Die Bedeutung der Widersprüche für die Homerische Frage

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    Suppl€ment au Programme des Cours   du  Coll•ge Royal  Fran‚ais(Exercice 1893ƒ1894).

    iie iedeeder 

    fspri  IB. IB men

    Von

    Dr.   C.  Rothe.

    -„o…-

    Berlin 1894.

    Druck von  A. Haack,   NW.. Dorotheenstrafse  55.1894. Proer. Nr.  53.

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    Die zahlreichen Widersprˆche in den homerischen Gedichten sind schon von denAlten bemerkt und verschieden beurteilt worden. Die Alexandriner wandten, soweit unsdie Scholien davon Kenntnis geben, mehr oder weniger naive Mittel an, um sie ent‰weder zu beseitigen oder   zu  erklŠren.   Am hŠufigsten griff  man zu dem Mittel der Athetese,d. h. man erklŠrte die Verse, die einen Widerspruch mit der vorangehenden Darstellungenthielten, als spŠteren Zusatz, ohne darnach zu fragen, wie sie in den Text gelangt seink‹nnten. In andern FŠllen gab man eine Šufserst willk r̂liche und gewaltsameErklŠrung,

    fafste   z. B. ein ganz deutliches PrŠsens fˆr ein Futurum auf oder nahm, wenn ein Held,dessen Tod in den vorangehenden GesŠngen erzŠhlt war, wieder auftrat, Gleichheit des

     Namens zweier an sich verschiedener Personen an, oder schlug endlich einfach Œnderungdes Namens oder Wortes   vor   1).   Diese Versuche aus einer Zeit, in welcher die Kritik ihreersten tastenden Schritte that, m‹gen uns jetzt vielfach kindlich erscheinen; immerhin aber legen sie Zeugnis ab von aufmerksamemLesen der Gedichte, wŠhrend die  grofse Masse der Gebildeten wohl meist ˆber die Widerspr̂ che hinweglas, oder wenn sie wirklich einmaldarauf aufmerksam wurde, wie Horaz dachte: dormitat et bonus Homerus.

    Die Widersprˆche und Unebenheiten der Darstellung aber in dem Sinne zu ver‰werten, dafs man deshalb die Einheit der Gedichte selbst angezweifelt hŠtte, ist, soweitwir wenigstens von  den kritischen Arbeiten der  Alten  Kunde haben, ihnen nicht eingefallen.Zwar soll es …Chorizonten„gegeben  haben, MŠnner, welche die Odyssee Homer absprachen,indes ihre Grˆnde sind uns   zu wenig  bekannt,   da  die Gegenparteiuuter Fˆhrung Aristarchsoffenbar  Sieger geblieben ist und   diese   Ansicht vollstŠndig unterdr̂ ckt hat. Diesen Fort‰schritt haben erst die neueren Gelehrten gemacht und damit   eine  genauere Kenntnis nicht

    ') Ein bezeichnendes Beispiel fˆr   das Verfahren der Alexandriner bieten die Scholien zu   N 658/59,†wo   es den Widerspruch zu erklŠren gilt, dafs PylŠmenes, dessen   Tod   E  576  berichtet ist, der Leiche seinesSohnes folgen kann. Wir lesen   hier   :   a&eroˆvzai pcporepot,  orŽ   nXavrj&d‚ ti‚ ix roo S‚  pa   rcarpl  Žnero"(Vs. 644) eraev a‘ro‘‚, iva xal ’ na-njp rv oŽov  ’d“pr”rai   ... El  • p€votev  oŽ artyoi vo-qr€ov’pwvupŽav–vai.. A. Ein anderes Scholion sagt Šhnlich:    pkv  'Apioro

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    nur homerischer, sondern epischer Darstellung ˆberhaupt herbeigefˆhrt. Fr. A. Wolf inseinen Prolegomenis hat diese Frage mehr gestreift als wirklich behandelt. Erst Lachmann

    hat mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und scharfem VerstŠnde die GesŠnge der Ilias auf ihren Zusammenhang und ihre Widersprˆche hin untersucht und daraus weitgehendeFolgerungen gezogen.

    Die Odyssee blieb von diesen Untersuchungen verhŠltnismŠfsig lange verschont,da ihre Einheit so fest gefugt schien, dafs sie noch Wolf   1) als das herrlichste Denkmalgriechischen Geistes zu sein schien. Die Untersuchungen Kaysers  2) und anderer, welcheauch ihre Einheit in Frage stellten, blieben fast unbemerkt, und erst Kirchhoffs gr̂ nd‰licher, streng methodischer Arbeit ist es gelungen, diese Meinung zu erscĥ ttern, so zwar dafs jetzt die Meinung fast die herrschende geworden ist, jene noch von Wolf so geprieseneEinheit sei nicht das Erzeugnis eines grofsen Dichters, sondern die Leistung eines elendenBearbeiters oder Flickpoeten.

    An die Untersuchungen von Wolf, Lachmann und Kirchhoff haben sich einegeradezu unˆbersehbare Zahl anderer angeschlossen, die alle mehr oder weniger bewufstvon dem Zwecke ausgehen, Widersprˆche und Anst‹fse aufzusp r̂en, um daran eine scharfe,meisternde Kritik Homers zu knˆpfen. Kein Gesang, ja fast kein Vers ist von dieser er‰

     barmungslosen Kritik verschont geblieben   3), so dafs man sich oft erstaunt fragt, worindenn eigentlich jener Zauber der homerischen Gedichte liege, der nicht nur die Altensondern auch jetzt noch alle Gebildeten erg‹tzt. Es wird wohl keinen geben, den dasfortgesetzte Lesen derartiger Untersuchungen nicht anwiderte, weil sie zum gr‹fsten Teileein unreifes, durchaus befangenes, am Kleinen haftendes Urteil bekunden. Herantretendan das Lesen der Gedichte mit dem Zwecke, Widersprˆche aufzuspˆren, achten sie wenigauf die Sch‹nheiten der Darstellung und fragen vor allem nicht nach der Absicht desDichters oder der Veranlassung zu dem Widerspruch, sondern tadeln nur oder geben weise

    ihre Ansicht kund, wie es der Dichter hŠtte machen sollen. Dafs sie sich dabei hŠufig inWiderspr̂ che verwickeln, die gr‹fser sind als die, welche sie beseitigen wollen, entgehtihnen nat r̂lich   4).

     Nun bat es zwar auch nicht an Verteidigern der Einheit der Gedichte gefehlt,aber diese Verteidigung ist den Angriffen grade Lachmanns und seiner AnhŠnger gegen‰ˆber wenig geschickt gewesen. Zwar hat man auf die unzweifelhaft hervortretende Einheit

    *)  Proleg.   S. 118  Cuius (Odysseae) admirabilis summa  et  compages pro praeclarissimo monumentoG-raeci  ingenii habenda  est".

    2) 1881 wieder herausgegeben von Usener.3) Wer sich einen Begriff machen will von der gewaltigen Arbeit und von den vielen Ver‰

    dŠchtigungen", der lese K. H. Benicken, Studien und Forschungen,   ein  Werk   von  ˆber 1500 Seiten, das nur die Litteratur zu NEO behandelt. Einen annŠhernden Begriff giebt auch Hentzes Anhang zur Ilias undOdyssee. Denn dieser Gelehrte hat mit geradezu bewunderungsw r̂diger Sorgfalt die verschiedensten

    Ansichten hier gesammelt und in ihren bezeichnendsten Aufserungen w‹rtlich wiedergegeben.4) Vergl. Eibbeck Horn. Miscellen. Progr. 1888.   S. 16,

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    des Planes, der Sprache und   des Metrums hingewiesen, aher   den  Widersprˆchen gegenˆber ist man ungleich und schwankend verfahren. Entweder hat man nach dem Muster der Alexandriner zu kˆnstlichen ErklŠrungen gegriffen, die   dem Wortlaute des  Textes geradezuGewalt anthun  1); oder man hat in umfangreichstem Mafse von dem Ungeschick der …Interpolatoren„ Gebrauch gemacht, ohne doch zu  erklŠren,  wie ein Mensch   so unverstŠndigsein konnte, solchen Unsinn hinzuzufˆgen, oder andere so th‹richt, ihn ohne weiteres auf‰zunehmen   2); oder man hat endlich auf diese Anst‹fse gar keine Rˆcksicht genommenundalles fˆr gut und vortrefflich erklŠrt, selbst die zweite G‹tterversammlung im fˆnftenBuche der Odyssee oder den G‹tterkampf im zwanzigsten Buche der   Ilias   3).

    Zwischendiesen beiden ŠnfserstenRichtungen hat man  zu vermitteln gesucht, allenvoran Christ  4), der zwar geringere Widersprˆche, z.  B.  wenn ein  Verwundeter den  nŠchstenTag wieder kŠmpft, ohne dafs seine  Heilung erwŠhnt wŠre,   dem Dichter durchgehen lŠfst,

     bei schwererenhingegen, zu denen er  schon  verschiedeneAuffassung  der Ortlichkeit rechnet,Verschiedenheit der Dichter annimmt. Noch etwas weiter geht W.   Leaf  5 ), der Wider‰sprˆche in zwei verschiedenen Scenen unbedenklich gelten lŠfst, und P.  Cauer   6),   der  selbstFehler in der Gesamtanlage mit einer SchwŠche homerischen Denkens, mit dem Mangelan …logischer Perspective„, wie er sich ausdrˆckt, glaubt entschuldigen zu k‹nnen, beischwereren aber Bedenken trŠgt und dann lieber an verschiedene Verfasser denkt.

    Ich nun habe am Ende meiner Abhandlung …die Bedeutung der Wiederholungenfˆr die Homerische Frage„   1) die Behauptung aufgestellt, dafs auch …schwerere Fehler inder Gesamtanlage kein Beweis gegen die Verfassereinheit sind, wenn der Grund desAnstofsesin der Sache selbst liegt, d. h. wenn sich zeigen lŠfst, dafs die Gestaltung der ErzŠhlung, wie sie der Dichter aus erkennbaren Gr̂ nden gewŠhlt hat, notwendig zu

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    ') So nicht selten W. Nitzseh, der sonst so feinsinnige ErklŠrer der homerischen Gedichte.Vergl. z. B. die Auslegung, die er der Frage der Arete und der Antwort des Odysseus   r” 233 u. f. giebtund dazu mein Progr. de vetere . . N’arw 1881 S. 19 u. f.

    2) Als Hauptvertreter dieser Eichtung sind Dˆntzer und Kammer zu nennen, obwohl sie imeinzelnen weit auseinandergehen und der eine nicht selten, wie es auch sonst geschieht, fˆr gute, alteDichtung hŠlt, wo der andere das Maclnverk eines unˆberlegten Interpolators sieht. Beide ˆbertrifft inletzter Zeit an Verwerfungswut freilich noch Scotland.

    s) So denken besonders Kiene, Die Epen des Homer. T. I 1881 (vgl. S. 20 u.  f.) und Buchholz,Vindiciae carminum Homericorum 1885, der in den schŠrfsten Ausdrˆcken G. Hermann, Lachmann undseine AnhŠnger wegen des Aufspˆrens von Widerspr̂ chen tadelt und seine Ansicht dahin zusammenfafst(S. 136): omnes has discrepantias non flocci facio.

    4) Die sachlichen Widersprˆche der Dias, Abh. d. bair. Ak. der W. 1881. S. 125ƒ171; Iliadiscarmina 1884. S. lu. if.; Homer oder Homeriden2  1885. S.  83 u.  f.

    6) Ilias London 1886 u. 1888 (vgl. P. Cauer, Berl. phil. WS. 1890. Sp. 973ƒ79) und A Com‰ panion of the Iliade, London 1892.

    6) Eine SchwŠche der homerischen Denkart, Bhein. Mus. f. Phil.,   N.   F. Bd. XLVn   S.  74ƒ113.

    Vgl. dazu meine Besprechung in den Jahresb. d. Phˆ. Vereins XIX (1893) S. 132ƒ135.7) Sonderabdruck aus der Festschrift des Franz‹s. Gymnasiums, Berlin 1890.

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    Widersprˆchen und Unebenheiten fˆhren muŽste„. Hier nun will ich den Beweis dafˆr erbringen und zugleich zeigen, was wir aus solchen Widerspr̂ chen fˆr die Frage nach

    der Entstehung der Gedichte lernen k‹nnen   1).

    I.

    Lehrreich sind in erster Linie gewisse Unachtsamkeiten des Dichters, die Wider‰spr̂ che hervorgerufen haben, aus denen man oft die weitgehendsten Schlˆsse gezogen hat.Ich rechne dahin nicht FŠlle wie   2? 45 und A 30 (die Buckeln an der SchwertscheideAgamemnons sind an erster Stelle silberu, an der andern golden), auch nicht   2) dafs ^30die Schwelle des Palastes des Odysseus Mivo‚, p 339   p€Xtvo‚,  

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     beschenkt worden, weder bei den Kikonen noch bei den Lotophagen noch vollends bei

    dem Kyklopen. Wohl aber ist durch das Lied bekannt, wie reich Odysseus geehrt und beschenkt worden ist. Und wie hier   die GefŠhrten sprechen, nicht als ob sie  am Anfangesondern am Ende der Eeise wŠren,   so Odysseus selbst   x  50  u.  f. Denn wenn er ˆberlegt,ob er sich in Folge des Mifsgeschickes ins Meer stˆrzen oder noch lŠnger ausharren soll,so ist   diese   žberlegung erst nach langen Irrfahrten, d. h. von seinem Standpunkte alsErzŠhler bei   den PhŠaken angebracht, nicht aber damals, wo er erst   so  kurze Zeit umher‰geirrt war. Genau so steht es   A 185. 447ƒ451 mit Telemachs Alter. Er kann zu der Zeit, in welcher Odysseus in der Unterwelt war, noch nicht das Alter haben, das ihmhier beigelegt wird, wohl aber in der Zeit, in welcher Odysseus erzŠhlt. Freilich nochmerkwˆrdiger sind die Stellen der Ilias (5 260 und   z/  354), in welchen sich OdysseusmitStolz …den Vater Telemachs„ nennt, Stellen welche thatsŠchlich schon die Rolle voraus‰setzen, die Telemach in der Odyssee spielt   1).

    Auch lŠfst sich hierher ziehen š 15 u. f., wo der Dichter erzŠhlt, dafs der Sohndes Aigyptios, Antiphos, von Polyphem als der letzte verzehrt worden sei, wŠhrend erstin t das Abenteuer geschildert und dabei jener Antiphos gar nicht genannt wird. Genauso heilst es 5 858 von Eunomos   z8—”ir” bizh %ep

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    Rechnen wir nun hierzu, dafs in A der Menoitiade als bekannte Person eingef̂ hrtwird und wir erst spŠter erfahren, dafs es Patroklos ist; dafs genau dasselbe ˜ 640 mitdem   aošcˆTrjc geschieht, dafs Z251 schon die Mutter Hektors erwŠhnt wird, ihr Name aber erst Z293 genannt wird, dafs ebenso # 8. 47. 62 der Herold auftritt, dafˆr aber #65 sein

     Name genannt wird, ohne die Hinzufˆgung von   xvjpog, dafs   t  60 gesagt wird, es seien von jedem Schiff sechs GefŠhrten gefallen, t 159 aber erst die Zahl der Schiffe genannt wird,die an der ersten Stelle schon als bekannt vorausgesetzt wird, dafs   1 69 Elpenor weifs,Odysseus wird zur Kirke zurˆckkehren, obwohl er diese Kenntnis auch nur aus der Sagehaben kann   1); so bekommen wir ein Bild von dem Umfange, in welchem der Dichter das,was er erzŠhlt, schon als bekannt voraussetzt. Denn die angefˆhrten Stellen, die sichnat̂ rlich leicht vermehren lassen, finden sich nicht etwa nur in sogenannten …Flickstˆcken„und spŠten Teilen des Epos, sondern in allen GesŠngen der beiden grofsen Dichtungen.

    Gleichzeitig aber ersehen wir, wie schwer es dem Dichter in dieser Hinsicht wird,

    sich genau auf den Standpunkt der handelnden oder sprechenden Person zu versetzen, dafser vielmehr ohne weiteres annimmt, dafs, was er weifs, auch jeder der Sprechenden wissenmufs. Dieser Mangel an Unterscheidung erklŠrt nun auch Stellen wie   „ 187   u.  f., *81,x  130,   x  277   u.  f.,   o 420   u.   f., an denen Odysseus oder EumŠus Dinge erzŠhlen, die siegar nicht erlebt haben und die eben nur der Dichter, der hier ohne weiteres fˆr den Er‰zŠhler eintritt, wissen kann. Ein zwingender Grund, hier ursprˆnglich ErzŠhlung in der dritten Person durch den Dichter anzunehmen, wie man lange Kirchhoff geglaubt hat,liegt nicht vor, wenn auch die Umwandlung leicht m‹glich ist.

    Hierher sind endlich Stellen zu rechnen wie $352, wo Menelaos so auf die ErzŠhlung Nestors y 131 u. f. Bezug nimmt, als wenn er selbst dabei gewesen wŠre, obwohl dies nichtder Fall ist, und   C 67, wo es von Alkinoos, der von dem Traumgesicht der Nausikaanichts weifs, doch heilst: ’ de n—vra v’ei. Wenn mau an diesen Worten Anstofs genommen

    hat oder das …Wissen„ des Alkinoos kˆnstlich erklŠrt hat (FŠsi), so sprechen dagegen nichtnur die oben schon angefˆhrten Šhnlichen Stellen, sondern auch a 283. Es freut sich hier Odysseus (281), dafs Penelope den Sinn der Freier beth‹rt und Geschenke erprefst voo‚d€ o™ alla /Ÿ€volua. Die letzten Worte konnte wohl der Dichter sagen, nicht aber Odysseus,der hier Penelope zum ersten Male wiedersieht und ihre wirkliche Absicht doch nichtdurchschauen kann   2). Und wie hier Personen die Denk- und Handlungsweise anderer kennen, ohne dafs man sieht, wie sie zu dieser Kenntnis kommen, so 2 391/92 Charis dieAbsicht der Thetis und Hektor X 298 die Ath•nes. Denn sobald er den Deiphobos ver-mifst, sagt er ohne weiteres k/js d' •anarrjOEv 'A&Tjvrj. Œhnlich ist noch  

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    also Kirchhoff  1) sich wundert, woher der Ziegenhirt Melanthios   %  139ƒ141, der doch inder Nacht nicht zu Hause gewesen ist, Kenntnis davon hat, dafs Odysseus und Telemach

    die Waffen weggeschafft und vermutlich in den Thalamos gebracht haben, so ist diesesStaunen zwar erklŠrlich, aber wir werden an dieser Stelle ebensowenig daran Anstofs nehmend r̂fen als an den vielen Šhnlichen. Nichts hat der Untersuchung ˆber die Entstehungder homerischen Gedichte mehr geschadet, als dafs man stets nur einzelne Stellen be‰handelt hat und Anst‹fse, die sie gewŠhrten, entweder als spŠtere ZusŠtze erklŠrte oder sie einem geistlosen und unverstŠndigen …Bearbeiter„ zuschob, der sich in die gegebeneLage nicht hineinzufinden vermochte. Richtiger unzweifelhaft ist es, wie wir es hier thunwollen, die Gedichte zunŠchst als ein Ganzes zu nehmen, als was sie uns ˆberliefert sind,und daraus die Eigenart des Dichters zu erkennen.

    Diese Betrachtung lŠfst uns nun zunŠchst einen Dichter erkennen, der einer reichentwickelten, allgemein bekannten Sage gegenˆbersteht. So erklŠrt sich am leichtestensein naiver Glaube, dafs die handelnden Personen Thatsachen kennen, welche sie, wenn

    man schŠrfer zusieht, nicht kenneu k‹nnen. Wem diese ErklŠrung einer durchaus ver‰zeihlichen und begreiflichen Unaufmerksamkeit des Dichters nicht gen̂ gt, den m‹chte ichauf einige andere FŠlle hinweisen, in denen der Dichter sogar bei dem H‹rer eine Kennt‰nis der Sage voraussetzt, die wir jetzt nicht mehr haben, die jedenfalls aus den Gedichtenselbst nicht zu entnehmen ist. Wer   z. B.   X  291 der   ”j.avrt‚ ˜ppav ist, was   X 521 die Worteyuvaicˆv elvexa d—pcov und   X  547 nac˜s‚ de Tpmwv 8'txaaav xdi   ITaXX‚ 'Ad-rjvrj bedeuten, ist weder 

    aus dem unmittelbaren Zusammenhange noch aus Homer ˆberhaupt zu entnehmen   2), ganzebenso wie der Inhalt des Liedes   & 75 u. f., durch das auf eiue Wendung der Sage an‰gespielt wird, von der sonst auch nicht die geringste Spur vorhanden   ist   3). Ja selbst dieHinzuf̂ guug des Artikels /299/300 r‚ news   ye'„e   4), mit welchen Menelaos nach Vernichtungseiner Flotte nach Œgypten verschlagen wird, setzt eiue Kenntnis der VorgŠnge bei demH‹rer oder Leser voraus, die uns jetzt abgeht. Œhnlich steht es mit der ErzŠhlung desPh‹nix /527 u. f. (vgl. Erhardt a. a. 0. S. 147ƒ150), wobei u. a. unklar bleibt,welches die belagerte Stadt ist und weshalb die Mutter von den Erinyen den Todihres Sohnes erbittet. Auch wird der Tod des Meleager, obwohl es 571 heifst: riy‚rjspnfdŽriQ 'Rpivb‚ x¡usu, nicht erzŠhlt, mufs also sonst irgendwie bekannt gewesensein. Man vergl. noch 3 242ƒ264 (Odysseus in Troja als Bettler), ˜ 271ƒ289 (Vor‰gŠnge im h‹lzernen Pferde), ˜ 495 (Ajax Tod),   2"  313 u. f., S 29/30 (Anspielung auf 

    1) Odyss.  2  S.  584.2) Vgl. dazu v. "Wilamowitz,Hom. Untersuch. S. 147ƒ158, der hier eine geradezu glŠnzende

    Probe von Scharfsinn im Ermitteln von Quellen" giebt.3) Was die Scholien anmerken, ist offenbar aus der Stelle selbst geschlossen; vgl. Seeck, die

    Quellen der Odyssee   S. 288ƒ290.

    4) Vgl. dazu Kirchhoff, Odyssee 2  S.  332. "Wenn dieselbe Angabe in den Nosten sich findet, som‹chte ich die M‹glichkeit einer gemeinsamen Quelle nicht ohne weiteres leugnen.2

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    das Parisurteil), š 602ƒ617 (Niobe). Das deutlichste Bild aber von dem VerhŠltnis desDichters und SŠngers zu seinen Zuh‹rern geben uns die Verse # 486 u. f. Wenn hier Odysseus, d. h. ein beliebiger Zuh‹rer, den SŠnger auffordern kann, einen beliebigen Teildes troischen Sagenkreises vorzutragen und wenn der SŠnger sofort auf diesen Wunscheingeht und an einer beliebigen Stelle einsetzt, so setzt dies sowohl bei den Zuh‹rern als

     bei dem SŠnger eine ganz eingehende Kenntnis der Sage voraus, die natˆrlich im Liedeverbreitet gewesen ist. Dafs neben dem troischen Liederkreise auch andere GegenstŠnde,vor allem die That des Orest gefeiert wurde, geht aus den hŠufigen Anspielungen auf diese That in der Odyssee hervor. Alles spricht so dafˆr, die zuerst erwŠhnten Fehler der Darstellung wie die zuletzt angefˆhrten Stellen, dafs wir uns den Dichter ziemlichspŠt gegen das Ende des lebendigen epischen Gesanges denken mˆssen, und dafs die An‰sicht derer, welche glauben, dafs sich erst an den homerischen GesŠngen die Sage ent‰wickelt habe  1), dafs er selbst nichts oder nur sehr wenig der Sage entlehnt habe  2), ent‰schieden zu verwerfen ist. Es stimmt also diese Beobachtung durchaus zu der, welche unsdie Betrachtung der wiederholten Verse oder Versteile lieferte   3).

    II.

    In den bisher angefˆhrten Beispielen zeigt sich eine gewisse Unachtsamkeit oder SchwŠche der Darstellung bei dem Dichter. Er vermag sich nicht genau auf den Stand‰

     punkt des Redenden oder Handelnden zu versetzen und lŠfst ihn Dinge sagen oder wissen,die nur er wissen kann. Wir finden, soweit mir bekannt ist, dieser Art Versehen bei

    keinem anderen Dichter in gleichem Umfange, und wir k‹nnen auch bei Homer annehmen,dafs er kein Bewufstsein von dem Fehler gehabt habe, der in der ˆberwiegenden Mehrzahlder FŠlle seine ErklŠrung in der allgemein verbreiteten Kenntnis der Sage findet. Andere

    Fehler in der Darstellung zeigen, dafs der Dichter gewisse Kunstgriffe in der Anordnung desStoffes, wie sie allmŠhlich ausgebildet worden sind, noch nicht kennt. Es gilt dies namentlichdann, wenn die Haupthandlung durch eine Nebenhandlung, sei es, dafs diese der Zeit nachvorausgeht, sei es, dafs sie gleichzeitig ist, unterbrochen wird. Bei dem Dichter verwandeltsich alles in ein Nacheinander so sehr, dafs ihm noch die Formeln fehlen   4), um die Gleich‰zeitigkeit zweier Handlungen auszudr̂ cken, wie sie spŠter Herodot verwendet (z. B. mitdem Partie. VII, 2   artXl.op.ivou   de —apeŽou •ri Œlyuirˆov ardat‚ •y€vsro, im Latein, quae dumgeruntur, Scipio . . .). Es zeigt hierbei der Dichter denselben Mangel an logischer SchŠrfe,den er auch im einfachen Satzbau zeigt. Wie hier noch in unzŠhligen FŠllen die Bei-

    *) Niese, Die Entwickelung der Homerischen Poesie. 1882.2) Buchholz, Vindiciae carminum homericorum und A. "Wauters, Hom•re a-t-il exist€?

    3) Die Bedeutung der "Wiederholungen (s. o.)  S. 154 u.  f.*)   Vgl. Hˆttig, Zur Charakteristik Homerischer Komposition. 1386. S. 8.

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    Ordnung zweier  Gedanken statt   der   Unterordnung des  einen  unter den anderen ˆberwiegt   '),so ist namentlich auch das ZeitverhŠltnis hŠufig ungenau ausgedrˆckt 2). Es lassen sichfˆr Homer eben nicht, wie Kirchhoff verlangt, dieselben strengen Gesetze der Logik an‰wenden wie etwa fˆr Thukydides, fˆr Homer weniger als fˆr jeden anderen Dichter   3).Jedes ThatsŠchliche hat fˆr ihn besonderen Wert und leicht gefŠllt er sich in der Aus‰schmˆckung desselben, ohne auf den streng logischen Zusammenhang und die richtigeReihenfolge der Dinge Rˆcksicht zu nehmen. So kann es nicht Wunder nehmen, wennman an seiner Darstellungsart   oft Anstofs genommen und fˆr stˆmperhafte Ungeschicklich‰keit angesehen hat, was sich doch aus den angegebenenGrˆnden leicht erklŠrt und in den besten Teilen des Gedichtes vorkommt. Einige FŠlle wollen wir hier nŠher betrachten.

    5142 u. ff. wird der Eindruck geschildert, welchen die Rede Agamemnons auf die versammelteMenge   gemacht hat, die er damit nur hat versuchen wollen. Alles stˆrztfort zu den Schiffen, sie fordern einander auf, sie zu reinigen und dann ins Meer zu

    ziehen;  unermefsliches  Geschrei dringt   zum Himmel;  einzelne ziehen  schon an den Schiffen.Das Bild ist vollstŠndig. Nun erst geht der Dichter zu einem anderen ˆber, zu Hereund Athene, welche beschliefsen die Flucht aufzuhalten. Athene steigt hinab undwendet sich an Odyssens und sucht ihn durch geeignete Worte anzuspornen, die Fluchtzu hintertreiben. Offenbar hat sich diese ThŠtigkeit der G‹ttin wŠhrend der andernHandlung vollzogen, aber diese Gleichzeitigkeit ist vom Dichter garnicht angedeutet; siesetzt da ein, wo die erste Schilderung aufh‹rt (mit ev&a). Odysseus greift ein, mit demHerrscherstabe Agamemnons ausgerˆstet, und fordert die Fˆhrer auf, Platz zu nehmen(191   aorœQ   re  x—$r”ao xai   aUou‚ "˜pue  ¡ao˜‚) und die andern zum Sitzen zu bringen, nichtals ob das Volk schon bei den Schiffen wŠre, im Begriff, sie ins Meer zu ziehen,sondern als ob sie eben aufstŠnden und forteilen wollten. In diesem Augenblick wŠrenatˆrlich auch das Eingreifen n‹tig und natˆrlich gewesen, aber der Dichter kann eben

    die einzelnen Ereignisse, wenn sie sich auch gleichzeitig vollziehen, nur nach einander darstellen. Dabei ˆbergeht er unwesentliche, die fˆr ihn gleichgiltig sind, ganz; so hier,was inzwischen Agamemnon macht.

    Solcher Scenen giebt es eine grofse Zahl in den homerischen Gedichten und fast

    …) Hentze, Die Parataxis bei Homer, I 1888, II 1889, III 1891. Man vergl. z. B. T457   v“r”  [vdr”  tpaŽve-z   —pr”upŽXouMevsl—ou, ušscc ˜• . . .   'EX€vyjv . .. . Sx̃ ore, oder ˜ 140 =   x 534 (fie“ao/tcuŽ” imšov •p€

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    ˆberall hat man daran Anstofs genommen und entweder an spŠteren Einschub gedachtoder das Ungeschick des Bearbeiters" streng getadelt. So wird in 2 die Trauer der Myrmidonen geschildert; sie schliefst (353) mit den Worten 7tavv’%ioi . . . veazevdj(ovroyoc‹vreg. Daran reiht sich, einfach mit de angeschlossen, eine Scene im Olymp zwischenZeus und Hera ƒ 367. Daran, wieder mit de verbunden (fŽpaŽozou ˜' have   . .   .), der Besuchder Thetis bei Hephaestos. Dieser Besuch ist natˆrlich nicht, wie man ohne homerischer Darstellungsart gerecht zu werden, angenommen hat   1), am Ende der Nacht anzunehmen,ebensowenig wie das GesprŠch zwischen Zeus und Hera, sondern gleichzeitig mit der Klageder Myrmidonen. Es verwandelt sich auch hier das Gleichzeitige f r̂ den Dichter inein Nacheinander. Es bringt dann Thetis ihr Anliegen vor, Hephaestos verspricht Er‰fˆllung und geht sofort (468) an die Arbeit, welche der Dichter im einzelnen mit wunder‰ barer Kunst schildert. Der Thetis wird dabei nicht eher gedacht, als bis ihr Hephaestos(615) die fertigen Waffen ˆberbringt. Wie ungeschickt, ruft man aus, die Thetis so

    allein zu lassen! Sie mufs sich sch‹n gelangweilt haben"  2

    ). Ich finde diese Bemerkungenganz unberechtigt, ja th‹richt. Sollte sie etwa im Rufs stehen und der Arbeit zusehen,wie man nat r̂licher gefunden hat? Dann w r̂den andere ganz ebenso den Dichter tadeln und andere wiederum, wenn er die Thetis hŠtte gehen und dann wieder zurˆck‰kommen lassen. Wesentlich nur ist, dafs wir hier wie in B sehen, dafs fˆr den Dichter 

    allein das f r̂ die Fortfˆhrung der Handlung N‹tige von Wichtigkeit ist, wŠhrend er unthŠtige Personen unber̂ cksichtigt lŠfst. Dieselbe Eigentˆmlichkeit des Dichters findenwir wieder in a 290 u. f., wo Penelope, wie es scheint schweigend, im Saale zur̂ ckbleibt,

     bis die Geschenke, welche sie den Freiern entlockt hat, herbeigeholt werden, und tp 111u. f., wo Penelope gleichfalls unthŠtig sitzen bleibt, bis Odysseus das Bad genommenhat, endlich auch in r, wo Penelope, wŠhrend Eurykleia dem Odysseus die Fˆfse wŠschtund ihn dabei an der Narbe erkennt, scheinbar geistesabwesend im Zimmer sich befindet.

    Hier hat der Dichter aber wenigstens hinzugefˆgt, dafs sie es nicht merken konnte, denn'A&rjvaŽfj v’ov  erpansv (478).An allen drei Stellen hat man, besonders auch Kirchhoff   3), denselben Anstofs

    genommen wie in S und an der Stelle in t es vollends unertrŠglich gefunden, dafs in dieErkennungsscene hinein noch die ErzŠhlung fŠllt, wie Odysseus zu dieser Narbe gekommensei. …Sie unterbricht„, sagt Kirchhoff, …in gefˆhlloser Weise die einfache ErzŠhlung desergreifenden Herganges„. Der Vorwurf ist wohl nach unserem Gefˆhle berechtigt, aber eine andere Frage ist, ob wir deshalb St‹rung des ursprˆnglichen Zusammenhangesannehmen mˆssen, d. h. dafs wir eine derartige Unterbrechung nicht dem urspr̂ nglichen

    „) Vgl. Hentze,Anhang zu dieser Stelle (H.  VI. S.   123 u. f.).2) Brandt, Zur Geschichte und Kompositionder Hias. N. Jahrb. f. Phil.  1888 S.  518  u. f.

    Vgl. dazu meine  Besprechungdes  Aufsatzesin  den  Jahresb. d. phil.  Vereins XVI. S. 139.3)  Vgl.  Odyssee 2  S. 518 u. 554,   v. "Wˆamowitz, Horn. Unters. S. 59/60, Hentze, Anhang zu

    t476 u.

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    Dichter zutrauen k‹nnen. Finden sich nicht Šhnliche Unterbrechungen auch an anderenStellen? /527 u. f. will Ph‹nix ein Beispiel anfˆhren, wohin unbeugsamer Stolz fˆhrt.Er beginnt mit den Worten (527):   p.€”ivr””iai was epyov und erzŠhlt zunŠchst, ohne alleVerbindung mit dem Vorangebenden, yon dem Kampfe zwischen den Kureten und Aitolernum die Stadt Kalydon. Dann bringt er erst nach den Grund des Streites, einen Eber,den Artemis sandte (533) und den Grund ihres Zornes (534). Schliefslich aber erweistsich nicht dieser als schuldig, sondern sein zottiges Fell, als man ihn erlegt hatte (548).Dann wird pl‹tzlich gesagt, dafs solange Meleager am Kampfe teilnahm, ging es denKureten schlecht und sie wagten nicht refyeo‚ exroa&ev jut/uvetv (welcher Stadt ist nichtgesagt, s. o. S. 9). Nun erst (555) geht der Dichter auf den Grund des Grolles einund erzŠhlt in 20 Versen, weshalb er seiner Mutter zˆrnt, wobei wieder noch in 10 Versen

    ˆber die Herkunft der Frau des Meleager berichtet wird, und erst 574 kommt der Dichter auf die traurigen Folgen, welche das Fernbleiben des Meleager sowohl fˆr die Aitoler als

    f r̂ Meleager hatte. Wird nicht hier in derselben Weise unsere Spannung fortgesetzthingezogen? Noch Šhnlicher ist vielleicht folgende Scene. In   A 193 wird der Streit der 

    K‹nige gerade in dem Augenblicke unterbrochen, als Achilleus das Schwert aus der Scheide ziehen will, um damit den K‹nig zu t‹ten. WŠhrend er dies ˆberlegt, kommtAthene im Auftrage der Here, um ihn zur Vernunft zu bringen. Nun mutet uns der Dichter freilich viel   zu : sie ist nur ihm sichtbar, Achilleus redet sie an, sie antwortet ihm

    und sucht ihn zu beruhigen durch den Hinweis, dafs ihm einst genˆgender Ersatz fˆr die jetzige SchmŠhung werden wˆrde, und durch die Erlaubnis, dafs er den K‹nig schmŠhend r̂fe; nur zu ThŠtlichkeiten solle er es nicht kommen lassen. Achilleus verspricht zugehorchen, sie kehrt in den Olymp zur ĉk, Achilleus aber greift Agamemnon mitschmŠhenden Worten an. Alle Anwesenden sollen weder die Athene bemerkt noch die

    Worte geh‹rt haben, noch sich ˆber das Schweigen Achills gewundert haben. Es ist begreiflich, dafs hieran starken Anstofs nehmen mufs, wer die Dichtung nur als kˆhler Kritiker mit scharfem VerstŠnde liest und dafs man auch hier an spŠteren Znsatz gedachthat   1). Andere aber wollen mit unzweifelhaft gerechterem Urteil sich diese …sch‹nstePartie des ersten Gesanges„ 2) nicht rauben lassen. Wie berechtigt dieses Urteil ist, beweisendie Šhnlichen Scenen: ?rl55u. f.,   ,o 360   u. f.,   ff  69/70.

    Zur Vergleichung dieser Art, die Haupthandlung zu unterbrechen, k‹nnen auchfolgende beiden Stellen dienen. Im Anfange von  

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    ist, da braucht der Dichter noch mehr als   25  Verse, ehe der verhŠngnisvolleSchufs fallt,

    ganz wie ˜ 104ƒ140 beim Schusse des Pandaros, der auch eine so verderbliche Wirkunghaben sollte. Ja,   2" 215ƒ240 erzŠhlt Aeneas selbst in spannender Lage, vor  seinem Zwei‰kampf mit Achilleus, diesem die Herkunft seines Geschlechts von Zeus. Vergl. endlichX  136ƒ265, wo alle hier geschilderten Eigent̂ mlichkeiten vereinigt sind: Flucht auf Erden, zweimalige Unterbrechung, obwohl sie fortdauert, durch G‹tterberatung undG‹ttererscheinung, dazu Widerspruch in der Berechnung der UmlŠufe.

    Ich meine, wir dˆrfen in allen diesen FŠllen nicht ohne weiteres mit unseremVerstŠnde urteilen, sondern mˆssen dem Dichter  das Recht lassen,   ihm bedeutsam scheinendeGegenstŠnde oder Handlungen zu schildern, wie es ihm gut scheint.   Und  verfahren nichtunsere Dichter noch oft genau ebenso? Bringen sie nicht hŠufig AufklŠrungen ˆber einePerson oder irgend ein VerhŠltnis an einer Stelle, die eine im wirklichen Leben ganzundenkbare Lage schafft. Ich will hier nicht von dem ganz gew‹hnlichen Kunstmittel

    sprechen, dafs sie pl‹tzlich  den  Helden in ein Nachdenkenˆber  sein Leben   versinkenlassen, bei dem seine ganze Vergangenheit vor seiner Seele, richtiger vor unserer vorˆberzieht.Ich m‹chte hier nur an ein Beispiel erinnern, das doch unvergleichlich …st̂ mperhafter„erscheint, als die eben angefˆhrten aus Homer, und doch findet es sich in einem viel‰gelesenen und gepriesenen Romane der Gegenwart, in der der Dichter doch ganz andereRˆcksicht auf scharfe Beurteilung nehmen mufs, als ein Dichter in dem v‹llig kritiklosenZeitalter  Homers   1). In Ohnets …Hˆttenbesitzer„ kommt   die  junge Baronin Pr€fot   zu ihrer Tante, der Marquise von Beaulieu, und nach der ersten stˆrmischen Begr̂ fsung erzŠhltsie sofort mit …gewohnter Zungenfertigkeit„ mancherlei von sich und ihrem Manne undsagt dann zur Tante …jetzt erzŠhlt mir etwas von Euch„, dabei schliefst sie die Augen,

     bequem in einem Lehnstuhl sitzend ƒ und entschlummert sanft. Ihren Schlummer  benˆtzt der Dichter, um ihr Vorleben zu erzŠhlen, namentlich ihr VerhŠltnis zu dem

    FrŠulein von Beaulieu und einem andern jungen MŠdchen, Athenais, die zusammen ineiner hochangesehenen Pension in Paris erzogen worden sind. Dies geht durch drei-einehalbe Seite ƒ dann erwacht sie grade zur rechten Zeit fˆr den Dichter, um dieErzŠhlung weiter zu fˆhren. Dafs hier in unpassenderer Weise, als selbst   in  r und  

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    als sie erwacht, ist natˆrlich die Frage vergessen. Es hŠlt nicht schwer, eine ReiheŠhnlicher FŠlle aus Romanen der Gegenwart, die fˆr uns die Stelle der epischen Gedichte

    der Vergangenheit einnehmen, zusammenzustellen   1). Doch mag dieses Beispiel genˆgen.

    I

    III.

    So wenig wie die heiden bisher behandelten FŠlle zu verwenden sind, um eineVerschiedenheit der Verfasser in den homerischenGedichten nachzuweisen,so wenig auchdie Widersprˆche, welche bisweilen in den Worten oder Handlungen einzelner Personenhervortreten. Es liegt dieser Widerspruch durchaus in der Menschennatur, bei der   z.  B.Stimmungen der Verzagtheit hŠufig wechseln mit ausgelassenstem žbermut und hoch‰gehender Freude. …Es ist das Herz   ein trotzig und verzagt Ding„, sagt schon  der  Prophetdes A. T., und es ist das gute Recht des Dichters, diesen verschiedenenStimmungen des

    Menschen, seiner wechselnden Ansicht ˆber dieselbe Thatsache oder Lage Rechnung zutragen. Wenn in Schillers Jungfrau von Orleans die Heldin die Stimme des MitleidsMontgomery gegenˆber, der sie mit den rˆhrendsten Worten um Schonung des Lebensanfleht, v‹llig schweigen lŠfst und seine Bitten zurˆckweist mit den harten Worten:

    Wenn Dich das Unglˆck in des Krokodils GewaltGegeben oder des gefleckten Tigers Klaun,Wenn Du der L‹wenmutter junge Brut geraubt,Du k‹nntest Mitleid finden und Barmherzigkeit!Doch t‹dlich ist's, der Jungfrau zu begegnen.Denn dem Geisterreich, dem strengen, unverletzlichenVerpflichtet mich der furchtbar bindende Vertrag,Mit dem Schwert zu t‹ten alles Lebende, das mir 

    Der Schlachtengott verhŠngnisvoll entgegenschickt,und ihn dann im Kampfe niederst‹fst, dagegen Lionel spŠter nicht zu t‹ten vermag, ob‰wohl er sie darum bittet und erklŠrt, sie und ihr  Geschenk   zu  hassen  und zu  verabscheuen,so ist dies wiederum ein gr‹fserer innerer Widerspruch als alle derartigen in Homers Ge‰dichten. Es ist mir auch nicht zweifelhaft, dafs alle Kritiker,   welche   jetzt bei jedemWiderspruch im Charakter eines Helden sofort erklŠren, dafs die sich widersprechendenStellen unm‹glich von demselbenDichter  sein  k‹nnten,   die Montgomerysceneals den  Zusatzeines ganz stumpfsinnigen Menschen, der sich in die Stimmung der Jungfrau nicht habeversetzen k‹nnen und der nur sklavischeine Stelle der  Ilias (0 34ƒ117) nachgeahmt habe,ausscheiden wˆrden, wenn die Trag‹die   statt   von Schiller  etwa von Aeschylos oder  Sophoklesherrˆhrte.

    ') Fˆr das Nibelungenlied verweise ich auf den Empfang Siegfrieds am Burgundenhofe, wo dieAufklŠrung ˆber seine Vergangenheit auch den Empfang unpassend unterbricht.

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    Bei der grofsen Wichtigkeit der Sacbe sei es mir verg‹nnt, noch auf ein zweitesBeispiel aus einem Schillerschen Trauerspiel hinzuweisen, das, soweit mir bekannt ist,

    auch noch nicht zur Vergleichung fˆr die homerischen Gedichte herangezogen ist. AlsWallenstein den Verrat Octavios erfŠhrt (W. T. 111,9), bricht er in die Worte aus:

    Das war kein Heldenstˆck, Octavio! Nicht Deine Klugheit siegte ˆber meine,Dein schlechtes Herz bat ˆber mein geradesDen schŠndlichen Triumph davongetragen.

    Wie vertrŠgt sich mit diesem …geraden Herz„ der Streich, den er Buttler spielt,dafs er ihn in einem Briefe, den er ihm zu lesen gieht, dem Kaiser warm empfiehlt, unddann einen anderen abschickt, der dem Minister rŠt   (II- 5) …den Dˆnkel Buttlers zu zˆch‰tigen„   1), ja wie vertrŠgt es sich auch nur mit den …krummen Wegen„, die er geht, umdas Heer dem Kaiser, seinem Herrn, abtrˆnnig zu Žuachen und zum Feinde hinˆberzufˆhren   2).

    Wenden wir uns nun zu Homer, so finden wir einen solchen Widerspruch in der Stimmung des Helden innerhalb weniger Verse in der berˆhmten Scene zwischen Hektor und Andromache .¢440ƒ481. Hier erklŠrt Hektor, auf die Bitte seines treuen Weibes,

    er m‹ge doch nicht in den Kampf zurˆckkehren, dafs er es thuu mˆsse, weil er sich sonstvor den Troern und Troerinnen schŠmen m ŝse; und doch wisse er gar wohl (448, 449):

    "Eaaerai i)”mp, ozav nor   oX

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    mit dem Vorangehenden nicht vertrŠgliche Erweiterung angesehen hat. Agamemnon soll,nachdem er kurz zuvor erklŠrt hat, Zeus  sei  noch immer der RŠcher des Meineides gewesen undwerde ihn auch jetzt   an Troja unzweifelhaft rŠchen (seine Worte stimmen w‹rtlich mit der Be‰fˆrchtung Hektors in ^447ƒ49 ˆberein!), nicht die Bef̂ rchtung aussprechen dˆrfen, dafsMenelaos an seiner Wunde sterben und dadurch der ganze Krieg erfolglos und ruhmlosenden k‹nne! Aber warum denn nicht? VertrŠgt sich diese Bef̂ rchtung weniger mitseiner Zuversicht von dem Falle Trojas als in dem andern Beispiele Hektors Wunsch,dafs sein Sohn nach ihm in Troja Herrscher sein m‹ge, mit derselben festen žberzeugung?Ja noch mehr. In O denkt Hektor die Schiffe der Griechen mit Feuer zu verbrennen,

    und doch nimmt er 0 498 nur an el   xev   '/”%atoi o'lywvxai abv vrjodi  

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    noch Aias ihn von seinem starren Sinn zurˆckzubringen versucht hat, da spricht er ˆber‰

    haupt nicht mehr vom Abfahren, was offenbar auch nie seine wahre Absicht gewesen ist,sondern erklŠrt nur (650ƒ653)o yp   Ttpcv Tto£€poio pedr/oopat acparosvro‚npiv f ulbv IJpidpoto daicppovo‚, "Exxopa   dhv,Muppid’vwv hm re xhaiac, xac  vr”ac, 'tx•ad-aixreŽvovT 1 'Apyeiou‚, xazd re apurai   m>p\ vvja‚.

    Wir sehen hier mit feiner Kunst den Heldenjˆngling geschildert, der, wie es schonA 489ƒ492 heilst, nach Kampf und Streitgetˆmmel verlangt, aber von seinem unbŠndigenZorn und schwer beleidigten Ehrgefˆhl gezwungen wird, dem Kampfe fernzubleiben unddeshalb nur den Augenblick herbeisehnt, wo die Griechen, alle, nicht nur Agamemnon, indie gr‹fste Not getrieben einsehen, dafs sie ohne ihn nicht auskommen k‹nnen und deshalbflehentlich ihn um Hilfe bitten werden. So grofs ist offenbar nach den KŠmpfen in 8 die

     Not noch lange nicht gewesen, und so ist es auch fˆr ihn noch nicht m‹glieh, in dieSchlacht zurˆckzukehren. Aber mit gr‹fster Spannung verfolgt er die KŠmpfe, die in Ageschildert werden, und als er sieht, dafs einer der Haupthelden nach dem andern denKampfplatz verlassen mufs, da ruft er jubelnd seinem treuen WaffengefŠhrten Patrokloszu (A 609/610):

    wv bim  Ttep] yo‘var •p   azrjaead-ai  Ayaio’q,Xiaaop€vouQ'xpsŽco T^P Žx—vezat oxi^ —vexr’c.

    Diese Worte hŠlt man fast ebenso allgemein unvereinbar mit der Darstellungin /, wie oben die Worte des Diomedes in Z mit seinem Benehmen in E, oder man bringtErklŠrungen vor, die nicht viel besser sind '). Haben denn wirklich schon die AchŠer sich ihm zu Fˆfsen geworfen? Ist wirklich der Augenblick schon gekommen, dafs sieohne ihn v‹llig verloren sind (vgl. seinen Wunsch Jl 97ƒ100), einen Augenblick,

    auf den er in seinem mafslosen Zorne und Ehrgeiz schon lŠngst wartet? Ich kann indiesen Worten durchaus keinen unertrŠglichen Widerspruch finden, sondern nur diedurchaus richtige Zeichnung eines aufbrausenden, leidenschaftlichen Jˆnglings, der dasMafs des berechtigten Ehrgef ĥls ˆberschreitet und eben damit der Ate verfŠllt. So ver‰spricht er b̂rigens   SP"182 dem Patroklos bestimmt, Hektor nicht zur Verbrennung heraus‰zugeben, und in Q thut er es in milderer Gesinnung doch.

    l) Vgl. Hentze, Anh. H. 4, S. 66. Selbst der sonst so besonnene Gelehrte schreibt: Es bleibtkein anderer Ausweg, als entweder die Presbeia als aufserhalb des ursprˆnglichen Planes der Dichtungstehend zu verwerfen oder die TJrsprˆnglichkeit dieser "Worte zu bezweifeln". Freilich ErklŠrungen wiedie von Nitzsch,   vˆv mˆsse geprefst werden und bedeute ,jetzt erst recht" oder die von Nutzhorn, dafsder Dichter sich den Achill vorstelle, als ˆbersehe er in seiner Leidenschaft ganz und gar, dafs Agamemnonsich gedemˆtigt habe, sind nicht geeignet, die Zweifel an der Echtheit der "Worte zu zerstreuen. Eichtiger 

    urteilt Moritz, žber das elfte Buch der Ilias, Progr. Pos. 1884, S. 32.   "Vgl.   dazu meine Besprechung inBursians Jahresb. XLII (1885 I.) S. 213.

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    Ein unvergleichlich gr‹fserer Widerspruch als in der Behandlung Achills zeigtsich in der Darstellung Hektors, obwohl dieser Widerspruch, soweit mir bekannt ist, nur hier und dort gestreift ist   1). Hektor wird nŠmlich ˆberall in der Ilias als ein gewaltiger Kriegsheld dargestellt, vor dem alle griechischen Helden Entsetzen haben aufser Achilleus,aber seine That en entsprechen dem nicht. Fast ˆberall wird von ihm nur in allgemeinenrˆhmenden Worten gesprochen, sobald es aber zu einzelnen Thaten kommt, tritt er selbsthinter geringere Griechen zurˆck. Einige Stellen m‹gen diese Behauptung erlŠutern.X380 (vgl. auch Vers 394/95) sagt Achill von ihm o‚ xax no)l epe$e od od oup.ira.vrec oŽŠXXot,   und /237 heifst es:   "Exrwp paŽverai   •xrdyXco‚niawo‚ ˜   od›   ri riet avepa‚ ode ›eou‚,Šhnlich A 291 u. f., 540 u. f. Ja als er //92/93 die Besten der AchŠer zum Zweikampfefordert, bangen alle (wie auch z. B. 0 279/80, 323ƒ327, 596ƒC37), und es bedarf 

     besonderer Anstrengung von Seiten des Menelaos und Nestor, sie zur Annahme der Forderung zu bringen. Im Kampfe selbst aber steht er Aias entschieden nach, so dafsdieser bei seiner R ĉkkehr geradezu als Sieger bezeichnet wird (// 312 Œt'avra Šyovxe^apYjara vŽxr”), wŠhrend die Troer sich freuen, dafs er gesund den HŠnden des furcht‰

     baren Aias entflohen sei: eXnr€ovre‚ o’ov e‡vcu   (//310). Und so ist sein VerhŠltnis zuAias immer. A 543 heifst es geradezu: Zeb‚ y—p o™ CExrop™)   vepeaad-"1  8r peivovi

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    sich vorwerfen lassen, dafs er sich selbst vor Menelaosfˆrchte, so dafs in der That der starke Vorwurf,  den  Glaukos ihm P  142 macht  ("Exrop, sl˜o‚ apune, /u—%r”c apa  noXXbv sde’ou)und Šhnliche nicht unberechtigt erscheinen.

    Wie erklŠrt sich diese eigent̂ mliche Behandlung? Der Widerspruch liegt hier offenbarnicht  sowohl   in  dem Helden als in  der Seele des Dichters. Er ist Grieche, und sosehr er die žberlegenheit des grofsen Gegners f r̂ die Zwecke seines Gedichtes braucht,so schwer wird   es ihm, in jedem einzelnen Falle   diese   žberlegenheit anzuerkennen. Daher hilft er sich auf die angegebene Weise. Daneben ist natˆrlich nicht ausgeschlossen, dafsHomer vielleicht Hektor noch gerechter behandelt und erst Nachdichter, um den Ruhmder griechischen Helden zu erh‹hen, Hektor noch mehr herabgesetzt haben. So ist   z.  B./7762 die Handlung so angelegt, dafs es notwendig jetzt zum entscheidenden Kampfezwischen Hektor und Patroklos kommen und Hektor diesen ohne alle g‹ttliche Hilfe

     besiegen mufs. Wenn hier mit einem Male die  Entscheidung hinausgeschoben wird, noch

    einmal ein Sieg des Patroklos erfolgt, wenn auch   unhp  a™aav, so m‹chte man freilichannehmen, dafs   hier ein Nachdichter den urspr̂ nglichen Plan des Dichters gest‹rt habe,um Patroklos noch mehr zu   verherrlichen   1). Aber derartige FŠlle sind doch selten; anden meisten Stellen mˆssen wir, wie die oben angefˆhrten Beispiele schon beweisen,annehmen, dafs der Dichter selbst die Ehre dem grofsen Gegner nicht geg‹nnt hat,die hervorragenden Helden der Griechen zu besiegen oder  selbst einem geringeren Griechendie Waffen abzunehmen. Wenn er dies bei Patroklos geduldet hat, so hatte er dazu

     besondere Grˆnde, die mit der Anlage des ganzen Gedichtes zusammenhingen   2). St‹rtuns diese Gesinnung etwas, so dˆrfen wir nicht vergessen,  dafs   jeder Dichter ein Kindseiner  Zeit   ist, und  wir  dˆrfen nicht verlangen, dafs er v‹llig ˆber  die  Anschauungenseiner Zeitgenossen und Landsleute erhahen   ist   3).

    Mit unvergleichlicher Kunst dagegen hat der Dichter in der Odyssee, besonders

    im zweiten Teile, das Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung bei Penelope, Telemachund den Getreuen des Odysseus dargestellt. Bald scheinen sie jede Hoffnung auf desHelden Rˆckkehr aufgegeben zu haben, bald wagen sie noch zu hoffen und verfahrendieser Hoffnung gemŠfs. So ist Penelope bald entschlossen, keinen Ehebund mit einemder Freier einzugehen, bald glaubt sie ihrem DrŠngen nachgeben zu mˆssen, und je nŠher 

    ') Vgl. Dyroff, žber einige Quellen des Iliasdiaskeuasten, Progr. Wˆrzburg 1891, S. 27 u.Jahresb. des phil. Vereins XIX, S. 138.

    2) Ich babe sie auseinandergesetzt Jahresb. XIX S. 137, um die Berechtigung der Schild‰ beschreibung zu erweisen.

    3) An nicht wenigen anderen Stellen befremdet unser Gefˆhl die Anschauung des Dichters: so

    wenn Achilleus sich   ¢2 594 Patroklos gegenˆber wegen der Herausgabe Hektors (s. o.) nicht mit dem Befehleder G‹tter entschuldigt, sondern damit, dafs Priamos oiix —eix€a ˜wxev Šnou>a (eine Šhnliche Gesinnung

    spricht aus Z234ƒ 236; r281-285; a 278 u. f.) oder wenn   yl 223 u. f. Achilleus mit Genehmigung der 

    G‹ttin schimpft wie ein Landsknecht, oder wenn wir Roheiten sehen wie Z5lu. f.,   iV 212,   iP 115,   A" 455unter ausdr ĉklicher Billigung des Dichters (al'mjua xapemwv).

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    wir dem Ziele kommen, um so mehr steigert sich die BedrŠngnis und damit unsereSpannung. Hier nun stets dieselbe Gesinnung verlangen oder bei wechselnder Stimmungsofort eine andere …Quelle„ vermuten, wie es gew‹hnlich geschieht, heifst den Charakter dieser Dichtung v‹llig verkennen, ja das menschliche Herz ˆberhaupt. Ebenso bewunderungs‰wˆrdig ist vom Dichter geschildert, wie unter der Maske des Bettlers die k‹nigliche Gestaltund Gesinnung bisweilen durchblitzt und wie er bald als wirklicher Bettler, bald als Gast‰freund des Telemach behandelt wird, und nur der Raum mangelt mir, an einzelnen Bei‰spielen das Th‹richte einzelner EinwŠnde nachzuweisen.

    Ich wˆrde hier noch hinweisen auf das Schwanken in der Sagenˆberlieferung(z. B. ˆber Thetis oder die Ermordung Agamemnons) und in der Vorstellung von der Macht und dem Wesen der G‹tter, wenn nicht dieser Punkt durchaus in meinem Sinne

     behandelt wŠre von Bougot, Etude sur l'Iliade d'Hom•re 1888, S. 1ƒ49 und 360ƒ445. Nur ein einziges Beispiel will ich in letzterer Beziehung anfˆhren: ^379 sagt Menelaos

    zur Eidothea, die er um Rat bittet: ›eo\ navra ‡aaai", und derselbe Menelaos wagt balddarauf dem Proteus einen so plumpen Streich zu spielen und dabei auf seine Unwissenheitzu rechnen.

    1   IV.Auch in diesem Schwanken der Vorstellungen kann ich also einen berechtigten

    Einwurf gegen die Einheit der Gedichte nicht sehen, weil sie sich teils aus der Natur desMenschen, teils aus der Anschauung des Dichters erklŠren. So bleiben nur schwereUnebenheiten und Widersprˆche ˆbrig, die auf den ersten Blick unbegreiflich erscheinen,da es so leicht scheint sie zu vermeiden. Wenn wir solche finden, so mˆssen wir doch

    auch nach einer ErklŠrung suchen. Denn selbst wenn ein Fremder, da er sich nicht indie Seele des Dichters versetzen konnte, einen ursprˆnglich angemessenen Zusammenhang

    durch ZusŠtze gest‹rt hat, so mufs er doch, wenn wir ihn nicht fˆr einen bl‹dsinnigenMenschen halten wollen, seine Gr̂ nde dazu gehabt haben; ja diese Grˆnde m ŝsen auchandern so einleuchtend gewesen sein, dafs sie ohne weiteres die neue Fassung der altenvorgezogen haben. Denn nur so ist es erklŠrlich, dafs sogenannte …Interpolationen„ inden Text gekommen sind. Aufserdem ist zu bedenken, dafs sich selbst in unzweifelhafteinheitlichen Dichtungen starke Widersprˆche finden oder Anforderungen an unseren…Glauben„ gestellt werden, die ˆber das von Homer verlangte Mafs noch hinausgehen.Die Verteidiger der Einheit der homerischen Gedichte ') haben eine ganze Anzahl derartiger 

    ') Insbesondere Nutzhorn, Die Entstehungsweise der hom. Ged. S. 141 u. f.; Volkmann,Geschichte und Kritik der Wolf'schen Proleg. S. 159 und zuletzt 0. Jaeger, Pro domo, welcher S.  182ƒ185 eine  Eeihe  auffallender  Widersprˆche aus Shakespeare anfˆhrt, darunter den, dafs in der Kom‹die der Irrungen der Dichter selbst einmal die beiden Zwillinge verwechselt. Ich m‹chte hier nur noch an   einen  starken "Widerspruch in  "WolframsParzival erinnern, der,   soviel ich  weifs, noch nicht zur Vergleichungherangezogen   worden. Anfortas soll von seinen  Leiden geheilt werden, wenn  Parzival die

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    Widersprˆche aus andern Dichtern gesammelt; ich will deshalb hier nur einige auffŠllige

    Beispiele der zweiten Art nachtragen, die lehrreich sind, weil sie uns zeigen, wie sehr dasBed̂ rfnis der Handlung den Dichter beeinufst und zwingt, oft Unbegreifliches den Heldenthun oder erzŠhlen zu lassen. So mutet uns Sophokles im Eingange des Oidipus Tyrannoszu, dafs Oidipus keine Kenntnis hat, wie La‡os ermordet worden ist, und dafs weder er noch Jokaste die geringste Untersuchung ˆber diesen Mord angestellt haben. Es istoffenbar, dafs diese Unkenntnis fˆr die Handlung n‹tig ist, aber unbegreiflich, dafs letzteresnicht hŠtte geschehen sein sollen. Noch schwerer ist es, sich in Wirklichkeit vorzustellen,was Deianira in den Trachinierinnen (564   u.   f.) erzŠhlt. Der Centaur Nessos soll sie ˆber das Wasser getragen und mitten auf dem Flusse unziemlich berˆhrt haben; auf ihr Hilfegeschrei habe Herakles den Frechen mit seinem vergifteten Pfeile getroffen. DieTodeswunde sp r̂end, habe Nessos Deianira geraten, sein Blut aufzufangen, es sorgfŠltigaufzubewahren und, wenn ihr Gemahl ihr einmal untreu werden sollte, in dieses ein

    Gewand zu tauchen und es ihm zuzuschicken. Z‹ge er dieses an, so w r̂de er wieder in Liebe zu ihr zurˆckkehren. Schon die Alten (vgl. die Schol.) haben sich gefragt, wiedenn Deianira dann ˆber das Wasser gekommen sei. Noch verwunderlicher aber ist, woher sie das GefŠfs genommen, um das Blut aufzufangen, und vollends, dafs Herakles, der docham andern Ufer stand, nichts von alledem gemerkt haben soll. Wie endlich konnte siespŠter in das geronnene Blut das Festgewand tauchen, und wiederum daran Herakles dieBlutflecken nicht merken? Wir m ŝsen alle diese Fragen unterdrˆcken und es eben demDichter glauben, dafs sich alles so zugetragen hat.

    Und wie die alten, so verfahren auch unsere neueren Dichter. Wenn in der Minna

    von Barnhelm (III, 2) der Major Tellheim das KammermŠdchen des FrŠuleins um eine Unter‰redung …ganz unter vier Augen„ bitten lŠfst, so dˆrfen wir billigerweise gespannt sein,was er ihr denn zu sagen habe, und h‹ren zu unserer žberraschung (III, 10), als wirklich

    die Unterredung stattfindet und sie ihn fragt: …Was haben Sie mir denn allein zu sagen?„dafs er ihr nichts zu sagen habe, weil das FrŠulein den Brief nicht gelesen habe. Dafsdies kein ausreichender Grund ist, ersieht man schon daraus, dafs er ihr auch dann nichtszu sagen hat, als er merkt, dafs Minna den Brief doch gelesen habe. Die Unterredungist also an sich nicht zu rechtfertigen, aber sie war fˆr die Fortfˆhrung der Handlungn‹tig. Damit lŠfst sich bei Homer ganz genau vergleichen die Reise, zu der AtheneTelemach antreibt. Als Odysseus sie fragt   {v  417), warum sie Telemach auf Reiseugeschickt hat, obwohl sie doch gewufst hŠtte, dafs diese Reise keinen Zweck habe, vermagsie auch keine befriedigende Antwort zu geben. Und ebenso dient der Wunsch Achills(in Œ) zu erfahren, wer die beiden Verwundeten sind, auch nur dazu,   j Patroklos in dieHandlung einzuf̂ hren und seine Bitte in II vorzubereiten.

    Frage nach seinen  Leiden stellt,  ohne dafs ihn  vorher  jemand darauf aufmerksam gemacht  hat; sonst solldas  Leiden schlimmer  werden. SpŠter hat Parzival Kenntnisvon der  Bedeutung der  Frage  bekommen, er stellt sie  ƒ  und  doch wird nun Anfortas von seinen  Leiden befreit.

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    Aber noch Šrgere Verst‹fse gegen  die Wirklichkeit kommen dem Gang  der  Hand‰lung zu Liebe bei Schiller vor. In seinem vollendetsten Werke, der Braut   von Messina,

    finden wir folgende Scene. Als Diego ankommt mit der Meldung, dais die Tochter der Fˆrstin geraubt sei, fŠllt die Mutter in Ohnmacht und Don Manuel, welcher sie geraubthat, macht sich inzwischen mit ihr zu schaffen ƒ nur damit er nichts NŠheres ˆber denRaub und die VerhŠltnisse des Klosters, in dem   sich  Beatrice befunden hat, erfŠhrt. Alsdie Fˆrstin erwacht, treibt sie ihre S‹hne sofort zur Verfolgung der RŠuber an. DonCaesar stˆrzt fort, ohne zu wissen  wohin  ƒ nur damit Diego  erzŠhlen kann,   dafs Beatriceam BegrŠbnis   des  Vaters teilgenommenhat, und   Don   Manuel beruhigt wird. Dann treibtdie Mutter auch ihn fort. Umsonst will er wissen, wo sie denn geraubt worden ist ƒ er darf es nicht erfahren, denn dann wŠre jede weitere Entwickelung ausgeschlossengewesen. Und so geschieht hier das Unglaubliche, in der Wirklichkeit ganz Unm‹gliche,dafs Don Manuel auf die Verfolgung der RŠuber ausgeschickt wird, ohne zu wissen, woer sie verfolgen soll, und auch nicht zurˆckkehrt, um dies zu erfahren, wie Don Caesar,der, als sein Bruder fort ist, nun belehrt werden kann. Man wird mir zugeben, dafsdies nicht etwa ein geringer Irrtum ist, wie wir viele auch im Homer finden, sondernein starker Verstofs gegen die Wirklichkeit und zwar in einer durchaus einheitlichenSch‹pfung. Es ist auch gar kein Zweifel, dafs dies der Dichter gemerkt haben mufs ƒ …aber, was kˆmmere ich mich um Widersprˆche„, sagt er irgendwo, …wenn ich nur Wirkung erziele„ ƒ und diese erzielt er freilich hier so gut, wie in der Jungfrau vonOrleans, wo im tragischsten Augenblicke die Stellung der Frage auch nicht nat̂ rlich,sondern gesucht ist.   Dafs aber der Dichter, um eine bestimmte Scene m‹glich zu  machen,selbst die gr‹fsten Unwahrscheinlichkeiten mit vollem Bewufstsein nicht scheut, beweistfolgende Stelle aus Eckermann, GesprŠche mit Goethe (5. 7. 1827). Hier spricht Goetheˆber die Helena im Faust und sagt unter anderem: …Aber haben Sie bemerkt, der Chor 

    fŠllt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist frˆher durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine MŠdchennatur, hier aber wird er mit einem Maleernst und hoch   reflektierend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat undauch nie hat denken k‹nnen„. Eckermann antwortet, dafs er dies wohl bemerkthabe, fˆgt aber hinzu: …Solche kleinen Widersprˆche k‹nnen bei einer dadurcherreichten h‹heren Sch‹nheit nicht in Betracht kommen. Das Lied muŽste

    einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwŠrtig war, somufsten es die MŠdchen singen„. Und Goethe erwidert lachend: …Mich soll nur wundern, was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit undKˆhnheit genug haben, darˆber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand imWege sein, und sie werden nicht bedenken, dafs die Phantasie ihre eigenen Gesetzehat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll„. ƒGanz wie hier ein

    scharfer Unterschied gemacht wird zwischen den Anforderungen, welche der Verstandstellt, und   den  Sch‹pfungender Phantasie, so noch   in den  GesprŠchenvom 27.  I.   1827  und

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    29. I. 1827. Goethe hat eine Œnderung in einer Novelle vorgenommen, Eckermann widerrŠtsie ihm, weil dadurch …die Wirkung geschwŠcht, ja vernichtet werden w r̂de„. Goethe

    giebt ihm recht und fˆgt hinzu: …Diese intendierte Œnderung war eine Forderung desVerstandes, und ich wŠre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist

    dies ein merkw r̂diger Šsthetischer Fall, dafs man von einer Regel abweichen mufs, umkeinen Fehler zu begehen„ '). Was hier Goethe von der Forderung seines Verstandessagt, die ihn bald zu einem Fehler verleitet hŠtte, gilt von der reinen Verstandeskritik noch heute. Sie achtet nicht darauf, dafs bei der Ausfˆhrung ihrer Forderung auchgrofse Sch‹nheiten der Dichtung zu Grunde gehen wˆrden. Dies wird sofort klar werden,wenn wir uns einige der schwersten Bedenken gegen die einheitliche Anlage der homerischen Gedichte nŠher ansehen.

    Am ersten Abende seines Aufenthaltes bei den PhŠaken wird Odysseus, nachdemer sich an Speise und Trank erquickt hat, von Arete nach seinem Namen und seiner Herkunft gefragt und auch, woher er die Kleider habe, die Arete als ihr Eigentumerkennt   (y”  237ƒ239). Odysseus ˆbergeht in seiner Antwort die erste Frage ganz, ohneeinen Grund anzugeben, und antwortet nur auf die zweite, indem er erzŠhlt, wie er zuden Kleidern gekommen sei. Alle Anwesenden begnˆgen sich damit und wir erleben nundas Schauspiel, dafs Odysseus noch einen vollen Tag unter den PhŠaken weilt, dafs alleVorkehrungen zu seiner Rˆckkehr getroffen werden (# 34 u. f.), ohne dafs man weifs, woher er ist und wem man die kostbaren Geschenke geben will. Das heifst uns allerdings vielzumuten. So hat denn auch hier die Kritik eingesetzt und eine St‹rung des ursprˆng‰lichen Zusammenhanges angenommen. Mit logischer SchŠrfe hat Kirchhof? 2) verlangt,dafs nach dieser Frage Odysseus entweder seinen Namen habe nennen oder einen Grundangeben m ŝsen, weshalb er dies nicht thue, und hŠlt deshalb folgende Anordnung fˆr urspr n̂glich: Odysseus hat zuerst seinen Namen genannt, dann seine Schicksale (wesentlich

    nach i und   A mit einigen Zwischengliedern) erzŠhlt und zuletzt die Frage der K‹nigin beantwortet, wie er zu den Kleidern gekommen sei. Diese Anordnung, welche der Ver‰stand verlangt, fˆhrt zunŠchst einen Fehler herbei, ganz wie ihn Goethe in der ange‰fˆhrten Stelle kennzeichnet. Die Frage ist nŠmlich nicht vom K‹nig gestellt, sondernvon Arete, und als Grund ist ausdrˆcklich angegeben: eyva) yup fŠpac re t̂tmvd reŸ[”mi l•o‘aa, xa¡ r— /?' aorr” reŽs   .   .  . Und da sollen wir glauben, dafs Odysseus erst alleseine Abenteuer erzŠhlt, ja   ¡ 333   u.   f. sogar zu erzŠhlen aufh‹ren will, ohne die f r̂ dieK‹nigin wichtigste Frage beantwortet zu haben? Dies ist unm‹glich. Nun ist aber dieganze ErzŠhlung von e 321 an darauf angelegt, dafs Odysseus nackt ans PhŠakenlandkommt und hier die Kleider von Nausikaa erhŠlt, die fˆr die K‹nigin die Veranlassung

    *) Vgl. noch das Gespr. vom 28.  I. 1825, wo Goethe erklŠrt, Schiller war nicht fˆr vielesMotivieren  . .   . Dafs ich dagegen zu viel motivierte, entfernte meine Stˆcke vom Theater",

    weil sie damit der natˆrlichenWirkung entbehrten.2)  Komposition der  Odyssee  S. 68 u. f.,  Odyss€es   S. 279   u.   f.

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    zu der Frage werden. Ferner ist der Konigin eine Bedeutung gegeben (vgl. C304/305,312ƒ15,   57 54ƒ77), die mit ihren Thaten fast ebenso im Widerspruch steht, wie der Ruhm Hektors in der Ilias mit dem, was er wirklich thut. Denn als Odysseus sich mitflehenden Worten an sie wendet und sich dann an den Herd setzt   (rj   145ƒ152), ist siees nicht, welche ihn freundlich aufstehen heifst, sondern es bedarf erst der dringendenAufforderung des greisen und verstŠndigen Echeneos, ehe ƒ wieder nicht sie, sondernder K‹nig selbst Odysseus bei der Hand fafst, ihu an den Tisch fˆhrt, hier reichlich

     bewirten lŠfst und dann die PhŠakenfˆrsten auffordert, am nŠchsten Tage ihn zu feiernund ihn dann in   sein  Vaterland zu entlassen. Arete thut an   diesem Abende thatsŠchlich

    nichts, als dafs sie diese Frage stellt mit der angegebenen Begrˆndung.Liegt also hier  wirklich eine  St‹rung einer ursprˆnglich anders gestalteten ErzŠhlung

    vor, so mˆssen wir sagen, dafs sie vom Dichter von weither vorbereitet und die Veran‰lassung des sch‹nsten Teiles der Odyssee geworden ist, der Sch‹pfung nicht nur der 

    Leukothea  1

    ),   die  Odysseusmit   dem Schleier den Rat giebt,   die  Kleider abzulegen, sondernauch der Nausikaa 1), die unzertrennlich mit der jetzt gegebenen Form zusammenhŠngt.Mit so geringen Œnderungen, wie Kirchhoff glaubt, ist also der ursprˆngliche Zusammen‰hang, wenn je ein solcher vorhanden war, nicht getrˆbt worden, so mechanisch ist der …Bearbeiter„ nicht verfahren. Es stimmt zu dieser Bemerkung nur, dafs nach KirchhoffsDarstellung   dem VerhŠltnis Nausikaas  zu  Odysseus die kˆnstlerischeVollendung fehlt, dafssie ohne jeden Abschied verschwindet.

    Verzichten wir also auf die Ordnung, wie sie der Verstand verlangt, und kehrenzu der Gestaltung des Dichters zurˆck, so fragen wir billig, weshalb  der  Dichter zunŠchstOdysseus nicht auf die Frage, wie es doch natˆrlich war, hat antworten lassen. DieVerteidiger der   Einheit   2) haben geltend gemacht, dafs es zu spŠt sei und dafs Odysseusgrade vor den versammelten Fˆrsten in glŠnzender Versammlung erzŠhlen solle. Diese

    Grˆnde k‹nnen mitgewirkt haben; entscheidend aber halte ich, da der Dichter  den  andernZweck leicht dadurch erreichen konnte, dafs er   die F r̂sten r” 183 eben noch nicht gehenliefs, einen andern Grund, welcher die Anlage des ganzen Gedichtes betrifft. Wenn der Dichter hier schon die ErzŠhlung eingeflochten hŠtte, dann wŠre durch die Schilderungdes PhŠakenlebens, wie wir sie jetzt in # haben, die fortlaufende ErzŠhlung von denAbenteuern des Odysseus, die jetzt in   1  beginnt und ihn von da ab allein   zum TrŠger der Handlung hat, spŠter (in v) noch einmal unterbrochen worden, und andrerseits die Schil-

    ') Ihre Bedeutung verkennt v. Wilaniowitz, Homer. Unters. S. 135, und wenn andrerseits Seeck,die Quellen der Odyssee S. 370, meint, Nausikaa sei nur erfunden, damit sie Odysseus Kleider verschaffeund er nicht wie ein Bettler erscheine, so stellt er die Sache grade auf den Kopf: Der Dichter liefsvielmehr Odysseus ohne Kleider ankommen, damit er die liebliche Gestalt der Nausikaa einfˆhren k‹nne.

    5) Lehrs, De Arist. stud. Horn. 2 S.  438, Kammer,   die   Einheit der Odyssee  S. 303  u. f., G. Schmidtˆber Kirchhoffs Odyssee-Studien, Progr. Kempten 1879 S. 6 u. f. Dafs auch die sprachliche Form inr”   242ƒ257 nicht gr‹fseren Anstofs giebt, als an anderen Stellen fˆr ertrŠglich gehalten wird, habe ich bereits in der Abhandlung die Bedeutg. d. Wiederh. S. 136 Anm. 1 ausgefˆhrt.

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    2€'

    derung der PhŠaken ebenso auseinandergerissenworden, wie sie jetzt einheitlich und ab‰

    gerundet  ist   1

    ).Ist dieser Grund verstŠndlich und vom Standpunkte   des   Dichters ganz berechtigt,so k‹nnte man sich h‹chstens darˆber wundern, dafs   er  Arete r”  238 ˆberhaupt die Fragenach seinem Namen hat stellen lassen. Den Dichter so unfŠhig anzunehmen, dafs er sieaus  Unachtsamkeit stehen  gelassen  hat, weil sie in seiner Vorlage stand, scheint mir ausge‰schlossen. Vielmehr mˆssen wir auch hier ein bewufstes Schaffen beim Dichter voraus‰

    setzen. Nun zeigen  uns mehrere Šhnliche Stellen   (et  170 ƒ173,   y 69  u. f.,   d 60,   $  187 u. f.),dafs es allgemeine Sitte war, den Fremdling nach dem Mahle nach seinem Namen zufragen.   Diese Frage zu unterlassen, ja sie auch den ganzen folgenden Tag  nicht   zu stellen,hat nun offenbar  dem  Dichter noch anst‹fsiger geschienen, als sie   stellen und nicht beant‰worten zu lassen, wobei zuzugeben ist, wie schon andere mit Recht hervorgehoben haben,dafs er alles gethan hat, um die Aufmerksamkeit des H‹rers von dieser Frage abzulenken

    und so die Nichtbeantwortung m‹glichst wenig auffallend zu machen.Einen Grund aber anzugeben, weshalb er die Frage jetzt nicht beantwortenwolle, wie Kirchhoff verlangt, war natˆrlich unm‹glich, da   Odysseus als ErzŠhler keinenhatte, sondern nur der Dichter. Dies ist ja gewifs auch ein Fehler, da sich dieHandlung aus dem Charakter und der Lage der handelnden Personen heraus entwickelnund der Dichter dabei nicht durchscheinen soll. Nichts ist aber sicherer, als dafs weder Homer noch andere Dichter diesen Fehler um eines poetischen Zweckes willen gescheuthaben. Es sprechen dafˆr nicht nur die oben aus Lessing, Goethe und Schiller auge‰fˆhrten FŠlle, die sich leicht vermehren lassen, namentlich aus den JagenddramenSchillers, sondern auch zahlreiche Beispiele aus Homer. So hat man es z. B. anst‹fsiggefunden   2), dafs bei dem Zweikampf zwischen Hektor und Aias nicht dieselben feierlichenBˆrgschaften verlangt werden als bei dem zwischen Menelaos und Paris. Wenn man dies

    damit erklŠrt hat, dafs die GriechenHektor mehr vertrauten   als  Paris, so ist dies offenbar ein hinfŠlliger Grund, da ja Hektor auch beim ersten Zweikampf zugegen ist. Nein,

     besonders feierliche Versicherungen sind, wie der Dichter weifs, im zweiten Falle nichtn‹tig, da der Zweikampf keine Entscheidung bringt, wŠhrend im ersten Falle die Ver‰letzung der feierlich beschworenen Eide die Schuld der  Trojaner um so gr‹fser erscheinenlŠfst. So kann auch   A 17 Zeus trotz seines Versprechens in A den Vorschlag machen,den Krieg jetzt beizulegen, da der Dichter weifs, dafs dieser Vorschlag doch nicht ange‰nommen werden wird. Und wen diese Beispiele nicht ˆberzeugen, der denke daran, dafsin t Odysseus sich   Oi‡zt‚ nennt, nicht weil dies bei ihm nat̂ rlich ist, sondern weil der Dichter dies spŠter in so naiver Weise ausbeuten   will   3).

    ') Dafs damit auch nur die herrliche Erkennungsscene & 531 u. f. m‹glich wurde, erwŠhneich nur nebenbei.

    2) Vgl. Hentze, Anh. z. IL H. 3. S. 12, Benicken, Progr. Eastenburg 1884 S. 7.3) Vgl. Jahresb. d. phil. Ver. 1887 S. 295. Dieses Beispiel f ĥrt auch P. Cauer a. a. 0. an

    und erinnert weiter an das Kreuz, welches der Dichter Chriemhild auf den Mantel Siegfrieds nŠhen lŠfst,obwohl sie es unter keinen UmstŠnden thun durfte.

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     Noch Šhnlicher aber sind die Falle in der Odyssee, wo der Dichter auch eineoder mehrere Fragen stellen lŠfst, ohne dafs sie beantwortet werden, FŠlle, in denen das

    Stellen der Frage ebenso nat̂ rlich ist wie in jy, die Antwort aber schwierig oder unm‹glichaus Gr̂ nden, die nur f r̂ den Dichter, nicht fˆr die handelnden Personen bestehen. So

    fragt   d  426 Proteus den Menelaos, der ihn eben ˆberlistet hat: rc‚ v“ toi,   'Arp€o‚   u™• &ejvau/ifpdaaaro šouMc, otppa  ”J! eXoiq   sxvva Xo^rjadpevo‚;   reo  os   %pr”; Menelaos antwortet darauf nur auf die zweite Frage, ohne sich auch nur mit einem Worte   zu  entschuldigen, weshalb er auf die erste nicht eingeht. Hier liegt sicherlich kein Šufserer Grund vor, dafs auf dieFrage nicht eingegangen wird, sondern der Dichter hielt die Beantwortung fˆr unn‹tig,sei es, weil der H‹rer weifs, wer ihm jenen Rat gegeben, sei es, weil er es fˆr unschicklichfand, dafs Menelaos dem Proteus die Tˆcke seiner Tochter verriet. Aber gestellt mufstewohl die Frage werden, da darin das natˆrliche Staunen des Proteus zum Ausdruck kommen soll, woher Menelaos seine Schliche kennt.   ¡ 57 fragt Odysseus erstaunt denElpenor: nwq  -””X›e‚   ‹no C’pov rjsp’evra;    obv vr”\ fieAaŽvj”; Elpenor geht auf diese Frage gar nicht ein, sondern erzŠhlt nur, wie er gestorben sei, und bittetOdysseus um die Bestattung. Auch hier ist klar, dafs zwar die Frage des Odysseus be‰greiflich ist, aber weniger, wie darauf eine Antwort erfolgen sollte. Dahin geh‹rt auch(s. o. S. 22) die Frage des Odysseus   v   417 und Šhnlich sind „ 225 u. f.,   y 92,   v   328 u. f.

    Unter dieser Beleuchtung fŠllt auch Licht auf eine Stelle, die besonders in den

    letzten Jahren dem Dichter scharfen Tadel und den Vorwurf der UnselbstŠndigkeitund St̂ mperkaftigkeit zugezogen hat, nŠmlich auf % 482 u. f. Nach der Ermordungder Freier fordert Odysseus Eurykleia auf, ihm Schwefel und Feuer zu bringen, damit er den MŠnnersaal, der inzwischen von den Leichen gesŠubert ist, reinigen k‹nne. Eurykleiaist dazu bereit, will aber gleichzeitig ihm ein reines Gewand bringen, damit er nichtso in Lumpen seiner Frau gegenˆber trete vepeaoyjrbv d€ xsv ivtf   {¤/  489). Darauf 

    erwidert Odysseus kurz (491): iz‘p   v‘v poi   npc’zcazov •vi pey—potat yev€õ to. Sie gehorcht,die MŠgde kommen und k ŝsen dem Odysseus Kopf, Schulter und HŠnde. Dies nenntv. Wilamowitz (Horn. Unters. S- 76) ekelhaft", und glaubt, das dies kein Pedan‰tismus" sei. Denn da Odysseus eben auch nicht ein Wort der Ablehnung f r̂ die sehr nat̂ rliche Aufforderung gehabt hat, reine WŠsche anzuziehen, so ist es sein Wille, schmutzigzu bleiben". Dieser Gelehrte findet nun weiter, dafs die abgerissene Antwort, die Odysseusder Eurykleia erteilt, deutlich beweise, dafs hier gestrichen worden sei", nŠmlich dieBadescene, die jetzt  

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    Ja noch mehr, Engel, ein Mann von feinem Geschmack und an unsere Anforderungen vonReinlichkeit gew‹hnt, begeht in seiner žbersetzung der Odyssee, dadurch dafs er bei der Erkennung der beiden Gatten die allerdings recht st‹rende Badescene weglŠfst, die nochviel gr‹fsere Ungeschicklichkeit, dafs er nun die eigene Frau, die feinfˆhlende, sch‹nePenelope, Odysseus in diesem Aufzuge herzen und kˆssen und an seiner Brust ruhen lŠfst.F r̂ gar so stumpfsinnig d r̂fen wir dann den ,,Flickpoeten", wie ihn v. Wilamowitzso gern nennt, doch nicht halten, wenn eine noch viel gr‹fsere Ungeschicklichkeit einfeinsinniger Mann der Gegenwart begeht und offenbar darauf rechnet, falls sie ihm selbstzum Bewufstsein gekommen ist, dafs in der ergreifenden Wiedererkeunungsscene wir somit unserem Herzen bei der Hauptsache sind, dafs wirklich nur ein Pedant, dem jedestiefere Gefˆhl abgeht, hier fragen kann: Hat nicht Odysseus noch blutbefleckte Kleider,und wird sich nicht Penelope an ihnen beschmutzen?

    Immerhin aber ist die Aufforderung der Eurykleia durchaus natˆrlich, und wennein Bearbeiter rein mechanisch mit der Scheere verfahren wŠre und nicht vielmehr der 

    Dichter diese ganze Scene geschaffen hŠtte, so wˆrde er gewifs, wie schon   y”  238 die Frage,so hier die Aufforderung mit gestrichen haben. So aber mˆssen wir annehmen, dafs der Dichter das Angemessene wohl gefˆhlt hat, dafs aber Odysseus es nicht thun und eben‰

    sowenig wie   7”  242 sich entschuldigen kann, weil eine Entschuldigung unm‹glich ist, danur dichterische Grˆnde die Abweichung vom Angemessenen und Nat̂ rlichen erfordern.Der Grund f r̂ den Dichter aber liegt auch hier wie in den andern FŠllen ganz klar auf der Hand. Er hielt es offenbar fˆr unm‹glich, dafs Odysseus, wenn er in k‹niglicher Gewandung und nur natˆrlich gealtert seiner Frau gegenˆbertrete, von ihr nicht soforterkannt worden wŠre. Wollte er also die Erkennungsscene so gestalten, wie es jetzt in

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    den Dichter h‹chst gleichgiltig ist ƒ ganz wie fˆr den H‹rer oder Leser. Er hat dieVerwandlung eingefˆhrt, weil er sie brauchte, wie Kirchhoff so richtig gezeigt hat, er hat sie fallen gelassen, als sie ihren Zweck erf l̂lt hatte. Ganz so ist in der Ilias die Neugier des Achilleus, wer der Verwundete sein m‹ge, auch nur Šufseres Mittel, Patroklosin die Handlung einzufˆhren, das stillschweigend aufgegeben wird, als es seinen Zweck erf̂ llt hat   1).

    In dem zuletzt angefˆhrten Beispiele, dem vielgetadelten Botengange des Patroklos, bat man nicht nur das Vergessen des Zweckes, weshalb er ausgesandt ist, anst‹fsiggefunden, sondern auch seinen langen Aufenthalt im Zelte des Eurypylos fˆr unvereinbar gefunden mit der Eile, die er anfangs (A 807) zeigt. Auch hier ist fˆr die Handlungoffenbar das Bed r̂fnis des Dichters allein mafsgebend gewesen. Dafs Patroklos eilt,Achilleus Botschaft zu bringen, ist doch nat̂ rlich, aber nach dem Bed̂ rfnis der Handlungdarf er erst dann vor Achilleus treten, als die Not der Griechen aufs h‹chste gestiegen

    ist. Er mufs die Zeit ˆber irgendwo bleiben, und dies geschieht am angemessensten indem Zelte des Eurypylos. Gewifs hŠtte Achill den Patroklos erst spŠter aussendenk‹nnen, aber wer will den Dichter tadeln, dafs er den Augenblick, als drei Hauptheldender Griechen sich vom Kampfe zurˆckzogen, am passendsten gefunden hat, uns an dengespannten Zuschauer dieser KŠmpfe zu erinnern. Genau dieselbe Eile, wie hier Patroklos,hat in der Odyssee (d 594 u. f.) Telemach. Auch er erklŠrt dem Menelaos, der ihn auf‰fordert, wenigstens noch 11 oder 12 Tage zu warten, dafs er keine Zeit dazu habe, sondernschleunigst zur̂ ckkehren mˆsse ƒ und schliefslich wartet er, wenn man dem Dichter die Zeitgenau nachrechnet, fast einen ganzen Monat, ehe er abreist. Aber es ist doch klar, dafsdiese Z‹gerung allein in dem Bed r̂fnis der Handlung liegt. Telemach mufs schnellzur̂ ckkehren wollen, sonst wˆrde er bei den VerhŠltnissen, die zu Hause herrschen, leicht‰

    sinnig erscheinen. Wenn er der Darstellung des Dichters nach nun viel lŠnger zu warten

    scheint, als es billig ist, so hŠngt dies allein mit der Schwierigkeit zusammen, welche der Dichter hat, eine Doppelhandlung darzustellen. Ehe man hier St‹rung des ursprˆnglichenZusammenhanges" annimmt, mˆfste doch erst gezeigt werden, wie der Dichter die Schwierig‰keit hŠtte ˆberwinden k‹nnen, und selbst dann bliebe noch fraglich, ob die Anordnung,welche der Verstand verlangt, nicht einen gr‹fseren anderen Fehler im Gefolge gehabthŠtte, wie oben ausgefˆhrt worden ist (s. S. 24).

    Zur Vorsicht mahnt in dieser Beziehung ein anderes Beispiel aus der Odyssee.Kirchhoff ist der Ansicht, dafs nach dem ursprˆnglichen Plane des alten Nostos Odysseusnicht erst am dritten, sondern bereits am Abend des zweiten Tages abgereist sei und siehtsichere Spuren dieser Anordnung in   57 317/18 und „950/51, in welchen Versen Alkinoos

    ')   Ahnlich ist   im  Nibelungenliede   die  Ansagung des Sachsenkrieges   und das  Aufgeben  desselben,als Hagen seinen Zweck  erfˆllt sieht. Auch hier  weifs ˆbrigens der  Dichter  von vornherein, dafs  er nichtzur Ausfˆhrungkommen wird (s. 0.  S. 26).

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    dem Odysseus fˆr morgen ein Schiff verspricht und dies wirklich am folgenden Tageausrˆsten lŠfst. Der Bearbeiter habe …ˆbersehen„, dafs diese Verse nicht zu der von ihm

    geschaffenen Chronologie pafsten. WŠre dies wirklich der Fall, dann verdiente der Bearbeiter allerdings die Bezeichnung eines v‹llig unfŠhigen Menschen, die ihm gew‹hnlichgegeben wird. Ich aber halte es fˆr ganz ausgeschlossen, dafs jemand es unternimmt,ein Gedicht zu erweitern, und dann in mehreren Versen absichtlich an den urspr̂ nglichenZusammenhang erinnert. Vielmehr handelt auch hier wieder der K‹nig zunŠchst der Sachlage nach ganz angemessen. Da der Fremdling so sehr nach der Heimkehr verlangtund aufs schnellste zurˆckzukehren wˆnscht (^ 151/52), so verspricht er ihm auch

     bald, fˆr morgen das Geleit und trifft dazu   & 50 u. f. die entsprechenden Anordnungen.Wenn dann die VerhŠltnisse es mit sich bringen, dafs Odysseus noch einen Tag lŠnger wartet, so kann man doch bei jenen Anordnungen vou keinem …žbersehen„ des Dichterssprechen, und ebensowenig fragen, was wohl inzwischen die Schiffsmannschaft gemachthaben mag. Es ist dabei   zu  bedenken, dafs die Stelle fˆr   das Ausr ŝten des Schiffes dem Dichter auch in anderer Beziehung am besten gepafst hat, ganz wie er auch   & 457 Nausikaa,#  408 den Euryalos dem Odysseus Lebewohl sagen lŠfst, als ob er bald abfahren wˆrde.Es ist damit dieses Bild ebenso abgeschlossen, wie in e der Abschied zwischen Kalypsound Odysseus, der auch noch an demselben Tage erfolgt, an welchem Hermes gekommenist. Aus den Worten der Kalypso (e 204/205):

    ouTco dr”  oŽx’vde

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    erschienen wŠre, so hŠtte er den Botengang des Patroklos an anderer Stelle einschiehen

    k‹nnen, wodurch er noch andere Vorteile erreicht hŠtte (s. o.). Andrerseits kann manleicht begreifen, weshalb er keine Nacht   zwischen   A  und P hat eintreten  lassen : er konntesie nicht brauchen. Der erste Schlachttag endet nŠmlich  mit der  Beratung der  Griechen undTroer, was nun zu  thun sei.   Beide  Beratungen,   wie die meisten Ereignisse   dieses Tages,die Musterung der beiden Heere, der Zweikampf zwischen Paris und Menelaos,die Mauer‰schau, die Begegnung zwischen Diomedes und Glaukos, sind so gehalten, als ob sie amEnde des ersten Schlachttages in diesem Kriege ˆberhaupt stattfŠnden. DieGriechen haben sich ˆberzeugt, dafs die Trojaner tapfere MŠnner sind, und halten esdeshalb fˆr n‹tig, sich durch eine Mauer um das Schiffslager zu schˆtzen. Bei denTroern andrerseits wird der Vorschlag gemacht, Helena,   die Ursache   des ruchlosen  Kriegesherauszugeben. Beide VorschlŠge haben nur einen Sinn am Anfange des Krieges, undauf diesen weist auch geradezu hin   B  786 u. f., wo Iris zu den Troern kommt mit der 

    schmerzlichenBotschaft: no¡epo‚ o.Aiaaroc opcopsv. Daneben war die Stimmung desHeeres im zehnten Jahre des Krieges zu ber̂ cksichtigen, sowie der Streit zwischenAchilleus und Agamemnon. Wer die Schwierigkeiten bedenkt, die hieraus dem Dichter erwuchsen, der wird   die L‹sung in   B  ƒ   ff, soviel wir auch im einzelnen Anstofs nehmenk‹nnen, doch fˆr ungew‹hnlich kunstvoll und eines grofsen Dichters wˆrdig halten.

    Der zweite Schlachttag schliefst unter der Einwirkung des Zeus mit einer vollstŠndigen Niederlage der Griechen, die auf der einen Seite zu dem Vorschlage f̂ hrt,Achill zu vers‹hnen. Andrerseits lagern die Troer, die vorher nicht wagten, aufserhalbder  Mauern zu  kŠmpfen (/352   u. f.,   0   721ƒ723 *), im offenen Felde;  sie wollen  verhindern,dafs die Griechen heimlich wŠhrend der Nacht entfliehen. So gewaltig ist der Umschlagder  VerhŠltnisse!   Es leuchtet nun ein,  dafs  die  Gesandtschaftdurchaus an der  rechten Stelle  ein‰setzt, da die Not zwar grofs, aber noch nicht so grofs ist, wie nach der Verwundung

    dreier Haupthelden am Schl̂ sse von A. Es lŠfst sich so die Zurˆckweisung der Vers‹hnungsvorschlŠge durch Achill noch begreifen, wŠhrend am Schlˆsse von A seineGesinnung geradezu unmenschlich wŠre. Wenn der Dichter nun den Patroklos so einfˆhrenwollte, wie er es spŠter gethan hat, so konnte er eine Nacht, die den KŠmpfen ein  Endemacht, nicht mehr brauchen, da die schlimme Lage eine  neue  Gesandtschaft oder Wieder‰holung derselben Scenen erfordert hŠtte. Jetzt dagegen fŠllt am Nachmittag des drittenTages Patroklos, und Achilleus wird zum Eintritt in den Kampf bewogen. Seine blofseErscheinung bewirkt einen ebenso  vollstŠndigenUmschwung in der Lage,  wie die Ereignissedes zweiten Tages: Die Troer rechnen nicht mehr auf die Flucht der Griechen, sonderndenken wieder an   das  Zurˆckweichen hinter die Mauern.

    Die HŠufung der Ereignisse und KŠmpfe  dieses Tages ˆberschreitet ˆbrigens nichtdas Mafs, das wir bei andern Dichtern finden,  z. B. bei Sophokles in   den  Trachinierinnen

    *)  Im   scharfen "Widerspruch   dazu steht allerdings H 113; diesen erklŠrt ganz richtig Erhardta. a. 0. S. 153.

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    und besonders in Schillers Don Carlos. In diesem fallen alle Ereignisse des III. ƒ  V. Aktesauf einen Tag. Die …Herrlichkeit des Marquis Posa entstellt und vergeht an einemTage„. Dies Gefˆhl hat allerdings der Leser nicht, ja der Dichter hat es selbst nichtgehabt. Denn er lŠfst IV, 14 den Alba sagen: …Es ist lŠngst kein Geheimnis mehr,wozu sich dieser Mensch (Posa) gebrauchen lassen„. Noch schlimmer ist V, 3, wo Posazu Don Carlos sagt; …Den Tag nachher, als wir uns zum letzten Male bei denKarthŠusern gesehen, liefs mich der K‹nig zu sich rufen„, statt zu sagen; …Nachdem wir uns gestern getrennt, liefs mich der K‹nig heut vormittag rufen„   1).

    Wenn man dagegen dem Dichter einen Vorwurf daraus gemacht hat, dafs er den Achill nicht sofort auf die Kunde von Patroklos Tode in den Kampf eilen lŠfst, soˆbersieht man, dafs nach den vielen KŠmpfen des Tages eine Ruhe unbedingt n‹tig ist,damit wir mit neuer Spannung dem neuen gewaltigen Kampfe entgegensehen k‹nnen.Diese Pause f l̂lt der Dichter aufs angemessenste durch das GesprŠch von Mutter und

    Sohn und weiter durch die kunstvolle Beschreibung des Schildes aus. M‹gen beide Teilenicht in dem ursprˆnglichen Plane gelegen, mag erst die Ausfˆhrung sie wˆnschenswert ge‰macht haben   3), niemand wird sie jetzt missen wollen, niemand wird die Unterbrechungder vielen Kampfesscenen ungern sehen, ganz wie in Z die Begegnung zwischen Diomedesund Glaukos und das Zusammentreffen Hektors mit Andromache, oder in A die Unter‰

    haltung im Zelte des Eurypylos oder in 3 die žberlistung des Zeus durch Here. Wohl bereitet der Anschlufs dieser Scenen Schwierigkeiten, aber verurteilen soll sie deshalb keiner.

    Der mir zubemefsne Raum gestattet mir nicht, mehr Beispiele hier zu be‰sprechen. Ich glaube aber, da ich die wichtigsten Klassen der Widerspr̂ che und Uneben‰

    heiten behandelt habe, dafs die angefˆhrten Beispiele gen̂ gen, um den Beweis zu erbringen,dafs die Widersprˆche ebensowenig wie die Wiederholungen gleicher Verse oder selbstŠhnlicher Scenen dazu verwendet werden d r̂fen, um eine Verschiedenheit der Verfasser 

    in den homerischen Gedichten zu erweisen, noch ihre jetzige Einheit einem unfŠhigen,…stˆmperhaften„ Bearbeiter zuzuschreiben. Die …Fehler„ in der Darstellung finden sichzwar hŠufiger als bei irgend einem anderen klassischen Dichter, sind aber der Art nachdurchaus nicht verschieden von denen, wie sie selbst noch bei Lessing, Goethe undSchiller vorkommen, die man deshalb doch nicht …stˆmperhaft„ nennt oder unfŠhig,gewisse Schwierigkeiten zu ˆberwinden.

    Dagegen zeigten uns die im ersten Kapitel behandelten Widersprˆche, dafs demDichter eine reichentwickelte Sage und zwar in Liederform vorlag, und es entsteht nun

    ')  Ganz Šhnlich  sagt in der Ilias   6  105 Diomedes von den  Rossen, die er vor drei Tagen demAeneas abgenommen oii‚ tzotb eAošyv.

    ') Vgl.  dazu meine  genauere Ausf̂ hrungin  den  Jahresb.  d. phil.  Ver. XIX (1893) S.  137.

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    die Frage, die ich bereits in meiner Abhandlung ˆber die Bedeutung der Wiederholungen

    S. 158 u. f. gestreift habe: Hat der Dichter nur Einzellieder ben t̂zt, oder hat er bereitsgr‹fsere zusammenhŠngende Darstellungen vorgefunden? Bei Beantwortung dieser Fragemufs von vornherein bemerkt werden, dafs wir hier ˆber ein geringes Mafs von Wahr‰scheinlichkeit nicht hinauskommen, und dafs die Sicherheit, mit welcher in den letzten

    Jahren grofse und kleine Geister bestimmte …Quellen„ fˆr die Ilias und Odyssee gefundenzu haben erklŠren, nicht scharf .genug getadelt werden kann. Die wesentlichsten St̂ tzenfˆr ihre Behauptungen, die Wiederholungen und die Widersprˆche in den homerischenGedichten, haben sich nach meinen Ausf̂ hrungen als durchaus unzuverlŠssig erwiesen.Wenn wirklich gr‹fsere Gedichte Homer vorgelegen haben, so ist ihre Ben t̂zung auf keinen Fall eine so Šufserliche gewesen, wie man gew‹hnlich annimmt, dafs man bis auf den Vers noch die Stelle nachweisen k‹nnte, wo die eine …Quelle„ aufh‹rt und die andereeinsetzt. Andrerseits ist freilich anzunehmen, dafs Gedichte solchen Urnfanges und solcher 

    Vollkommenheit wie die homerischen nicht grade am Anfange kˆnstlichen Aufbaues einer Handlung stehen. Zum žberflufs weist der Ausdruck   dŽp.r” (# 74. 481, y 347) auf einen…Liedergang„, also auf eine Keihe verbundener Lieder hin. Es m‹gen sich also mit der Zeit gewisse Mittelpunkte gebildet haben, um die sich Einzellieder zu einem gr‹fserenGanzen zusammenschl‹ssen. Ob das Verdienst dieser Gruppierung den Joniern zukommt,wie P. Cauer glaubt, ist zwar nicht zu beweisen, aber doch sehr wahrscheinlich. Sindsolche Liederkreise in der Ilias und Odyssee noch erkennbar? Beginnen wir mit der Odyssee, weil hier die VerhŠltnisse noch klarer liegen, als in der Ilias.

     Niemand vermag zu leugnen, dafs der jetzige Aufbau in der Odyssee aufser-ordentlich kunstvoll ist, weit erhaben ˆber die schlichte Aneinanderreihung einzelner Abenteuer, wie sie unsere mittelalterlichen Epen bieten. Man erkennt hier das Werk eines bewufst schaffenden Dichters ƒ und doch kann er sich an die Wirklichkeit an‰

    gelehnt haben. Dafs ein Unglˆcklicher durch ErzŠhlung seiner Leiden und ˆberstandenenMˆhsalen das Mitleid anderer erregt und Hilfe erfŠhrt, ist vermutlich vor dreitausendJahren schon ebenso gewesen wie jetzt. Es liegen uns daf r̂ in der Odyssee eine Reihevon Beispielen (C 149 u. f., $ 190 u. f., 459 u. f., r 165 u. f.) vor. Unternahm es nunein Dichter, darzustellen, wie ein vom Sturm an ein Eiland verschlagener Held den K‹nigdesselben durch ErzŠhlung seiner Leiden rˆhrt, ihn in die Hei