Die Chormusik von Rudolf Mauersberger · Während sich der Dresdner Kreuzchor im 13. Jahrhundert...

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Tectum Die Chormusik von Rudolf Mauersberger Eine stilkritische Studie Vitus Froesch

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Die Chormusik von Rudolf Mauersberger

Eine stilkritische Studie

Vitus Froesch

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Die Chormusik von Rudolf Mauersberger

Eine stilkritische Studie

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Dresdner Schriften zur Musik Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden Herausgegeben von Matthias Herrmann

Band 1

Vitus Froesch Die Chormusik von Rudolf Mauersberger Eine stilkritische Studie Tectum Verlag

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Vitus Froesch Die Chormusik von Rudolf Mauersberger. Eine stilkritische Studie Dresdner Schriften zur Musik Band 1 Zugl. Diss., Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden Umschlagabbildung: Rudolf Mauersberger, Dresdner Requiem, RMWV 10, Autograph der Erstfassung, erste Partiturseite © Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

Tectum Verlag Marburg, 2013 ISBN 978-3-8288-5839-8

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-3064-6 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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VORWORT

Dresdner Schriften zur Musik – die neue Reihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber knüpft an die historisch gewachsene, bis zum heuti-gen Tage hervorragende Stellung der Musik in Dresden an.

Während sich der Dresdner Kreuzchor im 13. Jahrhundert aus dem christlichen Kultus zu entwickeln begann, sind andere hochrangige musi-kalische Institutionen aus dem höfischen Umfeld der wettinischen Kurfürs-ten und Könige hervorgegangen: die Sächsische Staatskapelle genauso wie die Semperoper. Aus der bürgerlichen Musikkultur hat sich die Dresdner Philharmonie entwickelt.

Gerade in einer Stadt, die mit Johann Walter, Heinrich Schütz und Jo-hann Adolf Hasse, mit Weber, Schumann und Wagner so eng verbunden ist, sollte das Reflektieren über Musik, sollte die auf Musik bezogene wis-senschaftliche Arbeit eine breite Basis einnehmen.

Eine international frequentierte Bildungseinrichtung wie die Hoch-schule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, die aus dem 1856 ins Le-ben gerufenen Königlichen Konservatorium, der Orchesterschule der Säch-sischen Staatskapelle, dem Konservatorium der Landeshauptstadt Dresden und der Akademie für Musik und Theater hervorgegangen ist, bildet den richtigen Ort dafür.

Seit Jahrzehnten hat die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber ihr wissenschaftliches Potential entwickelt und intensiviert. Auf dem Ge-setz über die Hochschulen im Freistaat Sachsen vom 11. Juni 1999 basiert ihr Promotionsrecht in den Fächern Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Musiktheorie (seit 2001).

Nach der Gründung des Instituts für Musikwissenschaft im Jahre 1993 (mit dem damals bereits bestehenden Heinrich-Schütz-Archiv) sind weitere wissenschaftliche Einrichtungen etabliert worden: das Institut für musikali-sches Lehren und Lernen, das Institut für Musikermedizin, das Institut für Neue Musik und das Zentrum für Musiktheorie.

Für ausgewählte Dissertationen fehlte an der Dresdner Musikhoch-schule bislang eine angemessene Publikationsreihe. Deshalb werden die

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DIE CHORMUSIK VON RUDOLF MAUERSBERGER

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Dresdner Schriften zur Musik etabliert. Die Reihe ist keineswegs thematisch festgelegt, sie steht auch Tagungsberichten und Veröffentlichungen der am Hause wirkenden Professoren offen. Als verantwortlicher Reihenherausge-ber fungiert der jeweilige Vorsitzende der Promotionskommission.

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Der Eröffnungsband gilt Rudolf Mauersberger (1889–1971), einem namhaf-ten Dresdner Musiker des 20. Jahrhunderts. Die musikwissenschaftliche Dissertation von Vitus Froesch hat einen primär musikanalytischen Ansatz, der es ermöglicht, die textausdeutende Komponente des 1930–1971 wir-kenden Kreuzkantors auf vokalem Gebiet entschlüsseln zu helfen. Vitus Froesch widmet sich dabei nicht nur dem Chorwerk der Dresdner Zeit. Da bisher nur ausgewählte Kompositionen Mauersbergers ediert worden sind, bezieht die Arbeit auch Teile des kompositorischen Nachlasses ein, der sich in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden befindet. Der reiche Autographen- und Quellenbestand dieser his-torisch gewachsenen Bibliothek bietet für die Musikforschung nach wie vor ein interessantes Betätigungsfeld. Prof. Dr. Matthias Herrmann Vorsitzender der Promotionskommission Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

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INHALT

1 EINLEITUNG ..................................................................... 9

2 MUSIKALISCHE HERKUNFT UND AUSBILDUNG ............... 13

2.1 Mauersberg – Annaberg ..................................................... 13

2.2 Leipzig ............................................................................. 15

3 BERUFLICHER WERDEGANG ............................................ 27

4 EINFLÜSSE DER PROTESTANTISCHEN KIRCHENMUSIKALISCHEN ERNEUERUNGSBEWEGUNG ... 33

5 DIE CHORMUSIK ............................................................. 39

5.1 Dramaturgie und Formprinzipien.......................................... 39

5.2 Melodik ............................................................................ 51

5.3 Harmonik ......................................................................... 64

5.3.1 Methodische Ansatzpunkte .................................................. 64

5.3.2 Freie Kompositionen .......................................................... 65

5.3.3 Choralsatz ........................................................................ 85

5.4 Liedbearbeitung ................................................................ 93

5.5 Kontrapunkt ................................................................... 106

5.6 Instrumentation .............................................................. 117

5.7 Textbehandlung .............................................................. 128

5.7.1 Textauswahl ................................................................... 128

5.7.2 Textausdeutende Phänomene ............................................ 133

5.7.2.1 Die musikalisch-rhetorischen Figuren und ihre geschichtliche Entwicklung ................................... 134

5.7.2.2 Mauersbergers stilistische Position ..................................... 135

5.7.2.3 Musikalische Figuren ........................................................ 135

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5.7.2.4 Harmonische Phänomene ................................................. 141

5.7.2.5 Satzphänomene .............................................................. 148

5.7.2.6 Instrumentation .............................................................. 157

5.7.2.7 Rhythmik/Metrik ............................................................. 157

5.7.2.8 Zusammenfassung .......................................................... 157

5.8 Die liturgische Bedeutungsebene ....................................... 163

6 AUFFÜHRUNGSPRAKTISCHE HINWEISE ........................ 175

6.1 Chorklang ...................................................................... 175

6.2 Tempo ........................................................................... 177

6.3 Phrasierung .................................................................... 180

6.4 Übergänge ..................................................................... 181

6.5 Einsatz der Orgel ............................................................. 181

6.6 Notentext ....................................................................... 182

6.7 Zusammenfassung .......................................................... 184

7 ENTWICKLUNGSLINIEN DES KOMPOSITORISCHEN GESAMTSCHAFFENS ...................................................... 187

8 DANK ............................................................................ 195

ANHANG .................................................................................... 197

1. Anmerkungen ................................................................. 197

2. Literaturverzeichnis ......................................................... 205

3. Quellennachweis der Notenbeispiele ................................... 209

4. Werkregister ................................................................... 213

5. Personenregister ............................................................. 219

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1 EINLEITUNG

Bis heute ist Rudolf Mauersberger in erster Linie durch seine kirchenmusi-kalische Tätigkeit, insbesondere als Dresdner Kreuzkantor in den Jahren 1930–1971 bekannt. Seine kompositorischen Leistungen blieben zu seinen Lebzeiten außerhalb Dresdens noch weitgehend unberücksichtigt, finden aber während der letzten drei Jahrzehnte zunehmend Akzeptanz und An-erkennung. Auf der Grundlage der systematischen Erschließung seines kompositorischen Nachlasses durch Matthias Herrmann war es erst mög-lich, sich stärker auf das Gesamtwerk sowohl im Rahmen von Aufführun-gen als auch wissenschaftlichen Untersuchungen zu beziehen. Schließlich tragen die Noteneditionen einiger seiner Werke, die inzwischen ermöglicht werden konnten, zu einer stärkeren Verbreitung seiner Kompositionen bei. Vor allem die Lukaspassion (RMWV1 9), das Dresdner Requiem (RMWV 10) und die Christvesper (RMWV 7) erhielten so zahlreiche Aufführungen, vor allem außerhalb des Dresdner Umfeldes. Die durchweg positive Resonanz nach Darbietungen mit Mauersbergerscher Musik zeigt, dass die Kompo-sitionen nicht nur ein von der Dresdner Kreuzchortradition weitgehend unberührtes Publikum zu überzeugen vermögen. Vielmehr manifestiert sich auf diese Weise, dass die Werke Mauersbergers eine konkret fassbare Spannkraft und Faszination in sich tragen müssen, die es lohnt, genauer untersucht und beschrieben zu werden.

Die inzwischen zu Rudolf Mauersberger vorgelegte Literatur ist viel-fältig und präsentiert sich in ihrer jeweiligen Herangehensweise sehr unter-schiedlich. So existieren einerseits allgemeine oder speziell auf bestimmte Phasen bezogene Darstellungen seiner Biographie. Zumeist fußen die ent-sprechenden Schilderungen auf persönlichen Lebenserinnerungen, die die jeweiligen Autoren mit Mauersberger verbinden.2 Andererseits liegen eini-ge wissenschaftliche Erörterungen über den Musiker, Interpreten und Komponisten Mauersberger vor. Diese stellen entweder insgesamt das Le-ben und Werk Mauersbergers dar,3 befassen sich mit unterschiedlichen Phasen seines Werkes4 oder gehen auf den speziellen Chorklang ein, den er im Laufe seines Kreuzkantorats in Dresden formierte.5

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Eine stilkritisch analytische Arbeit, die speziell dem Chorschaffen Mauersbergers gewidmet ist, wurde bisher nicht erstellt. Aus diesem Grund ist die vorliegende Studie, zunächst als Dissertation, entstanden. Wie bereits dargelegt, beleuchten manche der bisherigen Darstellungen einzelne kompositorische Aspekte zu Mauersbergers Schaffen. Darüber hinausgehend, bemüht sich diese Studie, die Komplexität der kompositori-schen Einzelfaktoren und den analytisch fassbaren Kern detailliert darzu-stellen, der letztlich die für Mauersbergers Chorwerke charakteristische Faszination ausmacht.

Während Mauersberger wenige Instrumentalwerke schuf, ist sein Chorwerk umso umfangreicher. Von insgesamt 433 erhaltenen Kompositi-onen sind lediglich sechs der Instrumentalmusik zuzurechnen. Wenn man nun innerhalb der Chorwerke die Entstehungszeit genauer betrachtet, fällt auf, dass die meisten Kompositionen für Chor (ob nun liturgische Kurz-formen, Motetten, Liedbearbeitungen, Zyklen oder geistliche abendfüllende Werke) während Mauersbergers Dresdner Kreuzkantorat geschaffen wur-den. Entsprechend stehen die Dresdner Chorkompositionen im Zentrum der vorliegenden Arbeit.

Der auf diese Weise formulierte Schwerpunkt der Untersuchung ergibt sich auch aus stilistischer Hinsicht: Diejenigen Werke, die Mauersberger bis zum Beginn seines Eisenacher Kantorats schrieb, zeigen ihn als einen jun-gen Komponisten, der seinen stilistischen Weg noch nicht gefunden hat, ja dessen stilistische Auffassung sich weitestgehend von derjenigen späterer Jahre unterscheidet. So lassen seine frühesten noch erhaltenen Werke einen spätromantischen kompositorischen Ansatz erkennen. Die Suche nach dem eigenen kompositorischen Weg, einer individuellen Tonsprache, vollzog sich über einen längeren Zeitraum, bis Mauersberger um das Jahr 1925 im Zuge der aufkeimenden Erneuerungsbewegung der evangelischen Kir-chenmusik eine stilistische Position gefunden hatte, die für die weiteren Jahrzehnte bestimmend bleiben sollte. Was bisher in dieser Deutlichkeit kaum herausgestellt wurde, ist, dass Mauersberger als einer der ersten Komponisten die neuen kompositorischen und vor allem liturgischen An-sätze aufnahm und in sein Schaffen integrierte. Dies geschah zur selben Zeit, als diese Neuerungen im Schaffen von Arnold Mendelssohn und Kurt Thomas erkennbar wurden. Mit weit größerer eruptiver Ausstrahlungs-kraft machten dann einige Jahre später Hugo Distler und Ernst Pepping mit ihren geistlichen Chorkompositionen auf sich aufmerksam. So stark die um 1925 gefundene kompositorische Handschrift mit Mauersberger identifi-zierbar ist, so wenig sah er sich zeitlebens als Avantgardist. Eher lag ihm daran, unabhängig von der ständigen Suche nach neuen klanglichen Mög-lichkeiten eine Musik zu schaffen, die für den konkreten Gebrauch be-stimmt war und als solche die Zuhörer emotional ansprechen konnte.

Die kompositorische Frühphase Mauersbergers (Spätromantik) und sein später herausgebildeter Individualstil (gemäßigte Moderne) weisen

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1 EINLEITUNG

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einige maßgebliche Unterschiede auf. Dies betrifft alle Parameter der musi-kalischen Faktur: Melodik, Harmonik, Rhythmik, Form, Dynamik und A-gogik. Bei genauer Betrachtung lassen sich gerade in klanglicher Hinsicht zwischen beiden stilistischen Positionen Ähnlichkeiten feststellen.

Die Prioritätensetzung, das Chorwerk Mauersbergers ausschließlich zu betrachten, hat zur Folge, dass die eher spätromantisch bestimmten Werke seines Frühwerks zwar Erwähnung finden, im Gesamtrahmen der Arbeit aber untergeordnet erscheinen. Der Umfang des Chorwerks sowie die be-sondere Gelegenheit, nur an ihm die individuelle Klangsprache Mauers-bergers untersuchen zu können, rechtfertigen allerdings eine solche thema-tische Festlegung.

Die gewählte methodische Herangehensweise der Darstellung sei kurz beschrieben: Am Beginn steht ein biographischer Abriss der Studien- und Berufsjahre Mauersbergers, wobei stets die engen Bezüge zwischen Biogra-phie und kompositorischem Schaffen aufgezeigt werden. Sodann erfolgt – im eigentlichen Hauptteil der Arbeit – eine möglichst differenzierte analyti-sche Untersuchung von Mauersbergers Chorwerk. Stilistische Entwicklun-gen, die sich selbst innerhalb der Chorkompositionen zeigen, werden hier ebenso angesprochen, wie auch die verschiedenen Parameter genauer un-tersucht werden, die die kompositorische Handschrift Mauersbergers kennzeichnen. Bei der Auswahl der zur Analyse herangezogenen Komposi-tionen wurden besonders liturgische Großwerke, einige Chorzyklen sowie chorische Einzelwerke Mauersbergers betrachtet. Dies bot sich aus zweier-lei Hinsicht an: Zunächst erweisen sich diese Schöpfungen als eine wahre „Fundgrube“ Mauersbergerscher Kompositionsweise. Die Varianten der Chorbehandlung sowie der harmonischen Ausdeutung und Textinterpreta-tion finden sich in ihnen auf engstem Raum und sind dementsprechend komprimiert darstellbar. Daneben dürften die genannten Kompositionen zu den bekanntesten zählen, die Mauersberger geschrieben hat, woraus sich eine leichtere Vergegenwärtigung und Identifikation von Seiten des Lesers ergibt.

Weiterhin finden sich Darstellungen zu Mauersbergers Liturgieauf-fassung und der den Chorwerken zugrunde liegenden Textauswahl sowie einige aufführungspraktische Hinweise. Abschließende Betrachtungen zei-gen nochmals die vielfältigen Entwicklungslinien auf, die insgesamt zu ei-nem sehr heterogenen, aber umso persönlicheren kompositorischen Ge-samtschaffen geführt haben. Dieser sehr intuitiv sich äußernde Individual-stil hatte für die vorliegende Arbeit übrigens zur Folge, nur im Falle der Textausdeutung Modelle entwickeln zu können. Aufgrund der Vielgestal-tigkeit der übrigen kompositorischen Aspekte waren bei ihnen enge musik-theoretische Kategorisierungen nicht möglich.

Das Buch soll mit den aufgezeigten Erkenntnissen zu einem tief-greifenderen Verständnis des Mauersbergerschen Chorwerks beitragen. Zu wünschen wäre auch, dass die Erwähnung mancher relativ unbekannt ge-

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bliebener Kompositionen dazu führen könnte, sie stärker zu berücksichti-gen und in nicht allzu ferner Zukunft zur Aufführung zu bringen. Dies würde den Intentionen Mauersbergers, der primär für den konkreten mu-sikalischen Gebrauch schrieb, sehr entsprechen.

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2 MUSIKALISCHE HERKUNFT UND AUSBILDUNG

2.1 Mauersberg – Annaberg

Rudolf Mauersberger wurde am 29. Januar 1889 in Mauersberg im Erzge-birge geboren, einem Dorf, das zwischen Annaberg und Marienberg liegt und heute ein Teilort der Gemeinde Großrückerswalde ist. Die Eindrücke, die Mauersberger in seiner Kindheit dort sammelte, haben seine Musiker-persönlichkeit, ob nun als Komponist oder Interpret, stark geprägt. Vorfah-ren, die sich in vielfältiger Weise der Musik verschrieben hatten, sind bis ins 17. Jahrhundert nachweisbar. Sein Vater, Oswald Mauersberger, stamm-te aus dem Nachbarort Mildenau. Er war 42 Jahre seines Lebens Kirch-schullehrer in Mauersberg, übte also eine heute nicht mehr gängige Be-rufskombination eines Kantors und gleichzeitigen Dorfschullehrers aus. Die damit verbundenen Tätigkeitsfelder, aber auch die zu Beharrlichkeit und Strenge neigenden Charakterzüge des Vaters beeinflussten Rudolf Mauersberger und seine vier Geschwister nachhaltig. Den ruhenden und ausgleichenden Pol stellte die Mutter, Lina, geb. Schönherr, dar. Sie stamm-te aus dem etwas weiter entfernten Niederlauterstein und war bis zu ihrem Lebensende ein wesentlicher menschlicher Bezugspunkt Rudolf Mauers-bergers.

Schon früh kam er mit der kirchenmusikalischen Praxis seines Vaters in Berührung. Zunächst geschah dies als Mitglied der Kurrende, so dass er an zahlreichen Proben und der regelmäßigen liturgischen Gottesdienstge-staltung beteiligt war. Für seine späteren Jahre als Kirchenmusiker waren dies entscheidende Eindrücke, bezogen auf das eigene Knabenchor-Ideal und den starken De-tempore-Bezug bei Gottesdiensten und Vespern.

Mauersberger erhielt relativ früh Instrumentalunterricht durch seinen Vater (Klavier, Violine und Orgel) und wurde von ihm auch ans liturgische Orgelspiel herangeführt. So konnte er ihn zeitweise an der Orgel mit Litera-turspiel und Improvisation vertreten. Der frühe Kontakt mit diesem In-strument hat u. a. zum späteren Orgelstudium und dem zunächst primären beruflichen Selbstverständnis Mauersbergers als Organist beigetragen. Dies

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sollte sich erst mit der Übernahme des Kantorats in Eisenach 1925 ändern, das ihn erstmals in der hauptsächlichen Tätigkeit als Chorleiter erkennen lässt. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass die Orgel auch im Chorschaffen Mauersbergers eine meist unterschätzte, aber dennoch we-sentliche Position einnimmt.

Die tiefe und zugleich kindliche Frömmigkeit seines Umfeldes hat Mauersberger seit seiner Kindheit ebenfalls stark beeinflusst und bis zu seinem Lebensende geprägt. Hinzu kamen nachhaltige Eindrücke, die sich insbesondere mit der Advents- und Weihnachtszeit in Mauersberg verbin-den. Die erzgebirgische Musiktradition, mit der Mauersberger aufwuchs, sollte in mehrere seiner Dresdner Kompositionen in Form von charakteris-tischen Instrumentationen einbezogen werden. Dazu gehören insbesondere Christvesper (RMWV 7), Christ- und Ostermette (RMWV 71 bzw. 74) sowie das Dresdner Requiem (RMWV 10). Die thematische Verbundenheit mit dem Erzgebirge spiegelt sich in den späteren Zyklen Tag und Ewigkeit (RMWV 1) sowie Erzgebirge (RMWV 5) und dem Weihnachtszyklus der Kruzianer (RMWV 2) wider. Die heimatliche Verwurzelung Mauersbergers äußerte sich auch darin, dass er sich während seiner Jahre als Dresdner Kreuzkan-tor zu allen Ferienzeiten nach Mauersberg zurückzog und diesen Ort als sein persönliches und künstlerisches Refugium ansah.

In den Jahren 1903 bis 1909 ging Mauersberger an das Königliche Leh-rerseminar in Annaberg, um – wie sein Vater – Kirchschullehrer zu werden. Die Ausbildung war durch äußerste Strenge und fast militärisch zu nen-nenden Drill geprägt. Die den Studenten abverlangte maximale Selbstdis-ziplin wurde bis zur Bedürfnislosigkeit gesteigert. Auch wenn es Mauers-berger anfänglich schwer gefallen sein muss, sich mit der Zucht des Lehrer-seminars abzufinden, profilierte er sich doch zunehmend in unterschied-lichen musikalischen Aufgaben. Zu Beginn war er 4. Cellist des Seminaror-chesters und stieg in diesem Ensemble bis zur Position des Präfekten auf. Weiterhin ist bekannt, dass er in Annaberg neben dem Violoncello auch das Klavier-, Orgel-, Violin- und Flügelhornspiel verfolgte. Am Ende seiner Seminarzeit leitete er allwöchentlich den Seminarchor und war so maßgeb-lich an der liturgischen Ausgestaltung des Sonntagsgottesdienstes an der Pfarrkirche St. Annen beteiligt. Gleichzeitig profilierte er sich als Organist, dessen hervorragende Interpretationen, insbesondere der Werke Regers, große Beachtung fanden. Bereits damals nutzte Mauersberger mehrfach die Gelegenheit, den eigenen musikalischen Horizont zu erweitern, indem er an Fahrten in die musikalischen Zentren Leipzig und Dresden teilnahm. Leider sind evtl. Auswirkungen auf das eigene Schaffen nicht mehr nachzu-weisen, da sämtliche Annaberger Kompositionen Mauersbergers – seine wohl ersten Ergebnisse auf diesem Gebiet – verschollen sind.

Nach dem Militärdienst im Anschluss an die Ausbildung am Lehrer-seminar wurde Mauersberger für die Zeit eines Jahres Hilfslehrer in Mildenau, bevor er in Leipzig Musik zu studieren begann.

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2 MUSIKALISCHE HERKUNFT UND AUSBILDUNG

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2.2 Leipzig

Zwischen 1912 und 1914 nahm er erstmals ein Musikstudium am Konserva-torium in Leipzig auf und setzte es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (in den Jahren 1918/19) fort. Hier entstanden für das eigene Schaffen we-sentliche Werke im Bereich der Instrumentalmusik. Der Erfolg seiner krea-tiven Aktivität blieb nicht aus: 1914, am Ende seines Orgel- und Kompositi-onsstudiums, erhielt er für sein Klaviertrio c-Moll (RMWV 448) sowie das Werk Introduktion, Ciacona und Choral e-Moll für Orgel, Blechbläser und Pauken (RMWV 445) den Arthur-Nikisch-Preis für Komposition. Die am Konservatorium tätigen Lehrkräfte, mit denen Mauersberger in Verbin-dung kam, nahmen großen Einfluss auf seine musikalische Entwicklung. In idealer Ergänzung wirkte die kulturelle Atmosphäre Leipzigs stark inspi-rierend.6

Das Musikleben Leipzigs war damals wie heute zunächst von Ge-wandhaus und Thomaskirche bestimmt. Beide Stätten mit ihren dominan-ten zugehörigen Klangkörpern (Gewandhausorchester und Thomanerchor) prägten es maßgeblich. Der damalige Studienplan des Konservatoriums sah zudem vor, dass die Generalproben des Gewandhausorchesters und die allsonnabendliche „Motette“ des Thomanerchors regelmäßig besucht wur-den. Bei der Untersuchung der Gewandhausprogramme während Mauers-bergers Leipziger Studienjahre7 fallen zunächst die sinfonischen Zyklen mit Werken von Beethoven, Brahms und Bruckner auf, alle unter der Leitung von Arthur Nikisch. Die mit diesem Dirigenten in Verbindung stehende Mahler-Rezeption spielte zumindest im Rahmen der Gewandhauskonzerte zu dieser Zeit eine untergeordnete Rolle; lediglich die Sinfonie Nr. 4 wurde am 17. Oktober 1912 im Gewandhaus dargeboten. Daneben waren bei-spielsweise sinfonische Werke von Robert Volkmann, Walter Braunfels, Stephan Krehl, Jean Sibelius und Max Reger sowie Liedkompositionen von Hans Pfitzner zu hören. Dieses deutlich spätromantisch geprägte Reper-toire bestärkte Mauersbergers kompositorische Ausrichtung zu dieser Zeit. Ein erster Hinweis auf Eindrücke, die zu seiner späteren Stilwende beige-tragen haben, könnte in intimeren Passagen der Komposition Die Nonnen für Chor und Orchester (op. 112) von Max Reger zu finden sein, die am 5. Dezember 1912 im Gewandhaus u. a. auf dem Programm stand. Die stark homophone Chorbehandlung mit zahlreichen modalen Wendungen lässt dies zumindest vermuten.

Der Thomanerchor wurde damals von Thomaskantor Gustav Schreck geleitet. Dessen zahlreiche Kompositionen lassen eine eher konservative Auffassung erkennen und besitzen neben der souveränen Beherrschung kontrapunktischer Techniken eine eher akademische Ausstrahlung, wobei harmonische Weiterentwicklungen Wagners oder Regers unberücksichtigt bleiben.8 Eine ähnlich lautende Selbsteinschätzung Schrecks geht aus sei-nem Bewerbungsschreiben um das Amt des Thomaskantors hervor, das er

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dem Rat der Stadt am 9. Juni 1892 zusandte. Darin formulierte er: „Über meine Bedeutung als Componist kann ich mich nur auf die Gewand-hausdirection, auf Professor Dr. Reinecke, Dr. Jadassohn u. s. w. beziehen. Daß ich für Chor schreiben [!] und die Stimmen zu behandeln verstehe, darf ich wohl sagen. Genannte Herren, sowie das Directorium des Kgl. Conservatoriums […] können auch Auskunft geben über meine Bedeutung als Contrapunktist und als praktischer, einer conservativen Richtung ange-hörenden Musiker.“9 Beim Vergleich entsprechender Programme der abendlichen Motetten bzw. der musikalischen Darbietungen während des Sonntagsgottesdienstes wird ersichtlich, dass Gustav Schreck neben roman-tischen Chorwerken für seine Zeit verhältnismäßig häufig Kompositionen Johann Sebastian Bachs einbezog. Diese wurden zwar, beispielsweise im Falle von de-tempore-bezogenen Kantaten, nur abschnittweise vorgetragen, doch darf Schreck das Verdienst zugeschrieben werden, noch vor Karl Straube den Fokus des Thomanerchor-Repertoires verstärkt auf Bach ge-lenkt zu haben.10 Hinzu kommt seine Bedeutung als Befürworter einer möglichst starken Orientierung an den Aufführungsverhältnissen Bachs, wenn man dessen Musik interpretiert. Dies bedeutete zu Schrecks Zeiten al-lerdings nicht die Einbeziehung historischen Instrumentariums, aber zu-mindest die Verwendung der ursprünglich intendierten Instrumententy-pen. Er „war es, der stark forcierte, dass die Instrumente der Bachzeit wie-der in Gebrauch kamen, wie die Clarintrompete, die Oboe d’amore oder das Cor anglais (Taille, Englisch Horn)“.11 Gemessen an den zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus üblichen Aufführungen Bachscher Chorwerke mit entsprechend fulminanter Großbesetzung nimmt sich die Reduzierung Schrecks bei der Chorstärke des Thomanerchors von etwa 50 Choristen12 geradezu bescheiden aus. Schließlich ging er bei der Repertoireauswahl ge-legentlich bis zu Werken des 15. bis 17. Jahrhunderts (z. B. Isaac, Palestrina, Lasso, Eccard, Lechner oder Sweelinck) zurück.13 Mauersbergers spätere Orientierung an Heinrich Schütz wird auf diese Weise einen wesentlichen Impuls erhalten haben. Schrecks Nachfolger, Karl Straube, der 1918 Thomaskantor wurde, den Mauersberger in dieser Funktion also noch wäh-rend seines Studiums erlebte, lenkte den Programmschwerpunkt noch stär-ker auf Bachsche Kompositionen, wobei auch die Werke der Renaissance und des Frühbarock, also diejenigen der so genannten „alten Meister“ in seinem eigenen Selbstverständnis eine entscheidende Rolle spielten. Dies-bezüglich sei Straube selbst zitiert, wie er sich einige Monate nach Beginn seines Thomaskantorats in einem Brief an Willibald Gurlitt vorausschauend äußerte: „Ob ich ein brauchbarer, erwähnenswerter Thomaskantor sein werde, kann erst die Zukunft lehren. Was ich versuchen will, das ist eine Beeinflussung der jüngeren Generation durch die vorbachschen Meister. Vor allem ist es Heinrich Schütz, an den ich dabei denke. Von diesen Gro-ßen kann vielleicht eine starke Anregung ausgehen.“14 Zugleich setzte er sich für damals zeitgenössische spätromantische Komponisten, ins-

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2 MUSIKALISCHE HERKUNFT UND AUSBILDUNG

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besondere Reger ein. Straubes spätere Thomanerchor-Aufführungen mit ersten Werken, die im Sinne der evangelischen Kirchenmusikerneuerung stehen, z. B. von Arnold Mendelssohn, begann erst um 1924.15 Zu dieser Zeit war Mauersberger bereits als Kantor in Aachen tätig.

Es lässt sich kaum belegen, welche Konzertveranstaltungen Mauers-berger außerdem besucht hat. Die Aussagen seines damaligen Studienkol-legen Eugen Hofmann sind allerdings im Sinne Mauersbergers formuliert. Insofern trifft es wohl auch auf Mauersberger zu, wenn Hofmann von be-eindruckenden Klavierabenden im Kaufhaussaal und großbesetzten Chor- und Orchesterdarbietungen (u. a. Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8) im Kris-tallpalast berichtet.16 Diese Veranstaltungen haben Mauersberger ebenfalls stark inspiriert. Ein kompositorisches Resultat solcher Konzerteindrücke könnte seine so genannte Tragische Sinfonie e-Moll (RMWV 451) darstellen. (Notenbeispiel 1)

Aussagekräftiger scheint eine möglichst umfassende Darstellung der prägenden Lehrerpersönlichkeiten am Leipziger Konservatorium zu sein. Den größten Einfluss auf Mauersbergers kompositorisches Schaffen hatte Stephan Krehl, bei dem er Komposition und Fuge studierte. Krehl stand kompositorisch in direkter Brahms-Nachfolge und legte auch innerhalb seines Unterrichts entsprechende Schwerpunkte, insbesondere auf die Meister der Klassik und Romantik. Verstärktes Augenmerk richtete er da-bei auf die Einhaltung formal strenger Kriterien. Dies betraf in erster Linie die motivische und melodische Entwicklung, bezog sich aber auch auf kammermusikalische und sinfonische Großformen. Den grundsätzlichen Ausgangspunkt, sowohl für Kammermusik als auch für sinfonische Kom-positionen, bildete die klassische Sonate. Bei allem galt Krehl das Erreichen eines formal begründeten musikalischen Ebenmaßes als oberstes Ziel. Dar-aus resultierte seine eher skeptische Haltung gegenüber derjenigen Pro-gramm-Musik, die ausschließlich durch ihre Schilderung außermusikali-scher Phänomene bestimmt ist, daneben aber keinen formalen Sinn ergibt. Die soeben skizzierten Anhaltspunkte können seiner Musikalischen Formen-lehre entnommen werden, die Krehl erstmals 1906 herausgab.17 Die dort formulierten Auffassungen prägten offensichtlich den eigenen Komposi-tionsunterricht. Vergleicht man nämlich Mauersbergers kammermusikali-sche Werke mit den Kriterien Krehls, die er zu Motiv- und Themenbildung, aber auch zu kompositorischen Gattungen wie Streichquartett, Klaviertrio oder Sololied aufstellte, so sind sie bei Mauersberger explizit verwirklicht.

Diejenige kammermusikalische Komposition, die noch am eindeutigs-ten die Prinzipien der „Leipziger Schule“ (mit ihrer an klassisch-romantischer Formgebung und Harmoniesprache orientierten Faktur) re-präsentiert, ist Mauersbergers Klaviertrio c-Moll (RMWV 448), das er 1913/14 schrieb. Seine entsprechende stilistische Orientierung fällt bereits anhand der vierteiligen Satzfolge auf: Die Gesamtanlage zweier schneller Rahmen-

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Notenbeispiel 1: RMWV 451, 3. Satz, T. 107–116

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sätze, in die ein langsamer Satz und ein Scherzo eingefügt sind, lässt Be-züge zu Beethoven oder Brahms erkennen. Untersucht man die Satz-bezeichnungen genauer, so deutet ebenfalls die langsame Einleitung des ersten (Sonatenhaupt-)Satzes, aber auch die Umschreibung „Adagio marci-ale“ des zweiten Satzes auf Beethoven hin.

Jeder Satz des Klaviertrios ist durch ständige motivische Arbeit und entwickelnde Themenbildungen geprägt. So scheint der motivische Einfall und die sich anschließende motivgestützte Entwicklung der erste komposi-torische Impuls zu sein, dem alle übrigen Parameter zunächst untergeord-net sind. Bezogen auf das Harmonische sind Parallelen zu Brahms, aber auch Reger, insbesondere durch vereinzelt aufwendige Modulationen, er-kennbar. Die Harmonik ist grundsätzlich funktional deutbar. Allerdings liegen in diesem vorgegebenen Rahmen eine Fülle von Akkordtypen und -verbindungen vor, die im späteren Chorschaffen Mauersbergers höchstens noch in expressiven Chorpassagen auftreten. Sonst weisen die Chorwerke, im Vergleich zu den frühesten Kompositionen, eine wesentlich simp-lifizierte Harmonik auf.

Zum besonders hervorstechenden Akkordmaterial gehören der Durs-eptakkord mit großer, der Mollseptakkord mit kleiner Septime, der häufig verwendete halbverminderte und der verminderte Septakkord sowie schließlich der übermäßige Dreiklang. Wie eng die Harmonikbezüge zwi-schen Mauersbergers Frühwerken und vereinzelten Passagen seines Chor-schaffens sein können, zeigt die Gegenüberstellung zweier Werkausschnit-te. Sie sind dem zweiten Satz des Klaviertrios und dem Dies Irae III des Dres-dner Requiems entnommen. Es fallen deutliche Ähnlichkeiten der Akkordik auf; der jeweilige emotionale Gehalt unterscheidet sich allerdings erheblich (Notenbeispiel 2).18

Die Instrumentalbehandlung innerhalb des Klaviertrios ist gegenseitig ausgleichend und ergänzend, womit Mauersberger – wie auch in allen an-deren Bereichen seiner Komposition – den Auffassungen Stephan Krehls vollkommen entspricht.19 Dies bezieht sich auch auf die Empfehlung, einer mehrsätzigen Komposition durch satzübergreifende motivische Beziehun-gen eine größere formale Geschlossenheit zu verleihen. Ein solch zyklischer Gesamtaufbau, den Mauersberger meist bogenförmig gestaltet, ist ein typi-sches Charakteristikum vieler seiner Kompositionen und findet sich exem-plarisch in seinen abendfüllenden Chorwerken wieder.

Die weitgehende Übereinstimmung Mauersbergers mit den Ansichten Krehls, die sich im Klaviertrio zeigt, bedeutet freilich nicht, dass er sich sämtlichen Vorschriften seines Lehrers bedingungslos unterworfen hätte: schon die bei Krehl eindeutig festgelegten Stimmenumfänge für Chor- und Liedkompositionen interpretierte Mauersberger verhältnismäßig frei und suchte auch formal nach überzeugenden Alternativen. Im Gegensatz zu vergleichbaren Lehrwerken zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aber Krehl

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gerade hinsichtlich der Freizügigkeit des Komponisten (bei entsprechend vorhandener Substanz) relativ tolerant.

Notenbeispiel 2a: RMWV 448, 2. Satz, T. 63–75

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Notenbeispiel 2b: RMWV 10, Nr. 20, T. 245–252

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Krehls Äußerungen zur Kirchenmusik wirken auf den ersten Blick bereits als Vorwegnahme der späteren Stilwende Mauersbergers: „Man will und muß in der Kirche eine andere musikalische Sprache als auf der Bühne oder im Konzertsaal reden; die Harmonie, vorzüglich der Gebrauch der Disso-nanzen, muß hier ein anderer wie dort sein. [...] Hier hat ein gründliches Studium der alten Kirchenkomponisten und ein Eingehen auf die Kirchen-tonarten und ihre Eigentümlichkeiten heilsam zu wirken. Eignen sich doch die ehrwürdigen, feierlichen und eigenartigen Harmonien, welche manche von den Kirchentonarten aufweisen, ganz besonders für die kirchliche Komposition.“20 Allerdings dürfen diese Aussagen nur als Anregung, nicht im Sinne einer Vorahnung gemäßigt moderner Kirchenmusik verstanden werden. In anderem Zusammenhang verweist Krehl als vorbildliche dama-lige Neuschöpfung ausdrücklich auf eine Messkomposition von Eduard Grell.21 Dieser gilt als Vertreter des Berliner Neu-Palestrina-Stils und ist deshalb mit den Auffassungen der evangelischen Erneuerungsbewegung nach 1920 nicht in Verbindung zu bringen.22

Zusätzlich hatte Krehl einen, wenn auch nur bescheidenen Einfluss auf die wenigen Fugenkompositionen Mauersbergers. Die differenzierten Kenntnisse zu Themenbildung und Fugenarchitektur gehen aus Krehls Lehrbüchern zu Kontrapunkt und Fuge eindeutig hervor.23 Die Vermittlung dieser Materie an Mauersberger glückte allerdings nur bedingt: Dessen Fu-gen haftet, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Entstehung, eine eher unglück-liche Handhabung grundlegender Kriterien an, die nicht zu übersehen ist.

Zusammenfassend hat Stephan Krehl Mauersbergers spätromantisch geprägtes Frühwerk stark beeinflusst. Zudem werden die charakteristische zyklische Geschlossenheit und modale Schreibart seiner späteren Chormu-sik hier bereits angelegt.

Als weiterer prägender Lehrer ist Karl Straube zu nennen, bei dem Mauersberger Orgel studierte. Schwerpunkte seines Unterrichts waren u. a. „zielsicheres hartes Arbeiten im Kleinsten des Handwerks wie in den letz-ten Dingen der Kunst“.24 Damit war auch die detaillierte Beschäftigung mit der inneren Beschaffenheit, der Struktur eines Werkes und der daraus re-sultierenden differenzierten Interpretation verbunden. Im Zentrum des Re-pertoires standen, auch bei Mauersberger, die Kompositionen Bachs und Regers, hinzu kamen Werke alter (vorbachscher) Meister und vornehmlich französische romantische Orgelmusik. Die Impulse, die Mauersberger durch den Unterricht bei Straube erhielt, waren nachhaltig. Auf diese Weise sind vor allem Bach, Reger und César Franck – letzterer besonders in den Schlusstakten der Introduktion und Passacaglia a-Moll (RMWV 446)25 – als kompositorische Vorbilder in den Orgelwerken Mauersbergers nachweis-bar. Entsprechend setzte er nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sein Studium am Leipziger Konservatorium fort, um das Orgelspiel bei Straube zu vervollkommnen. Die jeweilige künstlerische Wertschätzung bestand auf beiden Seiten. Insgesamt äußerte sich Straube außerordentlich positiv