaft. Sie wer-den von neuen und modern organisierten, in alle Gesell-schaftsschichten wirkenden Mafiaorganisationen (Camorra, Ndrangheta, Cosa Nostra) getragen. Viele Subventionen aus Rom und Brüssel verschwinden noch immer in dunklen Kanä-len.

(6) Kriminelle Netzwerke steuern über den international illega-len Drogen- und Waffenhandel bestimmte Bereiche der Wirt-schaft. Die darauf folgende Geldwäsche erfolgt auch durch Investition in »legale« Firmen der Bauindustrie, der Abfall-wirtschaft, in Tourismuszentren, Einzelhandels-Supermärk-ten und sogar in großen Windenergieanlagen, wie in der Re-gion Crotone/Kalabrien. Die darüber vorliegenden Berichte zeigen Verbindungen nach Deutschland, Osteuropa, Westaf-rika und Südamerika auf (SAVIANO 2006; RESKI 2009).

(7) Das Ausbleiben von Reformen in der öffentlichen Verwaltung bremste während der letzten drei Jahrzehnte wichtige Teile der Wirtschaft. Besonders die Verzögerung der Privatisierung von unrentabel agierenden, teilweise aus der Mussolinizeit stammenden Staatskonzernen behinderte den gegenüber der weltweiten Konkurrenz erforderlichen Leistungszuwachs.

(8) Erstaunlicherweise erlaubte zwischen 1994 und 2011 (mit drei Unterbrechungen) die politische Mentalität der Wähler mehr-fach die enge Verbindung der obersten Staatsführung (Berlus-

Abb. 2 Der Refinanzierungsbedarf Italiens © picture alliance, dpa

Der Refinanzierungsbedarf Italiens

Quelle: ital. Finanzministerium, Bloomberg 15996

Rund 318 Mrd. Euro Schulden muss Italien 2012 an Investoren zurückzahlen. In Mrd. € nach Fälligkeitsmonaten:

Entwicklung der Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen im Vergleich,in Prozent

Stand 30.11.2011

1

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4

3

5

6

7

%

Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez.

15,2

53,144,2 45,4

15,3

6,1

24,518,7 19,7

26,119,0

30,5

2011 122010N D J F M A M J J A S O N D J

4,24 %

3,49 %

3,94 %

2,48 %

DEUTSCHLAND

SPANIEN

ITALIEN 5,23 %

12.1., 9.12 Uhr: 6,84 %

1,84 %

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coni) zu Medienmacht, Kapital und undurchschaubaren Ak-teuren. Traditionelle und moderne Klientelsysteme garantieren den Erhalt sowohl persönlicher Vorteilsnahme als auch den Einfluss von Interessengruppen. Es erscheint frag-lich, ob diese Verflechtungen schnell reduzierbar sein werden. Daran würde sich der Grad der Reformfähigkeit der Gesell-schaft Italiens zeigen.

(9) Gute Reformfähigkeit wird in der Steigerung von Forschung und Entwicklung auf staatlicher Seite und in der Privatwirt-schaft gesehen. Gegenwärtig erreichen diesbezügliche Inves-titionen nur 45 % derjenigen in Deutschland.

SPANIEN

Spanien wurde nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 mit der Demokratisierung von einem schnellen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel erfasst. Er wurde mit dem Beitritt zur EG 1986 durch weiteren wirtschaftlichen Aufschwung ver-stärkt. Die relativ plötzlich sichtbar gewordene aktuelle Krise of-fenbart jedoch auch zurückliegende Ursachen.

Ältere Industrieregionen im Baskenland und im Großraum Barcelona

Auf der Iberischen Halbinsel begann die moderne, industriege-prägte Wirtschaft relativ spät. Die frühneuzeitlichen Importe von Edelmetallen aus Lateinamerika hatten zwar Wohlstand begrün-det, aber keine eigenständige gewerbliche Entwicklung ausge-löst. Im 19. Jahrhundert lag ein erster schwerindustrieller Schwer-punkt Spaniens in der baskisch-asturischen Region um Bilbao und Oviedo. Basis waren regionale Erzlagerstätten und asturi-sche Kohle. Zusätzlich wurde Steinkohle aus England eingeführt. Unternehmerische Initiativen schufen breit gestaffelte Folgein-dustrien (Chemie, Elektro-, Maschinen- und Schiffbau). Ab 1960 entstanden moderne Stahlwerke und eine Reihe von Folgeindust-rien. Noch heute sind die Pro-Kopf-Einkommen im Baskenland mit die höchsten Spaniens.Wesentlich erfolgreicher war die Wirtschaft in Katalonien. Von Barcelona ausgehend vollzog sich eine ähnlich vielseitige Ent-wicklungslinie wie im lombardisch-piemontesischen Industrie-raum Norditaliens. Dafür waren lokal-regionale Unternehmerini-tiativen und Impulse aus Exportüberschüssen ausschlaggebend. Katalonien übernahm noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts technologische Innovationen aus Frankreich oder die Kenntnis der Baumwollverarbeitung aus Großbritannien. Der Nachbau englischer Maschinen führte zur eigenständigen Weiterentwick-

lung neuer Produkti-onsverfahren. Hier-aus entwickelten sich Metallverarbeitung, Maschinenbau und einiger frühe Zweige der Chemieindustrie im Umland Barcelo-nas.

Jüngeres Wachstum und räumliche Expansion der Wirtschaft Spaniens

Nach 1960 gründete man in ländlichen Gebieten Entwick-

lungspole (»polos de desarrollo und polos de promoción«) mit der Hoffnung auf Folgeeffekte für die Ansiedlung von Zuliefer- und Verarbeitungsbetrieben. Als solche Zentren erhielten Oviedo, Vigo, Valladolid, Burgos, Zaragoza im Norden und Córdoba, Se-villa, Huelva und Granada im Süden eine moderne Infrastruktur. Durch zusätzlich sog. Entlastungspole (»polos de descongestión«) gegenüber den wachsenden Verdichtungsräumen Madrid und Barcelona sollte die Dezentralisierung weiter gefördert werden. Der privaten Industrie bot der Staat für die Ansiedlung in periphe-ren Gebieten, vor allem in Provinzhauptstädten finanzielle An-reize. Aber die öffentlichen Subventionen konnten die ökonomi-schen Vorteile der großen Ballungsräume nicht aufwiegen. Viele dieser neuen dezentralen Industrieparks blieben deshalb Jahr-zehnte lang fast leer. Auswanderung nach Lateinamerika und nach Mittel- und Westeuropa war die Folge.Die weitere Entwicklung der Industrie wurde in Spanien ab 1959 von küstennahen Raffinerien und Standorten der chemischen In-dustrie erwartet (Bilbao, Taragona, Cartagena, Cadiz). Zuneh-mend setzte man Hoffnung auf exportorientierte Autoindustrie auch im Landesinneren. Die früher weniger erfolgreich gebliebe-nen Gewerbegebiete in bisher industriearmen Regionen Nordspaniens wurden jetzt zu willkommenen Zielen für ausländi-sche, teils multinationale Investitionen: Martorell westlich von Barcelona (Seat/VW), Zaragoza (Opel), Pamplona (Seat/VW), Val-ladolid (Renault), Vitoria (Mercedes), Valencia (Ford). Niedrige Lohnkosten und hohe Arbeitsqualität waren wichtige Standort-kriterien. Fast alle Betriebe waren von Beginn an technisch mo-dern, arbeitssparend organisiert und verfügten über hohe Ar-beitsproduktivität. Gegenüber den Stammkonzernen in Frankreich und Deutschland waren sie weitgehend unabhängig, teilweise auch im Bereich der Entwicklungsforschung. Es ent-standen innerspanische Zulieferketten. Spanien war zeitweilig drittgrößter Autohersteller und verfügt über die zweitwichtigste Zulieferindustrie für Autoteile Europas. 80 % der in Spanien ver-bauten Autoteile wurden im Lande selbst produziert. Die jüngere Industrieentwicklung verlief nach dem Beitritt zur EU 1986 sehr positiv, gelegentlich auch als »Wirtschaftswunder« apostrophiert. Von den neuen dezentralen Standorten erfolgte in engem Kontakt mit meist spezialisierten Kooperationspartnern weitere Expansion. So wuchsen neue Stadtregionen mit Wohnge-bieten, Gewerbearealen, Versorgungs- und Bildungseinrichtun-gen sowie Erholungsgebieten. Der Außenhandelsumfang wuchs beträchtlich, seine Bilanz war jedoch weitgehend negativ, beson-ders seit 1974 wegen des Ölpreisanstiegs. Die wachsenden Ein-nahmen aus dem Tourismus und die Rücküberweisungen der Gastarbeiter erbrachten aber einen gewissen Ausgleich, zumin-dest in der Devisenbilanz. In den 1980er-Jahren konnten die Devi-seneinnahmen des Tourismus rechnerisch etwa die Hälfte des

Abb. 3 Schuldenstand und Arbeitslosigkeit in ausgewählten Ländern © nach Eurostat, 2011, StZ 5.11.2011

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Außenhandelsdefizits decken (Wag-ner 1989, S. 338). Gleichzeitig wuchs die große urban-industrielle Region um Barcelona ei-genständig weiter sehr erfolgreich. Von hier aus erfolgte die Auslagerung industrieller Unternehmen zunächst in das Hinterland, z. B. bis nach Zara-goza. Diese räumliche Expansion lei-tete eine neue Entwicklung ganz Spaniens ein: Das Erfolgsmodell Bar-celona wurde ab ca. 1970 in andere Landesteile übertragen. Man sprach von einer »Katalanisierung« Spani-ens. Schrittweise entstanden im Ebrobecken, im Großraum Madrid und an der gesamten Mittelmeer-küste Spaniens neue Industriekom-plexe. In der Metropolitanregion Madrid hatte neben den höchstrangigen ad-ministrativen und politischen Funkti-onen ab etwa 1920 auch die Industrie zunehmende Bedeutung erlangt. Stürmisch verlief die Entwicklung Madrids aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1935: 1 Mio. Einwohner, 1960: 2 Mio, Area Metropoli-tana de Madrid 2010: 6 Mio. Einwohner). Viele in Spanien tätige Wirtschaftskonzerne unterhalten hier eine repräsentative Spitze. Seit Beginn der 1970er-Jahre durchlief die Industrie Madrids eine nachholende Entwicklung durch Ansiedlung moderner Zweige des sekundären Sektors im Umland: Textil-, Konfektions- und Le-bensmittelindustrien, Metallverarbeitung, Maschinen- und Fahr-zeugbau, Autozulieferindustrie, Elektrotechnik, High-Tech-Elekt-ronik, Chemiesparten sowie jüngere Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die Güter-Außenhandelsbilanz Spaniens war allerdings seit 2000 weiterhin zunehmend negativ. Im Mittelwert 2005/2008 stieg das Defizit auf ca. 90 Mrd. € (Export ca.170 Mrd. €, Import ca. 260 Mrd. €). Mit der Wirtschaftskrise 2008 sank auch das Außenhandelsvolumen. Sein Defizit war 2009/2010 etwa so hoch wie die Einnahmen aus dem Tourismus.

Folgen der Immobilienkrise und wachsende Wettbewerbsfähigkeit Spaniens

Trotz der Dezentralisierung konnten die Wohlfahrtsunterschiede zwischen den einzelnen Regionen Spaniens nicht überwunden werden. Zieht man ein Fazit, so zeigt sich, dass die Kraftfahrzeugbranche nach dem EG-Beitritt 1986 die stärkste Basis der Wirtschaft Spa-niens bildete. Sie ist zwar betrieblich modern organisiert, konnte jedoch als »alte Industrie« nicht genügend Impulse für die Ge-nese zahlreicher neuer innovativer Industriezweige mit eigen-ständigem Wirtschaftswachstum ausstrahlen. Zwar entstanden Industrien mit deutlich höherer Arbeitsproduktivität und Wettbe-werbsfähigkeit, aber die Summe ihrer Arbeitsplätze ist noch ge-ring. Die Wirtschaft Spaniens wuchs 2000–2007 (nach Angaben des Instituto Nacional de Estadistica INE) mit 3.5 % – 4.0 % pro Jahr trotzdem zunächst beachtlich. Wichtigste Ursachen dafür waren ein starker privater Konsum und die Expansion der Bautätigkeit besonders in den Küstenge-bieten mit touristischer Attraktivität. Hier entstanden neue stadtähnliche Siedlungen, deren Struktur auf gewandelten Le-bensformen, sowohl von In- als auch Ausländern beruhte. Viele Spanier errichteten sich einen küstennahen Zweitwohnsitz (»Re-sidenz-Tourismus«). Hinzu kamen die Ruhestandsmigranten aus Mittel- und Westeuropa. Ihr Wunsch nach einem sonnenreichen Wohnsitz sorgte zusätzlich für die Zunahme des Massenphäno-

mens der »Urbanizaciónes«. Ein dritter Schub ging direkt von Im-mobilien- und Kapitalgesellschaften aus, die quasi auf Vorrat Wohnungen, Freizeiteinrichtungen und überdimensionierte Su-permärkte bauten. 2008 stellte man eine statistische Hypothe-kenbelastung für jeden der 46 Mio. Einwohner Spaniens von 140.000 Euro fest (Süddeutsche Zeitung 21.5.2008). Die gravie-rendste Folge dieses freizeitorientierten Baubooms registrierte der Finanzsektor. Das Überangebot fand insbesondere infolge der weltweiten Im-mobilienkrise nicht genügend Abnehmer, der Wert der Objekte sank, die gleichzeitig gestiegenen Zinsen konnten nicht mehr be-zahlt werden. Heute stehen nach Schätzungen mindestens ca. 700.000 Häuser und Wohnungen leer. Aus diesem Überangebot schon realisierter, aber nicht mehr bezahlbarer Immobilien resul-tiert damit der Kern der aktuellen Wirtschaftskrise Spaniens. Da-raus erwuchs seit 2008 das zweite Hauptproblem, die Arbeitslo-sigkeit in Höhe von ca. fünf Millionen (Ende 2011), d. h. 21 % der Erwerbsbevölkerung, die höchste in der EU registrierte Quote (| Abb. 3 |). Fast jeder Zweite der 15–25-Jährigen ist arbeitslos und hat damit nur geringe Chancen zur eigenständigen Existenzsiche-rung. Die Dauer-Demonstrationen im Sommer 2011 in Madrid und in anderen Städten Spaniens machten die Entmutigung der Ju-gend deutlich und drohten das Bild einer »verlorenen Genera-tion« an. Schon bei einem Wirtschaftswachstum von unter 2 % entstehen keine neuen Arbeitsplätze. 2011 wuchs das BIP nur um 0.7 %. Demgegenüber lag die Verschuldung des spanischen Staa-tes seit Mitte der 1990er-Jahre mit Schwankungen um 50 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und damit niedriger als in Italien, Griechenland sowie in anderen EU-Staaten und ist somit das Hauptproblem der Krise in Spanien (| Abb. 3 |).

Abb. 4 Großdemonstration in Madrid gegen eine Verfassungsreform, die eine Schuldenbremse vorsieht. Die De-monstranten fordern dazu eine Volksabstimmung. © picture alliance, 6.9.2011

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GRIECHENLAND

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung des griechischen Staa-tes ab 1821 war stark vom Ausland ab-hängig und litt nach 1833 und 1843 zusätzlich unter den Folgen eines zweimaligen Staatsbankrotts. Die Wirtschaft verharrte deshalb lange auf lokaler Bedeutung des hand-werklichen Gewerbes mit enger Bin-dung an die Landwirtschaft.

Gewerbliche Entwicklung in Griechenland bis 1940

Eine durchgehende Eisenbahnverbin-dung zwischen dem Süden und Nor-den des Landes wurde (auch wegen der schwierigen Gebirgs-Trassen) erst gegen Ende des 1. Weltkrieges fertig. Impulse für industrielle Aktivi-täten löste sie zunächst nicht aus. Stattdessen dienten die Schie-nenwege dem Abtransport von Rohstoffen aus entfernten Berg-bau-Minen französischer und belgischer Investoren zu den Exporthäfen. Eigenständige industrielle Entwicklung fand bis um 1920 fast nicht statt. Im Gegensatz zum Gewerbe spielte jedoch der Handel lokal, überregional und international wie bereits his-torisch im osmanischen Reich eine bedeutsame Rolle. Die im Ori-ent, in Mittelmeerstädten und in Westeuropa lebenden griechi-schen Händler und Geschäftsleute und der beachtlichen Schiffsbestand garantierten einen vielseitigen Güteraustausch über große Entfernungen. Der Bevölkerungstausch mit der Türkei 1922 ließ die Einwohner-zahl durch die Zuwanderung von knapp 1 Mio. Griechen aus Ost-thrakien und den kleinasiatischen Küstengebieten (Smyrna/Izmir) ansteigen. Zunächst nahm die Arbeitslosigkeit zu. Die Zu-wanderer brachten jedoch Kenntnisse in der Textilproduktion mit, die besonders im Norden Griechenlands, in der Nähe des Baumwollanbaus Fuß fasste. Hier förderte auch die importierte fabrikmäßige Herstellung von Teppichen weitere industrielle Ak-tivitäten. Etwa 300.000 Vertriebene, überwiegend wirtschaftlich Aktive, siedelten sich im Großraum Athen an. Griechenland blieb trotzdem bis zum 2.Weltkrieg noch stark von der meist im Gren-zertragsbereich befindlichen Landwirtschaft geprägt. Nur Tabak, Baumwolle und Südfrüchte trugen zum Export bei. Noch um 1940 waren lediglich ca.15 % der Erwerbspersonen im produzierenden, d. h. im überwiegend handwerklich-kleinbetrieblichen Sektor be-schäftigt (zur gleichen Zeit Italien und Spanien ca.: 35 %). Der Dienstleistungssektor war jedoch schon breit entfaltet. Die Han-delsbilanz Griechenlands blieb bis heute gleichwohl negativ: Ge-treide, Kohle, Maschinen, Erdöl mussten importiert werden. Damit fehlten entscheidende Voraussetzungen für einen eigen-ständigen »take-off« zur Industrialisierung, die in dieser Zeit in Spanien und Italien bereits voll entwickelt war.

Wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands nach dem 2. Weltkrieg

Die Schäden des 2. Weltkrieges an Infrastruktur und Gebäuden, erhebliche Verluste der Handelsflotte sowie die Wirren des Bür-gerkrieges 1945–1949 zwischen Kommunisten und Nationalisten bildeten weitere Hürden für die wirtschaftliche Entwicklung. Wegen Kapitalmangels, Klientelismus’, geringer Investitionsbe-reitschaft, unzureichender staatlicher Regionalplanung und sei-nerzeit schon aufgeblähter Bürokratie gelangen nur wenige in-dustrielle Gründungen. Die Finanzhilfen des Marshall-Plans

gaben zwar Impulse, die allerdings durch die Schutzzollpolitik, d. h. die Beibehaltung traditioneller Strukturmängel der Vor-kriegsindustrie, wieder gebremst wurden. Während der 1960er-Jahre begann mit neuen staatlichen, z. T. kapitalintensiven Großbe trieben (Zement, Werften, Raffinerien, Chemie, Metall-verarbeitung, Banken, Sozialversicherung, Post/Telekomunika-tion) eine Belebung der Wirtschaft.Der Bauxitabbau in Mittelgriechenland (Region Fokis, Gebirgs-kette Helikon-Parnass-Giona) bildet an der Nordküste des Golfes von Korinth seit 1960 im noch staatlichen, gegenwärtig zur Priva-tisierung vorgesehene Unternehmen »Aluminium of Greece S. A.« die Basis für eine vertikal voll integrierte Produktion von Alu-Oxi-den (460.000 t/J) und Aluminium (165.000 t/J). Im Kern werden zwar nur ca.1500 Arbeitskräfte beschäftigt, aber zahlreiche spezi-alisierte Klein- und Mittelbetriebe in Griechenland stellen für die umfangreiche Baubranche Aluminiumbeschläge her. Die traditionelle Textilindustrie vermochte den schnellen techno-logischen Fortschritten dieser Branche im übrigen Europa nicht zu folgen und hinkte trotz eigener Baumwollbasis der ausländi-schen Konkurrenz hinterher. Erst als (ab 1980) mittel- und west-europäische Textilunternehmer wegen der niedrigen Lohnkosten in Nordgriechenland Zweigbetriebe gründeten, kam Auftragsfer-tigung in Gang, allerdings in ständiger Konkurrenz zu Standorten in der Türkei, in Ägypten, Tunesien, Marokko und später in Ost-asien. Einen deutlichen Impuls brachte die Assoziierung Griechenlands mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und 1981 der end-gültige Beitritt. Es begann ein Industrialisierungsschub, der nun mit staatlich-planerischer Unterstützung auch über die alten gro-ßen Zentren auf die regionalen Mittelstädte hinausgriff und ihr Infrastruktur- und Arbeitspotenzial nutzte. Diese positive Ent-wicklung basiert auch auf breiter Unterstützung durch den EU-Regionalfonds und weitere finanzielle Strukturhilfen. Gelegent-lich bezeichnete man diese Phase auch als »griechisches Wirtschaftswunder«. Der Staat bot Subventionen und plante Ent-wicklungspole in den peripheren Gebieten im Gebirge und im Westen. Erfolge verzeichnete der Norden um Thessaloniki. Vor allem wuchs die Agglomeration in Athen. Sie ist ein dramati-sches Beispiel der Verstädterung mit vielen negativen Folgen. Ab 1983 waren in der Bucht von Piräus, in Hafennähe und damit ver-kehrsorientiert, Fabriken entstanden, besonders für Schiffbau und Konsumgüter. Schneller als die Zahl der gewerblichen Ar-beitsplätze wuchsen die Dienstleistungen und die staatliche Bü-rokratie. Wie der Rückblick zeigt, blieben in diesen Sektoren kli-entelistische Verhaltensweisen bis in die Gegenwart erhalten (»fakelaki« = Vorteilsnahme durch diskrete Geldgeschenke). Im

Abb. 5 »Griechische Tragödie«, Hochverschuldet in der Rezession © Handelsblatt, 20.1.2012, S. 6

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Großraum Athen leben heute nach Schätzun-gen ca. 3,8 Mio. Menschen, also mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung Griechen-lands (2011: ca. 11 Mio.). Die Agglomeration vergrößerte und verdich-tete sich insgesamt trotz weiterer Bemühung der griechischen Raumordnung um Dezent-ralisierung. Die Agglomerationsnachteile wurden sichtbar: Flächennutzungskonflikte, ungeordnete, oft ungenehmigte Bebauung, hohe Bodenpreise, ungelöste Verkehrs- und Entsorgungsprobleme, entsprechende Rei-bungs- und Zeitverluste sowie Luftbelastung (Smog-Wetterlagen). Der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit dem Ende des Baubooms im Umfeld der Olympi-ade 2004 auf ca.12 % (2010) ergibt sich aus der Disparität zwischen gut ausgebildeten, jungen Arbeitskräften und dem Mangel an für sie geeigneten Arbeitsplätzen mit befrie-digenden Verdienstniveaus. Das gleiche Pro-blem, nämlich eine modern, z. T. sogar für Ingenieurs-Berufe geschulte Jugend und ein krasser Mangel an adäquater Beschäftigung prägt nicht nur Griechenland, sondern auch Spanien sowie alle südlichen und südöstli-chen Mittelmeeranrainer außer der Türkei und Israel. Das Grundproblem Griechenlands ist jedoch seit Jahrzehnten das Außenhandels- und Leistungsbilanzdefizit (| Abb. 6 |). Seit 2005 lag das Verhältnis Export zu Import bei etwa 1:3. Die Ausfuhr umfasst zwar auch Industrieprodukte, z. B. Aluminium, Nickel-granulat, auch Maschinen, Chemieprodukte und (abnehmend) Nahrungsgüter; aber da die Erzeugnisse der griechischen Kon-sumgüterindustrie das Niveau der Kundenwünsche nicht befrie-digen, müssen auch sie eingeführt werden. Bei dauernd negativer Handelsbilanz lässt sich jedoch nicht vermeiden, die Importe auf Kreditbasis zu bezahlen. So stellt die Länderstudie 2011 des Cen-trums für Europäische Politik (CEP, Freiburg, www.cep.eu) fest, dass ein großer Teil des im Ausland geliehenen Geldes über die Gehälter der hohen Zahl von Staatsbediensteten für den heimi-schen Konsum verwendet wird und deshalb für Investitionen in Forschung und Entwicklung nicht zur Verfügung steht.Die Staatsverschuldung liegt seit Mitte der 1990er-Jahre oszillie-rend bei 100 %, ab 2008 sogar auf 125 % (2010) ansteigend (| Abb. 5 |, | M 7 |).Das Leistungsbilanzdefizit wird lediglich durch den Tourismus gemildert, der nach einigen Schwankungen wieder zunimmt. Als Fazit ist festzuhalten, dass tendenziell die Wirtschaft Grie-chenlands nach wie vor ein noch traditionelles Profil mit nur be-grenzter Wettbewerbs- und Exportfähigkeit, unzulänglicher Im-portsubstitution sowie einem geringem Anteil an betrieblicher Forschung und Entwicklung hat. Die Lohnstückkosten sind in Griechenland seit 2001 um 37 % ge-stiegen, in Deutschland nur um 4 % (| M 9 |). Ihre Senkung wäre eventuell durch Steigerung der Produktivität oder die Minderung der Arbeitskosten möglich (CEP-Länderbericht Griechenland 2011). Im politischen Umfeld zeigen sich jedoch weitere Barrieren: Die vielschichtige Bürokratie, ihre organisatorische Rückständig-keit, die Abhängigkeit von undurchschaubaren Klientel-Netzen und die Untätigkeit aus Furcht vor neuen Krisen. In dieser Hin-sicht sind in den betriebswirtschaftlich moderneren sowie zu In-novationen bereiteren Industrien Spaniens und Italiens wesent-lich Erfolg versprechendere Entwicklungs-Chancen zu sehen. Positive Anfänge einer Förderung innovativer Wirtschaftsaktivi-täten gehen in Griechenland heute von ersten Wissenschafts- und Technologieparks aus, die z. B. in Thessaloniki, Lavrion/At-tika, Patras, in Epirus und auf Kreta, besonders auch im Großraum Athen entstanden sind. Jungunternehmern werden hier Finanzie-

rung und internationale Kontakte vermittelt, um Geschäftsideen zu konkurrenzfähigen Produktionsabläufen zu entwickeln. Ein entscheidender und konkreter Ansatzpunkt zur Förderung der griechischen Wirtschaft dürfte im Ausbau ihrer infrastrukturellen Rahmenbedingungen zu sehen sein. Er könnte mit begrenzter fi-nanzieller Hilfe von außen, aber durch eigene, griechische Firmen arbeitsmarktfördernd erfolgen. Man könnte sich ferner ein effizi-entes System der Steuererfassung, des Katasterwesens und eine Beschleunigung sowie transparente Gestaltung administrativer Vorgänge vorstellen. Die Eindämmung von Klientelpolitik, Schat-tenwirtschaft und Steuerhinterziehung dürfte jedoch das schwie-rigste Ziel sein. Ein gravierender Kontereffekt ist zudem, dass sich gut ausgebildete Arbeitskräfte wegen erfolgloser Suche nach Beschäftigung für die Emigration entscheiden oder etablierte Be-triebe ihren Standort nach Bulgarien verlagern.

Literaturhinweise

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Große Hüttmann, Martin (2010): Rettungsgurte nicht nur für Banken. Deutschland und Europa, Heft 59, S. 24.

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Rother, K. u. F. Tichy (2008): Italien. Wiss. Buchgesellschaft WBG Darmstadt.

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Wagner, Horst-Günter (1989): Die Iberische Halbinsel. In: Sperling, Walter u. Adolf Karger (Hrsg.): Europa. Frankfurt.

Wagner, Horst-Günter (2011): Mittelmeerraum. Wiss. Buchgesellschaft WBG, Darmstadt.

Abb. 6 Griechenlands Außenhandel © dpa-Infografik 2011

14711

Griechenlands Außenhandel

Deutschland

Italien

Russland

China

Niederlande

10,5

Hauptlieferländer(Anteil in %)

im Jahr 2010 47,7

16,2Importe

in Mrd. EuroExportein Mrd. Euro

9,89,7

6,0

5,2

Quelle: Germany Trade & Invest

Hauptabnehmerländer (Anteil in %)

10,8

10,88,7

7,1

6,4

Deutschland

Italien

Frankreich

Zypern

Bulgarien

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Materialien

M 1 Günther Nonnenmacher: »Italien braucht eine Grunderneuerung«,FAZ

Silvio Berlusconi war, zumindest in der letzten, von Affären ge-prägten Phase seiner Amtszeit für Italien ein Problem. Aber sein am Ende dann beschleunigter Abgang ist bestenfalls ein Anfang für die Lösung der italienischen Probleme. Der »Cavaliere«, dem so gar nichts Ritterliches anhaf-tet, wird mit Hilfe seiner Partei weiterhin versuchen, die Politik zu steuern. Ob er dazu noch die Macht hat oder ob ihn diejenigen aus seiner Bewegung, die er mit viel Geld ein- und zusammenge-kauft hatte, verlassen werden, wird sich in den nächsten Mona-ten zeigen. Die Bilder jubelnder Berlusconi-Gegner, die seinen Abschied von der Macht feiern, sollten jedenfalls niemanden täuschen: Berlusconi war kein Usur-pator, seine Partei ist von vielen Italienern gewählt worden, auch wenn die persönlichen Popularitätswerte des Mailänder Milliar-därs zuletzt im Keller waren. (…)So erscheint es logisch und sachgemäß, dass das Land zunächst einmal von einer »Technokraten-Regierung« unter Führung des Finanz- und Wirtschaftsfachmanns Mario Monti regiert werden soll. Er kann eine Zeitlang davon profitieren, dass die Rechte nach Berlusconis Sturz angeschlagen und die Linke nicht aktions-fähig ist. (…)In Wahrheit bedürfte Italien einer Grunderneuerung seines politi-schen Systems, und das betrifft nicht nur die politische Klasse im engeren Sinn, es umfasst auch die seit Jahrzehnten eingeschliffe-nen Verhaltensweisen der Italiener. Das Land hat es nie geschafft, die Traditionen einer Klientelgesellschaft abzustreifen, in der eine Hand die andere wäscht. Daraus erwächst nicht nur ein Sumpf der Korruption – in der Politik heißt das: Ich gebe dir meine Stimme, wenn du meine Interessen, bis ins Persönliche, durchsetzt –, sondern eine umfassende Modernisierungsblo-ckade. Eine der Folgen dieses Klientelismus ist die Aufblähung der Verwaltung, in aller Regel gekoppelt mit einer massiven Be-günstigung der Staatsdiener.Was für den Einzelnen gilt, trifft genauso auf die Interessengrup-pen des Landes zu, ob Gewerkschaften oder Großunternehmen: Alle Wege führen nach Rom zu den politisch Einflussreichen, die sich ihre Dienste wiederum bezahlen lassen (manchmal im Wort- sinn) – von einer auf wirtschaftliche Vernunft gegründeten Sozial-partnerschaft keine Spur. Es ist ein Wunder, dass die tüchtigen kleinen und mittleren Unternehmen im Norden des Landes trotz dieser Hindernisse Erfolge auf ihren Märkten erzielen. Im Süden ist dieses System zu einem nahezu undurchdringlichen Filz ge-worden, dessen auffälligstes Symptom die organisierte Krimina-lität ist. Trotz des bemerkenswerten Einsatzes Einzelner und immer wieder auflebender Anti-Mafia-Bewegungen bleibt doch unübersehbar, dass viele Italiener – mangels anderer Möglichkei-ten – sich mit diesen Verhältnissen arrangiert haben. Das sind im Übrigen Erkenntnisse, über die jeder Italiener, der über seinen eigenen Vorgarten hinausschaut, freimütig spricht.Europäische Währungsunion und Staatsverschuldung haben diese Missstände, die im Übrigen – bei allen sonstigen Unter-schieden, vor allem was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angeht – mit den griechischen vergleichbar sind, schonungslos aufgedeckt. Welche Folgen das nach sich zieht, ist spätestens auf

dem letzten Euro-Gipfel deutlich geworden: Die fast verächtliche Behandlung des italienischen Regierungschefs durch Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel war vielleicht der Tropfen, der Berlusconis Maß voll gemacht hat. Da wurde keine Diplomatie mehr betrieben, sondern »europäische Innenpolitik« auch in dem Sinne, dass sogar Freunde aus der eigenen Parteienfamilie abser-viert werden, wenn sie nicht mehr liefern können. So richtig das in der Sache gewesen sein mag, es wird den Verkehr unter den euro-päischen Regierungen, womöglich sogar das Verhältnis zwischen den europäischen Völkern, nicht leichter machen. Denn auch wenn viele Italiener Berlusconi loswerden wollten, den nationalen Stolz wollen sie behalten. Mario Monti sollte im gesamteuropäi-schen Interesse dabei unterstützt werden, ihnen diesen Stolz wie-derzugeben.

© Günther Nonnenmacher: Italien braucht eine Grunderneuerung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.11.2011

M 3 »Lob für Italien, Kritik an Griechenland «, StZ

Das Sparpaket der neuen italienischen Regierung von Minister-präsident Mario Monti hat international auf Zustimmung gefun-den. Die Ratingagentur Fitch erklärte, das Programm habe den Druck auf das Kreditrating Italiens verringert. US-Finanzminister Timothy Geithner zeigte sich zuversichtlich, dass sich das hoch-verschuldete Land erholen werde. Fitch erklärte, Montis Sparvor-haben stärke die Glaubwürdigkeit der italienischen Bemühun-gen, bis 2013 für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen. Allerdings sei der Ausblick für die Bewertung der italienischen Kreditwürdigkeit mit der Note A+ nach wie vor negativ. Das Land brauche »substanzielle, strukturelle Reformen, um Wachstum zu fördern«, hieß es. Geithner sagte nach einem Treffen mit Monti in Mailand, dieser habe sich zu starken und mutigen Wirtschafts-reformen bekannt. (…) Montis Kabinett hatte im Kampf gegen die hohe Staatsverschuldung neue Steuern, eine Rentenreform und Maßnahmen zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums beschlossen. Das Sparpaket hat einen Gesamtumfang von 30 Mil-liarden Euro, zehn Milliarden davon sollen in Maßnahmen zur För-derung des Wirtschaftswachstums investiert werden. Dem Paket muss nun noch das Parlament in Rom zustimmen.Die drei größten Gewerkschaften Italiens bereiten für kommen-den Montag Streikaktionen gegen das Sparprogramm vor. Der Streik solle auf drei Stunden begrenzt sein, teilten die Gewerk-

Japan

AA–November 2005

AAJanuar 2010

AA–April 2011 USA

AAANovember 2005

AA+August2011

Spanien

AAANov. 2005

AA+Januar 2009

AAApril 2010

Portugal

A–April 2010

A+Januar 2009

AA–Januar 2009

BBBMärz 2011

BBB–März 2011 Griechenland

BMai 2011

BB–März 2011

BB+Dez. 2010

CCCJuni 2011

CCJuli 2011

Irland

AAJuni 2009

AA–August 2010

ANov. 2010

A–Februar 2011

BBB+April 2011

Ciao, Silvio!Die Bestnote für Schuldner hat Italien schon lange vor der Amtszeit von Silvio Berlusconi verloren. Doch die jüngste Herabstufung des Landes geht eindeutig zu Lasten seiner Regierung. Die Ratingagentur S&P traut dem Ministerpräsidenten nicht zu, einen Sparkurs durchzudrücken, der ausreicht, die horrende Schuldenlast Roms in den Griff zu bekommen. Zum Trost: Die Italiener befinden sich in illustrer Gesellschaft. Seit Beginn der Finanzkrise mussten nicht nur Fast-Pleite-Staaten wie Griechenland laufend schlechtere Bonitätsnoten in Kauf nehmen. Auch Spanien, die USA und Japan sind längst nicht mehr so erstklassig kreditwürdig wie früher.

Italien

ItaliensMinisterpräsidentSilvio Berlusconi

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AAA3. Mai 1996

AA6. Mai 1998

AA–7. Juli 2004

A+19. Oktober 2006

A20. September 2011

M 2 Die Macht der Ratingagenturen: Nach Einschätzung vieler politischer Beobachter haben nicht die Abgeordneten oder die Wähler in Italien, sondern die internationalen Finanzmärkte und die drei dominierenden Ratingagentu-ren in den USA letztlich zum Sturz des langjährigen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in Italien geführt. © SZ, 17.9.2011

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schaften CGIL, CISL und UIL in einer Er-klärung mit. In der Kritik stehen vor allem die geplante Rentenreform sowie Steuererhöhungen. Die Gewerkschaften haben Monti zu einem Treffen aufge-fordert, um Änderun-gen an dem Sparpa-ket zu besprechen. (…)Während Italien Lob erntet, prasselt auf Griechenland ver-nichtende Kritik herab. Nach Ansicht der Organisation für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind starke, tiefgrei-fende Änderungen in Griechenlands Be-hördenapparat nötig, um das pleitebedrohte Landnachhaltig zu reformieren. Nach einer eingehenden Überprüfung der Strukturen mahnt die OECD in ihrer jüngsten Griechenlandstudie zur Eile. Die OECD unter-suchte alle 14 Ministerien in Griechenland und fand dabei nur wenig interne Kontrolle durch den Regierungschef. Es gebe weder eine Vision über das Reformziel noch eine Kontrolle für die Umsetzung, kaum Kommunikation innerhalb der Behörden und ein kompliziertes administratives Beziehungsgeflecht ohne jegli-che Koordination.Wörtlich heißt es im Vorwort des Berichts: »Das allgemeine Fazit dieses Berichts lautet, dass die Dringlichkeit einer Reform des Regierungsapparates in Griechenland (…) gar nicht stark genug betont werden kann.« Nach OECD-Angaben fehlen zentrale Da-tenbanken, Akten und »die Fähigkeit, Informationen aus Daten herauszulesen – wenn Daten überhaupt vorhanden sind«. Ge-setze würden in engem Kreis entworfen und verabschiedet. Zudem hätten Beamte kaum Kontakt zu Kollegen. »Es ist ein har-ter Befund, der zum ersten Mal systematisch und mit Belegen zeigt, was in der Verwaltung nicht funktioniert und Griechenland hindert, mit strukturellen Reformen voranzukommen«, sagte die für die Studie verantwortliche OECD-Expertin Caroline Varley. Die Regierung habe weder die Autorität noch die Kapazität, den Schlüsselministerien eine gemeinsame Politik aufzuzwingen. Ein-ziger Ausweg sind nach Einschätzung der OECD umfassende Neu-erungen im gesamten Regierungsapparat.

© Lob für Italien, Kritik an Griechenland, Stuttgarter Zeitung vom 9.12.2011, S. 12

M 4 Jörg Bremer: »Italiens Rückweg nach Europa«, FAZ

Italiens Bürger fürchten neue Steuern und Leistungskürzungen; aber sie genießen einen neuen politischen Stil. Ministerpräsident Mario Monti bringt nach einem Monat im Amt sein großes Paket durchs Parlament. Noch geht es vor allem um Schuldenabbau; aber Einsparungen allein würden Italien in die Rezession treiben. Das Land braucht Wachstum, das Vertrauen der Investoren und ein verlässliches Rechtssystem. Letztlich ergibt sich für den Zeit-raum bis zum ordentlichen Ende der Legislaturperiode 2013 auch die Chance, das politische System nach Geist und Mentalität zu erneuern. Die meisten denken dabei an eine Änderung des Wahl-rechts. Viele hoffen aber auch auf mehr Transparenz der Entschei-

dungen in der Regierung, in den Parlamentsparteien und mehr Sinn für das Gemeinwohl. (…) In den ersten Stunden der Monti-Regierung demonstrierten noch Jugendliche gegen die »Regierung der Banken und Monopole«. Jetzt sehen sie, dass Monti nicht nur auf sein Gehalt als Regie-rungschef verzichtet, sondern ein Gesetz durchbringen will, das die Gehälter aller Abgeordneten kürzen und anschaulicher ma-chen soll.Montis Messlatte ist Europa. Das Rentensystem soll dem europä-ischen Durchschnitt entsprechen. Die Abgeordneten sollen etwa so viel verdienen wie die Mitglieder des Bundestags. Die Steuer-gesetzgebung soll EU-Maßstäben folgen. Prozesse dürfen in Ita-lien nicht mehr wesentlich länger dauern als in Europa. Das soll zeigen, dass die Reformen nach europäischem Standard üblich sind. Monti will das italienische Klientelsystem ersetzen durch Gesetze, auf die sich der Bürger auf Jahre hinaus verlassen kann.Das erste »Paket« wurde aus Einsparungen und Steuererhöhun-gen geschnürt, das zweite soll mit einer Liberalisierung des Ar-beitsmarktes und Investitionsförderung Italien wieder in die Wachstumszone bringen. Das erscheint fast unlösbar, denn auch in guten Zeiten wuchs Italiens Wirtschaft kaum. Ausländische Güter gelten allenthalben als besser. Das Markenzeichen »Made in Italy« steht nur noch für Mode und Wein in gutem Ruf. (…) Aber haben die Parteien verstanden, dass Italien sich neu erfinden muss? Für die Lega Nord gilt das jedenfalls noch nicht. Die frü-here Regierungspartei prägte eine eigene »padanische« Währung und klopft Stammtischparolen. Der Eisengürtel der Krise hält die anderen Parteien zusammen: Noch unterstützen sie Monti. Aber es steht zu befürchten, dass – wie nach den meisten früheren »technischen« Regierungen in Italien – das angestammte politi-sche Theater wieder um sich greift. Einstweilen nutzt Monti das EU-Korsett zum Schutz vor einem Rückfall.

© Jörg Bremer: Italiens Rückweg nach Europa, FAZ, 21.12.2011

M 5 Industrieregionen im nördlichen Italien (2005) © H-G. Wagner, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2011,

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M 7 Gerd Höhler: »Die Schuldenmisere«, StZ

Die Griechen wissen: jetzt geht es um alles. Noch nie seit Beginn der Krise stand das Land so nah am Staatsbankrott, nie war die Gefahr eines Rauswurfs aus der Eurozone größer als jetzt. Das will die große Mehrheit der Griechen um jeden Preis vermeiden: sieben von zehn Befragten wollen am Euro letztlich festhalten. Zähneknirschend, aber letztlich schicksalsergeben nehmen des-halb die meisten Menschen die Sparmaßnahmen hin. Was bleibt ihnen auch übrig? Wirklich akzeptiert aber werden die Einschnitte nicht. Denn die Menschen haben nicht das Gefühl, dass sich ihre Opfer lohnen.Die im vergangenen Jahr von der Regierung verbreitete Zuver-sicht, 2012 werde das Land zum Wachstum zurückkehren, hat sich längst als Illusion herausgestellt. Statt des versprochenen Auf-schwungs erleben die Griechen neue Einschnitte: die Troika, also die Vertreter der EU-Kommission, des Internationalen Währungs-fonds und der Europäischen Zentralbank, fordern Kürzungen beim Mindestlohn, bei den Renten, beim Weihnachts- und Ur-laubsgeld. Damit nicht genug: um weitere sieben Milliarden Euro muss der Athener Finanzminister den Haushalt 2013 bis 2015 ent-lasten, um die Defizitvorgaben der internationalen Kreditgeber zu erfüllen.Die Konsolidierungsleistung soll teils durch weitere Ausgaben-kürzungen, teils durch Steuererhöhungen erreicht werden. Dabei ist die Schmerzgrenze für viele Bürger längst überschritten. Auch die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist erschöpft. Mit jeder neuen Lohn- und Rentenkürzung, jeder Steuererhöhung wird dem Wirtschaftskreislauf mehr Geld entzogen. So führt der Spar-kurs das Land immer tiefer in die Rezession. Die Arbeitslosen-quote liegt bei knapp20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei mehr als 46 Prozent. Und neue Jobs sind nicht in Sicht. Um sechs Prozent schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt 2011, in diesem Jahr könnte es statt der prognostizierten 2,8 Prozent sogar sieben Prozent zurückgehen, sagen Volkswirte der Economist Intelli-gence Unit.Schlechte Nachrichten für die Arbeitslosen. Denn das Arbeitslo-sengeld von 461,50 Euro im Monat wird maximal zwölf Monate lang gezahlt. Danach ist Schluss. Eine Sozialhilfe oder Grundsi-cherung wie Hartz IV gibt es in Griechenland nicht. Von der Ar-beitslosigkeit ist es deshalb in Griechenland nur ein kleiner Schritt in die Armut oder gar Obdachlosigkeit.

© Gerd Höhler, Die Schuldenmisere, Stuttgarter Zeitung, 19.1.2012, S. 2

M 8 Clemens Fürst: Ökonomieprofessor: »Euro-Austritt würde Investoren abschrecken «, Handelsblatt

Handelsblatt: Herr Fuest, was würde passieren, wenn Griechenland aus der Währungsunion aus-träte?Clemens Fuest: Die Krise in Griechenland würde sich weiter zuspitzen. Die Regierung müsste die Banken schließen und die Konten einfrieren, um die Umstellung auf eine neue Währung zu vollziehen. Die Umstellung könnte so aussehen, dass zunächst einmal Euro-Scheine mit einem Stempel versehen werden und als neue Währung dienen. Die Regierung müsste Kapitalverkehrskontrollen einführen, um zu verhindern, dass die Grie-chen ihre Ersparnisse außer Landes schaffen.Handelsblatt: Was würde eine neue Währung dem Land bringen?Fuest: Diese Währung würde massiv gegen den Euro abwerten, sobald sie gehandelt werden dürfte. Damit würde das Land zwar wettbewerbsfähiger, weil die Löhne im Ver-gleich zum Ausland sänken – aber was helfen niedrigere Löhne, wenn die Institutionen des Landes korrupt und ineffizient bleiben? Die niedrigeren Kosten würden Exporte verbilli-

gen, aber leider hat das Land nicht viele attraktive Exportwaren zu bieten. Die Kostensenkung würde wohl zusätzliche Touristen anlocken, aber kaum internationale Investoren. Ihnen würde Griechenland das fatale Signal geben, dass die Reformpolitik be-endet ist. Der Austritt wäre ein halber Abschied aus der Europäi-schen Union und würde das Land womöglich auf den Stand der Sechziger- oder Siebzigerjahre zurückwerfen.Handelsblatt: Und was würde ein Ausstieg Griechenlands für den Rest der Währungsunion bedeuten?Fuest: Die große Gefahr ist, dass eine Kettenreaktion entstünde. Die Menschen in anderen Krisenländern könnten Angst bekom-men, dass auch ihre Länder aus der Währungsunion austreten. Sie würden dann die Banken stürmen, um ihre Ersparnisse abzu-heben. Es drohten Unruhen, gegen die die bisherigen Proteste ein Kinderspiel waren.Handelsblatt: Wie ließe sich eine solche Kettenreaktion verhindern?Fuest: Die Politik müsste alles versuchen, den Menschen auf der Straße glaubhaft zu machen, dass Griechenland ein Sonderfall ist. Wie schwer das ist, haben wir ja gesehen, als ein Euro-Land nach dem anderen ein Hilfspaket beantragen musste. Die einzige Chance besteht darin, einen solchen Ausstieg in Verhandlungen zwischen Griechenland und den Euro-Partnern zu organisieren und zu klären, wer welche Verluste zu tragen hat. Für die Banken und die EZB wird das auf jeden Fall sehr teuer. Beide hätten hohe Abschreibungen vorzunehmen, und die EZB müsste außerdem klären, was mit den Außenständen Griechenlands im Target-2-Zahlungssystem geschehen soll, die sich auf rund 100 Milliar-den Euro belaufen.

© Clemens Fuest, Euro-Austritt würde Investoren abschrecken, Handelsblatt, 5.1.2012, S. 7

M 6 Vertreter der sog. »Troika« bei Verhandlungen beim griechischen Premierminister Lucas Papademos in Athen. Die Troika besteht aus dem IWF (hier: Paul Thomsen, rechts), der EZB (Klaus Masuch, Mitte) und der EU-Kommission (Matthias Morse, links). Troika-Vertreter verhandelten monatelang die Bedingungen für weitere Kredite, deren Auflagen und ihre Kontrolle aus. © Simela Panitzartz, picture alliance, 20.1.2012

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M 9 Interview mit Berthold Huber, Vorsit-zender der IG Metall, »Wir brauchen einen Marshallplan für Griechen-land«, FAZ

(…) FAZ: Sind Sie für das Paket (des erweiterten Europäischen Rettungsschirms)?Huber: Welche Alternative haben wir? Es gibt zwar die Debatte über einen Nord- und einen Süd-Euro und darüber, dass Griechenland ausscheren oder seine Inseln verkaufen soll. Aber das ist Unfug. Ich will daran erinnern: Das deutsche Wirtschaftswunder nach 1945 gab es nur, weil zwei Dinge funktioniert haben: der Marshallplan und das Londoner Schuldenabkommen mit einem Schuldener-lass von 50 Prozent und niedrigen Zinssät-zen. Wir brauchen auch eine Art Marshallplan für Griechenland.FAZ: Und einen Schuldenschnitt?Huber: Ja. Anders wird das Land nicht von seinen Schulden runter kommen. Es gibt dort bisher keine vernünftige Steuerverwaltung. Das ist doch absurd. Wenn man in Griechen-land die Pools aus der Luft fotografieren muss zur Steuererfassung, kann man nur sagen: Entschuldigung – warum kommen die Gauner und die Betrüger davon? Das ist un-gerecht. Wir akzeptieren nicht, dass die nor-malen Leute in Griechenland, nachdem sie ohnehin schon für die Krise zahlen mussten, das jetzt auch noch zahlen sollen.FAZ: Wie erklären Sie einem deutschen Metallarbeiter mit 2180 Euro brutto im Monat Ihre Solidarität mit streikenden Gewerkschaften in Griechenland?Huber: Die größte Empörung, zu der ich fähig bin, ist die, dass die Verursacher dieser Krise bis dato überhaupt nicht beteiligt wur-den an den Kosten. Nicht in Deutschland und nicht anderswo. Das würde ich dem Metallarbeitnehmer sagen. Ich bin ent-täuscht, weil nicht umgesetzt wurde, was am Anfang der Krise von der Politik vollmundig versprochen wurde.FAZ: Was zum Beispiel?Huber: Eine Finanztransaktionssteuer, eine europäische Rating-agentur oder die Abspaltung der Investmentbanken. Stattdessen hat man schnell auf Abwarten gesetzt. Wenn ich etwas gelernt habe, dann das: Mach’s am Anfang, schnell und rücksichtslos. Fi-nanzminister Wolfgang Schäuble sagt wenigstens, dass wir eine Finanztransaktionssteuer brauchen. Er macht einen guten Job.FAZ: Das kann er auch entspannt sagen, weil diese Steuer global nicht kommen wird.Huber: Er hat zuletzt ausdrücklich gesagt, dass man das auf Ebene der Währungsunion anpacken muss. Das nehme ich ihm ab. Denn die Politik steckt ja auch in einer Legitimationskrise ge-genüber dem von Ihnen angesprochenen Metallarbeiter.FAZ: Schön, dass sie den noch mal erwähnen. Die hohe Wettbewerbsfä-higkeit in Deutschland haben unter anderem die Beschäftigten durch Lohnzurückhaltung ermöglicht. Nun wird Deutschland international dafür kritisiert. Sind wir zu wettbewerbsfähig?Huber: Nein, selbstverständlich ist die Produktivitätsentwick-lung das A und O. Zudem will ich festhalten: Wir haben seit 2007 sichere Arbeitsplätze und kräftige Tariferhöhungen kombiniert. Das eigentliche Problem ist der wachsende Niedriglohnsektor. Was mir mit Blick auf den Süden Europas viel mehr Sorgen macht. ist die Frage, mit welcher Wertschöpfung beispielsweise die grie-chische Wirtschaft aus dem Tal herauskommen kann. Sie können nirgendwo etwas drüber stülpen, wo nichts ist. Wir brauchen des-halb einen industriepolitischen Dialog darüber, wie der Süden Kompetenzen aufbauen kann. Eine Möglichkeit könnten regene-rative Energien sein.

© Berthold Huber: Wir brauchen einen Marshallplan für Griechenland, FAZ, 28.9.2011, S. 11

M 10 Griechische Zeitung »Ethnos«. Die Griechen können seit 22.1.2012 nachlesen, wer dem griechi-schen Staat große Summen schuldet und damit für die Wirtschaftsmisere im Lande mit verant-wortlich ist. Die griechische Regierung veröffentlichte eine 170 Seiten lange Liste im Internet mit den Steuersündern. Auf der Liste, die der griechische Finanzminister Venizelos als «Liste der Schande» bezeichnet hatte, stehen 4152 Namen. Darunter sind Sänger, Unternehmer und Händler. © Takis Tsafos, picture alliance

M 11 »Die Gläubiger Griechenlands« © Handelsblatt, 20.1.2012, S. 7

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ten wie den Unternehmer Richard Branson für ein Engagement zu gewinnen und staatliche Anteile wieder zu veräußern.Obgleich die Rettungsaktionen der Labour-Regierung in den Jah-ren 2007 bis 2010 vor allem dazu dienen sollten, den Flächen-brand im Bankensektor einzudämmen, wurden bereits zu jener Zeit weitreichende Reformschritte eingeleitet. Sie hatten zum Ziel, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Spielre-geln für Finanzdienstleister in Großbritannien neu auszurichten. Obgleich Gordon Brown die Handlungsfähigkeit seiner Regie-rung immer wieder aufs Neue unter Beweis zu stellen versuchte, konnte er im Wahlkampf mit seinen Vorstellungen nicht mehr überzeugen. Dies war umso mehr der Fall, als er aus der Sicht vie-ler Briten in seiner Funktion als Finanzminister unter Tony Blair den gesetzlichen Rahmen für die Finanzindustrie keinen tiefgrei-fenden Veränderungen unterworfen und in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler nicht alles getan hat, um die Krise zu verhindern.

»There is no alternative«

Bereits im Wahlkampf 2010 hatten sowohl die Konservative Partei mit ihrem Spitzenkandidaten David Cameron als auch die Libera-len das Land auf eine lange Phase der Konsolidierung einge-stimmt. Unmittelbar nach der Bildung einer für britische Verhält-nisse ungewöhnlichen Koalitionsregierung wurden zahlreiche Schritte unternommen, um das Vertrauen der Bevölkerung und der internationalen Finanzmärkte in die Politik und Wirtschaft Großbritanniens wieder zu festigen. So kam es unter dem großen Einfluss der Vickers-Kommission zu weiteren Reformen im Ban-kenwesen. Sie umfassten u. a. die Trennung des Investment-Ban-kings vom Privatkundengeschäft (»Ringfencing«). Darüber hin-aus wurde die Ausschüttung von Boni an bestimmte Bedingungen geknüpft wie begrenzte Höhe oder zeitversetzte Auszahlung. Seither wird auf derartige Zuwendungen eine Steuer in Höhe von 50 % des Gesamtbetrages erhoben. Verändert wurden darüber hinaus die Vorschriften zur Eigenkapitalisierung der Banken. In diesem Bereich gehen die bisherigen Maßnahmen weit über in-ternationale Vorschriften hinaus.

Großbritannien und Irland sind nach wie vor mit weit- reichenden Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise kon-

frontiert. In beiden Ländern wurden deshalb die Staatsausga-ben erheblich reduziert und neue Steuern eingeführt. Für den Finanzsektor sind strengere Regeln in Kraft getreten. Seit 2007 wird auch leidenschaftlich darüber diskutiert, wie die Lasten verteilt werden sollen, die der Bevölkerung im Zuge der »Austeritätspolitik« aufgebürdet werden. In diesem Zu-sammenhang suchen beide Volkswirtschaften nach Wegen zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum. Nicht zuletzt geht es bei der Ausrichtung des Konsolidierungskurses um das Verhält-nis zur Europäischen Union: Während Großbritannien die na-tionale Ebene gegenüber der EU stärken möchte, hat sich Ir-land unter dem großen Druck seiner Probleme für einen anderen Kurs entschieden. Neben der Erfüllung von Auflagen der Europäischen Union (und des IWF) ist das Euro-Land grundsätzlich bereit, neue fiskalpolitische Regelungen zwi-schen EU-Mitgliedern mitzutragen. Dagegen betont die briti-sche Variante derzeit vor allem die Distanz zu währungs- und haushaltspolitischen Initiativen der EU, ohne die Mitglied-schaft des Landes in der Union grundsätzlich in Frage zu stel-len (| Abb. 1 |).

Großbritannien: Spekulationsexzesse als Folge von Politikversagen?

Traditionell zählt sich Großbritannien durch die Finanzmetropole London zu den wichtigsten Akteuren im internationalen Wirt-schaftsgeschehen. Die herausragende Stellung der »City« spie-gelt sich auch in ihrer großen Bedeutung für die Ökonomie des Landes wider. Zu dieser Position hat nicht zuletzt das über viele Jahre niedrige Regulierungsniveau in diesem Bereich beigetra-gen. So entstanden Finanzprodukte, die mit hohen Risiken be-haftet waren. Durch vermeintlich gute Gewinnaussichten wurden im Laufe der Zeit Grundregeln des internationalen Finanzge-schäfts immer seltener beachtet und Warnungen vor einer nicht mehr beherrschbaren Eigendynamik der Märkte als Panikmache abgetan. Die engen Geschäftsbeziehungen zwischen US-ameri-kanischen und britischen Banken trugen dazu bei, dass die Fi-nanzkrise in den USA auch den Lebensnerv zahlreicher Institute in Großbritannien traf. Wie in anderen Ländern der Europäischen Union sprang der Staat den bedrohten Finanzdienstleistern mit milliardenschweren Hilfsprogrammen bei und versuchte durch die Übernahme von Bürgschaften und die Verstaatlichung von Banken eine finanzpolitische Kernschmelze mit gravierenden Fol-gen für die britische Wirtschaft zu verhindern. Das Beispiel der Royal Bank of Scotland verdeutlicht, mit welchen Konsequenzen die laxe Finanzaufsicht verbunden war. So stellt ein Mitte Dezem-ber 2011 veröffentlichter Bericht der »Financial Services Autho-rity« (FSA) fest, dass die waghalsigen Geschäfte der Bank kaum abgesichert waren und die Liquiditätsanforderungen nicht dem vorgeschriebenen Rahmen entsprachen. Die damalige Labour-Regierung unter Premierminister Gordon Brown entschloss sich deshalb dazu, das in seiner Existenz bedrohte Institut mit über 50 Mrd. € zu stützen. Ähnliche Maßnahmen wurden auch für andere Banken ergriffen. So ist der britische Staat derzeit Alleineigentü-mer von Bradford&Bingley und Teilhaber an der Lloyd’s Banking Group. Nur in seltenen Fällen ist es bisher gelungen, Interessen-

SCHULDENKRISE IN EUROPA

6. Konsens und Konflikt: Krisenpolitik in Großbritannien und Irland

GEORG WEINMANN

Abb. 1 »Nur weg vom Kontinent!« © Heiko Sakurai, 10.12.2011

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Diese Veränderungen werden von umfangreichen Spar-maßnahmen in den öffentlichen Haushalten flankiert. So kündigte der neue Finanzminister, George Osborne, im Oktober 2010 ein Sparprogramm im Umfang von ca. 95 Mrd. € über die Dauer von 4 Jahren an. Die Neuverschul-dung des Landes lag zu diesem Zeitpunkt mit 10,1 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) so hoch wie in keinem ande-ren der G 8-Staaten. Dieser Befund legitimiert aus Osbor-nes Sicht die größten Einsparungen in Großbritannien seit den 1980er-Jahren unter Premierministerin Margaret That-cher. Allen Ressorts – mit Ausnahme der Ministerien für Gesundheit, Entwicklungshilfe und Verteidigung – wurde eine Einsparverpflichtung von 25 % auferlegt. Der Soziale-tat soll um ca. 20 Mrd. € schrumpfen. In diesem Zusam-menhang stehen Leistungen bei der Sozialhilfe, im sozia-len Wohnungsbau und bei der Unterstützung für kinderreiche Familien zur Disposition. Das Rentenalter soll bis zum Jahre 2020 stufenweise auf 66 Jahre steigen. Ver-schärft wurde darüber hinaus die Überprüfung der Bedürf-nislage von Anspruchsberechtigten. Dabei soll auch in Be-tracht gezogen werden, ob diese nicht – zumindest in begrenztem Umfang – Arbeitsleistungen als Eigenanteil zur Verbesserung ihrer Lebensumstände erbringen kön-nen. Der Maßnahmenkatalog sieht des Weiteren vor, dass der öffentliche Dienst einen erheblichen Beitrag zur Sanie-rung des Staatshaushaltes liefern soll. Bis 2015 ist die Streichung von 490 000 Stellen vorgesehen. Auch eine Er-höhung der Mehrwertsteuer und Einsparungen beim Haushalt der Queen (Kürzung um 14 % über 4 Jahre) sollen dazu beitragen, die finanzpolitische Schieflage zu beseiti-gen.Die Kritik an den Plänen der konservativ-liberalen Koali-tion folgte postwendend. Die Opposition bemängelte vor allem die harschen Einschnitte für sozial Schwache. Sie verwies darauf, dass die Maßnahmen zu einer Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich führen werden. Die Anglikani-sche Kirche und zahlreiche Verbände meldeten sich mit ähnlich lautenden Stellungnahmen zu Wort. Für besondere Aufregung sorgte eine Hochrechnung der Children’s Society, nach der die Kürzungen ungefähr 210 000 Kinder direkt betreffen, und durch deren Umsetzung voraussichtlich ca. 80 000 von ihnen ihr Zu-hause verlieren würden. Viele Kritiker gaben darüber hinaus zu bedenken, dass sich die geplanten Einsparungen sehr nachteilig auf die Konjunkturentwicklung und den Arbeitsmarkt auswirken könnten. Im Oktober 2011 wiesen Statistiken die höchste Zahl an Arbeitslosen seit 17 Jahren aus. In Bezug auf die Jugendarbeitslo-sigkeit sprach die Tageszeitung The Times am 17.11.2011 auf der Seite 1 sogar von der Gefahr einer »Jobless Generation«. Unter-mauert wird diese Einschätzung durch die Jugendrevolten in briti-schen Großstädten und Erhebungen, nach denen sich die Zu-kunftschancen der britischen Jugend vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation merklich eintrüben. Diese Hypothek der jungen Generation thematisiert auch das Protestcamp, das Mitglieder der Occupy-Bewegung auf den Stufen der St. Paul’s Kathedrale inmitten der Londoner City aufgeschlagen haben. Für viele Beobachter steht dieses Aufeinandertreffen von »Mammon und Moral« symbolisch für die Konfliktlinien in der Staatsschul-denkrise. Die Kontroverse um die Räumung des Versammlungs-platzes hat eine landesweite Diskussion darüber ausgelöst, wie die Briten mit den bitteren Hinterlassenschaften des Spekulati-onsbooms umgehen sollen. Fragen zu sozialer Gerechtigkeit ste-hen dabei ganz oben auf der politischen Agenda.

Ein Europa der drei Geschwindigkeiten?

Für die konservativ-liberale Regierungskoalition wurde die ge-genwärtige Situation vor allem im Zusammenhang mit den euro-päischen Bemühungen zur Rettung angeschlagener EU-Staaten

zu einer großen Belastungsprobe. »Tories« des rechten Flügels sehen die Zeit gekommen, angesichts eines krisengeschüttelten »Kontinents« das Verhältnis Großbritanniens zur EU zu überden-ken. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in der Forderung von 111 konservativen »Hinterbänklern« im House of Commons, die Frage nach der Zukunft des Landes in der EU zum Gegenstand eines Referendums zu machen. Obgleich Premi-erminister David Cameron diesen Schritt bislang nicht vollzogen hat, ist die integrationsskeptische Strömung in der Conservative Party von enormem Einfluss auf die britische EU-Politik. Gestärkt fühlten sich Vertreter dieser Linie vor allem nach dem Brüsseler Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 8. und 9.12.2011. Auf ihm wurde die Grundlage für eine umfassende, vertraglich kodifi-zierte Haushaltskontrolle in der Europäischen Währungsunion gelegt. Als einziges EU-Mitglied verweigerte sich Großbritannien neben Tschechien einem Integrationsschritt in Richtung Fiskal-union. Die Verhandlungspartner gingen nicht auf die Forderun-gen ihres britischen Kollegen ein, der die Einbindung seines Lan-des in ein entsprechendes Vertragswerk von Sonderregelungen für den britischen Finanzsektor abhängig gemacht hatte. Came-ron befürchtet durch Vorschriften zur Budgetdisziplin Nachteile für die City und damit für einen wichtigen Konjunkturmotor Großbritanniens (| Abb. 2 |).Nach der Rückkehr des Premierministers aus Brüssel hätten die Reaktionen auf sein Verhandlungsgebaren unterschiedlicher nicht sein können (| M 5 |–| M 8 |). Während die Integrationsgeg-ner von einem Sieg für die Wahrung britischer Interessen spra-chen, warfen Integrationsbefürworter dem Regierungschef vor, leichtfertig die Isolierung Großbritanniens betrieben zu haben. Derartige Stimmen waren nicht zuletzt aus der Liberalen Partei zu hören. Ihr Vorsitzender, Vizepremier Nick Clegg, brachte seinen Protest dadurch zum Ausdruck, indem er der parlamentarischen Aussprache zur britischen Haltung in Brüssel demonstrativ fern-blieb (| M 1 |, | M 3 |).

Abb. 2 »Save the City«: Titelblatt des Economist, 7.1.2012 © The Economist

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Vor diesem Hintergrund entsteht momentan eine neue Konstel-lation zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU: Die 17 Euro-Länder werden unter Teilnahme weiterer EU-Staa-ten die Verbindlichkeit beim Umgang mit den nationalen Budgets steigern. Großbritannien wird dabei voraussichtlich nur den Sta-tus eines Beobachters einnehmen. Dieses Verfahren ist ein Indiz dafür, dass das Vereinigte Königreich einige Prozesse in der euro-päischen Einigung weiterhin aus der zweiten Reihe verfolgen wird (| M 2 |, | M 4 |).

Irland: »Musterknabe am Abgrund«

Als Irland im November 2010 die Unterstützung des Euro-Ret-tungsschirmes beantragen musste, war dieser Schritt in vielerlei Hinsicht ein tiefer Einschnitt in der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes (| Abb. 3 |). Zum einen ging eine ökonomische Erfolgsgeschichte zu Ende, in deren Verlauf sich das ehemalige »Armenhaus Europas« mit Unterstüt-zung der Europäischen Union zum »keltischen Tiger« wandelte. Sämtliche Wirtschaftsindikatoren sind ein Beweis dafür, dass sich das Land durch niedrige Steuersätze für ausländische Unterneh-men, einen schwach regulierten Bankensektor und die Politik des billigen Geldes von einem Aus- zu einem Einwanderungsland ge-mausert hatte. Vor allem der Finanzsektor sowie die Computer- und Pharmaindustrie erkannten die »grüne Insel« als einen Inves-titionsstandort mit zahlreichen Vorteilen. Dazu gehörte auch die Chance, lukrative kontinentaleuropäische Märkte zu erschließen. Spätestens seit den 1990er-Jahren erfasste der Boom alle wichti-gen Wirtschaftsbereiche und schien sich durch jährliche Rekord-zahlen mit Wachstumsraten um 8 % zu verstetigen (| M 12 |, | M 13 |).Die enge Verflechtung mit dem US-amerikanischen Finanzmarkt und die Überhitzung der Binnenwirtschaft führten jedoch in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends zu einer doppelten Schief-lage: Zum einen sprang die Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA auf das Land über und brachte durch den Kollaps zahlreicher Finanzprodukte etliche Banken an den Rand des Ruins. Um den vollständigen Zusammenbruch dieser Finanzdienstleister zu ver-hindern, übernahm der irische Staat Garantien und Bürgschaften in Milliardenhöhe, gründete eine Bad Bank zur Verwaltung »toxi-scher Papiere« und (teil-)verstaatlichte Finanzinstitute, deren Rettung ansonsten aussichtslos verlaufen wäre. Durch die Bereit-stellung günstiger Darlehen sollte andererseits eine »Kredit-klemme« vermieden werden, die die kritische Situation der iri-schen Wirtschaft hätte noch weiter verschärfen können.Im Zuge der Stützungsinitiativen und der tiefen Rezession nahm das Haushaltsdefizit dramatische Ausmaße an (| Abb. 4 |). Irland hatte die Verschuldungsgrenze des Maastrichter Vertrages weit hinter sich gelassen und war nicht mehr in der Lage, fällige Kre-dite aus eigener Kraft zu bedienen oder zu refinanzieren. So kam es im Herbst 2010 unter der damaligen Regierung Brian Cowen zum Offenbarungseid. Irland wurde aus Mitteln der EU sowie des Internationalen Währungsfonds mit ca. 85 Mrd. Euro gestützt. Im Gegenzug verpflichtete sich das Land, strenge Vorgaben der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank sowie des IWF zu er-füllen und sich bis auf weiteres der Fiskalkontrolle durch die »Troika« zu unterwerfen (| M 9 |, | M 10 |).Die starke Abhängigkeit von externen Geldgebern in Kombina-tion mit einer vorübergehenden Aussetzung der Finanzhoheit stellt einen weiteren tiefen Einschnitt im Umgang Irlands mit der Wirtschafts- und Finanzkrise dar. Der freie Fall des erfolgsver-wöhnten Landes löste eine Schockstarre aus und ließ kritische Fragen nach dem Umfang nationaler Selbstbestimmung und der Solidität des wirtschaftlichen Fundaments aufkommen. Firmen-pleiten, Entlassungswellen und Insolvenzen privater Gläubiger nahmen von Tag zu Tag zu. So entschloss sich Premierminister Brian Cohen in der Endphase seiner Regierungszeit zur Umset-zung eines Maßnahmenkatalogs, der für viele Iren mit sehr

schmerzhaften Opfern verbunden war. Allerdings wurde die Prob-lemlösungskompetenz der Koalition von Fianna Fáil und den Grü-nen für so gering erachtet, dass Neuwahlen im Februar 2011 zu einem Sieg der bisherigen Oppositionsparteien Fine Gael und La-bour Party führten. Es lag nun an der neuen Regierung unter der Führung von Premierminister Enda Kenny, in Zusammenarbeit mit der »Troika« zahlreiche Reformen umzusetzen und das Land wieder wettbewerbsfähig zu machen.

Neue Regierung, alte Ziele: Sanierung des Haushalts, Wachstum, Zukunftsfähigkeit

Bei den Bemühungen um eine wirtschaftliche Konsolidierung des Landes spielt die Sanierung des Staatshaushaltes – neben der Stützung des Finanzsystems – nach wie vor die zentrale Rolle. Um dieses Ziel zu erreichen, werden im öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren ca. 26 000 Stellen abgebaut. Diejenigen, die wei-terhin für staatliche Einrichtungen tätig sind, müssen mit Lohn-einbußen von bis zu 20 % rechnen. Auch der Mindestlohn sank von 8,65 € auf 7,65 €, um die Schwelle für Neueinstellungen zu senken.Auf der Einnahmeseite hat die Regierung – z. T. unter massivem Protest der betroffenen Bevölkerungsgruppen – neue Quellen er-schlossen. So wurde im Jahre 2011 erstmals eine Gebühr für Trink-wasser eingeführt, die Grenze für steuerfreie Einkommen neu festgelegt und eine Abgabe auf Immobilienbesitz beschlossen. Auch die Studiengebühren wurden z. T. massiv erhöht. Darüber hinaus kam es zu einer Auffächerung des Mehrwertsteuersatzes: Trotz einer allgemeinen Erhöhung von 21 % auf 23 % bis zum Jahre 2014 sind zahlreiche Ausnahmen zugelassen. So kam es etwa im Tourismusbereich – z. B. bei Übernachtungen – zu einer Mehr-wertsteuersenkung, um diesen Wirtschaftsbereich zu stärken (| M 12 |, | M 13 |). Ein weiterer Schwerpunkt der Sanierungsbemühungen liegt auf der Umstrukturierung des Bankensystems. Dabei kommt der Re-kapitalisierung von Instituten eine besondere Bedeutung zu. In erster Linie geht es dabei um verlässliche finanzielle Rahmenbe-dingungen für die wirtschaftliche Erholung des Landes.Die Regierung versucht darüber hinaus mit Programmen zur Wirtschaftsförderung Bereiche zu unterstützen, von denen sie annimmt, dass diese künftig an Bedeutung gewinnen werden. Dazu gehören beispielsweise die Lebensmittelbranche, die Bio-technologie oder die Pharmazie. Ähnliches Gewicht wird auch dem Internet-Sektor und den erneuerbaren Energien zugeschrie-ben. Diese Initiativen machen deutlich, dass sich Irland zwar wei-terhin als wichtiger Finanzdienstleister versteht. Die genannten Schritte zielen jedoch darauf ab, die ökonomische Basis des Lan-des zu erweitern und zukunftsträchtige Entwicklungen nicht zu verschlafen.

Abb. 3 »Ich bin Ire« © Kostas Koufogiorgos, 2011

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Beobachter haben in der Vergangenheit immer wieder darauf hin-gewiesen, dass sich in der »irischen Krise« Entwicklungen bün-deln, die in anderen europäischen Staaten bislang eher als Ein-zelphänomene zutage getreten sind. So habe die Insel – wie Spanien – mit dem Platzen einer Immobilienblase zu kämpfen, müsse – ähnlich wie Island – eine astronomische Staatsverschul-dung abbauen und sei – wie viele osteuropäische Staaten – in hohem Maße von ausländischen Investitionen abhängig. Insofern führe die Regierung einen Kampf an mehreren Fronten, der der Bevölkerung viele magere Jahre bescheren werde. Diese wehrte sich mit Unterstützung von Gewerkschaften und Kirchen z. T. ve-hement gegen die tiefen Einschnitte. Vor diesem Hintergrund stieß eine Entscheidung der Ratingagen-tur Moody’s Mitte Juli 2011 auf großes Unverständnis. Sie setzte irische Staatsanleihen auf Ramschniveau mit der Begründung, Irland werde in absehbarer Zeit weitere Finanzspritzen brauchen, um seinen Sanierungskurs fortsetzen zu können. Von Regie-rungsseite war zu vernehmen, dass man trotz dieses Signals an dem eingeschlagenen Kurs festhalten wolle. So kündigten der Mi-nister für öffentliche Ausgaben und Reform, Brendan Howlin, und Finanzminister Michael Noonan Anfang Dezember 2011 neue Streichungen bei den Sozialleistungen und weitere Steuererhö-hungen an. Gleichzeitig verwiesen sie auf Erfolge der irischen Rosskur und interpretierten das Wirtschaftswachstum des Jahres 2011 von knapp 2 % als Bestätigung des eingeschlagenen Kurses.

Irische Positionen auf dem europäischen Parkett

Trotz dieser Erfolgsmeldungen und der allgemeinen Anerken-nung für die große Anstrengungsbereitschaft bei der Überwin-dung der Wirtschafts- und Finanzkrise weist die irische Regierung immer wieder auf Risiken hin, die die ökonomische und haus-haltspolitische Konsolidierung des Landes gefährden könnten. So steht die Steigerung der Exportquote auf tönernen Füßen, weil die allgemeine Unsicherheit auf den Märkten für große Schwan-kungen in der Nachfrage sorgt. Nicht zuletzt herrscht auch Be-sorgnis darüber, ob alle Schritte in Richtung einer europäischen Fiskalunion wirklich im Interesse des Landes sind. So lehnte Pre-mierminister Kenny auf dem Brüsseler Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs am 9.12.2011 einen Schuldenschnitt (»hair cut«) für gefährdete Länder wie Griechenland ab und setzte sich dafür ein, den privaten Finanzsektor nicht durch zusätzliche Abgaben an der Bewältigung der Krise zu beteiligen. Beide Maß-nahmen würden nach seiner Auffassung einen weiteren Vertrau-ensverlust der Finanzmärkte gegenüber den angeschlagenen Volkswirtschaften zur Folge haben. Vielmehr führten die irischen Vertreter darüber Klage, dass die EU Irlands Anstrengungen zur Bewältigung der schwierigen Situation nicht gebührend hono-riere und Ländern mit schlechteren Ausgangsbedingungen bes-sere Konditionen bei der Unterstützung ihrer Hauhaltskonsoli-dierung einräume. Im Mittelpunkt der nationalen Diskussion steht die Frage, ob die europäischen Schritte in Richtung Fiskalunion zur Umsetzung in Irland eines Referendums bedürfen (| M 11 |). Immer wieder wei-sen Regierungsvertreter darauf hin, dass die Einleitung des Ver-fahrens von den Details des »Vertrages über Stabilität, Koordinie-rung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion« abhänge. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die verfassungsmäßig verankerte Rückbindung wichtiger euro pa-politischer Entscheidungen an das Votum des Volkes einen ent-scheidenden Faktor in der irischen Europastrategie darstellt. Die politisch Verantwortlichen des Landes sind deshalb in der aktuel-len Phase der Krisenbewältigung doppelt gefordert: Zum einen verlangt die Vertretung irischer Interessen auf dem europäischen Parkett großes Verhandlungsgeschick. Zum anderen liegt es an der Konfliktfähigkeit und Überzeugungskraft der Regierung, ob die vereinbarten Maßnahmen die Unterstützung der Bevölkerung finden.

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Abb. 4 »Haushaltssaldo in Irland« © Handelsblatt, 24.11.2010, S. 18

Haushaltssaldoin Prozent des BIP

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MATERIALIEN

M 1 »Britain in or out?« Die Debatte im britischen Unterhaus

The Prime Minister (Mr David Cameron): With permission, Mr Speaker, I would like to make a statement on last week’s European Coun-cil-Hon. Member: Where’s Nick?Mr Speaker: Order. The House must calm it-self, taking whatever medicaments are re-quired for the purpose, and the Prime Minis-ter’s statement must and will be heard.The Prime Minister: Thank you, Mr Speaker. I went to Brussels with one objective: to pro-tect Britain’s national interest, and that is what I did. (…) I made it clear that if the euro-zone countries wanted a treaty involving all 27 members of the European Union, we would insist on some safeguards for Britain to protect our own national interests. Some thought that the safeguards I was asking for were relatively modest. Nevertheless, satisfactory safeguards were not forthcoming, so I did not agree to the treaty. (…) There were two possible outcomes: a treaty of all 27 countries, with proper safeguards for Britain; or a seperate treaty in which euro-zone countries and others would pool their sovereignty on an in-tergovernmental basis, with Britain maintaining its position in the single market and in the European Union of 27 members. We went seeking a deal at 27 and I responded to the German and French proposal for treaty change in good faith, genuinely look-ing to reach an agreement at the level of the whole of the Euro-pean Union, with the necessary safeguards for Britain. Those safeguards – on the single market and on financial services – were modest, reasonable and relevant. We were not trying to cre-ate an unfair advantage for Britain. (…) We are a trading nation, and we need the single market for trade, investment and jobs; and membership of the EU strengthens our ability to progress our foreign policy objectives, too, giving us a strong voice on the global stage (…). So we are in the European Union and we want to be. (…)Edward Miliband (Doncaster North) (Lab): May I start by thank-ing the Prime Minister for his statement? We all note the absence of the Deputy Prime Minister from his normal place. The reality is this: the Prime Minister has given up our seat at the table; he has exposed, not protected, British business; and he has come back with a bad deal for Britain. The Prime Minister told us that his first priority at the summit was to sort out the eurozone, but the euro crisis is not resolved. There is no promise by the European Central Bank to be the lender of last resort, there is no plan for growth and there is little progress on bank recapitalisation. (…) At the summit that was meant to solve these problems, the Prime Minis-ter walked away from the table. (…) Will he confirm that he has not secured one extra protection for financial services? The veto on financial services regulation – he did not get it. The guaran-tees on the location of the European Banking Authority – he did not get them. Far from protecting our interests, he has left us without a voice. (…) The Prime Minister claims to have wielded a veto. Let me explain to him that a veto is supposed to stop some-thing happening. It is not a veto when the thing that you wanted to stop goes ahead without you. That is called losing. That is called being defeated. That is called letting Britain down. (…)

© House of Commons Hansard Debates for 12 Dec 2011, Col 519-Col 524 [Zugriff: 18.1.2012]

M 3 »Europe could yet handbag the accidental hero«, The Times

One thing is certain. David Cameron never wanted his premier-ship to be defined by Europe. In fact he would have done almost anything to avoid becoming yet another Conservative prime min-ister whose identity is inextrincably linked in the voters’ minds with Brussels. (….) Yesterday Mr Cameron stood up in the House of Commons to defend his decision to veto a treaty designed to prevent the collapse of the eurozone. And, just as Tony Blair was linked for ever to his decision to join the American-led war in Iraq, so the Conservative leader will from now on be remembered as the man who – for the better or the worse – permanently changed Britian’s relationship with the rest of Europe. (…) The Prime Min-ister’s advisers are convinced that Mr Cameron’s „no, no, no“ mo-ment will confirm him as a strong leader in the voter’s minds, standing up for Britain with the bulldog spirit. They take comfort from the polls showing that most people think he was right to veto Angela Merkel and Nicolas Sarkozy’s proposals. (…) If the eu-rozone crisis deepens, if indeed the euro collapses – plunging Britain along with everyone else back into a recession deeper and darker than the one that went before – then the French will be certain to blame the Brits. Would Mr Cameron then look like a strong leader or a foolish ideologue who had scuppered a deal that was in the national interest for party political reasons?Even without this doomsday scenario, there is trouble brewing for the Prime Minister. Already, business leaders are starting to ex-press concern about Britiain being „marginalised“ in Europe. In the City there are worries that the Government may now have even less influence over EU plans for tighter financial regulation. Yesterday, the European Commission confirmed that even if a transaction tax does not materialise, London will still be subject to the new rules. It looks as if Mr Cameron stamped his foot to protect the City, but got nothing in return. He risks appearing both isolated and weak, like the boy who is the last to be picked for the football team. (…) Strategists now talk of the need to „de-contaminate“ the Eurosceptic position in the way the Tory leader once tried to rebrand the Conservative Party. „Modern Euroscep-ticism“ is based on an instinctive opposition to top-down central-ised bureaucracies that inhibit enterprise, innovation and indi-vidual freedom“, says one. „It should not be about souvereignty or hostility to other countries. Those arguments don’t resonate any more.“ (…) Now Mr Clegg (…) has described the veto as „bad for Britain“. Cabinet collective responsibility has evaporated with the Prime Minister openly contradicted by his deputy in a deliber-ate decision to „lift the veil“, as one strategist puts it, on the fun-damental disagreements that exist over Europe.

Rachel Sylvester: Europe could yet handbag the accidental hero, in: The Times, 13.12.2011, S. 23

M 2 »Europa der zwei Geschwindigkeiten« © Peter Schrank, The Independent, 2011

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M 4 Bundeskanzlerin Angela Merkel: »GB ein verlässlicher Partner?«

Großbritannien wollte den Weg zu einer neuen vertraglichen Grundlage über eine Än-derung der europäischen Verträge aller 27 Mitgliedstaaten nicht mitgehen, jedenfalls nicht zu den Bedingungen, die die anderen 26 akzeptieren konnten. Die Antwort in die-ser Situation konnte nicht Nichtstun und Ab-warten sein. Sie konnte auch nicht eine bloße Reparatur mithilfe vorhandener Instrumente sein. Das wäre in dieser Krise nur halbherzig und aus meiner Sicht deshalb unverantwort-lich gewesen. (…) Ich sage hier ausdrücklich: So sehr ich bedauere, dass Großbritannien sich nicht mit uns gemeinsam auf diesen Weg gemacht hat, so sehr ich bedaure, dass Großbritannien sich schon vor 20 Jahren gegen den Euro entschieden hat, so sehr steht für mich außer Zweifel, dass Großbri-tannien auch in Zukunft ein wichtiger Part-ner in der Europäischen Union sein wird. Großbritannien ist für Europa nicht nur in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik ein verlässlicher Partner; Großbritannien ist die-ser Partner auch in vielen anderen Fragen: bei der Wettbewerbsfähigkeit, im Binnen-markt, für den Handel, für den Klimaschutz. Gerade Letzteres haben wir bei den Klima-verhandlungen in Durban noch einmal ganz deutlich erleben können. Großbritannien hat im Übrigen ein eigenes vitales Interesse daran, dass die Euro-Zone ihre Schuldenkrise überwindet. Das geschieht jedoch nicht über Nacht. Die Bundesregierung hat stets deut-lich gemacht, dass die europäische Schuldenkrise nicht mit dem einen Befreiungsschlag zu lösen ist. Es gibt einen solchen Befrei-ungsschlag nicht; es gibt keine einfachen Lösungen.

© Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag am 14.12.2011 zum Europäischen Rat; Debattendokumentation, in: Das Parlament, 19.12.2011, S. 1

M 5 Will Hutton: »The Observer«

David Cameron is the best and worst of upper-middle class, home counties England – decent enough but saturated with prejudices he has never cared to challenge. He understands his own party and its instincts, but beyond that his touch is uncertain and his capacity to empathise with others close to non-existent. Doubt-less, he thought his demand for Britain to be exempted from any measure on financial services to be reasonable, but he com-pletely underestimated how it would be understood by a euro-zone member in an existential fight to defend their currency. His circle is the hedge fond managers who payroll his party, right-wing media executives and the demi-mode of Tory dining clubs, Notting Hill salons and country house weekends, all of whom he knew could be relied to cheer him for his alleged bulldog spirit and Thatcher-like courage in saying No to European „plots“. For him, politics is not about statecraft in the pursuit of a national vi-sion that embraces all the British. It is an enjoyable game to be played for a few years, in which the task is to get his set in and look after them and hand the baton on to the next chap who will do the same.“

Will Hutton: It is an act of crass stupidity to be on the margins of Europe, in: The Observer, 11.12.2011, S. 41

M 7 Niall Ferguson: »The Times«

David Cameron is not – despite the opprobrium that has been heaped on his head by everyone from President Sarkozy to the Shadow Foreign Secretary, Douglas Alexander – a pathologically insular Little Englander. Like Margaret Thatcher he believes in the single European market. Like John Major, he opposes British membership to the European monetary union. As over the Schen-gen Agreements on passport-free travel, as over the euro, Britain has again reserved its right to retain sovereignty over key areas of policy. Nor is this an exclusively Conservative policy tradition. Gordon Brown, too, resisted the calls of the Europhiles in his party to take Britiain into the E[uropean]M[onetary]U[nion].

Niall Ferguson: Cameron was right to back away from this suicide pact, in: The Times, 10.12.2011, S. 8

M 8 Lousie Cooper: »The Observer«,

(…) there are no guarantees that the eurozone will survive. It is best not to underestimate the political commitment to the grand euro project, but the economic pressures forcing it apart are high. Greece, Ireland, Portugal and probably Spain will find it very difficult to get themselves out of their debt mess without a weaker, devalued, currency. No one knows what Europe will look like in six months’ time. But it would have been a poor choice to sacrifice the UK’s prosperity for a project that many forecast will disintegrate.

Lousie Cooper: David Cameron was right to protect one of our biggest revenue earners, in: The Obersever 11.12.2011, S. 42

M 6 EU-Wirtschaftsmächte im Vergleich © picture alliance, dpa

EU-Wirtschaftsmächte im VergleichWichtige Kennzahlen der größten Volkswirtschaften innerhalb der EU für das Jahr 2010

Wirtschaftswachstum

Großbritannien Frankreich Deutschland

1,8 % 1,5

3,7

Arbeitslosenquotein %

bei Jugendlichen unter 25 Jahren

Staatsverschuldung in % des BIP*

*Bruttoinlandsprodukt rund. bed. Differenzen Quelle: Trade & Invest, EU-Herbstprognose, Eurostat15713

Dienst-leistungen

Industrie

Entstehung des BIP

Sonstiges

79,9 %

77,5 %

54,3 % 42,7 %

15,7

25,016,0

6,832,329,7

82,3 83,2

7,8 %

19,6 %23,7

9,99,87,1

K o n s e n s u n d K o n f l i k t: K r i s e n p o l i t i k i n G r o ß b r i t a n n i e n u n d I r l a n d

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Page 54: DEUTSCHLAND & EUROPA · turen (Fitch, Standard & Poor’s und Moody’s) haben 2012 auch insbesondere deren Staatsanleihen abgewertet, im Falle von Griechenland sogar auf »Ramsch-Niveau«,

M 10 Marco Evers: »Härter als hart«, Der Spiegel

Alle drei Monate fliegt derzeit eine Abordnung der Troika nach Dublin, rund 50 Kontrolleure von IWF, Europäischer Kommission und der Europäischen Zentralbank EZB. Zehn Tage lang beugen sie sich über die Bücher, knöpfen sich Beamte und Politiker vor und sagen ihnen, was als Nächstes zu geschehen hat. Die Atmo-sphäre, lobt ein irischer Finanzbeamter, sei stets »ruhig und pro-fessionell“. Bisher ist die Troika jedenfalls immer zufrieden abge-reist. Auch wenn es weh tut – Irland kommt eisern allen Verpflichtungen nach, um seinen Ruf wiederherzustellen. Das Land sei »ganz anders als die anderen Peripherie-Staaten«, sagt Olivier Blanchard, Chefvolkswirt des IWF. Die Insel hat die jüngste Bevölkerung Europas, und die meisten jungen Iren sind sehr gut ausgebildet. Großkonzerne wie der Chip-Hersteller Intel oder der Pharma-Reise Pfizer betreiben hier exportstarke Ableger. Die Insel werde sich erholen und als »keltischer Tiger“ aus der Krise hervorgehen, sagt der US-Investor Wilbur Ross voraus. Aber noch ist von der Rückkehr des Tigers nicht viel zu sehen. Die tiefste Re-zession der irischen Geschichte hält das Land fest im Griff. Fast alle Bauunternehmer sind bankrott. Zimmerleute, Maurer, Elekt-riker naben nichts mehr zu tun. Die Ruinen des irischen Bau-booms, der 2008 einbrach, stehen immer noch trostlos herum. Die Arbeitslosigkeit beträgt immer noch mehr als 14 Prozent – und sie wäre noch höher, wenn nicht wöchentlich mehr als 800 Iren auswandern würden. Wer bleibt, verdient empfindlich weni-ger als vor Ausbruch der Krise und hütet sich, sein Geld auszuge-ben. Die Binnennachfrage ist eingebrochen, Banken vermitteln kaum noch Kredite. Selbst der Durst der Iren scheint nachgelas-sen zu haben, viele Pubs mussten schließen. In den Boomjahren hatte Irland den ehrgeizigen Plan gefasst, jährlich rund 25 Milliar-den Euro in seine Infrastruktur zu investieren. Das schien den Po-litikern damals leicht bezahlbar. Ihre Nachfolger streichen nun mit spitzer Feder. Dublins erste U-Bahn, seit Jahren geplant, wird ebensowenig gebaut wie bereits in Auftrag gegebene Gefäng-nisse. Und auch eine Autobahn nach Nordirland ist dem Spardik-tat zum Opfer gefallen, obwohl sie fest zugesichert worden war. (…) Die offiziellen Szenarien gehen davon aus, dass die irische Wirtschaft, vom Export beflügelt, mit bis zu drei Prozent im Jahr wächst. Nur unter dieser Voraussetzung können Haushaltsdefizit und Verschuldung nennenswert sinken und Irland so am Kapital-markt rehabilitieren. Doch sein Exportwachstum kann Irland selbst nur teilweise beeinflussen. Das Land ist abhängig von der Konjunktur in Europa und den USA. »Der Plan setzt voraus, dass ganz Europa seine Probleme wieder in den Griff bekommt und

wieder wächst“, mahnt John FitzGerald, Öko-nom am renommierten Economic and Social Research Institute in Dublin. Als die EZB Ir-land vor einem Jahr unter den Rettungs-schirm holte, verlangte sie, dass das Land alle Eigner von Bankanleihen bedient – auch Anleihen jener Banken, die vor der Krise hemmlungslos zockten und deshalb ver-staatlicht werden mussten. Für den Wirt-schaftsprofessor Brian Lucey ist das eine Un-geheuerlich-keit: »Wir müssen jedes Jahr mehr als drei Milliarden Euro erwirtschaften und an Leute überweisen, die in Pleiteban-ken investiert haben.« Solche Glücksritter, unter denen auch viele deutsche Banken sind, hätten das irische Steuergeld nicht ver-dient. Für Irland sei das ein gravierendes Pro-blem. (….)

© Marco Evers: Härter als hart, in: Der Spiegel, 14.11.2011, S. 90

M 11 Interview mit den irischen Regie-rungschef Enda Kenny, FAZ

Kenny: Auch wir Iren waren immer sehr für Budgetdisziplin, für die Einhaltung von Regeln und die Erfüllung von Auflagen. Leider haben wir das derzeit unter Beweis zu stellen: Als Empfänger von Krediten der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) stecken wir in einem Anpassungsprogramm, in dem wir nicht ein-fach nur beaufsichtigt werden. Unsere Regierungsführung, un-sere Reformpolitik, unseren ganzen Umgang mit den finanziellen Schwierigkeiten nimmt die Troika mit der Gründlichkeit eines Ge-richtsmediziners unter die Lupe.FAZ: Der Verlust der Budgethoheit ist in Ihrer Lage unvermeidbar.Kenny: Wir haben tatsächlich unsere wirtschaftliche Souveränität verloren, denn wir können unsere Regierungspolitik nicht mehr formulieren, ohne uns mit der EU, dem IWF und der Europäischen Zentralbank (EZB) abzustimmen. Aber wir müssen der Troika nicht blind folgen, man kann nachverhandeln.FAZ: Woran denken Sie?Kenny: Zum Beispiel gab es die Vorgabe, zwei Milliarden Euro auf dem Verkauf von Staatseigentum zu erlösen, um die Schulden zu tilgen. Wir haben durchgesetzt, dass wir einen Teil der Erlöse in-vestieren können, um Arbeitsplätze zu schaffen. Außerdem durf-ten wir mit einer Mehrwertsteuersenkung den Tourismus ankur-beln. Unser Ehrgeiz ist es, 2013 aus dem Anpassungsprogramm herauszukommen und unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit zurückzuerlangen. (…)FAZ: Deutschland möchte einen EU-Währungskommissar mit Durch-griffsrechten ausstatten. Könnten Sie mit einem solchen Souveränitäts-verlust leben?Kenny: Wir streben in Europa ja nicht weniger als die Änderung einer politischen Kultur an, die in einigen Ländern tief verwurzelt ist. Aber wir leben eben jetzt schon mit einer viel weiter gehenden Kontrolle. Die Herausforderung ist enorm. Normalerweise bringt eine irische Regierung pro Jahr 40 Gesetzentwürfe ein, in diesem Jahr waren es allein seit September 30. Wie nebenbei unterneh-men wir gerade die größte Reform des juristischen Dienstleis-tungswesens seit 200 Jahren. Das ist ein dreihundertseitiger Ge-setzentwurf. Die Troika war ganz verblüfft, dass wir das in so kurzer Zeit zuwege gebracht haben.FAZ: Sie haben die Bundeskanzlerin aber davor gewarnt, für neue Stabi-litätsregeln die EU-Verträge ändern zu wollen. Was spricht dagegen, diese Lehre aus der Krise zu ziehen?Kenny: Wir sollten unbedingt alle Möglichkeiten ausreizen, die uns der jetzige Vertrag bietet. Denn wenn man jetzt eine tiefge-hende Vertragsänderung möchte, beginnt man ein langes Ver-fahren mit einem Konvent und einer Regierungskonferenz, das

M 9 »Komm, ich helfe Dir!« © Bernd Taskott, www.berndtaskott.de, 10.11.2011

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Europäische Parlament redet mit und so weiter. Dann werden alle möglichen Länder noch diese oder jene Änderung durchsetzen wollen. Bei uns in Irland erfordert jede Übertragung von Hoheits-rechten an die EU ein Referendum.FAZ: Was schlagen Sie vor?Kenny: Die Krise hat uns doch jetzt im Griff! Wir müssen endlich den Krisenfonds EFSF hebeln. Er muss in die Lage versetzt wer-den, Brandschutzmauern zu errichten, damit die Ansteckungsge-fahr gemildert wird. Da müssen wir heran, anstatt jetzt ein langes Vertragsänderungsverfahren mit höchst ungewissem Ausgang zu beginnen, das keine Antwort auf die akute Krise geben kann.FAZ: Frau Merkel will die geltenden Verträge nicht noch weiter überdeh-nen, also wehrt sie sich gegen eine noch stärkere Beteiligung der EZB beim Rettungseinsatz, für die Sie plädieren. Wie löst man diesen Kon-flikt?Kenny: Es ist ja nicht so, dass urplötzlich die EZB allein die Brand-schutzmauer errichten soll. Ich bin mir mit der Kanzlerin einig, dass die Zentralbank die allerletzte Zuflucht ist. Aber unser Ver-such, der EFSF mehr Feuerkraft zu verleihen, hat die Investoren bisher nicht überzeugt.FAZ: Wie viel Angst haben Sie davor, dass Angela Merkel eine Fiskal-union durchsetzt? Sie werden ja in der EU bedrängt, Ihre konkurrenzlos niedrigen Unternehmenssteuern zu erhöhen.Kenny: Ich weiß nicht, warum. Es obliegt jedem Land, seine Steu-ersätze festzulegen. Seit Jahren beträgt die irische Körper-schaftssteuer 12,5 Prozent. Das ist transparent, während es in machen Ländern große regionale Unterschiede gibt. Unsere Be-rechenbarkeit ist ein Eckpfeiler für unser Werben um ausländi-sche Investitionen.FAZ: Und wie stehen Sie zur Finanztransaktionssteuer, die Deutsche und Franzosen so gern einführen möchten?Kenny: Wenn das in der ganzen EU geschieht, sehe ich darin kein Problem. Aber nur in der Eurozone, das geht nicht: Wenn in Dub-lin eine Steuer erhoben wird, die es in London nicht gibt, dann erleiden wir einen massiven Nachteil. (…)FAZ: Sollte ein Land die Eurozone verlassen können?

Kenny: Die Frage sollte lauten: Wie lauten die Bedingungen, um der Eurozone beizutreten, und wie streng werden sie befolgt?FAZ: Wie sehen Sie Camerons Versuch, die Krise zu nutzen, um gewisse Kompetenzen von Brüssel zurückzuholen?Kenny: Der Premierminister ist natürlich mit vielen Kritikern sei-ner Europapolitik auch in der eigenen Parlamentsfraktion kon-frontiert. In Großbritannien gibt es ja nicht Referenden wie bei uns, da spielen sich die Debatten eben im Parlament ab.FAZ: Sind nicht viele Iren derselben Meinung wie die britischen Europa-skeptiker?Kenny: Mindestens 80 Prozent unserer gewählten Politiker unter-stützen den europäischen Prozess. Als die Iren im zweiten Anlauf den Lissabon-Vertrag billigten, taten sie das, obwohl die dama-lige Regierung das Land schlecht führte. Aber die Wähler wussten zu unterscheiden und haben nicht gegen »Lissabon« gestimmt, nur weil sie sauer auf die Regierung waren.FAZ: Teilen Sie Frau Merkels Sorge, dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert?Kenny: Scheitert der Euro, dann löst sich die Union auf, zweifel-los. Da trotz des vielen Geldes, das wir in die Rettung des Euro schon gepumpt haben, unsere Versuche zur Stabilisierung der Eu-rozone noch nicht geklappt haben, stellt sich die Frage, ob die Eurozone das alleine schafft oder ob alle 27 Staaten aktiv werden müssen. (…)FAZ: Viele Iren verlassen das Land …Kenny: Ja. leider. Junge Leute wollen eben nicht herumhängen, sondern da sein, wo etwas los ist. Wir würden uns wünschen, wir könnten ihnen mehr Gründe geben, in ihrer Heimat zu bleiben. Aber jetzt zieht der Export fest an. Als nächstes müssen wir die Binnennachfrage stärken. Dafür war die Restrukturierung und Rekapitalisierung der Banken nötig, das haben wir geschafft. Wir wollen auch Mikrokredite vergeben, um neue Kleinstbetriebe zu fördern. Wir wollen mehr Bürokratie abbauen. (…) Wir haben viele Reformen geschafft, wenn wir das Bail-out-Programm hin-ter uns haben, sind wir gut aufgestellt.

© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2011, S. 4

Alle Angaben für 2010: Prognose

BIP-Wachstumzum Vorjahr in Prozent

10

8

6

4

2

0

-2

-4

-6

-81981 1990 2000 2010

Irland nach dem BoomAusländische Direktinvestitionen*in Mrd. Euro

30

20

10

0

-10

-20

-301981 1990 2000 2010

Handelsblatt *Minuswerte bedeuten Kapitalabzug

M 12 Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Irland im Vergleich zum Vor-jahr in Prozent © Handelsblatt, 24.11.2010, S. 18

M 13 Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen in Mrd. Euro in Irland © Handelsblatt, 24.11.2010, S. 18

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diesem Moment selbst auszugeben und geht das Risiko ein, dass er dieses Geld nicht wieder sieht, und dafür will er ent-schädigt werden.

− Wer sich versichern will, sucht jemand, der bereit und in der Lage ist, dieses Risiko zu tragen. Oftmals ist das Risiko des einen dabei die Versicherung des anderen, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Während sich ein Bauer gegen zu niedrige Preise seiner zukünftigen Ernte absichern will, will sich sein Kunde gegen zu hohe Preise versichern. Der Bauer verkauft deswegen bereits heute seine Ernte zu einem festen Preis an den Kunden; damit ist der Bauer vor einem Preisverfall ge-schützt, der Kunde vor zu hohen Preisen. Das Ganze ist dann ein Terminkontrakt, ein typisches Finanzmarktprodukt. Die Absicherung solcher Risiken erfolgt also hauptsächlich auf den so genannten Derivatemärkten, auf denen Finanzpro-dukte wie Terminkontrakte oder Optionen gehandelt werden.

Kapitalmärkte sind also jene Orte, an denen gegenseitige Inter-essen zum Ausgleich gebracht werden: Sparer, die Geld anlegen wollen, finden Menschen, die es investieren wollen; Menschen, die Risiken abgeben wollen, finden solche, die bereit sind, Risi-ken zu tragen. Nun kann man natürlich auch ohne Kapitalmärkte sparen, investieren oder sich absichern, indem man sich selbst auf die Suche nach einem passenden Partner macht, doch wäre es extrem aufwendig, aus eigener Kraft einen Partner zu finden, der genau die Summe sparen, investieren oder absichern will, die man selbst investieren, sparen oder versichern will – und das für exakt den Zeitraum, den man im Auge hat. Deswegen gibt es Ka-pitalmärkte – Orte, an denen man sparen, investieren oder versi-chern kann, ohne dass man zu lange und aufwendig nach einem Partner suchen muss.

Wer sind Finanzmärkte?

Damit dies funktioniert, bedarf es aber einiger Institutionen am Kapitalmarkt, als da wären:− Banken. Sie nehmen Geld von Sparern entgegen und verlei-

hen dieses an Investoren; Banken sind damit eine wichtige Schaltstelle an den Kapitalmärkten, darüber hinaus halten sie den Zahlungsverkehr einer Volkswirtschaft aufrecht.

Was wir nicht verstehen, fürchten wir – und machen uns damit oft allzu leicht zum Spielball falscher Argu-

mente und fremder Interessen. Die Emotionalität, mit der die Debatte über Finanzmärkte geführt wird, deutet darauf hin, dass auch diese Debatte nicht nur von Sachargumenten be-stimmt wird – Kapitalmärkte, so scheint es, sind das Reich des Bösen, der Gier. Niemand diskutiert mehr darüber, warum wir Kapitalmärkte benötigen. Wenn wir aber diese Frage be-antworten, verstehen wir auch leichter, was in den vergange-nen Jahren wirklich passiert ist und was zu tun ist, um unser Finanzsystem wetterfest zu machen.

Was sind Finanzmärkte?

Finanzmärkte sind die zwingende Konsequenz einer arbeitsteili-gen Wirtschaft: Sobald Menschen und Nationen nicht mehr alles, was sie benötigen, selbst herstellen, sondern im Tausch mit an-deren Menschen oder Nationen erwerben, brauchen wir Finanz-märkte. Die Folge einer solchen arbeitsteiligen Wirtschaft ist es nämlich, dass Einkommen und Konsumwünsche entstehen, und dass diese beiden Größen zumindest zeitweise nicht miteinander übereinstimmen. In einer Welt ohne Finanzmärkte kann man immer nur genau das ausgeben, was man gerade erwirtschaftet. Einkommen und Ausgaben müssen immer miteinander überein-stimmen, man kann nie mehr ausgeben, als man besitzt. Für eine moderne Volkswirtschaft unvorstellbar, wie einige Beispiele zei-gen:− Wer für das Alter vorsorgen will, muss heute Einkommen bei-

seite legen, das er in 20 oder 30 Jahren zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes nutzen kann. Ohne Finanzmärkte muss er sein Geld unter das Kopfkissen legen.

− Wer als Unternehmen oder Konsument größere Anschaffun-gen machen will – ein Haus, ein neues Fabrikgebäude –, benö-tigt zeitweise mehr Geld, als er einnimmt; ohne Kapitalmärkte sind solche Anschaffungen nicht möglich.

− Wer sich gegen die Widrigkeiten des Lebens – Unfälle, Krank-heit oder andere Risiken – absichern will, kann dies entweder tun, indem er eigenes Geld beiseite legt oder aber, indem er jemand findet, der ihn gegen diese Risiken versichert. Letzte-res ist nur mit Hilfe von Kapitalmärken möglich.

Diese drei Beispiele zeigen die wesentlichen Funktionen von Kapitalmärkten: Sie ermöglichen es, in einer arbeitsteiligen Wirt-schaft zu sparen (wenn das Einkommen größer ist als die Ausga-benwünsche, kann man den Einkommensüberschuss in andere, produktive Verwendungsmöglichkeiten lenken), zu investieren (man gibt mehr aus, als man einnimmt, nimmt also Kredit auf) oder aber sich zu versichern (Risiken werden von anderen Schul-tern getragen). Kapitalmärkte kanalisieren diese Wünsche und bringen Partner zusammen, die sparen, investieren oder versi-chern wollen:− Wer investieren will benötigt Kapital, das diejenigen zur Ver-

fügung stellen, die sparen. Aus den Erträgen der Investition kann der Investor das geliehene Kapital zurückzahlen plus einer angemessenen Entschädigung für die Überlassung des Kapitals, die auch das dabei eingegangene Risiko berücksich-tigt. Diese Entschädigung ist der Zins. Diese Überlegung macht deutlich, dass Kapitaleinkommen keine arbeitslosen Einkommen sind: Wer Geld verleiht, verzichtet darauf, es in

SCHULDENKRISE IN EUROPA

7. Die Macht der internationalen Finanz-märkte in der Diskussion

HANNO BECK | DIRK WENTZEL

Abb. 1 »Auf die Perspektive kommt es an …« © Gerhard Mester, 2011

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− Vermögensverwalter. Sie nehmen Geld von Kunden entgegen, die sparen wol-len und suchen auf den Kapitalmärkten nach den besten Anlagemöglich-keiten, also nach Unter-nehmen, die diese Erspar-nisse investieren wollen. Für diese Dienstleistung verlangen sie von den Kunden eine Gebühr. Zu den Vermögensverwal-tern zählen Institutionen wie Fondsgesellschaften, die eher für den kleinen Geldbeutel gedacht sind wie auch exklusive Ver-mögensverwalter für sehr betuchte Kunden, zu denen auch Hedge Fonds zählen.

− Beteiligungsgesellschaf-ten. Diese Gesellschaften sammeln ebenfalls Geld von Sparern ein und in-vestieren es direkt in Un-ternehmen. Zu dieser Klasse von Akteuren zäh-len beispielsweise Wag-niskapitalgesellschaften und geschlossene Fonds.

− Ve r s i c h e r un g sg e s e l l -schaften versichern gegen Gebühren Ihre Kunden gegen zuvor vereinbarte Risiken, übernehmen aber auch die Altersvorsorge für ihre Kunden. Letzteres tun auch Akteure wie Pensionskassen, Versorgungswerke oder andere Anbieter von Altersvorsorge.

− Unternehmen und Staaten sind extrem wichtige Akteure an den Kapitalmärkten, sie fragen in der Regel Kapital nach, das sie sich von den Sparern (den Kunden der Vermögensverwal-ter, Banken und Versicherungen) ausleihen.

− Viele Akteure an den Kapitalmärkten sind mit der technischen Abwicklung von Transaktionen beschäftigt und bieten sons-tige Dienstleistungen rund um das Kapitalmarktgeschehen an, beispielsweise Broker, Makler, Rating-Agenturen, Börsen-betreiber, Custodians oder Unternehmen, die Kapitalmarkt-forschung anbieten.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann man nun ge-nauer eingrenzen, was Kapitalmärkte respektive die Akteure an den Kapitalmärkten machen:− sie bringen Sparer und Investoren zusammen, ebenso wie Ver-

sicherte und Versicherer;− sie ermöglichen es Sparern, mit kleinen Beträgen auch in

große Projekte zu investieren; kleine Sparbeträge werden ge-bündelt zu großen Investitionsbeträgen (Losgrößentransfor-mation).

− sie ermöglichen es, dass auch Spar- und Investitionswünsche mit unterschiedlichen Zeithorizonten zum Ausgleich gebracht werden (Fristentransformation); der Sparer, der sein Geld nur für ein Jahr festlegen will, gibt es seiner Bank, die es weiter verleiht an Akteure, die eventuell langfristiger Geld benöti-gen. Ist das Jahr vorüber, erhält der Kunde dennoch sein Geld zurück, die Bank versorgt den Investor mit einer Anschlussfi-nanzierung (möglicherweise von einem anderen Sparer, der sein Geld auch über ein Jahr festlegen will).

− sie ermöglichen es, dass Risiken von risikoscheuen Akteuren wandern zu Akteuren, die bereit und in der Lage sind, diese

Risiken zu tragen (Risikotransformation). Der Bauer versi-chert sich gegen das Risiko niedriger Preise für seine Ernte bei einer Versicherung, die groß genug ist, um dieses Risiko zu tragen. Zudem reduziert die Versicherung ihr eigenes Risiko, indem sie den Kunden des Bauern gegen zu hohe Preise versi-chert.

− sie ermöglichen die Beschaffung von kurzfristigem Liquidi-tätsbedarf, beispielsweise wenn ein Unternehmen die Gehäl-ter auszahlen muss, aber die Auftraggeber ihre Rechnung noch nicht bezahlt haben.

Damit lässt sich eine Definition von Kapitalmärkten geben: Kapi-talmärkte sind Orte, an denen das Angebot von Ersparnissen mit der Nachfrage nach Investitionsmitteln sowie die Nachfrage und das Angebot an Absicherung zum Ausgleich gebracht werden. Dieser Ausgleich wird in der Regel von Kapitalsammelstellen und Zwischenhändlern (so genannten Intermediären) wie Banken, Vermögensverwaltern oder Versicherungen erbracht. Der Aus-gleich dieser verschiedenen Anlage- und Investitionswünsche wird über den Preis des Kapitals, den Zins, geregelt; der Aus-gleich von Versicherungswünschen und -angeboten wird über die Prämien geregelt.

Warum brauchen wir Kapitalmärkte?

Damit wird klar, warum Kapitalmärkte unerlässlich sind für mo-derne Volkswirtschaften:– ohne Kapitalmärkte können Unternehmen nicht investieren,

Bürger nicht sparen und für das Alter vorsorgen. Der Zinsme-chanismus stellt dabei sicher, dass das freie Kapital dorthin kommt, wo es am ertragreichsten ist – wer mit dem Kapital den größten Ertrag erwirtschaften kann, bietet auch den höchsten Zins, weswegen er den Zuschlag erhalten wird. Em-

Abb. 2 Das Bruttovolumen auf dem Derivatemarkt lag Ende 2009 nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zah-lungsausgleich bei rund 700 000 Milliarden Dollar (gemessen am Nominalwert der Kontrakte), von denen rund 90 Prozent außerbörslich gehandelt wurden. Typische Derivate sind Terminkontrakte, Optionen und Swaps. Unter Swaps versteht man den Tausch künftiger Zahlungsströme durch zwei Geschäftspartner. Von diesen rund 700 000 Milliarden Dollar entfielen etwa 550 000 Milliarden Dollar auf Zinsprodukte. Zu den bekanntesten an Börsen gehandelten Zinsprodukten gehört der Ter-minkontrakt auf eine Bundesanleihe (Bund-Future). Der Rest entfällt überwiegend auf Währungs-, Aktien- und Rohstoffpro-dukte. Die umstrittenen »Kreditausfallderivate« (CDS) kommen auf ein Volumen von rund 30 000 Milliarden Dollar. Teilneh-mer an diesen Geschäften sind nicht nur große Finanzunternehmen wie Banken, Versicherer, Pensions- und Hedge-Fonds. Nach einer Untersuchung der Internationalen Organisation der Derivatehändler (ISDA) nutzen 94 Prozent der 500 größten amerikanischen Industrie- und Handelsunternehmen Derivate ganz überwiegend zur Absicherung. Zum Vergleich: Das Brutto-inlandsprodukt aller Güter und Dienstleistungen weltweit betrug im Jahre 2010 rund 63 Billionen US $. © Der Reiz der Derivatebörsen, FAZ, 5.6.2010, S. 22

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pirisch zeigt sich, dass funktionierende Kapitalmärkte ein Wachstumstreiber sind.

– Kapitalmärkte helfen, allgemeine Lebensrisiken abzusichern, sie sichern aber auch spezifische Risiken im Unternehmen-salltag ab: Exporteure und Importeure können sich gegen Wechselkursschwankungen absichern, Gläubiger gegen den Zahlungsausfall ihrer Schuldner, Vermögensbesitzer gegen den Wertverfall ihrer Investments. All diese Absicherungsge-schäfte finden vorzugsweise auf den Derivatemärkten statt, die ebenfalls ein Teil der Kapitalmärkte sind.

Sind Kapitalmärkte gefährlich?

Diese nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was Kapitalmärkte sind, steht so gar nicht im Einklang mit der Rolle, die ihnen im in-ternationalen Wirtschaftsgeschehen und in den Medien zuge-schrieben werden: Hasardeure, Schurken, Betrüger, die ganze Volkswirtschaften in den Abgrund stürzen können. Was ist dran am Feindbild Finanzmarkt?Zunächst muss man vorwegschicken, dass Finanzmärkte von Menschen gemacht werden, und wie in jeder Branche gibt es auch hier Versager, Betrüger, Opportunisten ebenso wie redliche Charaktere, sorgfältige Unternehmer und verantwortungsbe-wusste Angestellte. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die grundsätzlichen Charakterzüge von Beschäftigten der Finanz-branche anders sind als diejenigen anderer Branchen, es sei denn, man will eine ganze Industrie unter Generalverdacht stel-len. Dementsprechend kommt es auch in der Finanzbranche zu Betrügereien, Irrtümern, Fehleinschätzungen und Fehlentwick-lungen – das ist aber kein Hinweis auf die besondere menschliche Verderbtheit der Branche und kein Hinweis darauf, dass Kapital-märkte besonders gefährlich sind.Die Gefahr von Finanzmärkten glaubt man anhand der Finanzkri-sen zu erkennen, die ganze Volkswirtschaften ins Wanken brin-gen können. Dieses Bild muss man in einiger Hinsicht korrigie-ren:– Finanzkrisen sind oft nicht Ursache einer Krise, sondern Sym-

ptom: zumeist resultieren sie (so zum Beispiel 2007) aus einer zu lockeren Geldpolitik der heimischen Notenbank und einem übermäßigen Wachstum von Krediten; auch falsche Wechsel-kurse führen rasch zu Finanzkrisen (2007 spielte der künstli-che Wechselkurs der chinesischen Währung eine wichtige Rolle). Demnach sind die Ursachen von Finanzkrisen oftmals bei der Politik zu suchen. Auch in der aktuellen Krise der euro-

päischen Union spielen die Finanzmärkte nur eine Nebenrolle. Die Ursachen dieser Krise sind eine falsch konzipierte Wäh-rungsunion und die notorische Schuldensucht der Staaten.

– Oftmals entstehen Finanzkrisen gerade dann, wenn Finanz-märkte nicht funktionieren, so beispielsweise nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers – hier war es die Furcht vor dem Versagen des Interbankenmarktes, das die Politik zum Eingreifen bewegte.

– Natürlich gibt es auch an Finanzmärkten Übertreibungen, doch kann man annehmen, dass so viele Marktteilnehmer sich über einen längeren Zeitraum komplett irrational verhal-ten? Dazu muss man Menschen, die eine professionelle Aus-bildung haben, ziemlich viel Dummheit unterstellen. Solange es keine Indizien dafür gibt, dass Beschäftigte in der Finanz-branche unterdurchschnittlich intelligent sind, muss man Zweifel an dieser Hypothese anmelden. So war beispielsweise das scheinbar irrationale Verhalten der Finanzmärkte im Zuge der Euro-Krise – erst gibt man unbegrenzt Kredit, dann will man gar nichts mehr verleihen – der Tatsache geschuldet, dass die Politik schlagartig klar machte, dass sie nicht für alle Verluste aufkommt. Also bewertete man die Risiken in diesem Geschäft neu.

Unter dem Strich gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass Finanz-krisen oft Folge und Ergebnis politischer Fehler sind – diese Er-kenntnis hilft bei der Beantwortung der Frage, wie man Finanzkri-sen verhindern kann. Zuvor sollen noch einige weitere Vorwürfe gegen Finanzmärkte untersucht werden. An vorderster Stelle steht da die Anklage gegen die Spekulation.

Was ist Spekulation?

Eine der Forderungen der Occupy-Wall-Street-Bewegung – inso-weit man von einem konsistenten Forderungskatalog sprechen kann – ist die Bekämpfung der Spekulation. So fordert von Uex-küll, dass Geschäfte, die einen spekulativen Wettanteil haben, für ungültig erklärt werden können (von Uexküll 2011). Diese Forde-rung spiegelt ein zentrales Unbehagen der Bevölkerung wider: Spekulation ist etwas schlechtes und böses.Dieser Vorwurf erhebt zunächst die Frage, was eigentlich Speku-lation ist. Wer Aktien kauft, spekuliert auf steigende Aktienkurse, wer keine Aktien kauft, spekuliert auf sinkende Aktienkurse – welche dieser Handlungen ist nun böse? Oftmals fokussiert sich die Anklage gegen die Spekulation auf die Derivatemärkte, doch auch das ist zu kurz gegriffen: Wie wir bereits gesehen hatten, ermöglichen Derivatemärkte die Absicherung von Risiken für Ver-mögens- und Geschäftspositionen – ist das „böse“ Spekulation?Zumeist verengt sich die Anklage gegen Spekulation auf Ge-schäfte, denen keine offensichtliche Gegentransaktion in der Gü-terwelt gegenübersteht. Man spricht davon, dass sich die Finanz-märkte von der Realwirtschaft gelöst haben, aber selbst dieser Vorwurf greift zu kurz: wer Vermögensbestandteile absichern will, wer sein Geschäft gegen den Verfall einer Währung oder den Anstieg von Rohstoffpreisen schützen will, kann keine reale Ge-genbuchung zu seinem Kauf von Derivaten anbieten – ist er des-wegen ein böser Spekulant? Auch der Kauf einer Versicherung durch Privatkunden ist eine Spekulation, der kein reales Geschäft gegenüber steht. Unter dem Strich ist es unmöglich, zwischen guter und böser Spekulation zu unterscheiden – Uexkülls Forde-rung würde dazu führen, dass entweder gar keine Transaktionen mehr getätigt werden, weil sie alle spekulative Elemente enthal-ten oder aber keine Transaktion rückabgewickelt wird, da man jeder Transaktion einen „guten“ Sinn geben kann.Der Versuch, zwischen guter und böser Spekulation zu unter-scheiden, ist eher eine Angelegenheit für Ethik-Seminare als für praktische Wirtschaftspolitik, zumal Spekulation Märkte auch stabilisieren kann. Deswegen verfängt auch nicht der Vorwurf, dass Finanzgeschäfte ohne reale Grundlage abgewickelt werden – erstens ist der reale Hintergrund in vielen Fällen nicht sichtbar,

1. Industrial and CommercialBank of China

160,2(–6,1%)

2. China Construction Bank

127,2(–19,7%)

3. HSBC Holdings

105,3(–18,4%)

4. Agricultural Bankof China

95,1(–0,2%)

5. Wells Fargo

91,4(–21,9%)

6. Bank of China

87,7(–11,9%)

7. JP Morgan Chase

86,4(–32,3%)

8. Citigroup

54,4(–39,9%)

9. Royal BankCanada

52,7(–19,3%)

10. CommonwealthBank of Australia

52,6(–8,8%) 11. Toronto-

Dominion Bank

50,6(–11,0%)

12. ItauUnibanco

49,6(–23,9%)

13. Bankof America

49,3(–51,3%)

14. BancoSantander

48,6(–32,2%)

41. Dt.Bank22,1(–41,9%)

Die größtenBankender WeltBörsenwert inMilliarden Euro*(Rückgang in denletzten sechsMonatenin Prozent)

SZ-Graphik: Hanna Eiden;Foto: Ralph Orlowski/Getty Images;Quelle: Thomson Reuters

Die Zentrale derDeutschen Bankin Frankfurt.

*Stand: 22.9.2011

Abb. 3 Die größten Banken der Welt © Süddeutsche Zeitung, 23.9.2011, S. 17

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zweitens lässt sich nicht eindeutig sagen, dass Spekulation (die man nicht exakt definieren kann) immer negative Folgen hat. Die Occupy-Bewegung kritisiert Spekulation als „Wetten ohne Sinn und Zweck“ (von Uexküll 2011) – was in zweierlei Hinsicht proble-matisch ist: Zum einen lässt sich wie gezeigt kaum zwischen sinn-voller und sinnloser Spekulation unterscheiden, zum anderen ist es problematisch, wenn man den Menschen vorschreibt, was gut und böse ist, was sinnvoll ist oder nicht – diese Kategorien entzie-hen sich einer objektiven Überprüfung. Wer spekuliert, sieht darin einen Sinn – darf man ihm nun dieses für ihn sinnvolle Han-deln verbieten, weil es andere Menschen als sinnlos erachten? Das riecht nach Anmaßung und Bevormundung. Die entschei-dende Frage bei Spekulation – und bei allen Tätigkeiten auf dem Finanzmarkt – sollte nicht die Frage nach der inhaltlichen oder moralischen Rechtfertigung sein, sondern danach, ob diese Tä-tigkeiten negative Auswirkungen auf Dritte haben. Ist letzteres der Fall, dann ist der Staat gefragt.Dieses Argument bietet eine einfache Erkenntnis an: Statt frucht-lose Debatten darüber zu führen, welches Verhalten warum un-moralisch oder sinnvoll ist, sollte man danach fragen, welche Fol-gen dieses Handeln hat. Entscheidend ist also die Frage nach einer praktikablen, sinnvollen Finanzmarktregulation statt end-loser Debatten darüber, welches Verhalten unmoralisch ist. Die gleichen Überlegungen gelten auch für die Achillesferse des Fi-nanzsystems: die Banken.

Sind Banken gefährlich?

Für die Unruhen der vergangenen Jahre waren vor allem die Prob-leme von Banken verantwortlich, die aus dem grundsätzlichen Geschäftsmodell einer Bank resultieren: Eine Bank nimmt Gelder ihrer Kunden, um sie an Investoren und andere Kunden zu verlei-hen. Hier kann zu es zwei Problemen kommen: Wenn die Bank die Gelder ihrer Kunden langfristig verleiht, nun aber zu viele Kunden ihre Einlagen kurzfristig zurück fordern, entsteht ein Liquiditäts-problem. Das Geld der Kunden ist nicht weg, es ist nur langfristig gebunden; doch das nützt den Kunden, die kurzfristig ihr Geld zurück haben wollen, nichts. Im schlimmsten Fall ist die Bank illi-quide, kann die Gelder ihrer Kunden zumindest kurzfristig nicht zurückzahlen. Befürchten die Kunden ein solches Ereignis, brin-gen sie ihr Geld vorausschauend in Sicherheit, und lösen damit den Zusammenbruch einer Bank automatisch aus – ein so ge-nannter klassischer Bankrun. Betrifft dieses Misstrauen das ge-samte Bankensystem, so kann es zu einem kompletten Zusam-menbruch des Zahlungsverkehrs und des Kreditgeschäfts kommen. Das war genau die Situation, die man befürchtete, als die Bundesregierung 2008 im Zuge der Krise eine Garantie auf alle Spareinlagen der Bürger gab (o. V. 2008). Noch schlimmer wird es, wenn die Banken das Geld ihrer Kunden an Kreditnehmer verliehen haben, die es nicht zurückzahlen können. Zwar haftet zunächst die Bank mit ihrem Eigenkapital für die anfallenden Ver-luste, doch wenn dieses Eigenkapital aufgebraucht ist, gehen die Verluste zwangsläufig zulasten der Kundeneinlagen. Diese Überlegungen zeigen, dass Finanzmärkte ohne Bankenre-gulierung nicht auskommen; hier geht es vor allem darum, Ban-ken durch entsprechende Eigenkapitalvorschriften wetterfest zu machen, da – wie gesehen – Banken um so stressresistenter wer-den, je höher ihr Eigenkapital ist, das die Kunden der Banken vor Verlusten schützt. Völlig berechtigt ist in diesem Zusammenhang die Forderung der Occupy-Bewegung, die Auslagerung von Bank-geschäften in so genannte Schattenbanken zu unterbinden, die keiner Bankenaufsicht unterliegen. Wer Geschäfte wie eine Bank macht, muss wie eine Bank reguliert werden.

Eine gemischte Bilanz

Was ist von den Vorwürfen gegen Finanzmärkte zu halten? Grund-sätzlich ist festzuhalten, dass ohne Finanzmärkte in industriali-sierten Nationen rasch die Lichter ausgehen würden – sie ermög-lichen das Funktionieren einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Politisch gilt es, das Finanzsystem gegen ein solches Versagen wetterfest zu machen, allen voran, indem man die Banken zu einer gesunden Kapitalausstattung nötigt. Die Moralisierung des Geschehens auf Finanzmärkten ist wenig geeignet, zukünftigen Krisen vorzubeugen, zumal Moral eine subjektive Kategorie ist. Maßgeblich für die Beurteilung des Geschehens auf Finanzmärk-ten sollten alleine die Folgen möglichen Handelns sein – besteht Grund zu der Annahme, dass dieses Handeln Dritte beeinträch-tigt, ist der Staat gefordert. Aber nur dann.Ob eine Finanzmarktsteuer ein geeignetes Mittel zur Regulierung von Finanzmärkten ist, kann man bezweifeln, gerade auch mit dem Hintergrund der empirischen Erfahrungen, die man bei-spielsweise in Schweden mit einer solchen Steuer schon machte. Zumindest muss sich der Bürger darüber im Klaren sein, dass eine solche Steuer als Bestrafungsmaßnahme eher ungeeignet ist – letztlich wird der Sparer, Anleger, Versicherungskunde diese Steuer über höhere Gebühren tragen.Finanzmärkte sind eine komplexe Veranstaltung, was sie schwer durchschaubar macht, und was wir nicht verstehen, macht uns Angst. Man muss vermuten, dass es gerade diese Komplexität der Finanzmärkte ist, die zu Furcht vor ihnen beiträgt, welche sich in teils unzulässiger, teils berechtigter, teils übertriebener Kritik niederschlägt. Befeuert wird dieses Misstrauen gegenüber Fi-nanzmärkten von der Politik, die in den anonymen Märkten einen idealen Sündenbock gefunden hat, mit dessen Hilfe man das ei-gene Versagen kaschieren kann. So ist letztlich einer Forderung von Uexküll zuzustimmen: Nicht die Finanzmärkte muss man be-lagern, sondern die Parlamente.

Literaturhinweise

Beck, Hanno / Wienert, Helmut (2009): Anatomie der Weltwirtschaftskrise: Ursachen und Schuldige, Aus Politik und Zeitgeschichte, 20/2009

Beck, Hanno / Prinz, Aloys (2012):Staatsverschuldung: Ursachen – Folgen – Auswege. CH Beck. München

Spremann, Klaus / Gantenbein, Pascal (2005): Kapitalmärkte, Lucius & Lu-cius, Stuttgart.

Abb. 4 Occupy-Aktivist mit einer Guy-Fawkes-Maske unterbricht den Vor-standsvorsitzenden der Deutschen Bank AG, Josef Ackermann, während dessen Rede bei der Mitgliederversammlung des »Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg«. Die Guy-Fawkes- oder Vendetta-Maske wird häufig von Occupy-Anhängern be-nutzt und geht auf einen maskierten englischen Attentäter zurück, der im Kampf gegen den autoritären Staat gleichzeitig persönliche Rache verfolgte, von den Occupy-Aktivisten aber als Freiheitskämpfer verehrt wird. »Vendetta« heißt itali-enisch: Blutrache. Die Maske spielte zudem in der Verfilmung des Comics »V wie Vendetta« im Jahre 2005 eine zentrale Rolle. © Marcus Brandt, pa/dpa, 22.11.2011

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MATERIALIEN

M 1 Jakob von Uexküll: » Belagert die Par-lamente!«, FTD

Eine kleine Trommlergruppe, etwa 50 De-monstranten und zwei, drei Transparente: Das war Ende September 2011 der Anfang der Occupy-Wall-Street-Demo. Wenige Wochen sind vergangen, und aus der kleinen Gruppe ist eine weltumspannende Bewegung gewor-den. Tausende demonstrieren vor den Ban-ken und Börsen in über 80 Ländern gegen die Macht der Finanzindustrie. Die Occupy-Be-wegung erlebt ein rasantes Wachstum. Und mit dem Anschwellen der Proteste überall auf der Welt nehmen auch die Solidaritätsbe-kundungen zu. Vor allem die aus der Politik sind allerdings eher ein Beweis dafür, dass die Bewegung am falschen Ort protestiert.Die solidarischen Grüße von Bundeskanzle-rin Angela Merkel und Co. sind entweder geheuchelt, oder sie sind ein Armutszeugnis für die Politik. Heuchlerisch sind sie, wenn sie von Politikern stammen, die sich bis vor Kurzem noch damit gebrüstet haben, durch Deregulierung des Bankensystems die heimischen Finanzplätze zu fördern. Ein Armutszeugnis sind sie, wenn die Solidarität ernst gemeint ist. Das wäre Ausdruck einer erschreckenden Hilflosigkeit unserer Volksvertreter gegen-über der Finanzindustrie.Die Occupy-Bewegung hat es einer Kanzlerin Merkel und ehema-ligen Finanzministern zudem denkbar leicht gemacht, die Pro-teste für sich zu nutzen. Protestiert wird derzeit vor den Börsen und Banken und nicht vor den Parlamenten. Das ist ein Fehler, denn die Spekulanten des Finanzsektors können nur so weit skru-pellos agieren, wie man sie von Staats wegen lässt.Man muss es noch einmal deutlich sagen: Die Spielregeln für die Märkte setzt immer noch die Politik! Man kann den Banken nicht vorwerfen, sich nicht selber reguliert und freiwillig auf Geschäfte verzichtet zu haben, mit denen sich das meiste Geld verdienen lässt. Der Job des Regulierens liegt bei Regierung und Parlament. Dieser Verantwortung sind sie nicht nachgekommen. Im Gegen-teil: Regeln, die zum Beispiel das Privatkundengeschäft der Ban-ken und die Investmentsparte klar voneinander trennten, wurden per Gesetz aufgehoben.Von allen Gesetzesvorhaben, die nach der Lehman-Pleite zur Neuregulierung des Finanzsektors angekündigt wurden, ist kaum etwas umgesetzt worden. Es ist absurd, dass sich dieselben Poli-tiker, die es in den vergangenen Jahren aus Angst und vorausei-lendem Gehorsam gegenüber den Banken nicht geschafft haben, den versprochenen Umbau des Finanzsektors in Angriff zu neh-men, nun hinter den jungen Protestlern verstecken. Nein, Finanz- und Wirtschaftskrise sind nicht unvermeidbar gewesen. Sie sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Politik, die sich von Finanz-lobbyisten hat einwickeln lassen.Die Deregulierung der Finanzmärkte, die in den USA und Großbri-tannien unter Präsident Ronald Reagan und Premierministerin Margaret Thatcher in den frühen 80er-Jahren begann, erfasste spätestens in den 90ern die ganze Welt. In Deutschland waren es sowohl die alte Regierung Kohl als auch Rot-Grün, die, insbeson-dere mittels der sogenannten Finanzmarktförderungsgesetze, zwischen 1990 und 2002 wichtige Weichen in Richtung Deregulie-rung stellten. Die dramatischen Folgen dieser Maßnahmen sind heute bekannt.Die Proteste sind daher verständlich und überfällig. Sie müssen sich aber an erster Stelle an die Politik richten, verbunden mit der Forderung nach einer durchgreifenden Finanzreform. Dazu ge-hört:

1. Banken und anderen Finanzinstituten darf es nicht mehr er-laubt sein, ihre Geschäfte in Schattenbanken auszulagern. Alle finanziellen Tätigkeiten, die von Banken ausgelagert wur-den, müssen den gleichen Regulierungsvorschriften unter-worfen werden wie reguläre Finanzinstitute und für die Auf-sichtsbehörden transparent sein.

2. Stilllegung aller Steueroasen. Banken und Unternehmen darf es nicht mehr erlaubt werden, ihre Gewinne in Steueroasen auszulagern. Die Erträge müssen dort versteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden. Ebenso müssen Industriestaaten ihre eigenen Steueroasen, die sie für die Steuerflüchtlinge der jeweils anderen Industrieländer eingerichtet haben, abschaf-fen. Der Steuerdumpingwettlauf muss beendet werden.

3. Spekulativen Finanzinstrumenten muss die Rechtsverbind-lichkeit entzogen werden. Durch die Wiedereinführung des Prinzips des sogenannten Wetteinwands können alle Finanz-geschäfte für rechtlich unverbindlich erklärt werden, die einen spekulativen (Wett-)Anteil haben. Um für die wenigen für die reale Wirtschaft sinnvollen spekulativen Finanzinstru-mente die volle Rechtsverbindlichkeit zu erhalten, müssen diese mittels einer Positivliste identifiziert werden. Alle ande-ren Finanzinstrumente, die nicht auf dieser Positivliste ste-hen, wären dann rechtlich unverbindlich und dem Generalver-dacht der Unseriosität ausgesetzt.

4. Entmachtung der Ratingagenturen. Zum Einhalten von ge-setzlichen Bestimmungen aller Art darf nirgendwo die Höhe einer Bewertung durch eine Ratingagentur maßgeblich sein.

5. Demokratisierung der Geldschöpfung. Um den absurden Zu-stand zu beenden, dass sich das private Bankensystem zu einem Zinssatz nahe null bei der staatlichen Zentralbank Geld leiht, um es dann zu einem deutlich höheren Zinssatz an die öffentlichen Haushalte weiter zu verleihen, muss die Zentral-bank in geregeltem Umfang auch Anleihen der demokratisch-legitimierten Regierungen in ihre Bilanz aufnehmen.

6. Einführung von Finanztransaktionssteuern. Ähnlich wie bei realen Geschäften müssen auch reine Finanzgeschäfte einer Besteuerung unterworfen werden. Generell muss ein langfris-tig orientiertes finanzielles Investment gegenüber dem per-manenten Kauf und Verkauf (insbesondere dem computerba-sierten Hochgeschwindigkeitshandel) steuerlich bevorzugt werden.

Erst wenn die Politik diese Liste abgearbeitet hat, kann sie sich zu Recht mit den Protestlern solidarisieren.

© Jakob von Uexküll: » Belagert die Parlamente!«, Financial Times Deutschland, 21.11.2011

M 2 »Occupy Bewegung« in Deutschland. Demonstrationszug durch die Frankfurter Innenstadt am 29.10.2011 im Rahmen der Proteste gegen die Finanzmärkte. © picture alliance

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M 3 Christopher Ziedler: »Entwaffnet die Märkte!«, StZ

Die Überschrift dieses Artikels ist geklaut. Schon 1997, in der Asienkrise, beschrieb die französische Zeitung »Le Monde Diploma-tique« das Unheil, das die unregulierte Fi-nanzbranche anrichtet, und forderte Taten: »Entwaffnet die Märkte!« Aber Asien war weit weg – es entstand zwar eine globalisierungs-kritische Bewegung, aber in den Regierungs-zentralen dieser Welt passierte nichts. Im Gegenteil: die letzten Fesseln fielen.Die Finanzkrise, die im Bankrott der New Yor-ker Investmentbank Lehman Brothers heute vor drei Jahren nicht ihre Ursache, so aber doch ihr Symbol hatte, änderte das. Kurz da-rauf versprach die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer: »Kein Markt, kein Marktteilnehmer, kein Produkt ohne an-gemessene Aufsicht und Regulierung.« Auch die Europäische Union machte sich an die Umsetzung des Leitsatzes – bemüht, im Er-gebnis aber halbherzig. Von einem Dutzend Gesetzespaketen sind gerade einmal drei in Kraft getreten.Als größten Erfolg hält sich die europäische Politik den Aufbau dreier Behörden zugute, die zusammen die neue EU-Finanzauf-sicht bilden. In Paris wird seit Jahresanfang das Treiben an den Börsen überwacht, von London aus die Lage der Banken und in Frankfurt die Versicherungsbranche. Die Zuständigkeiten er-schöpfen sich bis jetzt weitgehend in einer Koordinationsfunk-tion. Direkt eingreifen und etwa den Handel mit bestimmten Fi-nanzpapieren untersagen dürfen die neuen Aufpasser erst, wenn die EU-Finanzminister den Finanzmarktnotstand ausrufen – das aber ist auch in den vergangenen Wochen des flächendeckenden Absturzes nicht passiert.Über viele Kompetenzen in bestimmten Bereichen des Marktes, die die Aufsicht noch erhalten soll und die Teil anderer Gesetzes-pakete sind, wird zwischen den Mitgliedstaaten sowie dem Euro-paparlament erbittert gestritten. Viele Vorschläge der EU-Kom-mission stehen auch noch aus.Die im Raum stehende Staatspleite Griechenlands ist für Europa und die Welt nicht deshalb so gefährlich, weil es nicht verkraftbar wäre, wenn ein Land ausfiele, das mit nur zwei Prozent zur EU-Wirtschaftsleistung beiträgt. Es sind die Unwägbarkeiten der Fi-nanzbranche. Welche in Athen engagierten Banken mit in den Abgrund gerissen würden, ist nach dem ersten echten Banken-stresstest im Juli zwar etwas klarer geworden. Ein Bankenrestruk-turierungsgesetz, das dafür sorgen würde, dass nicht wieder der Steuerzahler für gescheiterte Institute einspringen müsste, ist zwar vom Bundestag beschlossen, auf der wichtigereneuropäischen Ebene aber erst als Vorschlag der EU-Kommission angekündigt.Wer in großen Banken ein großes Rad dreht, kann sich weiter da-rauf verlassen, dass sein Geldhaus als »systemrelevant« gilt und herausgehauen wird. Die neue gesetzliche Anforderung, dass mehr Eigenkapital bereitgehalten werden muss, hat diese Atti-tüde kaum verändert. Kanzlerin Angela Merkel bleibt nur, darauf zu verweisen, dass der für 2013 vorgesehene Eurorettungsschirm ESM zumindest Ansätze für eine geordnete Insolvenz und damit eine Beteiligung privater Gläubiger mit sich brächte. Ob das ent-sprechende Gesetz alle Parlamente der 17 Eurostaaten passiert, steht jedoch in den Sternen. Dasselbe gilt für die Finanztransakti-onssteuer, mit der die Branche direkt an den Kosten der Krise be-teiligt werden soll. Nach langem Zögern hat die EU-Kommission nun einen Gesetzesvorschlag angekündigt, der 50 Milliarden Euro im Jahr einbringen könnte. Aber der Widerstand ist bereits jetzt groß.

Das Gefährlichste am Ist-Zustand dürfte die Tatsache sein, dass die Öffentlichkeit weiter nichts darüber weiß, wie viel Geld welt-weit etwa auf den Untergang Griechenlands und an- derer Euro-staaten gewettet wird. Eine EU-Richtlinie zu Kreditausfallversi-cherungen, mit der die Aufseher wenigsten darüber informiert wären, wer welche Papiere hält und wem im Pleitefall welche Summen zustehen, ist zwar auf den Weg gebracht. Umstritten ist sie zwischen Europas Hauptstädten und dem EU-Parlament, da Leerverkäufe der Kreditausfallpapiere ausgenommen bleiben sollen – offensichtlich auf Druck der Finanzlobby.Bei ungedeckten Leerverkäufen werden Papiere auf Termin ver-kauft, die man selbst nicht besitzt. Im Klartext: Investoren könn-ten sich weiter gegen ein Risiko absichern, das sie nicht betrifft, aber sehr wohl reich werden, wenn der Schaden eintritt.Eine große Rolle dabei spielen weiterhin die Hedgefonds, die mit wenig Eigenkapital große Summen bewegen. Die entsprechende Regulierung, die sie zur Offenlegung ihrer Hintermänner und Me-thoden zwingt, wenn sie nicht ihre Zulassung verlieren wollen, ist verabschiedet. Der Haken: das Gesetz gilt erst von 2013 an – für Fonds außerhalb der EU gar erst von 2015 an.Viele Experten beharren auf der Meinung, »die Märkte« seien, was die Eurokrise betreffe, nur der Überbringer der schlechten Nachricht. In der Tat sind die Schulden der EU-Staaten zu hoch – sie waren mancherorts aber auch schon höher, ohne dass die Bör-sen Alarm geschlagen hätten.Die Brüsseler EU-Kommission ist dagegen der Ansicht, dass auf dem Parkett und bei den Ratingagenturen viel Irrationalität und Eigeninteresse im Spiel ist. »Ich kann nicht nachvollziehen, wie eine Agentur ein Land brutal herabstufen kann – in dem Moment, wo das Land unter Kontrolle der EU ist«, sagte der für die Finanz-marktregulierung zuständige Kommissar Michel Barnier im Juli, als die Agentur Moody’s Portugals Staatsanleihen auf Ramschni-veau herabsetzte. Barnier hat ein Gesetz für mehr Transparenz bei den Bewertungsmethoden durch den EU-Ministerrat und das Europaparlament durchgesetzt. Ein weiteres, das Wettbewerb schaffen sowie die Abhängigkeit von den drei großen US-Akteu-ren auf diesem Gebiet verringern und Spekulationen mit Staats-anleihen erschweren soll, hat Brüssel aber noch nicht offiziell präsentiert.

© Christopher Ziedler: Entwaffnet die Märkte, Stuttgarter Zeitung, 15.9.2011, S. 2

M 4 »Banken zwangsweise kapitalisieren!« © Klaus Stuttmann, 17.10.2011

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M 5 Torsten Riecke: »In der Panik der Märkte steckt viel Weisheit«, Handelsblatt

Nicht die Politik, sondern die Finanzmärkte sind in der Schuldenkrise die Stimme der Vernunft. Nur wird sie leider häufig nicht verstanden. Panik wird bekanntlich vom griechischen Hirtengott Pan abgeleitet, der ganze Herden in einen plötz-lichen und scheinbar sinnlosen Aufruhr versetzen konnte. Diese Woche hat Pan auf den Finanz-märkten sein Unwesen getrieben und Anleger-Herden in Panik versetzt.Doch diese Reaktionen der Investoren auf die Schuldenprobleme in den USA und Europa sind in ihrer Summe keineswegs so kopflos, wie sie erscheinen mögen. Im Gegenteil. Die Finanz-märkte sind meist die Stimme der Vernunft und decken die Schwächen einer chaotisch agieren-den Politik unerbittlich auf. Übertreibungen sind dabei durchaus nützliche Warnsignale.So waren es die Märkte, die Europas Regierun-gen dazu gezwungen haben, die unzureichenden Mittel im Kampf gegen die Schuldenkrise in Grie-chenland nachzubessern. Und es waren wiede-rum die Märkte, die darauf aufmerksam gemacht haben, dass der Rettungstopf immer noch zu klein ist, um die Finanzierung großer Länder wie Italien und Spanien sicherzustellen. Dass Italien und Frankreich jetzt ihre Sparanstrengungen verstärken, wäre ohne den Druck der Märkte un-denkbar. Und dass Europas Führer zwischen dem Zerfall der Währungsunion und einer gemeinsa-men Finanzpolitik mit Euro-Bonds wählen müs-sen, auch das sind Alternativen, die in dieser Klarheit nicht von der Politik, sondern von den Märkten allen vor Augen geführt werden.Selbst für das verwirrende Polittheater in den USA bieten die Märkte einen verlässlichen Kom-pass. Dass sich die Zinsen für zehnjährige US-Staatsanleihen trotz der schlechteren Bonitäts-note durch Standard & Poor›s immer noch auf einer historischen Tiefebene befinden, zeigt die wahre Botschaft des Ratingschocks:Amerika steht nicht ökonomisch, sondern poli-tisch vor einem Offenbarungseid. Und dass die Märkte der US-Notenbank nicht mehr zutrauen, die immer noch lahmende Konjunktur mit neuen Geldspritzen auf Trab zu bringen, zeugt ebenfalls von großer Weitsicht.Angesichts dieser Markteinsichten erscheint es umso abstruser, Märkte und Spekulanten als »Monster« zu verteufeln. Dass diese Vorwürfe immer wieder von Politikern erhoben werden, sollte niemanden überraschen, brandmarken die Investoren doch meist das Politik- und Staats-versagen. Allwissend sind die Märkte dennoch nicht. Das hat die Finanzkrise von 2008 gezeigt. Wenn der Staat falsche Anreize setzt und Märkte außer Kontrolle geraten, können große wirt-schaftliche und soziale Schäden entstehen. Wer die Weisheit der Märkte nutzen und ihre Zerstörungskraft begrenzen will, muss sie verstehen. Er sollte sie weder verdammen noch vergöttern, sondern sie als das nutzen, was sie sind: als einen Platz für den Austausch von Informationen, auf dem durch unzählige, individu-elle Entscheidungen ein großer Wissensschatz entsteht. Unser Fehler ist, dass wir diesen Schatz nicht ausbeuten.

© Torsten Riecke: In der Panik der Märkte steckt viel Weisheit, Handelsblatt, 12.8.2011, S. 24

M 7 Thomas Straubhaar: »Der große Irrtum«

Über Jahrzehnte dominierte in der Ökonomie die Überzeugung, dass auf Finanzmärkten Effizienz die Regel und Marktversagen die Ausnahme sei. Heerscharen von Studierenden wurden auf den Glauben getrimmt, Börsenkurse würden stets alle verfügbaren Informationen rational und richtig widerspiegeln.Zehn Jahre nach dem Entstehen einer Kreditblase als Folge einer New Economy, die ewiges Wachstum versprach und erst eine Im-mobilien-, dann eine Finanzmarkt- und nun eine Staatsschulden-krise brachte, und drei Jahre nach Lehman Brothers und den dar-auf folgenden staatlichen Hilfsmaßnahmen zum Verhindern einer Kernschmelze der Weltwirtschaft ist es an der Zeit, den Effizienz-mythos vom Sockel zu holen. Dabei geht es weniger darum, die gut bekannten Gründe aufzulisten, warum Finanzmärkte bei Wei-tem nicht so effiziente Informationsverarbeiter sind, wie übli-cherweise angenommen wird.Es ist sattsam bekannt und gut analysiert, dass auf Finanzmärk-ten Marktmacht und Marktversagen weit häufiger vorkommen

Derivate: Komplizierte Deals

Schritt 1

HändlerA

HändlerA

HändlerB

„Verkauf“

der vereinbarte „Kauf“-Termin

HändlerB

Jan.20

Schritt 2Apr.12

Termingeschäft

Mit Derivaten setzen Anleger auf die Entwicklung von Aktienkursen,Indices, Zinsen, Rohstoffpreisen usw.

Beispiel für ein verbreitetes Produkt:

Weiteres Beispiel: Option

vonAktie, Rohstoffwert, Indexwert o.ä.

Händler A tut so, als würde er Händler B zum Beispiel Aktien zum derzeitigenPreis verkaufen, allerdings wird die Lieferung erst später fällig.

Festgehalten wird aber der derzeitige Preis.

Der aktuelle Preis der Aktie (oder eines anderenProduktes) wird ermittelt.

x €

y €

x

aktueller Preishöher

als früherer Preis

aktueller Preisniedriger

als früherer Preis

HändlerA

HändlerB

z €

+y € x –z €

Ablauf wie beim Termingeschäft, aber einer der Händler schließt eine Zahlung bei für ihn ungünstiger Kursentwicklung aus (dafür zahlt er einen Ausgleich). Bei günstiger Entwicklung kann er aber die Zahlung an sich verlangen (Option).

13376

Grund: Wenn der Handel wirklich stattfinden würde, könnte B dieAktien jetzt zum gestiegenen

Preis weiterverkaufen.

Grund: Wenn der Handel wirklich stattfinden würde, könnte Asich zum günstigeren Preis

mit Aktien eindecken.

Händler A erhält die DifferenzHändler B erhält die Differenz

M 6 Was sind Derivate? © dpa-Infografik

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als gemeinhin vermutet. Dass Banken viel zu groß werden, nicht weil sich das betriebswirtschaftlich rechnet, sondern um system-relevant und damit »too big to fail« zu werden.So werden sie im Krisenfall mit staatlicher Hilfe gerettet, wäh-rend kleine Banken sich selbst überlassen bleiben. Dass Informa-tionen gerade auf Finanzmärkten in der Regel asymmetrisch auf-treten und eben nicht allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Dass Anpassungsgeschwindigkeiten auf Finanzmärkten und Gü-termärkten mittlerweile derart divergieren, dass daraus Disso-nanzen entstehen, die in der Realwirtschaft zu höherer und damit makroökonomisch kostspieliger Volatilität werden.Herdenverhalten, emotionale Panik, Eigendynamik und automa-tische Verhaltensregeln tun ein Übriges, um auf Finanzmärkten Blasen entstehen zu lassen. Und schließlich argumentieren Neu-roökonomen, dass Menschen nicht immer rational handeln.Vielmehr werde individuelles Handeln von Zufälligkeiten, Stim-mungen, Gewohnheiten und von einem Unterbewusstsein ge-steuert, das neuronalen, nicht jedoch ökonomischen Gesetzen gehorche.Die eigentlich viel spannendere Frage lautet: Wie konnte und kann es sein, dass sich die These effizienter Finanzmärkte so lange so prominent hat halten können, obschon all die Gründe ihres Versagens bestens untersucht sind, sie empirisch längst wi-derlegt war und sie nun durch die verschiedenen Krisen der letz-ten Dekade erst recht diskreditiert ist? Warum haben so wenige – auch ich nicht – kritisch hinterfragt, wer, erstens, ein ganz pro-fanes persönliches Interesse am Effizienzmythos der Finanz-märkte hat und wer, zweitens, in welcher Form auch immer in der Praxis vom Glauben an die Effizienz von Finanzmärkten profi-tiert. Der Denkansatz der politischen Ökonomie bietet für mögli-che Antworten die notwendigen analytischen Werkzeuge. (…) Das aktuelle erratische Auf und Ab an den Börsen kann für ein-zelne Interessengruppen mikroökonomisch durchaus effizient sein. Es gibt eine Menge Akteure, die stark schwankende Börsen-kurse nutzen können, weil sie an jeder einzelnen Transaktion mit-verdienen. Volatilität ist oft eine gern genutzte Rechtfertigung, Portfolios umzuschichten und für Dritte Wertschriften zu kaufen oder zu verkaufen und damit Provisionen oder Gebühren einstrei-chen zu können. Hier zeigt sich, dass das Principal-Agent-Prob-lem nicht nur ein Spannungsfeld zwischen dem Eigentümer von Vermögen und dem Verwalter von Vermögen erzeugt, sondern ebenso zu einem Zielkonflikt zwischen individueller und gesamt-wirtschaftlicher Effizienz führen kann. (Außerdem) laden gewisse Marktstrukturen, Regulierungen und Absprachen geradezu ein, auf fallende Börsenkurse zu wetten. Wenn das Urteil einzelner Ratingagenturen in der Lage ist, einen Börsencrash auszulösen, dann muss die Versuchung groß sein, mit dem Wissen einer Boni-tätsänderung und einem geschickt inszenierten Informations-management prächtig Geld zu verdienen. Die amerikanische Börsen aufsicht prüft gerade, ob und wie die Betreiber von Hedge-Fonds und Brokerfirmen Insiderinformationen von der Rating-agentur Standard & Poor›s (S&P) nutzen konnten, um auf fallende Kurse zu wetten. (…) Kapitalismus und Marktwirtschaft leben davon, dass Menschen nach ihrem individuellen Glück streben. Adam Smith erkannte richtigerweise, dass die unsichtbare Hand des Marktes dafür sorgt, dass aus egoistischem Handeln auch al-truistische Folgen zum Wohle aller entstehen. Aber nicht alles – und nicht automatisch – ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll, was mikroökonomisch gewünscht wird. Aus einer makroökonomischen Perspektive ist es deswegen wichtig zu untersuchen, wie weit in-dividuelles Gewinnstreben im konkreten Fall mit makro öko no mi-schen Zielen übereinstimmt.Es gibt Marktversagen, Marktmacht, Informations- und Anpas-sungsdefizite sowie zeitliche Zielkonflikte, weil sich einzelne Menschen an kürzeren Perioden orientieren als Gesellschaften. Sie alle provozieren eine Diskrepanz zwischen mikro- und makro-ökonomischer Rationalität. Daher ist individuelles Entscheiden, Handeln und Streben nach persönlichem Erfolg so zu regulieren,

dass daraus auch »überlebensfähige« Lösungen für die Gesell-schaft insgesamt entstehen. (…)Entsprechend sollten Politik und Gesellschaft Gesetze und Re-geln, Anreize und Sanktionen dergestalt setzen, dass Menschen dazu gebracht werden, sich so zu verhalten und ihr Tun oder Las-sen so zu verändern, dass mikro- und makroökonomisches Er-folgsstreben möglichst deckungsgleich werden. Es spricht wenig dafür, dass man dieses Ziel auf den Finanzmärkten bereits er-reicht hat. Noch fehlt es an einer politischen Ökonomie 3.0.

© Thomas Straubhaar: Der große Irrtum, Financial Times Deutschland, 9.10.2011, Thomas Straubhaar ist Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts (HWWI).

M 8 Die Magie der internationalen Finanzmärkte © Klaus Stuttmann, 2011

D i e M a c h t d e r i n t e r n a t i o n a l e n F i n a n z m ä r k t e i n d e r D i s k u s s i o n

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Volkswirtschaften immer mehr. Der Gold-Dollar-Standard gab dem wirtschaftlichen Austausch, dem Kapitalverkehr und dem Handel – innerhalb des sich einigenden Westeuropas wie in der ganzen prosperierenden westlichen Welt – eine zuverlässige und förderliche Währungsgrundlage. »Bretton Woods« bedeutete für Westeuropa, Nordamerika und Japan zunächst zweieinhalb Jahr-zehnte wachsenden Wohlstand, hohe Beschäftigung, weitge-hende Preis- und Geldwertstabilität sowie ständig wachsende Märkte in der ganzen Welt. Spätestens seit den 60er-Jahren überschwemmten die USA je-doch, nicht zuletzt zur Finanzierung diverser Kriege, z. B. dem Vietnamkrieg, die Welt mit viel mehr Dollars aus der Notenpresse, als es ihre Goldreserven erlaubten. Die Bundesrepublik war dank einer in diesem System chronisch unterbewerteten D-Mark und gewaltigen Handelsbilanzüberschüssen bereits 1960 zur zweit-größten Exportmacht der Erde aufgestiegen und machte den USA bald sogar den ersten Platz streitig. Großbritannien, das noch lange der Illusion einer britischen Weltmacht anhing, importierte zu dieser Zeit bereits seinen Lebensstandard durch eine ebenso chronische Überbewertung des Pfunds, wodurch ständige Han-delsbilanzdefizite seine Wirtschaft immer weiter zurückwarfen. Frankreich und Italien versuchten soziale Spannungen via Staats-kasse und Notenbank auszugleichen, weshalb ihre stärker inflati-onierenden Währungen ständig unter Abwertungsdruck standen. Die wirtschaftlichen Entwicklungen und Gewichte der Teilnehmer am System Bretton Woods drifteten also immer weiter auseinan-der und die Notenbanken mussten immer häufiger intervenieren oder vermieden, was noch schlimmer war, aus politischen Grün-den notwendige Korrekturen. Als erstes reagierte der IWF (»Inter-nationaler Währungsfonds«), indem er 1969 mit den sogenannten »Sonderziehungsrechten« eine zusätzliche Reservewährung schuf, welche die Mitglieder des IWF, die in Zahlungsschwierig-keiten geraten waren, mit Liquidität versehen konnte. Zu Beginn der 70er-Jahre zerbrach das Weltwährungssystem von 1944 endgültig. Zunächst wurde der »Tunnel«, innerhalb dessen

Für das Zusammenwachsen Westeuro-pas nach dem Zweiten Weltkrieg spielte

die Frage einer gemeinsamen Währung an-fangs keine Rolle, denn die Triebkräfte von Montanunion, Europäischer Verteidigungs-gemeinschaft (EVG), später EWG und Eura-tom lagen vor allem in der neuen Weltlage nach 1945. Die Frontstellung des Kalten Krieges machte Westeuropa zu einem stra-tegischen Bollwerk der amerikanischen Eindämmungspolitik (»containment«), die ohne die Einbeziehung Westdeutschlands keinen Sinn machte. Dessen schrittweise Rückkehr in die Reihe souveräner Staaten bedurfte aber nach zwei von Deutschland ausgelösten Weltkriegen einer Einbindung seines wirtschaftlichen, später auch mili-tärischen Potenzials. »Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Entwicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der eu-ropäischen Integration begründet hat.« (Helmut Schmidt) Der faktische Machtver-lust der europäischen Großmächte in der bipolaren Welt nach 1945 sowie die »wohl-wollende Hegemonie« der USA über die Westhälfte des Kontinents ließen hier ein »postnationales Gebilde« entstehen – nicht Staatenbund, nicht Bundesstaat, sondern »sui generis« – mit nationalen, supranationalen und intergouvernementalen Elementen, mit einem gemeinsamen Agrarmarkt, mit der freien Zirkulation von Waren, Dienstleis-tungen und Kapital, der Freiheit des Reisens, Wohnens, Arbei-tens für alle Bürger sowie mit einem gemeinsamen Pass. Um all dies zu erreichen, bedurfte es zunächst keines gemeinsa-men Geldes, weil der amerikanische Dollar als Leitwährung die europäischen Währungen für ein Vierteljahrhundert in einem stabilen Verbund hielt.

Die »heile Welt« von Bretton Woods

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik kamen mit dem »System von Bretton Woods« aus dem Jahre 1944 vorerst gut zurecht. Dieses knüpfte auf der Grundlage riesiger amerikanischer Goldreserven an die Edelmetall-Standards der Vorkriegszeit an und machte den Dollar zu einer in Gold konvertierbaren Leitwährung, der gegen-über alle anderen Währungen des Systems in einem festen Wech-selkursverhältnis standen. Ein US-Dollar entsprach lange Zeit etwa einem knappen Gramm Feingold oder 4.- DM, der Währung in Westdeutschland, d. h. der 1949 neu gegründeten Bundesrepu-blik Deutschland. Durch Käufe und Verkäufe ihrer nationalen Währungen gegen Dollar mussten die beteiligten Zentralbanken die Wechselkursschwankungen ausgleichen und sie in einer Bandbreite, einem »Tunnel«, von einem Prozent nach unten und oben halten. Das Weltwährungssystem war damit politisch regu-liert, d. h. für Geld und Währungen waren der Marktmechanismus und die Währungsspekulation über lange Jahre hin ausgeschal-tet. Anfangs war diese Regulierung für viele beteiligte Staaten, vor allem die Bundesrepublik, ein wahrer Segen. In der Folge ver-zerrte sie aber die ihr zugrunde liegende Balance der beteiligten

SCHULDENKRISE IN EUROPA

8. Die Vorgeschichte des Euro und der Vertrag von Maastricht

EBERHARD KEIL

Abb. 1 »Konferenz von Bretton Woods«: Vertreter von 44 Regierungen diskutierten vom 1.–22.Juli 1944 über Währungs-, Zahlungs- und Handelsfragen der Nachkriegszeit in New Hampshire (USA). Dies führte zur Errichtung des »Internationalen Währungsfonds« und der »Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung«. – Im Bild: Der britische Nationalökonom Lord John Maynard Keynes bei einer Anspra-che. © picture alliance, akg-images

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die Währungen zum Dollar pendeln durften, erweitert, dann ließ man die Wechselkurse frei »floaten«, d. h. man setzte sie dem Marktmechanismus aus, was zwar einerseits zu realistischeren Wechselkursen führte, andererseits aber manche Volkswirtschaf-ten stark schwächte und insgesamt belastend für die Kalkulatio-nen des innergemeinschaftlichen Handels und Agrarmarktes wurde.

»Schlangenlinien«

Vor diesem Hintergrund entstand innerhalb der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) ein erstes ausgearbeitetes Konzept für eine »Wirtschafts- und Währungsunion« (WWU), das der luxemburgische Ministerpräsident Pierre Werner 1970 vor-legte. Dieser sog. »Werner-Plan« enthielt bereits die bis heute gültigen Zutaten einer gemeinsamen Währung: Konvergenz der Währungen, der Konjunkturpolitik, der Wirtschafts- und Finanz-politik sowie eine soziale Transferunion in Gestalt eines regio-nalen Finanzausgleichs. Allerdings war dieser Plan zunächst chancenlos, denn vor allem die Franzosen wollten keine Regie-rungskompetenzen an europäische Institutionen (z. B. eine unab-hängige »Europäische Zentralbank«) abtreten, da diese die deut-sche Wirtschaftsmacht auch in eine politische Hegemonie hätte verwandeln können Sie präferierten »intergouvernementale Re-gelungen«, während Deutsche und Niederländer anderseits fürchteten, damit in eine Inflations- und Transferunion hineinge-zogen zu werden. Mehr Aussicht auf Erfolg schien dann eine Initiative des französi-schen Finanzministers Valery Giscard d›Estaing und seines deut-schen Kollegen Helmut Schmidt im Ministerrat der inzwischen in EG umgetauften »Europäischen Gemeinschaft« zu haben, der am 24. April 1972 eine »Zone stabiler Wechselkurse« ins Leben rief, den Europäischen Wechselkursverbund – bekannt auch als sog. »Währungsschlange« -, der die Schwankungen für die sechs Gründungsmitglieder der EWG mit ± 1,125 Prozent auf die Hälfte der IWF-Schwankungsbreite begrenzte, weshalb man auch von einer »Schlange im Tunnel« sprach und nach dem Ende von Bret-ton Woods 1973 von einer »Schlange ohne Tunnel«. Doch in den wirtschaftlichen Turbulenzen, die der Ölpreisschock 1973 in den westlichen Volkswirtschaften auslöste, kam die »Währungsschlange« bald »unter die Räder« unterschiedlicher Fi-nanz- und Wirtschaftspolitiken sowie stark abweichender Inflati-onsraten. Während Länder wie Frankreich ihre Wirtschaft mit »keynesianisch« orientierten Programmen anzukurbeln versuch-ten und sich dabei auch ihrer Notenbank bedienten, vertrat die sozialliberale Koalition in der Bundesrepublik unter Helmut Schmidt inzwischen einen »gemäßigten Monetarismus«, in der die unabhängige Bundesbank eine stabile, mit der Wirtschafts-entwicklung korrelierende Geldmengenpolitik zu betreiben hatte, wodurch der Staat sich selbst zwang, seine Ausgaben zu bändigen. Zwar stiegen während der 70er-Jahre in der Bundesre-publik die Preise insgesamt um reichlich 50 %, in Frankreich da-gegen aber um über 100 %, in Italien und Großbritannien sogar um über 200 %.

»Alle in einen Korb« – Der »ECU«

Seit 1974 wurde dann in Frankreich und Deutschland die Politik von zwei überzeugten Europäern als Staats- bzw. Regierungs-chefs bestimmt, die sich bereits zuvor in ihren Ländern als Fi-nanz- und Wirtschaftsfachleute profiliert hatten. 1978/79 brach-ten sie nahezu im Alleingang ein »Europäisches Währungssystem« (EWS) auf den Weg. Dabei verfolgten beide zunächst eigentlich gegensätzliche Kon-zepte: Frankreichs etatistisch-monetaristische Position ging davon aus, dass durch feste Wechselkurse die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder zur Anpassung gezwun-

gen würden und diese hinter sich her zögen (»Lokomotivtheorie«). Dagegen sah die ökonomistische Position des deutschen Kanz-lers eine gemeinsame Währung als Resultat – quasi als »Krö-nung« – einer vorausgegangenen gemeinsamen Konjunktur- und Wirtschaftspolitik an (»Krönungstheorie«). Doch die Unruhe auf den Devisenmärkten, wahrscheinlich auch das Vertrauen zu sei-nem Freund und politischer Takt gegenüber den prestigebewuss-ten Franzosen ließen Helmut Schmidt einlenken und seine Posi-tion zurückstellen. »Monetarismus hin, Ökonomismus her« – die beiden waren sich jedenfalls einig über den Primat der Politik in diesen für die Integration Europas existenziellen Fragen:Schmidt und Giscard war das EWS-Projekt »zu wichtig, um es den Währungsexperten zu überlassen. Stattdessen planten die beiden, das EWS von ›oben‹, ohne die Brüsseler und die nationalen Bürokratien einzu-beziehen, auf den Weg zu bringen.« (Leuchtweis, S. 39) Der Ausgangspunkt des EWS war wie bei der »Schlange« ein Ver-bund fester Wechselkurse mit einer tolerierten Schwankungs-bandbreite. Die spektakulärste Neuerung war dabei eine europä-ische Währung, die noch keine war – der »ECU«. Dabei handelte es sich um eine sogenannte »Korbwährung«, die so zustande kam, dass man alle beteiligten Währungen mit einem Anteil, wel-cher der wirtschaftlichen Bedeutung ihrer Länder entsprach, in einen Korb gab und daraus einen Mittelwert errechnete. Ein ECU entsprach danach etwa 2.- DM, doch er war kein reales Geld mit gemeinsamen Scheinen und Münzen, sondern nur eine Rechen-größe (ein »Leitkurs«), das für jede einzelne Währung ermittelt wurde, woraus sich die Wechselkurse zwischen den Währungen ergaben. Neben diesem »Wechselkurs-Mechanismus« (WKM) gab es einen Interventionsmechanismus der Notenbanken. Diese mussten eingreifen, wenn ihre Währung den Korridor von ± 2,25 Prozent zum ECU verließ. War in solchen Fällen eine Notenbank mangels Devisenreserven überfordert, kam das Prinzip des Währungsbei-standes zur Geltung, d. h. die anderen Zentralbanken gaben Kre-dithilfen. Und sollten sich die Gewichte zwischen den Partner-währungen zu sehr verschieben, dann konnten die Finanzminister einstimmig den Leitkurs der Währungen ändern. Der Wechsel-kursmechanismus funktionierte – dank der zentralen Rolle der DM – während der 80er-Jahre oberflächlich betrachtet recht gut, bis 1992 George Soros, »the man who broke the Bank of England«, eine internationale Währungsspekulation gegen das offensicht-lich völlig überbewertete Pfund organisierte, das Vereinigte Kö-

Abb. 2 Nach deutsch-französischen Konsultationen geben Bundeskanzler Hel-mut Schmidt (l) (Bundeskanzler: 1974–1983) und der französische Staatspräsi-dent Valery Giscard d›Estaing (Französischer Staatspräsident: 1974–1981) in Nizza, Frankreich, eine gemeinsame Erklärung ab. © picture alliance, UPI, 13.2.1976

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nigreich aus dem EWS aus-treten musste und Italien, Spanien und Portugal mit in den Strudel gezogen wurden. War das ein Zeichen, dass es noch zu früh für eine gemein-same Währung in Europa war?

1989 – »Binnenmarkt und deutsche Einheit«

Der relative Erfolg des EWS führte in den 80ern im Weite-ren zu Anstrengungen, die im EWG-Vertrag von 1957 be-reits angestrebten »vier Frei-heiten« für Waren und Dienstleistungen, Personen und Kapital zu vollenden und damit einen echten europäischen Binnenmarkt bis 1993 zu verwirklichen. Je näher man diesem Ziel kam, umso stär-ker wurde das Bedürfnis, für diesen Markt auch eine gemeinsame Währung, ein »echtes Geld« zur Verfügung zu haben und nicht nur eine zusätzliche gemeinsame Rechengröße, den ECU. Deshalb legte der aus Frankreich stammende Kommissionspräsi-dent Jacques Delors im April 1989 ein Konzept für eine Währungs-union in drei Stufen vor. In der ersten Phase sollten ab 1. Juli 1990 die Wirtschafts- und Währungspolitiken aufeinander abgestimmt werden, danach gemeinschaftliche Institutionen geschaffen und schließlich die nationalen Kompetenzen auf diese Gemein-schaftsorgane übertragen werden. In Frankreich begann gleichzeitig François Mitterand (Französi-scher Staatspräsident: 1981–1995) das Jahr 1989, das »Bicenten-naire« der Französischen Revolution von 1789, groß zu zelebrie-ren. Allerdings wendete sich die Weltöffentlichkeit in diesem Jahr zunehmend der »Friedliche Revolution in der DDR«, dem sich an-schließenden Fall der Berliner Mauer und schließlich der Implo-sion des »Arbeiter- und Bauernstaates« zu. Plötzlich und auch für fast alle »Staatenlenker« vollkommen überraschend stand spä-testens im Jahre 1990 die wieder virulent gewordene »deutsche Frage« auf der internationalen Tagesordnung, zumal bei den Sie-germächten des Zweiten Weltkriegs. Die internationalen Medien berichteten, wie Helmut Kohl relativ schnell die Initiative an sich gerissen habe (»10-Punkte-Plan«), die Amerikaner unter George Bush sen. relativ gelassen blieben und Mitterand sich nach und nach beruhigte. Dabei bleibt bis heute umstritten, wie souverän und vorausschauend insbesondere die westlichen Regierungschefs in dieser Situation handelten und wie visionär Kohls »10-Punkte-Plan« tatsächlich in diesem Zeit-fenster der Jahre 1989 und 1990 war. Zunehmend treten Stimmen auf, die argumentieren, dass auch Kohl mit seinem – zumindest für die westlichen Regierungschefs überraschenden »10-Punkte-Plan« – der tatsächlichen Dynamik in Ostdeutschland und Osteu-ropa nur hinterher hinkte. Die Leistung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michael Gorbatschow wurden dagegen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in der ganzen »westlichen Hemisphäre« geradezu hym-nisch gelobt. Bereits 1990 erhielt Gorbatschow den Friedensno-belpreis. Andererseits sträubte sich damals insbesondere die bri-tische Premierministerin Margaret Thatcher, genannt »die eiserne Lady« oder auch »Madame No«, lange Zeit gegen allzu weitgehende Beschlüsse in der deutschen Frage oder der europä-ischen Integration.Im Zuge der deutschen Entwicklung wuchs zudem bei vielen die Bereitschaft zu großen europäischen Lösungen, z. B. in der Wäh-rungsfrage. Die alte Formel des Kalten Kriegs, wonach die deut-sche Frage nur im Rahmen eines europäischen Prozesses gelöst werden könne, stand nunmehr unwiderruflich auf der Tagesord-nung.

Der Schlüssel für eine weitergehende europäische Integration lag dabei besonders im deutsch-französischen Verhältnis und in dem Einvernehmen, zu dem der deutsche Kanzler und der französi-sche Präsident nach zwei Monaten der Irritation im Januar 1990 schließlich zurückfanden.Noch 1985 hatte Mitterands Dolmetscherin Brigitte Sauzay des-sen Befürchtungen gegenüber den Deutschen als den »vertige allemand« (im Sinne von »Schwindel« oder »Schwanken«) be-schrieben. Sie geißelte die Unberechenbarkeit der Deutschen, deren Amerikahörigkeit, deren Bündnistreue zudem unvermittelt in »antiamerikanischen Ökopazifismus« und »Kernkraftverteufe-lung« umschlagen könne. Das Fazit dieser Sichtweise lautete: »Deutschland darf nicht wieder in die Isolierung geraten«. Und: »Jedem Franzosen ist – vielleicht noch mehr als den Deutschen – bewusst, dass beide Länder wirklich in einem Boot sitzen, dass eine unausweichliche Schicksalsgemeinschaft besteht (…).« (Sauzay, S. 273)

Der Euro – der »Preis für die Einheit«?

Im Dezember 1989 hatte Mitterand Helmut Kohls Bekenntnisse zu Europa und der europäischen Integration wohl noch eher als deklamatorische Taktik gedeutet und dabei nicht verstanden, wie sehr der deutsche Kanzler sich als geschichtsbewusster »Enkel Adenauers« sah, der ebenso wie Brigitte Sauzay die Deutschen als »schwankende Gestalten« betrachtete. Kohl war ebenso der fes-ten Überzeugung wie Mitterand, man müsse Deutsche und Fran-zosen deshalb in die westliche und europäische Völkerfamilie dauerhaft einbinden.In persönlichen Gesprächen merkten Mitterand und Kohl schließ-lich, dass ihre Ansichten über Deutschland und Europa weitge-hend symmetrisch waren: »Präsident Mitterrand bemerkt hierzu (…), man müsse gemeinsam vorgehen und die deutsche und die europäische Einheit gleichzeitig anstreben. Der Bundeskanzler wirft ein, dies sei das Schlüsselwort. (…) Aus seiner Sicht wäre das wichtig, dass die Menschen in Deutschland (…) das Gefühl hätten, es bleibe bei der deutsch-französi-schen Freundschaft, es bleibe bei der engen Kooperation Kohl/Mitterrand, es bleibe bei dem europäischen Kurs und im Elysée sitze ein Mann, der die Entwicklung in Deutschland mit Sympathie betrachte. Präsident Mitter-rand sagt hierzu: Das halte ich fest.« (Latché, Frankreich – BRD; 4.1.1990. Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand; DzD 682–690 Nr. 135; www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=04.01.90& sort=000–001).Nun, da die deutsche Einheit für ihn keine offene Frage mehr war, kam es Mitterand darauf an, »Deutschland möglichst schnell und unwiderruflich einzubinden.« Die alte bilaterale Balance »von Bombe und Mark« (Woyke 2000, 23), zwischen dem politisch-mili-tärischen Gewicht Frankreichs und dem ökonomischen Gewicht (West-) Deutschlands, war als Geschäftsgrundlage des deutsch-französischen Verhältnisses durch die Vereinigung nicht mehr tragfähig. Man musste stärker miteinander verschmelzen,

Abb. 3 Am 12. September 1990 wurde in Moskau das vereinte Deutschland als »gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinigten Europa« anerkannt. Es unterzeichneten die Außenminister der vier Siegermächte des 2. Weltkrieges: James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnadse (UdSSR) und Roland Dumas (Frankreich) – v. l. n. r. –. Dem Vertragswerk wurde ein »Gemeinsamer Brief« angehängt, der vom Außenminister der Bundesrepublik, Hans Dietrich Genscher (r.) und dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Lothar de Maiziere (2. v. r.) unterschrieben wurde. Die Verhand-lungen zum 2 + 4 Vertrag hatten am 5. Mai 1990 begonnen. © Thomas Uhlemann, EPA/STR, picture alliance

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musste die »Schicksalsgemeinschaft« her-stellen. Daher ist die immer wieder in den Medien zu lesende Auffassung, die »Aufgabe der D-Mark (sei) der Preis für die Einheit gewesen«, den die Deutschen hätten zahlen müssen, wohl sicher falsch. Besonders der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel weist dies bis heute immer wieder in öffentlichen Äußerungen mit Vehemenz zurück: »An dieser These ist nichts dran. (…) Der Euro ist genau im vorgesehenen Zeitplan gekommen. (…) Vielleicht hat die Währungsunion dazu beigetragen, Miss-trauen bei den Alliierten abzubauen.« (Der Spie-gel 39/2010: »Der Preis der Einheit«) Der Kanzler hatte schon auf dem Ratsgipfel vom 8./9. Dezember 1989 dem Wunsch Mitte-rands entsprochen, noch vor Ende 1990 eine Regierungskonferenz zur europäischen »Wirtschafts- und Währungsunion« (WWU) einzusetzen, und am 17. Januar 1990 hörte man in Helmut Kohls Pariser Rede einen Satz wie aus dem Buch von Brigitte Sauzay: »Die Bundesrepublik Deutschland steht ohne Wenn und Aber zu ihrer europäi-schen Verantwortung – denn gerade für uns Deutsche gilt: Europa ist unser Schicksal.«

»Big Bang« in Deutschland – ein Modell für Europa?

Der europäische Integrationszeitplan wurde in seinen wesentli-chen Etappen zeitgetreu eingehalten, obwohl sich der deutsche Einigungsprozess rasant entwickelte: Die DDR-Volkskammerwahl wurde auf den 18. März 1990 vorgezogen, die DM geriet im Wahl-kampf geradezu zum Symbol einer rasch herbeigeführten Ein-heit: »Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr!«Mit der ersten und letzten freien Wahl zur DDR-Volkskammer wurde schließlich ein Projekt entschieden, das terminlich exakt mit der ersten Stufe der europäischen WWU am 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte, gewissermaßen auf der Überholspur: die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« zwischen der Bundes-republik Deutschland und der DDR. Die Währungsunion, die der staatlichen Einheit vom 3. Oktober 1990 vorausging, wurde allerdings auf gänzlich andere Weise rea-lisiert, als dies für die europäische Währung je gedacht war. Kein langer Konvergenz-Prozess, sondern ein plötzlicher Schock – ein »Big Bang« – und die DM war die Währung zweier Staaten. Preise, Löhne und Gehälter glichen sich nachträglich über den Marktmechanismus an, Transferleistungen im Bereich der Sozial-versicherungen wurden stufenweise politisch angepasst. Diese Währungsunion wurde dadurch erleichtert, dass gleichzeitig das Wirtschaftssystem, die Sozialversicherungen und die entspre-chenden Rechtssysteme angeglichen und vereint wurden. Ein Vierteljahr später kam die staatliche Einheit. Eine solche Methode war aufgrund ihres umfassenden Charak-ters und der Bereitschaft zu umfassenden Transferleistungen von wenigstens einer Billion Euro zur Herstellung vergleichbarer Le-bens- und Wirtschaftsstrukturen erfolgreich, aber auf Europa in dieser Form nicht zu übertragen, handelte es sich dabei doch um das Ende eines Staates und seine Eingliederung in einen anderen. Für einen europäischen Bundesstaat aber war es bei weitem zu früh.

Der »Vertrag von Maastricht«

Da sofort nach dem 3. Oktober der Wahlkampf zur Bundestags-wahl am 2. Dezember 1990 einsetzte, wurde im Jahr der deut-schen Einheit das europäischen WWU-Thema an den Rand des

medialen Interesses gedrückt. Kaum hatten die Ostdeutschen die DM bekommen, wollte man sie nicht schon im ersten Viertel-jahr mit deren Abschaffung konfrontieren. Doch nach dem Wahlsieg der christlich-liberalen Koalition wur-den die Verhandlungen über den EU-Vertrag in zwei Regierungs-konferenzen zur politischen Union und zur WWU ab Dezember 1990 zügig vorangebracht. Die Bereitschaft der EG-Mitglieder zu einer vertieften Integration auch hinsichtlich der Währung zu ge-langen, folgte nicht nur der Logik des Binnenmarktes, sondern auch dem Wunsch einer unumkehrbaren Europäisierung des ver-einigten Deutschlands durch die Denationalisierung seiner Wäh-rung. Auch die Aussicht, bald die östliche Hälfte Europas in die Gemein-schaft zu integrieren, warf die Frage der »Vertiefung oder Erwei-terung« auf, die – vielleicht mit Ausnahme Großbritanniens – die meisten so beantworteten: »Wir müssen die Gemeinschaft festi-gen, damit sie handlungsfähig bleibt, wenn wir sie erweitern.« So wurde aus dem Delors-Plan des EU-Kommissionspräsidenten der »Vertrag für eine Europäische Union« (EUV), der am 9. bis 11. Dezember 1991 beschlossen, am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichnet wurde und am 1. November 1993 in Kraft trat. Die Europäische Union stellte alle bis dato vollzogenen europäischen Integrationsprozesse und Verträge unter ein gemeinsames Dach, das auf drei Säulen ruhen sollte: einer »supranationalen« Säule der EG-Verträge und des EURATOM-Vertrages (EG) sowie zweier »intergouvernementaler« Säulen der Außen-und Sicherheitspoli-tik (GASP) und der polizeilich-justiziellen Zusammenarbeit (PJZS). Als neues Kernstück der ersten Säule wurde die WWU zum ersten Mal Bestandteil des europäischen Vertragswerkes. Diese sollte in drei Stufen – entsprechend dem Delors-Bericht – realisiert wer-den, in deren erster die Staaten den freien Kapitalverkehr sicher-stellen, zu einer gemeinsamen Wechselkurspolitik übergehen, ihre Staatsschulden nicht mehr privilegiert finanzieren und Vor-bereitungen für eine konvergierende Fiskal- und Geldpolitik tref-fen sollten. Am 1. Januar 1994 trat die zweite Stufe in Kraft, in der die Organe der Währungsunion entstehen sollten: »ESZB« (Europäisches Sys-tem der Zentralbanken) und »EZB« (Europäische Zentralbank) – sowie Inhalt, Name, Design der gemeinsamen Währung.Mit Hilfe von Konvergenz-Kriterien sollte dazu geklärt werden, welche Länder die Voraussetzungen für die Teilnahme an der ge-meinsamen Währung besitzen. Als Übergangsinstitution und Vorläufer der EZB diente dabei das »EWI« (Europäische Wäh-rungsinstitut), in dem sich die Chefs der nationalen Notenbanken als Arbeitsgruppe ohne Entscheidungskompetenz zusammenfan-den.

Abb. 4 Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (l) (1983–1998) und der französische Präsident Fran-cois Mitterrand (1981–1995) 1993 in der französischen Stadt Beaune. © EPA/Ian Langsdon, picture alliance

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Die Mitglieder der künftigen Euro-Zone soll-ten ihren Notenbanken eine Unabhängigkeit verschaffen, für die die Deutsche Bundes-bank das Vorbild lieferte, Rat und Kommis-sion sollten Haushalte und Schuldenstand der beteiligten Länder überwachen, wobei jeder Staat für seine eigenen Verbindlichkei-ten zu haften hatte. Die organisatorischen und technischen Fragen wurden vom EWI zügig gelöst und der deutsche Finanzminis-ter Theo Waigel setzte entgegen französi-schen Wünschen (»ECU«) den Namen »Euro« für die gemeinsame Währung durch, die mit Beginn der dritten Phase am 1. Januar 1999 eingeführt wurde. Auch der Sitz der Europäi-schen Zentralbank Frankfurt am Main signa-lisierte aller Welt, dass diese Institution in der Tradition der politisch unabhängigen »Deutschen Bundesbank« stehen und vor allem der Geldwertstabilität verpflichtet sein würde. Die Konvergenzkriterien, die dem Beitritt zur gemeinsamen Währung zugrunde gelegt wurden, dienten dieser Zielsetzung. Mindes-tens zwei Jahre sollte jeder Beitrittskandidat stabile Wechselkurse eingehalten haben, seine Inflationsrate und seine langfristigen Zinsen sollten nicht mehr als 1,5 bzw. 2,0 % vom Durchschnitt der drei besten Mit-gliedsländer abweichen, vor allem aber war eine solide Haus-haltspolitik gefordert, nach der das Defizit nicht 3 % und die Ge-samtverschuldung nicht 60 % des nationalen BIP überschreiten durften. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1996 wurde das Kriterium für Haushaltsstabilität zu einem Dauerkriterium der Eurozone und ihrer Mitglieder gemacht, während die anderen Kriterien mit der Einführung des Euros hinfällig wurden. Die Konvergenz- bzw. Stabilitätskriterien waren und sind nicht unumstritten. So hielten Ökonomen das Inflationskriterium schlicht für überflüssig, war doch in der gemeinsamen Währung ohnehin die EZB und nicht die jeweilige Regierung für die Geld-wertstabilität zuständig. Nicht viel anders verhielt es sich mit den Wechselkursen. Der schwerfällige, umständliche und leicht aus-zuhebelnde Sanktionsmechanismus führte von Anfang an auch zu einer laxen Handhabung bei Verstößen gegen die Defizit- und Verschuldungskriterien. Da der Schuldenstand eines Landes nicht mehr mit einem Zinsaufschlag bestraft wurde, der von Gläu-bigern als Risikoprämie verlangt wurde, entfiel auch der ökono-mische Druck zu ihrer Einhaltung. All dies zeigte deutlich, dass die Konvergenz- und Stabilitätskriterien eher sozialpsycholo-gisch als währungspolitisch kalkuliert waren, d. h. der Beruhi-gung der Bevölkerungen dienten, während man wirksame Stabili-täts-elemente wie z. B. die Begrenzung des Wachstums der Geldmenge oder die Festlegung von Leitzinsen in einer Höhe, welche die Bildung spekulativer Blasen einschränkt, bewusst ver-mied. Vor allem wurden die grundlegenden Fragen des Zusam-menspiels und des Zusammenwachsens der Eurozone ausge-klammert, nämlich eine gemeinsame Konjunktur-, Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik. Keiner der Teilnehmer am neuen Währungssystem – auch die sich einst besonders stabilitätsbewusst gebenden Deutschen nicht – nahm diese Kriterien wirklich ernst. Als am 2. Mai 1998 der EU-Rat für elf Länder (Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Ir-land, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Finnland) entschied, dass sie die Voraussetzungen zur Ein-führung des Euro erfüllten, traf dies – den Kriterien entsprechend – streng genommen nur auf Luxemburg und Finnland zu. Belgien, Italien und das 2001 über eine Ausnahmeregelung als zwölftes Mitglied aufgenommene Griechenland überschritten das Ver-schuldungskriterium fast ums Doppelte, wobei Athen mittels einer »levantinischen« Berechnungsmethode seine Bilanzen

fälschte, was aber erstaunlicherweise niemanden besonders störte, denn auch andere saßen im Glashaus und »senkten« ihre Defizite für das statistisch relevante Jahr 1997 phantasievoll: Die Italiener erhoben eine rückzahlbare Euro-Steuer, der französische Staat ließ sich von der France Télécom ca. 6 Mrd. Euro in die Kasse spülen, für die er deren künftige Pensionsverpflichtungen über-nahm. Und Theo Waigel ließ als deutscher Finanzminister die Goldreserven der Bundesbank neu bewerten und den erhöhten Gewinn an den Fiskus ausschütten. Außerdem wurden Aktien der Deutschen Post und der Telekom an die staatliche KfW-Bank »verkauft« und die Einnahmen zur Habenseite des Haushalts um-gebucht. Im ersten Jahrzehnt der Währungsunion wurde das Haushaltsdefizit-Kriterium nach Schätzungen von Ökonomen rund 74 Mal verletzt. Unter den ersten befand sich Deutschland, das mit fünfmaligem Überschreiten der 3 %-Grenze als »Defizit-Sünder« sogar über dem Durchschnitt aller Euro-Länder lag. Nur wenige Länder – darunter Spanien – konnten bis 2010 noch das Verschuldungskriterium von 60 % einhalten.Als zusätzliches Disziplinierungsmittel zur Einhaltung der Defizit- und Verschuldungskriterien wurde dem »Maastrichter Vertrag« eine sog. »Nichtbeistands-Klausel« (»no bail out«-Formel) einge-fügt, welche die Haftung der Gemeinschaft und jedes Mitglieds-staates für die Schulden eines anderen Mitglieds ausschließen sollte. Kein Land sollte eine laxe Haushaltspolitik betreiben in der Erwartung, die anderen würden ihm schon aus der Patsche hel-fen. Ebenso wurde der künftigen Europäischen Zentralbank unter sagt, Staatsschuldentitel der einzelnen Länder direkt zu er-werben, weil auf diese Weise nationale Schulden ver ge mein schaf-tet würden. Diese Klauseln waren jedoch von Anfang an unglaub-würdig. Denn was würde im Ernstfall geschehen, wenn durch den bevorstehenden Bankrott eines Mitgliedstaates (»too big to fail«) die ganze Eurozone destabilisiert würde? Sie war auch wirtschaftlich unsinnig, indem sie Ausgleichsmecha-nismen geradezu ausschloss, die für eine fortschreitende wirt-schaftliche Integration und Kohäsion der Eurozone von Nöten waren. Der später ausgehandelte und zugestandene »Kohäsionsfonds« war in seiner Dimension weit entfernt von einem Transfersystem wie etwa dem des deutschen Länderfinanzausgleichs. Zum Drit-ten machte das Verbot des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB diese zu einer Zentralbank minderen Gewichts. Wie sich spä-ter herausstellen sollte, führten diese Regelungen dazu, dass die

Abb. 5 Die Konvergenzbedingungen zur Aufnahme in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion und den Euro © Zahlenbilder.de, Bergmoser + Höller Verlag AG

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schwächeren Mitglieder der Währungsunion den Attacken der Fi-nanzspekulation schutzlos ausgeliefert waren.Im Mai 1998 trat an die Stelle des EWI die »Europäische Zentral-bank« (EZB) mit einem sechsköpfigen Direktorium unter der Prä-sidentschaft von Wim Duisenberg, welche bis zum Ende des Jah-res abschließend die Vorarbeiten und Mechanismen zur Einführung des Euro einer letzten Prüfung unterzog. Am 1. Januar 1999 wurden auf der Basis des Wechselkursmechanismus (WKM – »ECU«) unwiderruflich alle Wechselkurse der Teilnehmer zum Euro festgelegt (z. B. 1 Euro = 1,95583 DM). Die EZB und die ihr untergeordneten nationalen Zentralbanken bildeten zusammen das »Europäische System der Zentralbanken« (ESZB), welches nun die alleinige Verantwortung für die Geldpolitik der Euro-Zone besaß. Für die Nicht-Euro-Länder wurde eine Nachfolgeregelung des »Wechselkurs-Mechanismus« (WKM II) geschaffen. Damit war man in die dritte Phase der WWU eingetreten, in wel-cher der Euro als Buchgeld die nationalen Währungen ersetzte, die aber als Zirkulationsmittel noch ein eigenständiges »Schein-Leben« bis zum 1. Januar 2002 führten, bis schließlich die Euro-Münzen und –Banknoten in Umlauf kamen. Während der ersten Jahreshälfte gestand man den Francs, DM, Lira, Peseten und ihren Geschwistern auch noch ein »Doppel-Leben« mit dem Euro zu.Betrachtet man die Währungsunion des »Maastrichter Vertrages« und seiner Folgeverträge in ihrer inneren Struktur, so ist die Handschrift unverkennbar: die EZB als politisch unabhängige No-tenbank, die Konvergenz- bzw. Stabilitätskriterien, die »No-bail-out-Klausel« – all dies folgte dem Wunsch zu einer geldpoliti-schen »Stabilitätsunion« nach deutschem Vorbild, von der sich alle einen ähnlichen Erfolg versprachen, wie ihn das DM-System vorzuweisen hatte. Andererseits untergruben aber gerade die sonst so »ökonomistischen« Deutschen mit dieser »monetaristi-schen« Konstruktion den Zusammenhang von Wirtschaft und Geld. Geld- und Finanzstabilitätspolitik ohne Rücksicht auf die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen und Verschiebungen zu betreiben, ist die fragwür-digste Form des Monetarismus. Die Krise der Eurozone liefert zur Zeit hierfür tagtäglich neue Beweise. Inzwischen haben sich große Gräben zwischen den nördlichen Eurostaaten und den Kri-senländern, den sog. PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien), aufgetan.Nach der durch die Deregulierung der internationalen Finanz-märkte ausgelösten internationalen Finanzkrise der Jahre 2008ff. und die sich anschließenden keynesianisch orientierten staatli-chen Ausgabenprogramme sowie Bankenrettungsmilliarden zeigten sich insbesondere in jenen PIIGS-Staaten die aktuelle Staatsschuldenkrise, die auch den Euro, obwohl sein Außenwert noch sehr stabil erscheint, in die Kritik gebracht haben. Gepaart ist diese Krise durch eine Einnahmekrise der Staaten, da sich auch die Eurostaaten im Zuge neoliberaler Wirtschaftspolitik im

letzten Jahrzehnt in ihren »flat-tax-Strategien« bei der Unterneh-mensbesteuerung quasi unterboten haben. Sparprogramme scheinen insbesondere die Niedriglohnsektoren sowie die staatli-chen Transferleistungen zu treffen. Für eine europaweite Trans-ferpolitik – wie z. B. im innerdeutschen Finanzländerausgleich – scheint keine politische Mehrheit in Sicht. Im Gegenteil: Antieuropäische und nationalistisch orientierte Gruppierungen bekommen bei Wahlen erhöhten Zulauf. Von einer politischen und sozialen Union scheint die EU im Moment weiter entfernt als noch vor der Einführung des Euro erhofft.

Literaturhinweise

Keßler, Ulrike (2002): Deutsche Europapolitik unter Helmut Kohl: europäi-sche Integration als »kategorischer Imperativ«?, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, u. a.: Deutsche Europapolitik von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Opladen, S. 115–166, S. 133ff.

Leuchtweis, Nicole (2004): In: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik S. 39, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.

Mohrmann, Günter: Europa und der Euro. www.sw-cremer.de/downloads/eu-ropaeuro.htm

Sauzay, Brigitte (1986): Die rätselhaften Deutschen. Bonn Aktuell Verlag, Stuttgart 1986. (Le vertige allemand, Éditions Olivier Orban, Paris 1985.)

Abb. 6 »… nur noch wenige tausend Tage!« © Horst Haitzinger, 5.12.1991

Abb. 7 »Aufbruch ins Euro-Land. Die neue Weltmacht?« © Der Spiegel, 1/1999

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MATERIALIEN

M 1 Deutsche Bundesbank: »Einführung des Euro ist eine europäische Erfolgsgeschichte«

Der Euro hat durch den Wegfall von Wechselkursrisiken und mehr Preistransparenz in der Europäischen Wäh-rungsunion die Rahmenbedingungen für Produktion und Handel im Binnenmarkt deutlich verbes sert. Die wachsende Integration der europäischen Finanzmärkte stärkte ebenfalls die realwirtschaftlichen Wachstum-sperspektiven. Nicht alle mit dem Euro verbundenen Er-wartungen im Vorfeld der Währungsunion erwiesen sich jedoch als realistisch: So hat sich der Euro nur begrenzt als Katalysator für wachstumsfördernde Strukturrefor-men erwiesen. Die Erwartungen an die gemeinsame Währung und die einheitliche Geldpolitik im Vorfeld waren durchaus heterogen. Nicht wenige Pessimisten sagten dem Euro eine geringe Lebenserwartung voraus. Manche Befürworter hofften, dass der Euro gleichsam Katalysator für Strukturreformen und damit für mehr Wachstum und Beschäftigung sein wird.Eine aus ökonomischer Sicht realistische Sicht auf den Euro durfte auf drei Feldern wirtschaftliche Vorteile er-warten: Preisstabilität im gesamten Währungsraum, mehr innereuropäischer Handel und zusammenwach-sende Finanzmärkte. Auf allen drei Feldern haben sich die Erwartungen weitestgehend erfüllt. Der Start der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion war insofern der Beginn einer europäischen Erfolgsgeschichte.Exakt beziffern lässt sich die positive Wirkung des Euro auf den Handel zwar nicht, da sich verschiedene Effekte überlagern, je-doch gehen selbst vorsichtige Schätzungen von 3–5 % mehr Han-del aus, andere von deutlich mehr. Davon profitierte nicht zuletzt die exportorientierte deutsche Wirtschaft, die mehr als 40 % aller Exporte innerhalb des Euro-Raums abwickelt. Zur Verbesserung der Wachstumsperspektiven trägt zweifellos auch bei, dass die Inte gration der europäischen Finanz- und Kapitalmärkte weiter vorangeschritten ist, wenngleich nicht in allen Segmenten im gleichen Ausmaß. Insbesondere streuen Anleger ihre Wertpapie-rinvestments, sei es in Renten, Aktien oder Investementfonds heute merklich breiter als vor der Einführung des Euro, wodurch sie ihre Risiken diversifizieren: So stammten bei Ansässigen des Euro-Raums 1997 nur 13 % der von ihnen gehaltenen Aktien und 12 % der langfristigen Schuldverschreibungen aus anderen Län-dern des Euro-Raums, Ende 2006 waren es hingegen 29 % bzw. 58 %. (…) Die globale Finanzmarktkrise hat insgesamt die stabili-sierende Wirkung des Euro unterstrichen. Banken innerhalb des gesamten Euro-Raums können sich zu gleichen Bedingungen kurzfristig Liquidität beim Eurosystem beschaffen. Diese Mög-lichkeit hat die Verspannungen am Geldmarkt erheblich abgemil-dert und so als Puffer gegen die globalen Finanzmarktschocks gewirkt – ebenso wie die Tatsache, dass es keine Wechselkurs-spannungen zwischen den Mitgliedstaaten des Euro-Raums mehr gibt.Der beste Beitrag, den die Geldpolitik für nachhaltiges Wirt-schaftswachstum leisten kann, ist Preisstabilität. Von monetärer Warte aus können indes nur stabilitätsgerechte Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum geschaffen werden. Dies ist gelungen. Die tatsächliche und die trendmäßige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts hängen jedoch von vielen Faktoren ab. Es wäre deshalb verfehlt, die Wachstumsraten oder die Ar-beitslosenraten in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Währungsunion zu stellen. Gerade die überaus optimistischen Erwartungen, dass die Währungsunion als Katalysator für struk-turelle Reformen wirken würde, haben sich nicht erfüllt. Hier wur-den zwar in den letzten Jahren überfällige Reformen in Angriff genommen.

Dies geschah jedoch primär aus nationalen wirtschaftlichen Zwängen heraus und ist damit weniger auf die veränderten Rah-menbedingungen in einer Währungsunion zurückzuführen. Zehn Jahre Erfahrung mit der Währungsunion haben gezeigt, dass die Mitgliedstaaten sehr wohl mit der einheitlichen Geldpolitik zu-recht kommen, sofern sie über die Flexibilität und Bereitschaft verfügen, sich über die in nationaler Verantwortung verbliebenen Bereiche der Wirtschaftspolitik an veränderte Rahmenbedingun-gen anzupassen. Vor allem die Finanzpolitik und die Lohnpolitik sind gefordert, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf länderspezifi-sche Umstände zu reagieren. Gleichwohl ist einzuräumen, dass das Verständnis für diese Zusammenhänge nicht in allen Staaten in gleichem Maße entwickelt ist. In Deutschland war es vor allem die moderate Lohnpolitik der letzten Jahre, die dafür sorgte, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbes-sert hat.

© Deutsche Bundesbank (2008): 10 Jahre Euro, www.bundesbank.de/10jahreeuro/ 10jahre euro_bewertung_1.php

M 3 Fritz Vorholz: »Kritik der Kritik« – Die ZEIT, 1992

Fast genau einen Monat nachdem sechzig deutsche Professoren ihre Bedenken publizierten, bieten nun acht andere Experten Pa-roli. Die Skeptiker, kontern die acht, überzeichnen »in erhebli-chem Maße die Risiken, die mit der Europäischen Währungsunion verbunden sind«.»Mir kommt es nicht darauf an, Maastricht als politisches Ereignis zu verteidigen«, bekennt Jürgen von Hagen, Professor für Volks-wirtschaftslehre an der Mannheimer Universität und einer der Autoren der vierseitigen Denkschrift. Sein Anliegen: »Wenn wir so weit wären, dass über die Währungsunion am Biertisch ernsthaft diskutiert würde, dann hätten wir schon viel erreicht. (…) Die Währungsunion wird nur möglich sein, wenn sie wirklich demo-kratisch getragen wird. Sonst droht ein Desaster. (…) Um den Boden zu bereiten, haben sich acht Währungsspezialis-ten gefunden, neben dem Mannheimer von Hagen Ökonomen aus London, Paris, Mailand, New York, Liege, Barcelona und Fon-

Verbraucherpreise im Euro-Raum*)

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* Daten vor 1991: G. Fagan et al., An area-wide model for the euro area, Economic Modelling, 22(1), S. 39-59. Ab 1991: Harmonisierter Verbraucherpreisindex. — s Für 2008 geschätzter Wert, Mittelwert der Eu-rosystem-Stabsprojektion, Dezember 2008.

Deutsche Bundesbank

s)

M 2 Es gibt keinen »Teuro«: Entwicklung der Verbraucherpreise: D-Mark (1971–1999) und Euro (seit 1999, Bargeld ab 2002). © Deutsche Bundesbank, 2009

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tainebleau. Sie alle sind der Auffassung, dass eine gemeinsame europäische Währung nicht zu jener politischen Zerreißprobe führt, die letztlich das Integrationsziel gefährdet, statt es zu fördern, wie die Maastricht Kriti-ker befürchteten. Die sagen voraus, dass in den wirtschaftlich schwächeren EG Ländern mehr Menschen arbeitslos werden, wenn die Wettbewerbsnachteile nicht mehr mit Hilfe der Wechselkurspolitik ausgeglichen werden können. Doch während die Maastricht Kriti-ker Europa als noch nicht reif für die Wäh-rungsunion ansehen, behaupten die Kritiker der Kritiker, dass die Integration schon so weit fortgeschritten sei, dass die Wechsel-kurse ohnehin längst keine geeigneten Inst-rumente der Wirtschaftspolitik mehr darstel-len.Die Erfahrung zeige, so die Gruppe um von Hagen, dass Wechselkursänderungen weder notwendig noch ausreichend seien, um die Konkurrenznachteile einer Region zu behe-ben. Das Auf und Ab einer Region werde durch technologische Veränderungen, Änderungen im Nachfra-geverhalten oder politische Entwicklungen bestimmt. Dadurch ausgelöste Wettbewerbsprobleme könnten letzten Endes nur durch niedrigere Löhne und Preise ausgeglichen werden. Wech-selkursänderungen dagegen »bewirken wenig, um solche real-wirtschaftlichen Probleme zu lösen, und die Währungsunion wird ihre Lösung letztlich weder nachhaltig verbessern noch erschwe-ren »Damit nicht genug: Selbst kurzfristig seien Wechselkursänderun-gen zwischen den EG-Partnerländern, keine wirksame Medizin mehr, weil die Produktionsprogramme der einzelnen Mitglieds-länder über Zulieferbeziehungen innerhalb derselben Branche schon zu starr verwoben seien (vertikale Arbeitsteilung): »Damit wird der Wechselkurs zu einem relativ ineffizienten Instrument, dessen Einsatz nicht auf die Erfordernisse einzelner Märkte aus-gerichtet werden kann.« (…) Um die drohende Arbeitslosigkeit in den schwachen Mitgliedsländern zu mildern, hatten die sechzig deutschen Professoren die Notwendigkeit von »hohen Transfer-zahlungen im Sinne eines Finanzausgleichs« diagnostiziert, für den jedoch »ein demokratisch hinreichend legitimiertes Rege-lungssystem« fehle. Dahinter steht die Befürchtung, dass ohne solchen Finanzausgleich die schwachen Regionen immer stärker zurückfallen, weil sich die noch im Arbeitsleben stehenden Men-schen durch Abwanderung den unerwünschten Effekten von hö-heren Steuern oder sinkenden Staatsausgaben entziehen werden und dadurch eine abwärts gelichtete Spirale in Gang setzen.Diese Befürchtung halten die acht für unbegründet: Sprachbarri-eren und kulturelle Unterschiede sorgten dafür, dass die Mobili-tät in Europa auf absehbare Zeit geringer bleibe als beispiels-weise in den Vereinigten Staaten. Konsequenz: »Die Mitgliedstaaten der EG werden daher sowohl die Möglichkeit zu als auch einen Bedarf an eigenständiger Fiskalpolitik behalten.« Diese Politik mit Hilfe von Staatseinnahmen und -ausgaben, so die Prognose der Gruppe um von Hagen, wird in Zukunft sogar besser und demokratischer werden. (…) Die Fiskalpolitik muss in den Parlamenten diskutiert und beschlossen werden. (….)Zwar teilen die acht Währungsspezialisten die Befürchtung, dass eine Währungsunion zu unsolider Geldpolitik führen könnte. Aber sie sehen die Maastrichter Beschlüsse in einem positiveren Licht als die sechzig deutschen Professoren. Gegenüber der Bun-desbank habe die Europäische Zentralbank (EZB) zwar nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile. Verglichen aber mit den elf anderen Zentralbanken, verspreche sie politisch unabhängiger zu sein und könne deshalb die Preisstabilität besser verteidigen. (…)

© Fritz Vorholz: Kritik der Kritik, Die ZEIT, 10.7.1992

M 5 »Der Irrweg von Maastricht«

Die Europäische Union (EU) befindet sich in der größten Krise seit ihrer Gründung. Der Ursprung dieser Krise liegt in der Kons-truktion der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Die Archi-tekten der Maastrichter Wirtschafts-und Sozialverfassung glaub-ten, die WWU ohne politische Union in Angriff nehmen zu können. Sie stellten der währungspolitischen Integration keine wirtschaftspolitische Integration zur Seite. Die einheitliche Wäh-rung sollte es ohne eine europäische Sozialverfassung geben. Für diesen asymmetrischen Weg in die Währungsunion gab es eine breite politische Unterstützung, wenn auch mit unterschiedli-chen Begründungen. Ein Teil der Befürworter war der Auffassung, dass die Einführung des Euros ein erster Schritt zur Vertiefung der ökonomischen und sozialen Integration der Union sei, dem durch sogenannte spill over-Prozesse1 weitere folgen würden. Diese Po-sition war insbesondere unter den sozialdemokratischen und so-zialistischen Parteien Europas und in der europäischen Gewerk-schaftsbewegung stark vertreten. Eine andere Gruppe unter den Anhängern des Maastrichter Vertrags vertrat die neoliberale Po-sition, dass der beschrittene Weg genau das richtige Konzept sei, um in der EU eine monetäre Wirtschaftspolitik zu betreiben, schließlich sei die Fiskalpolitik ohnehin überholt. Die Neolibera-len hofften, dass das Maastrichter System die nationalen Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken in ein Wettbewerbsverhältnis setzen würde. Durch ein solches System der Wettbewerbsstaaten kön-nen europaweit die Staatsquoten sinken und die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften geschwächt werden. Kritiker des Maas-trichter Weges bezweifelten die unterstellten spill over-Prozesse und wiesen darauf hin, dass eine gemeinsame Währung ohne Ein-bettung in eine echte politische, wirtschaftliche und soziale Union scheitern muss. Der Verlauf der europäischen Integration seit Anfang der 1990er Jahre und die aktuelle tiefe Krise der Euro-zone offenbaren, dass das Maastrichter Projekt ein Irrweg war. Heute ist der gesamte Integrationsprozess gefährdet. (…) Erforderlich ist zuallererst eine neue europäische Strategie für qualitatives Wachstum und Beschäftigung, die berücksichtigt, dass die Staatsschulden nicht durch Sparmaßnahmen, sondern nur durch Wachstum reduziert werden können. (...) Die aktuelle Integrationskrise sollte als Chance begriffen werden, weitere Schritte zur Verwirklichung einer politischen Union in Europa zu machen.

© Busch, Klaus/Hirschel, Dierck: Europa am Scheideweg, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2011

M 4 »Währungsunion, Europäischer Stabilitätspakt … und die Folgen« © Gerhard Mester, 2011

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Artikel 21 des Grundgesetzes »Bundesrecht (»breche«) Landes-recht« – der absolute Vorrang der Rechtsordnung der Europäi-schen Union eine Selbstverständlichkeit. Die Europäische Union sei aber auch kein gewöhnlicher Staatenverband, der über keine übergeordnete Herrschafts- und Rechtsetzungsmacht verfüge, sondern weise mit einer beträchtlichen Rechtsetzungshoheit und administrativen Befugnissen wie zum Beispiel der Wettbewerbs-aufsicht über die Wirtschaft sowie die Subventions- und die Haushaltsaufsicht über die Mitgliedstaaten bundesstaatsähnli-che supranationale Ausprägungen auf. Mit ihrer Zielsetzung, eine immer engere Union der Völker und Staaten Europas zu begrün-den, gestalte die Europäische Union ein Integrationsprogramm, das sie von den Funktionen klassischer Staatenverbände be-trächtlich abhebe. Die Aufgaben, mit denen sie betraut sei, schlössen es aus, dass die Europäische Union bei der Ausübung der ihr übertragenen Rechtssetzungsmacht und administrativen Verwaltungshoheit auf den Vorrang ihrer Rechtsordnung vor dem Recht und der Verfassung der Mitgliedstaaten wie ein gewöhnli-cher völkerrechtlicher Verbund souveräner Staaten verzichte. Auch der Vorrang ihrer gerichtlichen Rechtsprechung vor der na-tionalen gerichtlichen Rechtsprechung bis hin zu der Rechtspre-chung der nationalen Verfassungsgerichtshöfe müsse uneinge-schränkt gewährleistet sein, damit die Europäsche Union ihre Aufgabe, sich als Integrationsmotor zu entfalten, erfüllen könne. Wäre der Vorrang des Rechts der Europäischen Union und mit ihm die einheitliche Geltung ihrer Gesetze in allen Mitgliedstaa-ten nicht gewährleistet, sei der Integrationsauftrag der Europäi-schen Union hinfällig. Der Vorrang des Rechts der Europäischen Union blockiere den Gesetzgeber der Mitgliedstaaten, indem er unionsrechtliche Regelungen davor schützte, dass sie durch die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten bei ihrer Anwendung in den Mitgliedstaaten behindert oder nachträglich aufgehoben wür-den. Ohne ihn stünde die Vielzahl der gesetzlichen Regelungen der Europäischen Union, wenn auch nicht politisch, so doch je-denfalls verfassungsrechtlich, zur Disposition jedes einzelnen na-tionalen Gesetzgebers. Zum Beispiel könnte eine unionsrechtli-che Regelung des Zollrechts oder des Steuerrechts, wenn sie nicht durch die Überordnung des Rechts der Europäischen Union

Das Bundesverfassungsgericht – nicht aller Deutschen liebste Institution – sichert nicht nur als seine Hauptauf-

gabe die Geltung und Wahrung des Grundgesetzes durch alle staatlichen Organe. Im Zuge der Einbindung Deutschlands in den europäischen Integrationsprozess ist ihm zusätzlich die Rolle eines Wächters und in jüngster Zeit sogar eines Boll-werks gegen fehlerhafte Entwicklungen des europäischen Verfassungsprozesses zugewachsen. Es nimmt dabei mit Ge-lassenheit in Kauf, dass es mit dem Europäischen Gerichtshof in Konflikt gerät, für den die Unterordnung aller Gerichte der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Verfassungsgerichts-höfe zu seinem Selbstverständnis zählt. Seine Rolle im System des gerichtlichen Rechtsschutzes der Europäischen Union zählt zu den leidenschaftlich kontrovers diskutierten Themen der Europarechtslehre und Europapolitik.

Anspruch der EU auf Vorrang ihrer Rechtordnung

Dem Gerichtshof der Europäischen Union obliegt die Wahrung und Sicherung des Rechts der Europäischen Union in den Mit-gliedstaaten und dabei vor allem dessen einheitliche Geltung. Seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts vertritt der Europäische Gerichtshof die Auffassung, dass bei einem Konflikt mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten das Europäische Unionsrecht (ehemals: »Gemeinschaftsrecht«) Vorrang vor jedwe-dem nationalen Recht, d. h. auch vor dem Verfassungsgerecht der Mitgliedstaaten, habe. Die nationalen Gerichte, die das Recht der Europäischen Union – ihre Gründungs- und die Folgeverträge wie zum Beispiel den Vertrag von Lissabon, ihre Verordnungen, die Richtlinien sowie ihre Entscheidungen und rechtsverbindlichen Beschlüsse – anzuwenden habe, dürften im Falle eines Konfliktes das nationale Recht nicht anwenden. Der Anspruch der Europäi-schen Union auf Vorrang ihrer Rechtsordnung geht so weit, dass im Konfliktfall auch die Rechtsprechung des Europäischen Ge-richtshofes Vorrang vor der Rechtsprechung nicht nur der unte-ren nationalen Gerichte, sondern auch vor der Rechtsprechung der obersten Gerichte der Mitgliedstaaten habe. Selbst die Ver-fassungsgerichtshöfe hätten sich dem Europäischen Gerichtshof widerspruchslos unterzuordnen. Sofern ein Gericht, auch ein Ver-fassungsgericht, seiner Verpflichtung zur Unterordnung nicht nachkomme, mache sich der Mitgliedstaat, der für Missachtun-gen des Europarechts durch seine Gerichte wie für Missachtun-gen des europäischen Rechts durch seine Verwaltungsbehörden, beispielsweise durch ein Finanzamt, europarechtlich hafte, eines Verstoßes gegen vertragliches Unionsrecht, d. h. gegen das Ver-fassungsrecht der Europäischen Union, schuldig. Die nationale Regierung und der nationale Gesetzgeber müssten – erforderli-chenfalls durch eine Änderung der gerichtlichen Verfahrensord-nung – gegen eine Rechtsprechung seiner Gerichte, die sich nicht subordiniere, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschreiten; ein Mitgliedstaat riskierte, falls er nichts unter-nähme, eine Klage der Kommission vor dem Europäischen Ge-richtshof wegen eines von ihm als Mitgliedstaat durch sein Ge-richt begangenem Rechtsverstoßes, die mit Sicherheit erfolgreich sein würde. Die Europäische Union sei zwar – so die Kommenta-toren und Verteidiger der Auffassung des Europäischen Gerichts-hofes – ein Staatenbund und kein Bundesstaat. Wäre die Europä-ische Union ein Bundesstaat, würde – wie in Deutschland nach

DIE SCHULDENKRISE IN EUROPA

9. Das Bundesverfassungsgericht im System des Europäischen Unionsrechts

MARTIN SEIDEL

Abb. 1 »Eurorettungsschirm, halt mal!.« © Luff, Rolf Henn, 2011

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D&ED a s B und e s v er fa s s un gs ger i ch t im S y s t e m d e s Eur o pä is che n Uni o n s r ech t s Heft 63 · 2012

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geschützt wäre, die der Vorrang gewähr-leiste, von jedem Mitgliedstaat – für seinen nationalen Geltungsbereich – beliebig auf-gehoben oder geändert werden. Bedürfe eine unionsrechtliche Reglung des Steuer-rechts oder des Zollrechts einer Änderung oder der Aufhebung, seien das Europäische Parlament und der Rat als gemeinsamer Ge-setzgeber der Europäischen Union gefordert. Allenfalls dann, wenn er vom Unionsgesetz-geber hierzu ermächtigt worden sei, dürfe sich der Gesetzgeber eines Mitgliedstaates über eine unionsrechtliche Regelung hin-wegsetzen. Mit dem Europäischen Gerichts-hof vertreten daher neben allen Organen der Europäischen Union und der Europarechts-lehre auch die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten – wenn auch nicht frei von jeglichen Vorbehalten – die Auffassung, dass der Zweck und die Funktion der europä-ischen Rechtsordnung grundsätzlich ihre Unantastbarkeit durch den nationalen Ge-setzgeber erfordere. Die Festlegungen auf ein »gemeinsames Recht in Europa«, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen des Integrationsprozesses politisch mühsam erreicht würden, müssten dem autonomen Zugriff der Mitgliedstaaten entzogen sein und dürften nur durch den Unionsgesetzgeber ge-ändert werden. Für den Vorrang ihres Rechts vor nationalem Recht, der dem Verfassungsrecht der Europäischen Union zuzu-ordnen ist, bräuchte letztlich weder die quasi bundesstaatsähnli-che Struktur noch das Vorrangprinzip des Bundesstaates in ana-loger Anwendung bemüht zu werden. Der unionsrechtliche Vorrang stütze sich darauf, dass die Rechts- und Verfassungsord-nung der Europäischen Union ohne diesen nicht die ihr zuge-dachte und obliegende Funktion erfüllen könne, d. h. als unauf-lösbare Klammer des jeweiligen politisch erreichten Fortschrittes und Standes der Integration der Völker und Staaten zu wirken.

Spannungsverhältnis zwischen EUGH und BVerfG

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben als ihr Ver-trags- und damit Verfassungsgeber den vom Europäischen Ge-richtshof reklamierten Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten ungeachtet mehrerer Gelegenheiten bislang zu keiner Zeit in das vertragliche Unionsrecht übernommen. Auf keiner der Regierungskonferenzen der Vergangenheit (Paris 1951, Rom 1957, Luxemburg 1985, Maastricht 1991, Amsterdam 1985, Nizza 2000) stand die Aufnahme des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrecht in das vertragliche Unionsrecht (vormals: »Ge-meinschaftsrecht«) auf der Tagesordnung. Erstmalig hatte der Vertrag »über eine Verfassung für Europa«, der im »Konvent für Europa« erarbeitet und von den Regierungen gebilligt worden war, später aber als Folge des negativen Ausgangs der Referen-den in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte, die Veran-kerung des Vorrangprinzips im vertraglichen Unionsrecht vorge-sehen. Obgleich die Mitgliedstaaten später auf der Konferenz von Lissabon bestrebt waren, die Regelungen des gescheiterten Ver-fassungsvertrages möglichst unverändert zu übernehmen, haben sie den betreffenden Artikel über den Vorrang des Unionsrechts – der nach inoffiziellen Verlautbarungen auf eine Einhegung des Bundesverfassungsgerichts abzielte – nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen, vielmehr in eine dem Vertrag von Lissa-bon angehängte Erklärung verschoben. Erklärungen zu völker-rechtlichen bzw. unionsrechtlichen Änderungsverträgen dieser Art sind rechtlich jedoch nicht verbindlich, sodass das Vorrang-prinzip auch nach dem Vertrag von Lissabon nur richterrechtli-ches Unionsrecht und nicht dem förmlichen Vertrags- und Verfas-sungsrecht der Europäischen Union zugehörig ist.

Illegale Opposition oder Wahrnehmung einer legitimen Wächterrolle?

Das Bundesverfassungsgericht stellt den Vorrang der Rechtsord-nung der Europäischen Union vor mitgliedstaatlichem Recht kei-neswegs schlechthin in Frage. Es bekennt sich auch unmissver-ständlich zu Europa und dessen Bestrebungen zur politischen und rechtlichen Einigung. Seine Einwendungen, die sich aus einer inzwischen zunehmend substantiierten Rechtsprechung erge-ben, betreffen lediglich Aspekte der Entwicklung des Integrati-onsprozesses.

Sicherung der »Grundrechtsschutzes des deutschen Grundgesetzes«

Die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Anfangsjahren der europäischen Integration befassen sich mit dem Grundrechtsschutz der Europäischen Union. Sie bezwe-cken erklärtermaßen, den Standard des Grundrechtsschutzes, den das deutsche Grundgesetz gewährleistet, gegenüber einer Absenkung und Aushöhlung zu sichern, die durch die Entwick-lung in Europa zu befürchten waren. Der Vertrag über die Grün-dung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft enthielt, ob-wohl sich die deutsche Delegation bei seiner Aushandlung um die Aufnahme von Grundrechten – vergeblich – bemüht hatte, keine Grundrechte. Da sich ferner der Europäische Gerichtshof zu-nächst nicht ersatzweise zur Anerkennung von Grundrechten durch seine Rechtsprechung bereit zu zeigen schien, befürchtete nicht nur das Bundesverfassungsgericht, dass das sich zuneh-mend ausbreitende Europäische Gemeinschaftsrecht, wenn es kraft seines Vorrangs die deutschen Grundrechte verdrängen würde, sich in Deutschland in einem grundrechtsfreien Raum entfalten könnte. Ohne die verdrängten grundrechtlichen Garan-tien des Grundgesetzes gäbe es in Deutschland, das den Grund-rechtsschutz sehr hochhielte, gegenüber dem europäischen Recht keinen möglicherweise erforderlich werdenden Grund-rechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht entschied daher in seinem wegweisendem Beschluss aus dem Jahr 1974, der als »So-lange – I – Entscheidung« in die Geschichte eingegangen ist, dass es den Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts für Deutschland nicht anerkennen könne, solange die Europäische Gemeinschaft keine den Grundrechten des Grundgesetzes gleichkommenden Grundrechte anerkenne. Angetrieben durch die vom Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch genom-mene Befugnis, notfalls einer gesetzlichen Maßnahme der Euro-

Abb. 2 »Noch ein Rettungsschirm …« © Horst Haitzinger 2011

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päischen Union wegen eines Grundrechtsverstoßes in Deutsch-land die Geltung zu versagen, war der Europäische Gerichtshof, unterstützt durch die Kommission, erkennbar bemüht, im Rah-men seiner richterlichen Spruchpraxis systematisch für die Euro-päischen Rechtsordnung eigene Grundrechte rechtsschöpferisch aus den gemeinsamen Grundprinzipien der Verfassungsrechts-ordnungen der Mitgliedstaaten herzuleiten. In einem zweiten ebenso bedeutsamen Beschluss aus dem Jahr 1986, der als sog. »Solange- II-Entscheidung« in die Geschichte eingegangen ist, hat dann das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass es, so-lange die Europäische Gemeinschaft nunmehr ihrerseits Grund-rechte gleicher Art wie die nationalen Grundrechte anerkenne, von seiner Prüf- und Verwerfungskompetenz keinen Gebrauch machen werde.

Abwehr kompetenzüberschreitenden Handelns der Europäischen Union

Seit einem Urteil aus dem Jahr 1993 nimmt das Bundesverfas-sungsgericht inzwischen die Befugnis für sich in Anspruch, Rechtsakte der Europäischen Union (d. h. Verordnungen, Richtli-nien sowie Entscheidungen) und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs darauf hin zu überprüfen, ob sie sich im Rahmen der Regelungs- und Entscheidungskompetenzen hal-ten, die der Europäischen Union übertragen worden sind. Für den Fall, dass die Kompetenzen überschritten werden, es sich um sog. »utra vires« ergangene oder »ausbrechende Rechtsakte« handele, betrachtet sich das Bundesverfassungsgericht für be-fugt, die Rechtsakte in Deutschland für unwirksam zu erklären. Die Europäische Union ist kein Staat, auch kein Bundesstaat, dem zum einen eine umfassende Regelungskompetenz und außerdem die Kompetenz zusteht, aus eigener Kraft weitere Kompetenzen für sich zu begründen (sog. »Kompetenz-Kompetenz« des Staates). Der Europäischen Union sind anders als einem Staat Handlungskompetenzen und Regelungsbefugnisse von den Mit-gliedstaaten nach dem sog. »Prinzip der begrenzten Einzeler-mächtigung« übertragen, die weder zusammen noch jede für sich eine »Kompetenz-Kompetenz« begründen. Alle Organe der Euro-päischen Union sind vertragsrechtlich gehalten, ihre Kompeten-zen nicht zu überscheiten, vielmehr strikt im Rahmen ihrer Ein-zelermächtigungen zu handeln. Aus der Sicht der Mitgliedstaaten, namentlich Deutschlands, neigt indes die Europäische Union, namentlich das Europäische Parlament und der Rat als ihre Ge-setzgeber dazu, vielfach »im Eifer des Gefechts« und guten Glau-bens »ultra vires« zu handeln und die Grenzen ihrer Kompetenzen zu überschreiten. Zur Rechtfertigung wird dabei auf die auf die sog. »Dynamik des Integrationsprozesses« verwiesen, die, soweit die europäische Zielsetzung gewahrt sei, auch ein gelegentliches kompetenzüberschreitendes Handeln legitimiere. Das Bundes-verfassungsgericht vertritt gegenüber dieser Praxis und deren Rechtfertigung die grundsätzliche Auffassung, dass die Grenzen der Kompetenzen der Europäischen Union nicht durch Ziele des Integrationsprozesses und der Verträge, sondern nur durch ihre gegenständliche Umschreibung abgesteckt seien, d. h. ein Schluss von den Zielen auf die Kompetenzen unzulässig sei. Vor allem müsse jegliche Ausübung der der Europäischen Union übertragenen Regelungskompetenzen und Hoheitsbefugnisse demokratisch legitimiert sein, was bei einer Überschreitung des Kompetenzen, die sich aus der viel beschworenen Dynamik des Integrationsprozesses ergebe, nicht notwendig der Fall sei. Die demokratische Legitimierung für ihr Handeln erhielten die Or-gane der Europäischen Union durch die nationalen Parlamente, die den vorausgegangenen Befugnisübertragungen zuzustim-men hatten. Deren Zustimmung umfasse aber die übertragenen Hoheitsrechte indes nur in den Grenzen, in denen sie sich im Zeit-punkt der Übertragung darstellten. Überdehnungen oder Über-schreitungen ihrer Kompetenzen durch die Organe der Europäi-schen Union können zumindest dann nicht von der Zustimmung

der Parlamente als mit umfasst und damit demokratisch legiti-miert angesehen werden, wenn sie bei der Einräumung der Kom-petenzen für die Parlamente nicht sichtbar waren und nicht in Kauf genommen werden konnten. Das Europäische Parlament verschaffe dem europäischen Gesetzgeber bei der – möglicher-weise grenzüberschreitenden – Ausübung seiner Kompetenzen zwar bedeutsame zentrale Legitimation, nicht aber bei fehlender lateraler Legitimation durch die nationalen Parlamente in ausrei-chender Weise Ersatzlegitimation. Das Europäische Parlament sei als ein Vielvölkerparlament mit einem echten Bundesparla-ment nicht vergleichbar. Seine Abgeordneten seien nicht Vertre-ter einer »civitas europaea«, d. h. einem als Willens- und Schick-salsgemeinschaft zu begreifenden Verbund aller Unionsbürger, sondern jeweils Vertreter des Volkes des einzelnen Mitgliedstaa-tes. Sie werden außerdem nicht nach dem demokratischen Grundsatz der Gleichheit des Wahlrechts gewählt, sodass die Stimmen der Unionsbürger bei Entscheidungen des Europäischen Parlaments beträchtlich unterschiedliches Gewicht haben. Die »Ultra vires«-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts gilt in erster Linie Kompetenzen, die nicht auseichend gegenständlich umschrieben oder zu umschreiben sind und daher im Zuge der Dynamik, der dem Integrationsprozess eigen ist, leichter einer grenzüberschreitenden Inanspruchnahme zugänglich sind. Indes brauchte das Bundesverfassungsgericht bislang noch keinem Rechtsakt der Europäischen Union, insbesondere auch noch kei-nem Urteil des EUGH, in Deutschland mangels nicht ausreichen-der demokratischer Legitimation die Wirkung zu versagen.

Die »Integrationsverantwortung« der deutschen Verfassungsorgane

Das Bundesverfassungsgericht ist darum bemüht, es zu einer Kontrolle und zu einer etwaigen Verwerfung »ausbrechender Rechtsakte« nicht erst kommen zu lassen. Mit einem Urteil aus dem Jahr 2009 hat es für sog. „offene Regelungskompetenzen« für die in Deutschland bei der Ausübung dieser Kompetenzen be-teiligten Organe eine besondere Regelung getroffen, durch die das Defizit und die Lücke an Demokratie bei ihrer Inanspruch-nahme behoben werden. Die deutsche Regierung ist als Mitglied des Rates nach der Neuregelung der »Integrationsverantwor-tung« vor ihrer Beteiligung, insbesondere vor ihrer Zustimmung im Rat von Verfassungs wegen verpflichtet, eine Ermächtigung des Bundestages – sowie erforderlichenfalls zusätzlich des Bun-desrates – in Form eines Gesetzes, in weniger gravierenden Fälle in Form eines vereinfachten Beschlusses einzuholen und ist damit bei der Ausübung ihres Stimmrechts im Rat an Weisungen des deutschen Gesetzgebers gebunden. Mit der Einbindung des Bun-destages und des Bundesrates in die Ausübung offener Kompe-tenzen oder von Kompetenzen, die als Folge der Dynamik des In-tegrationsprozesses unvorhersehbarer Weise anders als bei der Übertragung angenommen ausgeübt werden, ist dadurch nun-mehr die demokratische Legitimierung gewahrt. Die lediglich innerstaatlich zur Wirkung gelangende Regelung der »Integrationsverantwortung« schützt nicht gegen jegliches Handeln der Organe der Europäischen Union, das die ihr gesetz-ten Grenzen überschreitet. So ist der Europäischen Zentralbank durch das Verbot der Finanzierung mitgliedstattlicher Haushalte durch Zentralbankkredite – sog. »monetäre Finanzierung« – sowie durch das auch für sie geltende Verbot eines finanziellen Beistands zugunsten von in Haushaltsnot geratener Mitglied-staaten der Währungszone der Erwerb staatlicher Anleihen dieser Mitgliedstaaten, sofern dieser nicht aus geldpolitischen Gründen erforderlich ist, europarechtlich verboten. Die Aufkäufe der An-leihen können nämlich längerfristig über eine mit ihnen verbun-dene Geldentwertung Einkommensverschiebungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und außerdem auch innerhalb der ein-zelnen Mitgliedstaaten zwischen Bevölkerungsgruppen nicht kontrollierbare und sozialpolitisch nicht unvertretbare Folgen

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haben. Ob die Ankäufe der Europäischen Zentralbank und durch die in die Ankaufsaktion einbezogenen nationalen Zentralbanken als »ausbrechende Rechtsakte« im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzustufen sind und in welcher Form ihnen in Deutschland gegebenenfalls die Wirkung versagt wer-den kann, sind offene Fragen.

Grenzziehungen des Grundgesetzes für die Übertragung von Befugnissen

Anders ausgerichtet als die Kompetenzkontrolle ist die vom Bun-desverfassungsgericht für sich in Anspruch genommene und in jüngster Zeit verstärkt ins Rampenlicht geratene Befugnis, für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ab-solute Grenzen zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die Ermächtigungen des Grundgesetzes für eine Beteiligung Deutschlands an einer etwaigen Umwandlung der Europäischen Union von einem Staatenbund in einen Bundes-staat nicht ausreichen. Die Äußerung des Bundesverfassungsge-richts ist insofern nicht verständlich, als die Erfahrungen der Ver-gangenheit mit bloßen Anläufen zu einer Umwandlung der Europäischen Union in einen Bundesstaat keinen Anlass zu der Befürchtung geben, dass in absehbarer Zeit mit einer Umstruktu-rierung der derzeitigen »United Nations of Europe« zu einem bundesstaatlichen »United Europe« zu rechnen ist. Das Bundesverfassungsgericht zieht des Weiteren »zur Erhaltung des sog Identitätskerns der Verfassung« einer Übertragung von Hoheitsrechten auf die staatenbündische Europäische Union eine Grenze insofern, als seiner Auffassung nach Kernfunktionen der deutschen Staatlichkeit nicht auf die Europäische Union verlagert werden dürfen. Die europäische Einigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten dürfe nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibe. Dies gilt nach Auffas-sung des Bundesverfassungsgerichts »insbesondere für Sachbe-reiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverant-wortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit« prägten, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständ-nisse angewiesen seien, und die sich im parteipolitisch und parla-mentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalteten.« Zu den nach Auffassung des Bundesver-fassungsgerichts den Mitgliedstaaten vorbehaltenen »integrati-onsfesten« staatlichen Handlungsbereichen zählt nicht das Geld- und Währungswesen, das beispielsweise nach britischem Verfassungsverständnis als staatliche »core function« der Euro-päischen Union nicht übertragen werden dürfte. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Äußerung zu diesem Fragenbereich die sog. »Finanz- und Budgethoheit des Staates«, d. h. die Befugnis zur Erhebung von Einnahmen und die Befugnis zur Gewährung staatlicher Leistungen, dem unveräu-ßerlichen Kern der staatlichen Gestaltungshoheit zugerechnet. Im Hinblick auf die aktuellen Bemühungen der EU, einigen Län-dern der Währungszone zwecks Erhaltung der Währungsunion unter die Arme zu greifen, führt das Bundesverfassungsgericht erläuternd aus, dass die »Entscheidung über Einnahmen und Aus-gaben der öffentlichen Hand ein grundlegender Teil der demo-kratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat« sei und dass »als Repräsentanten des Volkes die gewählten Abgeord-neten des Deutschen Bundestages auch in einem System des in-tergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundle-gende Entscheidungen behalten« müssten. Das Bundesverfassungsgericht wird in Bälde nach der anstehen-den und zu erwartenden Ratifizierung des Vertrages über die Ein-richtung eines dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanis-mus (ESM) durch den Bundestag und den Bundesrat erneut

Gelegenheit haben, den »harten Kern« staatlicher Gestaltungs-macht abzustecken, der durch Übertragung von Befugnissen auf die Europäische Union nicht ausgehöhlt oder geschmälert wer-den darf.

Rechtsprechung des BVerfG als »cantus firmus« für nationale Verfassungsgerichtshöfe und oberste Gerichte

In den anderen Mitgliedstaaten ist – von Ansätzen abgesehen – eine vergleichbare Einschaltung der Verfassungsgerichtshöfe oder der obersten Gerichte nicht zu vermerken. Das Bundesver-fassungsgericht könnte in dieser Hinsicht Vorreiter sein. Denn die erklärte und erkennbare Zielsetzung des Bundesverfassungsge-richts ist, die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlich-keit in der Europäischen Union – zusammen und in Kooperation mit den Organen der Europäischen Union – zu stärken. Diese Zielsetzung dürfte bei den Verfassungsgerichtshöfen der ande-ren Mitgliedstaaten auf Sympathie und Anerkennung finden, so-dass sich hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts auf längere Sicht als Motor erweisen könnte. Wenn die Organe der Europäischen Union – wie bei der Griechenlandhilfe und dem Euro-Rettungsschirm – der Rat, die Kommission und die Europäische Zentralbank unter Duldung des Europäischen Parla-ments Maßnahmen beschließen, die sich mit Regelungen der Eu-ropäischen Unionsrechts nur schwer vereinbaren lassen oder sogar gegen diese verstoßen, kommt es nämlich nicht zu einer Anrufung des Europäischen Gerichtshofs. Private haben keine Klagebefugnis und die Einräumung einer individuellen Verfas-sungsbeschwerde nach dem Vorbild der Straßburger Konvention zum Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie nach dem deutschen Grundgesetz hat ihnen der »Konvent für Eu-ropa« bei der Erarbeitung des – später gescheiterten – Vertrages »über eine Verfassung für Europa« und diesem folgend der Ver-trag von Lissabon bewusst versagt. Die dadurch faktisch entstan-dene Lücke im gerichtlichen Rechtsschutz der Europäischen Union hebt keineswegs begangene Rechtsverstöße nach einem irrigen Rechtsgrundsatz »nullum ius sine actore« (ohne Klagebe-fugnisse kein Recht) objektiv auf. Die durch das Zusammenwirken der Organe der Europäischen Union faktisch ausgehebelte Funktion des Europäischen Ge-richtshofs als geborener »Gralshüter des Europäischen Unions-rechts« könnte aber, falls sich solche Aushebelungen der europä-ischen Gerichtsbarkeit wiederholten, ins Wanken geraten. Die Einschaltung der nationalen Gerichte nach dem Vorbild des Bun-desverfassungsgerichts, durch die die Rechtsverstöße der euro-päischen Ebene zwar nicht gebrandmarkt, jedoch in die Öffent-lichkeit getragen werden können, trüge zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union bei.

Literaturhinweise

Bergmann, Jan (Hrsg.) (2012): Handlexikon der Europäischen Union. Nomos Verlag. Baden-Baden. 4. Auflage

Büdenbender, Martin (2004): Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, Band 34

Bleckmann, Albert / Pieper, Ulrich / Epping, Volker (Hrsg.) (2004): Schriften-reihe Völkerrecht / Europarecht / Staatsrecht, Köln Berlin München.

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Materialien

M 1 Werner Mussler: »Mogelpackung Fiskalpakt«, FAZ

Die Ratingagentur Standard & Poor’s hat die Herabstufung von neun Euro-Staaten stärker als gewohnt mit politischen Argumen-ten begründet und diese nicht nur auf die betroffenen Einzelstaa-ten, sondern auch auf den Euroraum als Ganzes bezogen. (…) Der S&P-Befund, dass die Durchsetzung des Pakts selbst dann kaum zu gewährleisten ist, wenn alle 26 potentiellen Unterzeichner-staaten den vorgesehenen Vertrag ratifizieren sollten, ist nur allzu wahr.Das negative Urteil der Ratingagentur gründet nicht nur auf der für Finanzmarktakteure besonders schwer verständlichen Konst-ruktion eines völkerrechtlichen Vertrags. Es gründet auf dem ernsthaften Zweifel, ob die Euro-Staaten auch ohne den Dauer- druck der Schuldenkrise zu einer dauerhaften Haushaltskonsoli-dierung bereit sind. Unter dem Eindruck der Krise haben sich zwar alle zur Erkenntnis durchgerungen, dass die geltenden Etat-regeln verbessert werden müssen. (…)Es ist aber fraglich, ob sich dieses Ziel ausgerechnet mit dem jetzt geplanten völkerrechtlichen Vertrag von 26 Staaten erreichen lässt. Dieser Vertrag räumt nicht nur die starken Anreizprobleme des alten, gescheiterten Stabilitätspakts nicht aus. Er schafft zu-sätzlich neue Schwierigkeiten, die sich aus der Rechtsnatur eines zwischenstaatlichen Vertrags ergeben, der neben das gültige Eu-roparecht gestellt wird. Nach dem Urteil renommierter Europaju-risten ist der Pakt de facto überflüssig und in Teilen europa- rechtswidrig.Die laufende Diskussion über den Fiskalpakt hat sich zunehmend von der inhaltlichen Frage entfernt, wie sich robuste Haushaltsre-geln durchsetzen lassen, die dem politischen Zugriff entzogen sind. Die Beamten, die den Vertragstext vorbereiten, müssen vor allem verhindern, dass ihnen das juristische Durcheinander um die Ohren fliegt, welches die Staats- und Regierungschefs im De-zember hinterlassen haben. Die Bundesregierung hat an diesem Durcheinander einen nicht unwesentlichen Anteil: Sie wollte schärfere Haushaltsregeln auf Biegen oder Brechen in die EU-Verträge aufgenommen wissen. Dieses Anliegen scheiterte am britischen Widerstand, heraus kam als schlechter Kompromiss der Plan eines zwischenstaatlichen Fiskalpakt-Vertrags.Dessen Sinn ist schon deshalb kaum erkennbar, weil der Teil die-ses Vertrags, der sich auf den Schuldenabbau bezieht, dem Inhalt nach bereits gültiges europäisches Recht geworden ist. Für den anderen Teil – etwa die Einführung nationaler Schuldenbremsen – liegen Gesetzgebungsvorschläge der EU-Kommission vor, die von den Staaten und vom Europaparlament weitgehend unter-stützt werden. Dieser Weg über »normales« Sekundärrecht ist aus einem einfachen Grund der einzig richtige: Er lässt die juristische Durchsetzung der Haushaltsregeln auf bewährtem Wege zu.Wenn ein Mitgliedstaat beispielsweise die Schuldenbremse nicht so einführt wie vorgeschrieben, kann ihn die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagen. Im Fiskalpakt ist dagegen nicht nur umstritten, ob der EuGH einen zwischen-staatlichen Vertrag durchsetzen kann. Mittlerweile ist sogar wie-der fraglich, ob die EU-Kommission überhaupt aktiv werden kann, wenn sie einen Verstoß gegen die Schuldenbremse-Regel feststellt. Würde ihr dieses Recht genommen, wäre der Fiskalpakt mehr als überflüssig: Er wäre ein Rückschritt.

© Werner Mussler: »Mogelpackung Fiskalpakt«, FAZ, 17.1.2012, S. 9

M 2 Urteil des BVerfG zum EU-Rettungsschirm, dem sog. »Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz« nach einer Ver-fassungsbeschwerde von Peter Gauweiler, CSU, u. a. (2011)

Die Verfassungsbeschwerden sind, (…), unbegründet. Gegen das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz und das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäi-schen Stabilisierungsmechanismus bestehen keine durchgreifen-den verfassungsrechtlichen Bedenken. (…) Der Prüfungsmaßstab bestimmt sich durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG. Das Wahlrecht gewährleistet als grundrechtsgleiches Recht die Selbstbestimmung der Bürger, garantiert die freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt (…). Der Gewährleistungsgehalt des Wahlrechts umfasst die Grundsätze des Demokratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung garantiert (…).1. Das Wahlrecht ist verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag

seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budge-trecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können. (…)a) Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öf-

fentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokrati-schen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat (…). Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschei-den. Das Budgetrecht stellt insofern ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar (…). Zum einen dient das Budgetrecht als Instrument umfassender parla-mentarischer Regierungskontrolle. Zum anderen aktuali-siert der Haushaltsplan den tragenden Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie (…). Im Verhältnis zu den anderen an der Fest-stellung des Haushaltsplanes beteiligten Verfassungsor-ganen kommt dem gewählten Parlament eine überra-gende verfassungsrechtliche Stellung zu. Die Kompetenz zur Feststellung des Haushaltsplanes liegt nach Art. 110 Abs. 2 GG ausschließlich beim Gesetzgeber. Diese beson-dere Stellung findet auch darin Ausdruck, dass Bundestag und Bundesrat berechtigt und verpflichtet sind, nach Art. 114 GG den Haushaltsvollzug der Bundesregierung zu kon-trollieren (…).

b) Als Repräsentanten des Volkes müssen die gewählten Ab-geordneten des Deutschen Bundestages auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten. Mit ihrer Öffnung für die internationale Zusam-menarbeit, Systeme kollektiver Sicherheit und die europä-ische Integration bindet sich die Bundesrepublik Deutsch-land nicht nur rechtlich, sondern auch finanzpolitisch. Selbst dann, wenn solche Bindungen erheblichen Umfang annehmen, wird das Budgetrecht nicht in einer mit dem Wahlrecht rügefähigen Weise verletzt. Für die Einhaltung der Grundsätze der Demokratie kommt es darauf an, ob der Deutsche Bundestag der Ort bleibt, in dem eigenver-antwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten. Würde über wesentliche haushaltspoli-tische Fragen der Einnahmen und Ausgaben ohne konsti-tutive Zustimmung des Bundestages entschieden oder würden überstaatliche Rechtspflichten ohne entspre-chende Willensentscheidung des Bundestages begründet, so geriete das Parlament in die Rolle des bloßen Nachvoll-zuges und könnte nicht mehr die haushaltspolitische Ge-samtverantwortung im Rahmen seines Budgetrechts wahrnehmen. (…)

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2. Vor diesem Hintergrund darf der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushalts-politische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanz-wirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdi-gung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haus-haltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können, seien es Ausgaben oder Einnah-meausfälle. Dieses Verbot der Entäußerung der Budgetver-antwortung beschränkt nicht etwa unzulässig die Haushalts-kompetenz des Gesetzgebers, sondern zielt gerade auf deren Bewahrung. (…)

Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Zusammenhang mit der zur Verwirklichung eines vereinten Euro-pas erstrebten Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung hin zur Europäischen Union (vgl. Art. 23 GG) auf verfassungsrechtli-che Schranken hingewiesen, die das Grundgesetz gegenüber einer parlamentarischen Selbstbeschränkung des Budgetrechts errichtet (…). Danach läge eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verletzende Übertragung wesentlicher Bestandteile des Budgetrechts des Bundestages je-denfalls dann vor, wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supra-nationalisiert und damit der Dispositionsbefugnis des Bundesta-ges entzogen würde (…).Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Frei-räume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsge-setzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mit-gliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft »Herr seiner Entschlüsse« bleibt. Zu diesem Grundsatz stehen Gewähr-leistungsermächtigungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit ande-rer Mitgliedstaaten abgesichert werden soll, in einem erheblichen Spannungsverhältnis. Es ist zwar in erster Linie Sache des Bundes-tages selbst, in Abwägung aktueller Bedürfnisse mit den Risiken mittel- und langfristiger Gewährleistungen darüber zu befinden, in welcher Gesamthöhe Gewährleistungssummen noch verant-wortbar sind (…). Aus der demokratischen Verankerung der Haus-haltsautonomie folgt jedoch, dass der Bundestag einem intergou-vernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht be-grenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustim-men darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Ein-wirkung entzogen ist. Würde der Bundestag in erheblichem Umfang zu Gewährleistungsübernahmen pauschal ermächtigen, könnten fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu ir-reversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der na-tionalen politischen Gestaltungsräume führen. (…)Daher dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Me-chanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen ver-bunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaß-nahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Soweit überstaatliche Vereinbarungen getroffen werden, die aufgrund ihrer Größenordnungen für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sein können, etwa durch Übernahme von Bürgschaften, deren Einlösung die Haushaltsautonomie ge-fährden kann, oder durch Beteiligung an entsprechenden Finanz-sicherungssystemen, bedarf nicht nur jede einzelne Disposition der Zustimmung des Bundestages; es muss darüber hinaus gesi-chert sein, dass weiterhin hinreichender parlamentarischer Ein-fluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht.

© www.bundesverfassungsgericht.de/Entscheidungen/rs20110907_2bvr098710.html (2011) [letzter Zugriff 1.3.2012]

M 4 Christopher Ziedler: » Parlamentarismus 2.0«

Wer kontrolliert da eigentlich wen? Das Europaparlament die eu-ropäische Politik? Und der Bundestag die Bundesregierung? Ja, wenn es nur so einfach wäre! Doch leider ist Europa viel kompli-zierter und wenig nachvollziehbar legitimiert. Spätestens seit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag, zur Griechenlandhilfe und zum Euro-Rettungsschirm ist klar, dass sich der Bundestag intensiver als bisher darum kümmern muss, was die Regierung, die er zu kontrollieren hat, bei Ministerrunden in Brüssel zusagt oder nicht. Bundestagspräsident Norbert Lam-mert (CDU) spricht von einem »völlig neuen Niveau der Mitwir-kung in der Europapolitik«. Er hat das in dieser Woche in Brüssel gesagt, als das fünfjährige Bestehen des Verbindungsbüros des Deutschen Bundestages in der europäischen Hauptstadt gefeiert worden ist. Dessen Mitarbeiter werten Informationen über euro-päische Gesetzgebungen aus und bereiten sie in einem »Bericht aus Brüssel« auf, den die Bundestagsabgeordneten vor jeder Plenarwoche auf den Tisch bekommen. Es gibt auch mehr und mehr gemeinsame Videokonferenzen. Denn um die deutsche Eu-ropapolitik gemäß dem Karlsruher Auftrag demokratischer zu machen, braucht es schon eine Art Parlamentarismus 2.0.Erst jetzt sind in Brüssel wieder zwei Beschlüsse gefasst worden, die den deutschen Bundestag in den Mittelpunkt werden rücken lassen: Weil es Widerstand gegen die Änderung des EU-Vertrags gibt, müssen außerhalb dessen zwei neue völkerrechtliche Ab-kommen zur Überwindung der Eurokrise geschlossen werden. Neben dem Antischuldenpakt und dem dauerhaften Rettungs-schirm wird das deutsche Parlament wohl noch über das für die Zukunft Europas entscheidende zweite Griechenlandpaket ab-stimmen. Entscheiden wird sich die Qualität der europäischen Demokratie aber vermutlich nicht an den spektakulären Projek-ten, sondern daran, wie der Bundestag die alltägliche Gesetzes-produktion in Brüssel begleitet. Es gibt Karlsruher Richter, die – wenn die Kameras nicht laufen – behaupten, dass sich der Bundestag noch immer im »Dornröschenschlaf« befindet.

© Christopher Ziedler: Parlamentarismus 2.0., Stuttgarter Zeitung, 3.2.2012, S. 1

M 3 »Sch …. Umleitung! …« © Luff alias Rolf Henn, 2011

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Heft 63 · 2012D&E

Page 78: DEUTSCHLAND & EUROPA · turen (Fitch, Standard & Poor’s und Moody’s) haben 2012 auch insbesondere deren Staatsanleihen abgewertet, im Falle von Griechenland sogar auf »Ramsch-Niveau«,

Staaten für ihn garantieren, gilt der EFSF als verlässlicher Schuld-ner. Seit sich die Euro-Krise aber zunehmend auf größere Länder wie Italien ausdehnt, reicht das Volumen des Fonds nicht mehr, um die Anleger zu beruhigen. Deshalb geraten zunehmend Schwellenländer mit ihren hohen Devisenreserven ins Visier. Sie sollen sich zusammen mit privaten Investoren an dem Fonds be-teiligen. Hier spricht man auch von einer Hebelfunktion durch private Investoren.

ESM, der ständige Europäische Stabilitätsmechanismus ESM soll ab Mitte 2012 den EFSF ersetzen. Er umfasst derzeit 700 Milliar-den Euro, von denen maximal 500 Milliarden im März 2012 an Not leidende Staaten verliehen werden können.

Euro-Bonds, Europäische Anleihen. Sie sind derzeit in der Diskus-sion als eine Möglichkeit, den Schuldenstaaten Europas zu hel-fen. Statt nationaler Staatsanleihen würden die Euro-Länder in Zukunft einheitliche Anleihen zu einem ebenfalls einheitlichen Zinssatz ausgeben. Damit wäre die Refinanzierung für schwache Volkswirtschaften viel einfacher, da günstiger. Deutschland müsste aber künftig mehr am Kapitalmarkt zahlen.

Europäisches Semester, der Pakt zur Durchsetzung des Stabili-täts- und Wachstumspakts (seit dem Amsterdamer Vertrag), der übermäßige öffentliche Defizite der Teilnehmerstaaten verhin-dern sollte, gilt inzwischen als wenig wirkungsvoll, da der vorge-sehene Sanktionsmechanismus mit Geldbußen die Haushaltslage der betroffenen Staaten lediglich weiter verschlechtern würde und zudem der »Rat für Wirtschaft und Finanzen« Verstöße gegen den Pakt wiederholt ungeahndet ließ. Nachdem überdies im Zuge der griechischen Finanzkrise ab 2009 bekannt wurde, dass Griechenland mehrere Jahre lang falsche Haushaltsdaten an die Europäische Kommission gemeldet hatte, mehrten sich die For-derungen nach einer besseren Durchsetzung und wirksameren Sanktionen. So schlug die Europäische Kommission die Einfüh-rung eines »Europäischen Semesters« vor, bei dem die Mitglied-staaten ihre Haushaltspläne bereits ein halbes Jahr, bevor die na-tionalen Parlamente darüber abstimmen, der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten vorlegen müssen. Dadurch soll der Kommission die Möglichkeit gegeben werden, schon im Voraus Verstöße gegen den Pakt ahnden zu können. Der Vorschlag stieß teilweise auf heftige Kritik, da er die nationale Haushaltssouverä-nität einschränke.

EZB: Im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungs-union haben die nationalen Zentralbanken der Euro-Staaten ihre Souveränität an die neu gegründete Europäische Zentralbank (EZB) abgegeben. Sie ist für die Geldpolitik verantwortlich, allen voran die Preisstabilität in Europa. Ausschließlich die EZB kont-rolliert die Geldmenge und legt den europäischen Leitzins fest. Um die Refinanzierungsprobleme der Schuldenstaaten abzufe-dern, hat die EZB große Mengen griechischer, irischer und portu-giesischer Staatsanleihen gekauft. Damit trägt sie einen Teil des Ausfallrisikos. Zuletzt ist der Druck auf die Zentralbank gewach-sen, die Anleihekäufe auszuweiten, um die Schuldenkrise einzu-dämmen. Diese Anleihekäufe werden vor allem aus Deutschland wegen der damit verbundenen Inflationsrisiken kritisiert.

Fiskalunion, Ziel ist die einheitliche Haushaltspolitik der Mit-gliedstaaten der EU und die Verankerung einer Schuldenbremse

Austeritätspolitik, staatliche Sparpolitik, die durch Drosselung laufender Ausgaben im öffentlichen und privaten Bereich, d. h. durch eine strenge Führung des öffentlichen Haushaltes bei einer gleichzeitigen Politik der Einschränkung des Massenkonsums, in Zeiten ökonomischer Krisen eine Verbesserung der wirtschaftli-chen Situation herbeiführen soll.

Bail-out: To »bail out« bedeutet, Schulden eines anderen zu über-nehmen, weil der sie nicht mehr zurückzahlen kann. Ein Bail-out tritt also ein, wenn eine Bürgschaft fällig wird. In der Finanzkrise von 2008 wurde der Begriff dafür benutzt, dass einzelne Staaten ihre Banken vor der Pleite bewahrten. Die Geldinstitute galten als »systemrelevant«. Innerhalb der Euro-Zone sind Bail-outs eigent-lich vertraglich ausgeschlossen. Durch die diversen Rettungspa-kete wurde das Verbot aber inzwischen aufgeweicht. Im Maast-richter Vertrag (1992) ist durch die »No-bail-out-Klausel« die gegenseitige Schuldenübernahme weitgehend ausgeschlossen.

Bankenkrise, Europas Schuldenkrise ist zum Teil eine Banken-krise. Die meisten Institute halten spätestens seit der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008 »toxische Papiere« und riskante Staatsanleihen von hoch verschuldeten Staaten. Verlieren diese an Wert oder fallen sogar ganz aus, müssen die Banken Verluste verbuchen. In manchen Staaten wurden diese Papiere in sog. »bad banks« ausgelagert.

Basel III bezeichnet ein Reformpaket des Basler Ausschusses der »Bank für Internationalen Zahlungsausgleich« (BIZ) für die be-reits bestehende Bankenregulierung Basel II. Es stellt die Reak-tion auf die von der weltweiten Finanz- bzw. Wirtschaftskrise ab 2007 offengelegten Schwächen der bisherigen Bankenregulie-rung dar. Basel III verschärft insbesondere die Vorschriften in den Bereichen der Eigenkapitalbasis und der Liquidität von Banken.

Bazooka, (engl.), eigentlich: Panzerfaust. Zumeist abschätzig ge-brauchter Begriff für eine unbegrenzte Garantie bzw. Beglei-chung von Schulden der überschuldeten Krisenstaaten. Anleger sollen sich dadurch gegenüber einer Insolvenz sicher fühlen.

CDS: Credit Default Swap, eine Art von Kreditausfallversiche-rung. Ein Kreditgeber schließt sie ab, indem er seiner Bank eine Prämie zahlt. Im Gegenzug springt diese ein, sollte der Schuldner zahlungsunfähig werden. Der Kreditgeber minimiert so sein Ri-siko. Kann der Schuldner den Kredit wie vorgesehen tilgen, be-kommt die Bank die Prämie und zahlt nichts. In der Finanzkrise des Jahres 2008 spielten die CDS eine wesentliche Rolle, weil sie das Spekulationsrisiko auf dem amerikanischen Immobilien-markt vermeintlich minimierten und so die Blase verstärkten. In der aktuellen Euro-Krise ermöglichen CDS den Investoren, ihr Geld z. B. auf eine Pleite Griechenlands zu setzen.

EFSF steht für »Europäische Finanz-Stabilitätsfazilität«. Fazilität heißt hier Fonds, aus dem Kredite gewährt werden können. Seit dem Frühjahr 2010 können kriselnde Euro-Länder Kredite aus dem EFSF beantragen, um einen Staatsbankrott abzuwenden (EU-Rettungsschirm). Die Kredite sind an strenge Sparauflagen für die Krisenländer gekoppelt, die von der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank EZB und dem Internationalen Währungsfonds IWF ausgehandelt werden. Der EFSF hat ein Volu-men von derzeit insgesamt 750 Milliarden Euro. Weil die Euro-

SCHULDENKRISE IN EUROPA

Glossar zum Euro und der SchuldenkriseJÜRGEN KALB

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in den nationalen Verfassungen nach deut-schem Vorbild.

Haircut, oder auch Umschuldung. Gläubiger einigen sich darauf, auf einen Teil ihrer For-derungen zu verzichten. Der Schuldner muss weniger zurückzahlen.

IWF: Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist eine internationale Organisation, deren Aufgabe es ist, Welthandel und Zu-sammenarbeit der 188 Mitgliedsländer in Währungsfragen zu fördern. Gerät ein Land in Zahlungsprobleme, gewährt der IWF be-fristete Kredite, die an strenge Bedingungen geknüpft sind: Verschuldete Mitglieder müs-sen etwa ihre Staatsausgaben kappen, um Darlehen zu bekommen. Nach Gründung des IWF auf der Finanzkonferenz der UN in Bret-ton Woods im Jahr 1944 half er vor allem Ent-wicklungsländern – bis die Euro-Krise aus-brach. Seitdem vergab der Fonds etwa an Griechenland Milliardenkredite und half spä-ter bei der Fertigung von Rettungsschirmen für andere angeschlagene EU-Staaten.

Marshallplan, offiziell »European Recovery Program« (kurz ERP) genannt, war ein großes Wirtschaftswiederaufbauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugute kam. Es bestand aus Kre-diten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren. Im Zusammenhang mit geforderten Sparmaßnahmen für überschuldete Eurostaaten z. B. durch die »Troika« fordern deren Kritiker immer wieder Hil-fen für Schuldenstaaten nach dem Vorbild des US-amerikani-schen Marshall-Plans, weil Staaten in einer Rezession nicht in der Lage seien, ihre Schulden zu tilgen.

Rating-Agenturen bewerten die Bonität von Firmen und Staaten. Die Ergebnisse veröffentlichen sie in Form von Buchstaben-Zah-len-Kombinationen in 21 Abstufungen von AAA (zuverlässige Schuldner, beste Qualität) bis D (default, zahlungsunfähig). Den Gläubigern und Investoren geben diese Ratings an, wie wahr-scheinlich es ist, pünktlich die Zinsen sowie das verliehene Geld zurückzubekommen. Nach dem Rating richtet sich der Zinssatz, den Länder für ihre Staatsanleihen auf dem Kapitalmarkt entrich-ten müssen. Vor allem vor der Finanzkrise im Jahre 2008 hatte sich gezeigt, dass die Agenturen bei ihren Rating-Einstufungen sehr stark von der Realität mancher Schuldner entfernt waren. Zudem wurde kritisiert, dass eine kleine Zahl an global relevanten Ratin-gagenturen (S&P, Moody’s und Fitch, alle mit Sitz in den USA) die-sen eine quasi oligopolistische Macht verschaffe.

Sixpack, bezeichnet hier insgesamt sechs europäische Gesetzge-bungsmaßnahmen, die die Reform des »Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes« und das neue gesamtwirtschaftliche Über wa-chungs verfahren auf den Weg bringen sollen. Sie wurden in den Verhandlungen zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament gebündelt. Darin wurden u. a. Referenzwerte für das jährliche öffentliche Defizit (3 % des Bruttoinlandsprodukts BIP) und für die Bruttoschuldenquote (60 % des BIP) festgelegt. Falls diese Vorgaben nicht eingehalten werden, wird das sogenannte »Verfahren bei übermäßigem Defizit« (VÜD) eingeleitet.

Staatsanleihen: Anleihen, die von einem Staat ausgegeben wer-den, um neues Kapital zu erwerben. Sie haben einen festen, ga-rantierten Zinssatz und oft eine lange Laufzeit von beispielsweise zehn oder gar 30 Jahren. Vor der Euro-Krise galten Staatsanleihen als vergleichsweise sichere Anlageform. Dieser Ruf änderte sich vor allem aufgrund der US-Schuldendebatte sowie der Schulden-

situation in den PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Grie-chenland und Spanien). Um die enorm gestiegenen Zinssätze in den Euro-Krisenstaaten zu senken, wird die Aufgabe von sog. Eu-robonds diskutiert. Ehemals deutsche Staatsanleihen müssten dadurch einen höheren Zinssatz garantieren.

Staatsbankrott: Am Kapitalmarkt spricht man von Staatsbank-rott, sobald eine Regierung eine Kreditrückzahlung nicht mehr leistet. Argentinien musste 2001 den Staatsbankrott verkünden. Ob ein Staat bankrott ist, hat nichts mit der absoluten Höhe sei-ner Schulden zu tun. Man muss die Verschuldung erst ins Verhält-nis zur Wirtschaftskraft eines Landes setzen, also zum Bruttoin-landsprodukt (BIP). Entscheidend für einen Staatsbankrott ist, ob eine Regierung die Zinsen bezahlen kann und ob sie Investoren findet, die ihr auch künftig neue Schuldenpapiere abkauft.

Transferunion: bedeutet die Idee, dass EU-Mitgliedstaaten mit soliden Staatsfinanzen für die Schulden jener einstehen, die große Schuldenlasten drücken. Ein Schritt in diese Richtung wäre die Emission gemeinsamer Anleihen (Euro-Bonds oder auch der EWF). Denkbar wären aber auch direkte Ausgleichszahlungen oder die direkte Vergemeinschaftung der Schulden. In Deutsch-land gibt es solch einen Transfer z. B. in Form des Länderfinanz-ausgleichs.

Troika, hier eine Dreiergruppe aus IWF, EZB und Europäischer Kommission, die Bedingungen für EU-Schuldenstaaten, vor allem Griechenland, aushandelt, um einen Staatsbankrott oder das Ausscheiden eines Eurolandes aus der gemeinsamen Währung zu verhindern. Ihr wird vorgeworfen, die Souveränitätsrechte der na-tionalen Parlamente zu verletzen.

Volatilität. Wenn es an der Börse heftig auf und ab geht, wenn Charts wie Zickzack-Kurse aussehen, ist die Volatilität hoch. Die Vola, wie Finanzexperten sagen, bezeichnet das Schwankungs-maß von Kursen. Seit Ausbruch der Finanzkrise kommt es zu immer stärkeren Ausschlägen.

Abb. 1 Die europäische Ebene: Institutionenanalyse nach dem vereinfachten Politikzyklus © Wolfgang Wessels, Das politische System der EU, VS, Wiesbaden 2008, S. 36

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Das Zusammenwachsen Europas – auch in Krisenzeiten – und die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins gehören un-trennbar zusammen. Den Schulen und Lehrkräften kommt dabei eine herausragende Rolle zu: Europäische Bildung beginnt in der Schule. Der Kongress möchte deshalb neben einer kritischen Zwi-schenbilanz der bisher geleisteten Umsetzung der europäischen Dimension im Unterricht Impulse aussenden, wie europäische Themen und Perspektiven stärker und nachhaltiger an baden-württembergischen Schulen – authentisch und kompe-tenzorientiert – verankert werden können. Junge Menschen in ihrer Europafähigkeit zu stärken heißt, sie zukunftsfähig zu ma-chen. Interkulturelles Lernen zu fördern und Multiperspektivität einzuüben lauten die anspruchsvollen und spannenden Heraus-forderungen des pädagogischen Auftrags.

Zielsetzung des Kongresses »Europa in der Schule«, der in Zusam-menarbeit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport und der Stadt Stuttgart sowie dem Europazentrum Baden Württem-berg vom 11. bis 12. Mai 2012 im Stuttgarter Rathaus durchgeführt wird, ist die Bestandsaufnahme und Aussprache über die bishe-rige Berücksichtigung der europäischen Integration in den Bil-dungsplänen sowie der Schulpraxis in Baden-Württemberg. Dabei möchte der Kongress dazu beitragen, europäische Pers-pektiven und Themen stärker und nachhaltiger im Unterricht an baden-württembergischen Schulen zu implementieren. Im Be-sonderen geht es dabei um möglichst praxisnahe Impulse, d.h. die Suche nach adäquaten didaktisch-methodischen Ansätzen in den einzelnen Schularten.

Leitfragen des Kongresses

Europapolitische Dimension

(1) Welche Bedeutung hat die europäische Einigung bereits er-langt: politisch, ökonomisch, kulturell?

(2) Wie lässt sich eine zu beobachtende Europaskepsis erklären? Wie soll ihr begegnet werden?

(3) Quo vadis EU? Wie zukunftsfähig ist das europäische Eini-gungskonzept?

Schulbezogene Dimension

(1) Wird die gewachsene Bedeutung der Europäischen Integra-tion genügend im gegenwärtigen Schulalltag gespiegelt?

(2) An welchen Stellschrauben müsste man drehen, um die Schu-len und die Schülerinnen und Schüler zu einer verstärkten »Europakompetenz« zu führen.

Verlauf des Kongresses

Freitag, 11. Mai 2012Rathaus der Stadt Stuttgart, Großer Sitzungssaal, 3. OG

Beginn: 16:30 Uhr:– Begrüßung durch Lothar Frick, Direktor der LpB Baden-Würt-

temberg.

– »Ergebnisse und Impulse der EU-Reflexionsgruppe« – Ober-bürgermeister Dr. Wolfgang Schuster.

– »Europa in der Schule« – Gabriele Warminski-Leitheußer, Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg.

– »Europäische Integration: Integrationsfortschritte, Bedro-hungen und Perspektiven« Professor Dr. Hans-Jürgen Bieling, Professur für Politik und Wirtschaft (Political Eco-nomy) und Wirtschaftsdidaktik, Universität Tübingen.

18:00–19:00 Uhr: Imbiss (Rathaus, 4. OG)

19:00–21:00 Uhr: Podiumsdiskussion

»Die Zukunft der EU und ihre Präsenz in der Schule«

ModerationProfessor Dr. Jan Bergmann, Vorstandsvorsitzender des Europa Zentrums Baden-Württemberg

Podiumsteilnehmer(1) N. N., CDU(2) Heide Rühle, Grüne, MdEP(3) Peter Hofelich, SPD, MdL, Vorsitzender des Europa-Ausschus-

ses des Landtags(4) Michael Theurer, FDP, MdEP(5) Petra Wagner, Oberstudiendirektorin, Schulleiterin des Wa-

genburg-Gymnasiums Stuttgart(6) Roland Wolf, Professor, Seminar für Didaktik und Lehrerbil-

dung Tübingen, SWL Baden-Württemberg(7) Jürgen Kalb, Studiendirektor, LpB, Chefredakteur »Deutsch-

land & Europa«

Im Foyer (3. OG des Rathauses) stehen Infostände der LpB Baden-Württemberg, des Kultusministeriums, der Stadt Stuttgart, des Europa Zentrums Baden-Württemberg, des Europe Direct Infor-mationszentrums Stuttgart mit Materialien der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments sowie Informatio-nen verschiedener Planspielanbieter zur Verfügung.Für eine musikalische Untermalung sorgt am Freitag die Schüler-band »Jazz ConneXion« vom Gymnasium am Deutenberg in Villin-gen-Schwenningen.

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

»Europa in der Schule« – Perspektiven eines modernen EuropaunterrichtsKONGRESS IM STUTTGARTER RATHAUS: 11.5.–12.5.2012JÜRGEN KALB

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D&E Heft 63 · 2012E u r o p a in d e r S c h u l e – P e r s p e k t i v e n e ine s m o d e r ne n E u r o p a u n t e r r i c h t s

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Samstag, 12.Mai 2012, Rathaus der Stadt Stuttgart, Großer Sitzungssaal

Beginn: 9:30 Uhr:»Die EU und ihre Zukunftsfähigkeit.« Peter Friedrich, Minister für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten des Lan-des Baden-Württemberg

10:00–12:00 Uhr: Fünf Sektionen für Impulse und zur Aussprache

Sektion 1: Der Unterricht über Europa in den gesellschaftswissenschaftli-chen Fächern in der Sekundarstufe I: Gymnasium, Real- und Hauptschule, Gemeinschaftsschule

Referenten: Prof. Dr. Helmar Schöne, Prof. Dr. Stefan Immerfall, PH Schwä-bisch GmündProf. Roland Wolf, Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Tü-bingenProf. Dr. Georg Weißeno, PH KarlsruheOStD Bodo Philipsen, Schulleiter, Gymnasium in den Pfarrwie-sen, Sindelfingen

Berichterstatter: Siegfried Frech, LpB

Sektion 2: Der Unterricht über Europa in den gesellschaftswissenschaftli-chen Fächern in der Sekundarstufe II (berufliche und allgemein-bildende Gymnasien)

Referenten: StD Dr. Andreas Grießinger, Regierungspräsidium Freiburg, Fachreferent für GeschichteStD’in Christel Schrieverhoff, Fachleiterin Sozialwissenschaften am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Reckling-hausenStD Hans Gaffal, Regierungspräsidium Stuttgart, Fachreferent für Gemeinschaftskunde und Wirtschaft

Berichterstatter: Jürgen Kalb, StD, LpB, Fachberater am RPS

Sektion 3: Der Fremdsprachen- und der bilinguale Unterricht mit Schwer-punkt Europa

Referenten: Prof’in Judith Spaeth-Goes, Seminar für Didaktik und Lehrerbil-dung Stuttgart Dr. Annette Deschner, PH Karlsruhe, Institut für europäische StudienStD Dr. Georg Weinmann, Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim

Berichterstatterin: Simone Bub-Kalb, StD’in, Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart

Sektion 4: Europäische Fragestellungen und innovative Methoden im Pro-jektunterricht sowie bei außerunterrichtlichen Veranstaltungen

Referenten: StD Jörg Schirrmeister, StD Ulrich Plessner, Seminar für Didak-tik und Lehrerbildung FreiburgHolger-Michael Arndt, CIVIC-Institut für internationale Bildung, DüsseldorfHarald Keuchel, EuroSoc GmbH, KonstanzMR Dr. Carsten Rabe, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport

Berichterstatter: Wolfgang Berger, LpB

Sektion 5: Schulentwicklung – Schulen geben sich ein europäisches Profil

Referenten:OStR’in Ingrid Kriesten, Kaufmännische Schule Heidenheim OStR’in Eva Maria Böhler, Hellenstein-Gymnasium HeidenheimFlorian Setzen, Direktor des Europa Zentrums Baden-Württem-bergSusanne Meir, LpB Baden-Württemberg

Berichterstatter: StD Siegmut Keller, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport

12:00–13:00 UhrKurzberichte aus den Sektionen und Aussprache,Moderation: Karl-Ulrich Templ, Stellvertretender Direktor der LpB Baden-Württemberg

13:00–14:00 UhrMittagessen, 4. OG

Bitte beachten Sie die Anmeldemodalitäten:Es werden keine Teilnahmegebühren erhoben.1. Interessierte melden sich für Freitag und/oder Samstag unter

[email protected] an.2. Lehrkräfte melden sich wie folgt an:Für Freitag unter [email protected]ür Samstag über den Dienstweg mittels LFB-Online, Lehrgang Nr.: 908714 – unter Angabe der gewünschten Sektion (Reisekos-ten werden erstattet)

Anmeldeschluss ist der 25.4.2012

Rückfragen oder postalische Anmeldungen an:– Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württem-

berg, Europareferat, Postfach 10 34 42, 70029 Stuttgart, [email protected]

Weitere Informationen finden Sie unter: http://lehrerfortbildung-bw.de/go/europainderschule

Lehrgangsleitung: StD Jürgen Kalb, LpB; StD Siegmut Keller, KM und ORR Stefan Häßler, KM

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E-Learning-Kursangebote zu Europa

Einen interessanten Einstieg in die Arbeit und Politik der EU bieten die E-Learning Kursangebote für Schulklassen

der Sekundarstufen I und II, welche die LpB in Zusammenar-beit mit dem Kultusministerium und dem Europa Zentrum Baden-Württemberg anbietet.

»Wenn ich an die EU denke…«, unter diesem Titel steigen Schul-klassen der Sekundarstufe I spielerisch in das Thema Europa und Europäische Union ein. Anhand des Spielplans der Europameis-terschaft Vorrunde 2012 erkunden sie die Mitgliedstaaten der EU und lernen in weiteren Modulen die historischen, politischen und wirtschaftlichen Grundlagen der Europäischen Union kennen. Schulklassen der Sekundarstufe II wird bei den Kursangeboten die Gelegenheit gegeben, unter dem Titel »Europa Wege aus der Krise« die Krise der Eurozone zu untersuchen oder bei dem Kurs-angebot »Europa Global« die Rolle der EU als globaler Akteur in den Blick zu nehmen. Jeder Schulklasse steht bei den Kursange-boten ein eigener Kursraum in der Lernumgebung Moodle mit multimedial aufbereiteten Themenbausteinen ergänzt durch Ma-terialien der didaktischen Umsetzung zur Verfügung. Der Besuch von Jungen Europäern mit Planspielen oder Diskussionen bzw. Chats mit Europa Abgeordneten runden das Angebot ab. Susanne Meir, [email protected]

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

D&E Autoren – Heft 63

Abb. 1 Prof. Dr. Rolf Caesar, bis 2009 Professor für Volkswirtschafts-lehre an der Universität Hohenheim sowie Leiter der dortigen For-schungsstelle für Europäische Inte-gration

Abb. 2 Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling, Professur für Politik und Wirtschaft (Political Economy) und Wirtschaftsdidaktik, Universität Tübingen

Abb. 5 Prof. Dr. Hans-Günter Wagner, bis 2000 Inhaber des Lehr-stuhls für Wirtschaftsgeographie an der Universität Würzburg

Abb. 6 StD Dr. Georg Weinmann, Abteilungsleiter am Dietrich-Bon-hoeffer-Gymnasium Wertheim, Mit-glied im Beirat von D&E

Abb. 7 StD Eberhard Keil, Fach-leiter für Geschichte am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrer-bildung Stuttgart

Abb. 8 Prof. Dr. Martin Seidel, Europa recht, Zentrum für Europäi-sche Integrationsforschung an der Universität Bonn, früher Bundes-ministerium für Wirtschaft

Abb. 3 Prof. Dr. Dirk Wentzel, Hochschule Pforzheim, seit 2005 »Jean Monnet Chair« in European Economic Relations

Abb. 4 Prof. Dr. Hanno Beck, Hochschule Pforzheim, bis 2006 Redak teur für Wirtschaft und Finanz märkte bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Abb. 9 E-Learning-Kursangebote zu Europa, nähere Informationen unter: www.elearning-politik.de/europa_online_unterricht.html

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D&ED & E A u t o r e n Heft 63 · 2012

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Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Büro des Direktors: Sabina Wilhelm -62 Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter -63 Felix Steinbrenner -64

Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: N.N. -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Sabrina Gogel -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137

Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser* -20 Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25 N. N. -26 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik: Angelika Barth* -22Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35 Alexander Werwein-Bagemühl* -36Charlotte Becher*, Stefan Paller* -34, -37

Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier -49/-46

Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug -146 Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil -139 Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Hausmanagement: Nina Deiß -109

Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich

Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner -77 Jennifer Lutz -33

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiter: Wolfgang Berger -14 Dr. Alexander Ruser -13

Außenstelle Tübingen Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon: 07125/152-133, -148; Fax -145 Klaus Deyle -134 Die Außenstelle Tübingen wird zum 1.5.2012 aufgelöst

Projekt ExtremismuspräventionStuttgart: Stafflenbergstraße 38Leiterin: Regina Bossert -81Assistentin: Nadine Karim -82

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr

Newsletter »einblick« anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter.html

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www.lpb-bw.de

DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNETAktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de

BESTELLUNGENAlle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei:Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und MarketingStafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 [email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shopWenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 1 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 1 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger Produkte werden Versandkosten berechnet.

KOSTENPFLICHTIGE EINZELHEFTE UND ABONNEMENTS FÜR INTERESSENTEN AUSSERHALB BADEN-WÜRTTEMBERGSAbonnements für 6,– Euro pro Jahr (2 Hefte) über: LpB, Redaktion »Deutschland & Europa«, [email protected], Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart.