JACC | 16. April 2013 | Kreuzkantor Roderich Kreile | Der Dresdner Kreuzchor

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16. April 2013 Der Dresdner Kreuzchor – haben Knabenchöre noch eine Zukunft? Eine Veranstaltungsreihe der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielen und Ergebnissen der parlamentarischen Arbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages

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Im ICC Dresden referierte Kreuzkantor Roderich Kreile am 16. april 2013 über die Zukunft von Knabenchören.

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16. April 2013

Der Dresdner Kreuzchor –

haben Knabenchöre noch eine Zukunft?

Eine Veranstaltungsreihe derCDU-Fraktion des

Sächsischen Landtages

Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielenund Ergebnissen der parlamentarischen Arbeitder CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages

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Inhaltsverzeichnis

„Der Dresdner Kreuzchor – haben Knabenchöre noch ein Zukunft?“Roderich KreileKreuzkantor

EinführungSteffen Flath MdLVorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages

ModerationDr. Fritz HähleEhrenpräsident des Johann-Amos-Comenius-Clubs Sachsen

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22 – 23

SchlusswortSteffen Flath MdLVorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages

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Steffen Flath MdL

Einführung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Ehrenpräsident unseres Johann-Amos-Comenius-Clubs, lieber Dr. Fritz Hähle, verehrte Fraktionsmitglieder. Ver-ehrte ehemalige Fraktionsmitglieder. Aber ich darf auch sehr herzlich begrüßen die ehemaligen Minister Friedbert Groß und Horst Rasch sowie die ehemaligen Staats-sekretäre Herrn Dr. Münch, Herrn Dr. Nees und Herrn Nitsch. Ich heiße herzlich Willkommen Oberbürgermeister, Bürger-meister, Geschäftsführer, Direktoren. Ich könnte viele namentlich begrüßen, ich sag einfach verehrte Freunde des Johann-Amos-Comenius-Clubs, ich eröffne die 68. Veranstaltung.

Wer genau Buch führt wird feststellen, wir haben am Buß- und Bettag in der Frauenkirche in Aussicht gestellt, uns im März zu treffen. Wir wollten die Ver-anstaltungsreihe mit einem Vortrag von Prof. Neugebauer fortsetzen. Er ist Prä-sident der Deutschen Fraunhofer Gesell-schaft. Das kam leider terminlich nicht zustande. Die Veranstaltung ist aufge-schoben und wir rufen sie wieder auf.

Umso mehr freue ich mich mit Ihnen, dass wir heute den Referenten des Abends, Herrn Roderich Kreile begrü-ßen können. Herzlich Willkommen bei uns im Comenius-Club. Er ist ein viel-beschäftigter Mann und seit etwa zwei Jahren sind wir im Gespräch, eine Veran-staltung mit ihm durchzuführen.

Wir orientieren uns heute an der Luther-Dekade. Das Thema „Reformation und Musik“ haben wir bisher übersprungen, und das lag daran, Herr Kreile, dass Sie damals einfach keinen freien Termin hatten.

Meine Damen und Herren, es gab schon viele Themen im Comenius-Club, das Thema „Musik, musische, ästhetische Bildung“ hatten wir bisher noch nicht. Es ist ein ausgesprochen wichtiges Thema, wenn wir an die Zukunft unserer jungen Menschen denken. Das wird manchmal ein bisschen untergewichtet; nicht im täglichen Leben aber in der Diskussion.

Und deshalb freue ich mich, dass Sie mit Ihrer Teilnahme heute, mit Ihrem Interes-se zeigen, wie wichtig Ihnen das Thema ist. Herr Kreile, Sie stehen dem Kreuz-chor vor und der Kreuzchor ist einer der ältesten Knabenchöre Deutschlands und Europas. Der Chor ist ein – so würde ich es mal bezeichnen – Garant christlicher Tradition bei der Kirchenmusik.

Sie sind natürlich auch mit dem Kreuz-chor Botschafter in der Welt. So wie auch unser Ministerpräsident, der zur-zeit – und so will ich auch, dass wir heu-te Abend mit daran denken – in Amerika unterwegs ist und diese Reise nutzt, um sächsische Kultur als Aushängeschild zu verwenden. Mit viel Hochachtung wird in der Welt auf uns geschaut.

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Aber zunächst möchte ich Sie, Herr Kreile, vorstellen. Sie sind evangelischer Kirchenmusiker, Chorleiter, Hochschul-lehrer. Sie wurden 1956 geboren und brachten in den letzten Jahren unter-schiedlichste Werke zur Uraufführung, intensivierten die Zusammenarbeit mit Orchestern und produzierten viele Rund-funk- und CD-Aufnahmen. Roderich Kreile unternahm mit dem Chor Konzert- reisen nach Japan, in die USA, nach La-teinamerika, in viele Länder Europas und Sie gastierten in bedeutenden Konzert-sälen und Kirchen Deutschlands. Sie sind Mitglied der Akademie der Künste.

Und ich glaube, es geht Ihnen auch so, heute werden wir einen Kreuzkantor mal ganz anders erleben. Nicht, indem er den Kreuzchor leitet, führt und diri-giert, sondern er spricht zu uns. Das ist etwas ganz Besonderes.

Ich freue mich auch, dass zwei Zeitungen, die Sächsische Zeitung und die Freie Presse, auf diese Veranstaltung hinge-

wiesen haben und sich mit einem Beitrag dem Kreuzkantor und dem Kreuzchor widmeten. Das ist etwas Neues und kann gerne fortgesetzt werden.

Wir wollen, wie wir das immer hier pfle-gen, nach dem Vortrag eine Diskussion ermöglichen und meine Bitte wäre, dass Sie schon während des Vortrags die Zeit dafür nutzen. Sie haben Zettel auf Ihren Plätzen gefunden, auf denen Sie Fragen oder Meinungen formulieren können. Dies kann dann Fritz Hähle in einer sehr anregenden Diskussion zur Sprache bringen.

Jetzt freue ich mich mit Ihnen gemein-sam auf den Vortrag „Der Dresdner Kreuzchor – haben Knabenchöre noch eine Zukunft“. Sie werden uns bestimmt eine gute Antwort geben und das Bild, das Sie in der Einladung finden, das kann man sich durchaus ausschneiden, ver-größern und vielleicht auch die Wände damit schmücken. Herr Kreile Sie haben das Wort.

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Wenn der Dresdner Kreuzkantor diese Frage stellt, kann man sich ebenso ver-wundert zeigen, wie wenn Jupp Heyn-ckes als Trainer des FC Bayern München die Frage aufwirft, ob seine Mannschaft auch weiterhin Fußball spielen soll. Nur allzu selbstverständlich ist die Präsenz des Dresdner Kreuzchores in Stadt und Land. Um die einhundert Auftritte, Konzerte, Vespern in der Kreuzkirche und Gottesdienste daselbst, Tourneen weltweit, Plattenproduktionen und Me-dienauftritte: niemand würde ein solch erfolgreiches „Unternehmen“ in Frage stellen wollen. Auch die Nachfrage ist stabil: Eltern suchen für ihre Kinder – halt! für ihre Söhne – eben besondere Ausbildungswege, die helfen können, Wege in ein erfolgreiches Erwachsenen-leben zu bahnen.

Und dann die Tradition: nahezu 800 Jah-re andauernden Wirkens, eine beeindru-ckende Ahnengalerie großer Musiker und Pädagogen als Leiter dieser auch als nationales kulturhistorisches Erbe an-zusehenden Einrichtung, in drei Jahren 2016, ebenso wie letztes Jahr die Tho-maner in Leipzig, das große Jubiläum, eben die 800 Jahre feiernd – also der Dresdner Kreuzchor, pars pro toto, ein unantastbares Monument?Dieser Ausblick auf unser großes Jubi-läum veranlasst mich auch, unser als

„Der Dresdner Kreuzchor – haben Knabenchöre noch eine Zukunft?“Kreuzkantor Roderich Kreile

selbstverständlich anmutendes Tun im Lichte mancher Fragestellungen zu beleuchten. Vieles von dem, was ich vortragen werde, macht denn auch zu-nächst den Eindruck einer nur kritischen Haltung zum Phänomen „Knabenchor“. Ich selbst habe einsehen müssen, dass die Frage nach der Zukunft der Knaben-chöre in einer pluralistischen Gesell-schaft eine Positionierung verlangt. Die- se werde ich selbstverständlich geben, und ich darf vorweg nehmen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass Kna-benchöre weiterhin nicht nur ihren Platz haben werden, sondern dass unsere Gesellschaft auch in Zukunft von ihnen profitieren wird.

Dies möge erörtert werden, denn nicht nur der „Zeitgeist“ als Ausdruck sich über die lange Zeit der Existenz von Knabenchören dramatisch gewandel-ter gesellschaftlicher Verhältnisse sieht manchmal skeptisch auf diese Einrich-tungen. Und wir machen immer deut-licher wahrnehmbar die Erfahrung, dass die Schwerpunktsetzungen und Orga-nisationsmodelle unserer Gesellschaft es den Knabenchören immer schwerer machen.

Einige Beispiele: vor Jahren waren wir nach Paris zum dortigen Bachfest ein-geladen. Unsere Vorfreude war groß.

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Plötzlich tat sich ein bürokratisches Hindernis auf: ein Gesetz zum Schutz vor Kinderarbeit in Frankreich hätte uns gezwungen, alle Jungen der Kon-zertbesetzung in Frankreich bei der So-zialversicherung anzumelden. Dies war nicht möglich, und der Sachbearbeiter im Ministerium, der eine Ausnahmege-nehmigung hätte geben können, tat dies nicht, wohl weil er nicht wusste, um was es sich bei einem deutschen Knaben-chor handelt. Gut gemeint – der Kreuz-chor aber das falsche Objekt. Die in den letzten Jahren um sich greifende weitere Verschulung mit Verlagerung von Un-terricht in den Nachmittag schnürt Kna-benchören langsam die Luft ab – aber das geht Sportvereinen ähnlich.

Und ein uns seit zwei Jahren sehr bela-stendes Beispiel: die Arbeitszeitrege-lungen im öffentlichen Dienst erfordern für die Betreuung der Jungs, vor allem auf Reisen, eine Dienstvereinbarung, wie sie in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes gang und gäbe sind – die- se kommt nicht zu Stande, weil bei der Abfassung des Arbeitszeitgesetzes an vieles gedacht wurde (z.B. Feuerwehr) nur nicht an die Anforderungen im Kna-benchorbereich und es uns bisher nicht gelungen ist, innerhalb der Stadt ausrei-chend zu verankern, dass Tourneen zum Kerngeschäft des Kreuzchores gehören

und dass der nationale und internatio-nale Musikmarkt sich nicht an den von den üblichen Gepflogenheiten abwei-chenden Dienstzeiten unserer Erzieher orientieren wird. Es wird immer schwie-riger werden, ein nicht in die Schemata passendes Ensemble wie den Kreuzchor in angemessener Weise am Leben zu er-halten.

Aber ich sprach von Anfragen, versu-chen wir, diese zu ordnen:

Brauchen wir Knabenchöre noch in ihrer ursprünglichen, liturgischen Funktion?

Erfüllen Knabenchöre ihren ur-sprünglichen Auftrag (Priesternach-wuchs, Versorgung mittelloser, weil verwaister, Kinder etc.)?

Brauchen wir Knabenchöre zur ex-emplarischen Darstellung der Musik unterschiedlicher Epochen?

Wie steht es mit der „Gender-Frage“? Werden Mädchen hier nicht von einem hoch attraktiven Ausbildungs-weg ausgeschlossen? Dürfen wir das? (hier eine Anmerkung: schon oft habe ich erlebt, dass die Schwestern von neu aufgenommenen Kruzianern sehr traurig wurden, weil sie nicht auch in den Chor kommen können – wo sie doch auch so gerne singen)

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Nun möchte ich Ihnen aber erst mal schildern, was es für einen Jungen, noch im Knabenalter, bedeutet, in den Dresdner Kreuzchor aufgenommen zu werden. Ich nenne ihn Heinrich, er besucht die dritte Grundschulklasse, seine Musikalität wurde entdeckt, und da sein Großvater auch schon Kruzia-ner war, er in Dresden nicht weit weg vom evangelischen Kreuzgymnasium wohnt, besucht er nun die Vorberei-tungsklasse des Kreuzchores. Sein Klassenzimmer befindet sich auf dem Schulgelände. Von mit den Anforde-rungen des Chores bestens vertrauten Lehrerinnen wird er unterrichtet, schon jetzt erhält er auch Einzelstimmbildung und Instrumentalunterricht vom Chor – er bereitet sich ja auch auf eine Auf-nahmeprüfung vor.

Kreuzkantor und Chordirigent (der bekannte Chorleiter Peter Kopp, Chef des „Vocal Concert Dresden“) halten dazu noch nahezu täglich eine 45-mi-nütige „Probe“ – richtiger wohl eine anspruchsvolle Singstunde. Heinrich überlegt natürlich immer wieder, ob er hier richtig ist, aber nach der Mit-wirkung im Weihnachtsoratorium ist ihm klar: der Kreuzchor muss es sein. Er schafft dann auch die umfangreiche Aufnahmeprüfung und tritt in die Klas-se 4 ein: ein durchgeplantes Leben um-fängt ihn nun. Nach Schule am Vormit-tag jeden Tag mehr als zwei Stunden Proben, Gesangsunterricht, Instrumen-talunterricht, betreute Hausaufgaben-stunden und keine freien Wochenen-

den mehr (bzw. nur alle paar Wochen) – das ist eine Menge.

Und dann weiß er auch, dass er sich in einem Probejahr befindet. Seine cho-rischen Leistungen über das Jahr hin-weg müssen ausreichen, und er muss natürlich die Bildungsempfehlung für das Gymnasium schaffen. Er wird von Lehrern und Erziehern beäugt, und im-mer wieder muss er in Chorproben auch einzeln vorsingen. Mit Aufnahme in den Chor muss Heinrich auch ins Internat, das bei uns „Alumnat“ heißt, einziehen. Und die Gemeinschaft: so ein Chor hat eine hierarchische Ordnung, er muss da-rin seinen Platz finden, ja vielleicht so-gar erkämpfen – ist dies alles attraktiv?Offensichtlich, da eine respektable Zahl von Jungen diesen Weg gehen möch-te. Ich betone ausdrücklich: die Jungen müssen diesen Weg gehen wollen– sonst kann das nicht funktionieren.

Die Gemeinschaft entwickelt stärkste Bindekräfte. Ich gebe mich da keinen Illusionen hin: sicher wollen alle Mu-sik machen, und dies wollen sie auf hohem, anspruchsvollen Niveau mit entsprechenden Erfolgserlebnissen in Konzerten und auf Reisen, aber das Le-ben in dieser geprägten Gemeinschaft ist schon sehr, sehr formend und aus-schlaggebend für die Mitwirkung in einem solchen Spitzenensemble.

Heinrich ist übrigens kein Superschüler – vielleicht hätte er ohne die Aufnahme in den Kreuzchor die Zulassung für das

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sehr nachgefragte evangelische Kreuz-gymnasium gar nicht geschafft. Hier ist der ein oder andere Junge im Kreuzchor gleichaltrigen Mädchen gegenüber im Vorteil.

Thema GendergerechtigkeitMaximal 30% der Kreuzchorabgänger gehen in die Musik, wobei sie weniger in die Instrumentalfächer streben (die Übezeiten beim Dresdner Kreuzchor reichen in der Regel für eine professio-nelle Laufbahn nicht aus, Ausnahmen wie Alexander Schmalcz (Pianist) und Matthias Eisenberg (Organist) bestäti-gen die Regel), als dass sie als Sänger, Dirigenten und Chorleiter reüssieren. Letztere erhalten aber über den Kreuz-chor eine Ausbildung, die ihnen gegen-über Mädchen gleicher Begabung einen deutlichen Vorteil sichert. Natürlich gibt es Mädchenchöre, die aber in sel-tensten Fällen in der Intensität der re-nommierten Knabenchöre ihre Schütz-linge ausbilden können.

In Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich mich in viele Artikel eingele-sen, die die Frage nach den Unterschie-den zwischen den Geschlechtern und dem Wunsch nach Gleichbehandlung der Geschlechter in allen Altersstufen behandelten. Die Frage „Vererbung oder Erziehung“ feiert fröhliche Ur-ständ; man findet sachliche Erörte-rungen und Polemiken und stellt fest, dass auch vermeintliche Fakten höchst unterschiedlich deutbar sind. Hinweise darauf, dass den Geschlechtern viel-

leicht doch leicht unterschiedliche Prä-gungen mitgegeben werden, kann man aus der Untersuchung ableiten, die besagt, dass weibliche Säuglinge, vor die Wahl gestellt, ein Gesicht oder ein Mobile anzusehen, eher das Gesicht betrachten, während die männlichen Säuglinge sich länger dem Mobile wid-men.

Heftig diskutiert wird die Frage, ob im heutigen System der Kinderbetreu-ung, -erziehung und -schulung der vor allem in Kitas und Grundschulen über-starke Anteil von Lehrerinnen die Jun-gen benachteiligt. Es gibt in manchen Schulfächern gute Erfahrungen mit der Geschlechteraufteilung (angeblich profitieren Mädchen z.B. im Fach Phy-sik von eigenen Klassen); diese Erfah-rungen werden durch andere Ergeb-nisse von Tests relativiert, die besagen, dass die Geschlechter, ob weiblich oder männlich ist egal, in Tests schlechter ab-schneiden, wenn man ihnen vorher sagt, ihr Geschlecht schneide bei besagtem Test in der Regel schwächer ab.

Eine Lehrerin aus dem Umfeld des Kreuz-chores sagte vor einiger Zeit, dass Lehre-rinnen wohl immer wieder den Versuch machen, Jungs zu braven Mädchen zu erziehen. Meine Ergänzung dazu: „und wundern sich dann über das Scheitern.“

Vertreter der Förderung von Jungs mei-nen, die Schulen heute könnten zu we-nig Rücksicht nehmen auf den stärkeren Bewegungsdrang von Jungen – nun

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ja, beim Kreuzchor versuchen wir den Knaben erst mal beizubringen, ihren Be-wegungsdrang für bis zu zwei Stunden einzudämmen.

Jedenfalls bleibt ein Grundtenor: der Wunsch, heranwachsenden Jungen po-sitiv besetzte männliche Rollenbilder (also nicht den alkoholisierten, gröh-lenden Fussballfan) vorzustellen, artiku-liert sich deutlich.

Aus populär aufbereiteter Anthropolo-gie konnte ich hierzu die Theorie ver-nehmen, dass das männliche Geschlecht aus den Zeiten, in denen in grauer Vor-zeit die Männer im Rudel auf die Jagd gingen, eine Prägung zur Annahme hierarchischer Strukturen deutlich im Gegensatz zum weiblichen Geschlecht vorhanden sei: nimmt man dies ernst, ein klares Plädoyer für die Existenz von Knabenchören wie für andere „Mann-schaften“.

Damit verlasse ich das unendlich weite Feld der „Gender-Frage“ und betrachte eine weitere, am Anfang aufgeworfene Frage: Brauchen wir Knabenchöre noch in ihrer ursprünglichen, liturgischen Funktion? und auch in einem Aufwasch:Erfüllen Knabenchöre ihren ursprüng-lichen Auftrag (Priesternachwuchs, Ver- sorgung mittelloser, weil verwaister, Kinder etc.)?

Es gibt sie recht zahlreich in den Domen und Kathedralen, auch europaweit: die Knabenchöre, die liturgische Funktionen,

im Katholizismus weiter verbreitet als im Protestantismus, ausüben. Gemischte Chöre könnten dies gleichwohl, ebenso finden sich auch hier Mädchenkanto-reien. Es werden auch aus Traditions-gründen (denn kaum jemand nimmt das vermeintliche Paulus-Wort: „die Frau schweige in der Kirche (oder auch Ge-meindeversammlung)“ noch ernst), Jun-gen zum liturgischen, hier musikalischen Dienst herangeführt. Ja, es mag anrüh-rend sein, Kinder, Knaben (aber warum sollte dies nicht auch für Mädchen gel-ten) bei ernster Hingabe an tatsächlich jahrtausendealten Dienst zu erleben; er-setzbar wären sie. Aber wenn man gute Traditionen lebendig erhalten will und auch die Größe solchen tradierten Tuns spürt, (so geht es mir tatsächlich noch Woche für Woche in der Kreuzkirche), dann will man dieses starke Element auch kommenden Generationen als zeit-lich Übergreifendes erhalten.

Die Frage allerdings nach der Gewinnung von Nachwuchs für die Klerikerlaufbahn halte ich heute für untergeordnet.

Eher können wir insofern gesellschaft-lichen Realitäten Rechnung tragen, indem wir feststellen, dass für viele berufstätige Ehepaare, oder auch für Alleinerziehende, die Unterbringung des Sohnes in einem Knabenchor mit In-ternat und Gymnasiumsanschluss eine sehr interessante Erziehungsalternative ist. Auch die großen städtischen Ensem-bles wie die Thomaner und die Kruzianer vermitteln eine christliche Werteorien-

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tierung, die durchaus auch von nicht-christlichen Eltern geschätzt wird.

Nächste Frage:Brauchen wir Knabenchöre zur exem-plarischen Darstellung der Musik un-terschiedlicher Epochen?Die heutigen, berühmten Knabenchöre spiegeln eine andere Aufführungs-tradition wieder, als es der historisch korrekten zukäme. Singt der Dresdner Kreuzchor heute in der Vesper eine Motette von Heinrich Schütz oder von Johann Sebastian Bach, so sind wir weit entfernt von der Aufführungssituation zur Zeit der genannten Komponisten. Die Hofkapellen alter Zeit verfügten über einige wenige Knaben, die die Diskantpartie (heute würde man sa-gen: den Sopran) sangen. Dazu kamen dann einige wenige Männerstimmen, Erwachsene, gut ausgebildet, die dann Alt, Tenor und Baß sangen. Bachs Chor war zahlenmäßig deutlich kleiner als der heutige Thomanerchor; auch san-gen sogar noch 18- jährige falsettie-rend im Sopran. Das Klangbild war ein völlig anderes als heute.

Der Musikmarkt spiegelt es wider: seit mehr als 20 Jahren leben wir in der Zeit der Spezialensembles, die auch getrost auf Knabenstimmen verzichten können, weil kein Knabe heute mehr so singt wie zu Zeiten der Alten Meister.

Nun aber zum eigentlichen, zum Singen.MONTAG 25.02.2002, 11:43, Hamburger Morgenpost

Experte: Knabenchöre brauchen in Zukunft MädchenstimmenLeipzig (dpa) – Knabenchöre werden nach Ansicht von Prof. Friedrich Frank künftig nicht mehr ohne weibliche Stim-men auskommen. «Es ist möglich, dass sie durch Mädchenstimmen ergänzt werden müssen», sagte der Wiener eme-ritierte Phoniatrie-Professor am Freitag am Rande des Leipziger Phoniatrie-Symposiums der dpa. Die Zahl der reinen Knabenchöre werde abnehmen, meinte der Wissenschaftler, der als Stimmarzt jahrelang die Wiener Sängerknaben be-treute. Die Mädchen könnten die in in-ternationalen Knabenchören wachsende Disbalance zwischen Knaben- und jungen Männerstimmen ausgleichen.

«Die Wiener Sängerknaben denken schon darüber nach, Mädchen aufzu-nehmen», sagte Franke. Zudem sei an der Wiener Oper eine Opernsingschu-le für Knaben und Mädchen gegründet worden, die in Aufführungen die bisher mit Sängerknaben besetzten Parts über-nehmen sollen. Die Anzahl der Kna-benstimmen verringere sich vor allem durch den immer früher einsetzenden Stimmwechsel der Jungen. «Seit einigen Jahren stagniert dieser Trend wieder», sagte Franke. Versuche, die männlichen Altus-Stimmen zum Ausfüllen der Lücke zu nutzen, sind für Franke keine Alter-native. «Dafür sehe ich keine absolute Notwendigkeit.» Ein weiterer Grund für diese Entwicklung ist die Tatsache, dass die großen Knabenchöre Nachwuchs-probleme haben.

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«Die Kinder wachsen heute nicht mehr so musikalisch auf wie früher», beklag-te Franke. «Kinder wachsen eben nicht mehr mit Bach und Händel auf», bedau-erte Franke und mahnte an, der Musik «vom Kindergarten bis zum Gymnasi-um» mehr Raum zu geben. «Pädagogen und Eltern sollten musikalische Tätig-keit sowohl instrumental als auch vokal fördern.» Musikalische Früherziehung müsse zur Pflicht werden, die musika-lische Beschäftigung in der Familie ein Bedürfnis. Kindern müsse die Freude am Singen nahe gebracht werden. Nur we-nige Mütter würden ihren Säuglingen noch Kinderlieder vorsingen.

Zitate aus dem Aufsatz von Dr. Ann-Christine Mecke.

1. Worum es gehtBetrachtet man Bilder von gemischten Kinderchören, etwa den Kinderchören von deutschen Opernhäusern oder Rund-funksendern, deutet zunächst einmal nichts auf eine Benachteiligung oder Un-terrepräsentation von singenden Mäd-chen hin: Die meisten Kinderchöre beste-hen zu geschätzten 90% aus Mädchen; drei bis vier Jungen, offenbar robust ge-genüber Hänseleien ihrer Geschlechts-genossen, mischen sich in eine Gruppe aus 20-30 Mädchen. Mädchen haben also offenbar keinerlei Schwierigkeiten, ihre Freude am Singen auszuleben und eine entsprechende Stimmbildung zu er-halten. Nach manchen Untersuchungen singen Mädchen sogar besser als Jungen, jedenfalls finden sich unter den Kindern,

die Melodien schlecht nachsingen kön-nen, doppelt bis dreifach so viele Jungen wie Mädchen.

Doch wendet man den Blick zu den Kin-derchören außergewöhnlicher Qualität, sieht es mit der Repräsentanz von Mäd-chen plötzlich schlecht aus: Die Wiener Sängerknaben, der Thomanerchor, der Tölzer Knabenchor, der Windsbacher Knabenchor, die Regensburger Dom-spatzen und der Dresdner Kreuzchor sind die Chöre im deutschsprachigen Raum, die mit den berühmtesten Di-rigenten zusammenarbeiten, die die großen philharmonischen Säle füllen und die sich bei ihren Auftritten auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit der Pres-se und nicht zuletzt Geld für die weitere Arbeit sichern können. Sie bestehen, wie ihr Name meist schon klarmacht, allein aus Kindern männlichen Geschlechts. In anderen europäischen Ländern sieht es in dieser Hinsicht nicht wesentlich an-ders aus.

So ergibt sich hier eine irritierende Parallele zur gesamtgesellschaftlichen Situation von Frauen: Singenden Mäd-chen fehlt es weder an Begabung noch an Gelegenheit, ihr Talent unter Beweis zu stellen – an die Spitze schaffen sie es dennoch nicht.

Dafür gibt es eine leicht auszumachende Ursache: Knabenchöre im Allgemeinen, und einige der genannten Knabenchöre im Besonderen, gehören zu den ältesten Institutionen der abendländischen Mu-

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sikgeschichte. Ein großer Teil der geist-lichen Chormusik wurde für Ensembles mit rein männlicher Besetzung geschrie-ben, für Mädchen- und Kinderchöre gibt es dagegen keine entsprechende Tradi-tion. Dies erklärt jedoch nur, warum es bisher so war und warum wir uns daran gewöhnt haben, aber nicht, warum die-ser Zustand aufrechterhalten wird.

Warum also, so lautet die Frage, sind die Wiener Sängerknaben nicht längst die Wiener Sängerkinder, oder warum gibt es nicht zumindest längst eine Mäd-chenabteilung des Thomanerchores, in gleicher Qualität und mit gleicher Be-liebtheit?

Es gibt einen wichtigen pädagogischen Grund für den Erhalt reiner Knaben-chöre, und der wird offensichtlich, wenn man sich noch einmal die Bilder ge-mischter Kinderchöre vor Augen führt: Allein die Tatsache, dass Mädchen einen solchen Chor nicht notwendigerweise im Alter von zwölf Jahren verlassen müs-sen, sorgt schnell für eine Überzahl von Mädchen, und auf so manchen zehnjäh-rigen Jungen mag eine größere Gruppe von 14jährigen Mädchen abschreckend wirken. Singen gilt zudem unter Jungs schnell als mädchenhaft und uncool, wenn eine Musiklehrerin vermeintlich kindgerechte Lieder anstimmt; wird es jedoch in einem exklusiv männlichen Chor und leistungsorientiert betrieben, sind auch Jungen dafür zu begeistern. Knabenchöre sind demnach also päda-gogisch wertvolle Einrichtungen, die es

Jungen möglich machen, singen zu ler-nen und damit auch Freude an der ge-fühlsorientierten Gestaltung von Musik zu entwickeln, was ihnen in einer ge-mischten Gruppe schwer gemacht wird. Ebenso wie Geschlechtertrennung im Physikunterricht die Chancengleichheit in dieser Naturwissenschaft fördert, ge-ben Knabenchöre den Jungs eine Chan-ce zum Singen.

So überzeugend ich dieses Argument finde: Es erklärt nicht, warum nicht zu-mindest parallel organisierte Mädchen-chöre auf gleichem Niveau eingerichtet wurden. Chöre wie der Dresdner Kreuz-chor sind keine Einrichtungen, die in er-ster Linie pädagogische Ziele verfolgen – hier geht es um musikalische Qualität. Es spräche nichts dagegen, Jungen und Mädchen getrennt auszubilden und sie zu einem Chor zusammenzufassen, wenn die zarten Knaben sich nicht mehr durch Mädchenpräsenz abschrecken ließen, wenn dies musikalisch gewünscht wäre.

Damit komme ich zu einem gewichtigen Argument: Es wird behauptet, Mädchen hätten andere Stimmen als Jungen, sie würden folglich anders klingen.

Knabenchöre werden also aus dem gleichen Grund nicht für Mädchen ge-öffnet, aus dem auch Streichquartette nicht für Querflöten geöffnet werden: Mädchenstimmen sind eben ein anderes Instrument als Jungenstimmen, und als solches nicht besser oder schlechter, aber eben anders. Allein der Umstand,

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dass viele Werke für eine rein männliche Besetzung komponiert wurden, wird im Zuge der „historisch informierten Aufführungspraxis“ zum Grund dafür, diese Kompositionen auch heute ohne Mädchen aufzuführen. Da Knabenchöre eben über lange Zeit der bevorzugte Aufführungsapparat für geistliche Vo-kalmusik waren, produzieren auch nur diese den authentischen Klang.

Aber ist es wirklich so, dass Mädchen-stimmen anders klingen als Jungenstim-men? Es ist überraschend schwierig, das zu überprüfen. Es geht ja nicht um den Klang von Durchschnitts-Kinderstim-men, sondern um den Klang von außer-gewöhnlich gut ausgebildeten Kindern; die gesangstechnische Ausbildung von Jungen und Mädchen ist aber eben nicht gleich. Zum einen gibt es kaum Mäd-chenchöre, die es qualitativ mit den berühmten Knabenchören aufnehmen können. Zum anderen bestehen diese „Mädchenchöre“ meist aus Mitgliedern, die über zwölf Jahre alt sind, es sind also eigentlich Chöre aus jungen Frauen. Mädchenchöre, aus denen die Sänge-rinnen ausscheiden müssen, wenn sich ihre Stimme zum Erwachsenenklang hin verändert, gibt es im deutschspra-chigen Raum nicht. Da sich die Stimm-lage von Mädchen nicht grundsätzlich ändert, wenn sie erwachsen werden und da die Sängerinnen mit zunehmender Erfahrung immer besser werden, gibt es keinen Grund, sie mit dreizehn aus dem Chor auszuschließen. Das bedeu-tet, dass es in der westlichen Musik

nicht nur keine alte, sondern überhaupt keine Tradition für Mädchenchöre, also für Chöre aus Mädchen unter vierzehn Jahren gibt.

Die berühmten „Ospedali-Chöre“, für die Vivaldi zahlreiche Werke schrieb, waren Chöre für junge Frauen bis zum Alter von ca. 30 Jahren. Der Mädchen-chor Hannover, der wohl bekannteste und beste Mädchenchor Deutschlands, besteht aus Mädchen zwischen dreizehn und neunzehn Jahren, und der belgische Chor Scala, der es mit Cover- Versionen von Liedern der Ärzte oder von Depeche Mode in die Pop-Charts schaffte, arbei-tet mit Sängerinnen zwischen vierzehn und vierundzwanzig. Auch die zahl-reichen Kinderchöre, von denen ich am Anfang sagte, dass sie faktisch nur aus Mädchen bestehen, sind in ihrem Klang so gut wie immer vom Klang der älteren Sängerinnen bestimmt.

Während die Mitglieder eines Knaben-chores spätestens mit zwölf Jahren in der höchsten Leistungsstufe angekom-men sein müssen und die Ausbildung daher sehr kompakt sein muss, kann der Unterricht bei Mädchen später be-ginnen und langsamer voranschreiten. Dieser Unterschied in der musikalischen Praxis hat zwar seine Ursache in der unterschiedlichen stimmlichen Ent-wicklung von Jungen und Mädchen, die Antwort auf die Frage, ob auch die Kin-derstimmen von Jungen und Mädchen unterschiedlich klingen, wird dadurch aber erschwert.

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Will man den Stimmklang von z. B. zwölfjährigen ausgebildeten Jungen und Mädchen vergleichen, kann man prak-tisch gleich aufgeben. Die zwölfjährigen Mitglieder des Tölzer Knabenchores ha-ben seit 5 Jahren wöchentlichen Soloun-terricht zusätzlich zu vier Stunden Chor-probe pro Woche, sie sind in Mailand, Bayreuth und Berlin aufgetreten und nicht wenige haben zusätzlich als Zau-berflöten- Knabe irgendwo auf der Welt solistisch auf der Bühne gestanden. Sie sind, wenn sie die entsprechende Per-sönlichkeit mitbringen, wirkliche Profis. Die zwölfjährigen Mitglieder des Mäd-chenchores Hannover haben dagegen soeben in den Nachwuchschor gewech-selt. Vorher haben sie seit ca. drei Jahren zweimal wöchentlich im Trainingschor gesungen. Sie sind Anfängerinnen mit Vorkenntnissen.

Das soll nicht heißen, dass der Mädchen-chor Hannover ein schlechterer Chor ist, tatsächlich ist es einer der wenigen Mädchenchöre, der es überhaupt quali-tativ mit den berühmten Knabenchören aufnehmen kann. Doch diese Leistung wird eben erst in einem späteren Alter erreicht, weil eine solche Eile wie bei den Jungen überhaupt nicht nötig ist. Ein klanglicher Vergleich sagt uns daher nichts über die Stimmen von Kindern unterschiedlichen Geschlechts, sondern über die Ergebnisse unterschiedlicher Ausbildungsstrukturen.

Vergleichen wir aber eine siebzehnjäh-rige Sängerin mit einem zwölfjährigen

Knabensopran, wird der Vergleich trivial, denn niemand bezweifelt, dass Kinder-stimmen anders klingen als Frauenstim-men. Auch Mädchenstimmen verändern sich in der Pubertät: Die Sprechstimme wird etwas tiefer, der Stimmumfang et-was größer, vor allem in der Tiefe. Der genaue Verlauf des Stimmwechsels bei Mädchen ist noch relativ unerforscht, vor allem, weil er nicht so auffällig ist wie bei Jungen. Stimmbildner berichten von einer Zeit, in der die Stimme etwas behaucht klingt, schwerer zu kontrollie-ren und weniger belastbar ist. Systema-tisch untersucht wurde die Stimmverän-derung bei Mädchen jedoch nur wenig, und die vorhandenen Querschnittsun-tersuchungen zeigen ein relativ gleich-mäßiges Wachstum von Kehlkopf und Stimmumfang über die gesamte Kind-heit und Jugend. Trotzdem ist unbestrit-ten, dass sich der Klang der Stimme von Kindern und Frauen unterscheidet und dass Mädchen im Alter von 15 Jahren schon weitgehend ihre Frauenstimme entwickelt haben. Der „Mädchenchor“ Scala ist also stimmphysiologisch ein Frauenchor.

Nicht weniger bedeutsam für einen be-absichtigten Vergleich ist die Tatsache, dass es für Mädchenchöre nicht nur kei-ne Tradition, sondern auch kein Reper-toire gibt. Die Mädchenchöre mussten sich ihr eigenes Repertoire suchen und wurden fündig in der Romantik oder in der zeitgenössischen Musik. Das Haupt-repertoire der meisten Knabenchöre ist dagegen von Bach, Schütz und Mozart

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geprägt. Es wäre ein Wunder, wenn die- se unterschiedlichen Schwerpunkte sich nicht auf den Chorklang und den Stimm-klang der einzelnen Mitglieder auswir-ken würden.

2. AnatomieJungen und Mädchen unterscheiden sich schon früh in so allgemeinen Merkmalen wie Körperlänge, Kopfumfang und Ge-wicht. Solche statistischen Unterschiede bestehen durch die gesamte Kindheit: So haben z. B. die mittleren 80% der vierjäh-rigen Jungen einen Kopfumfang zwischen 49,8 cm und 53,2 cm, die gleichaltrigen Mädchen aber zwischen 48,5 cm und 51,8 cm. Vor dem pubertären Wachstums-schub sind Mädchen im Mittel ein we-nig kleiner und leichter als Jungen. Die- se Unterschiede sind aber im Vergleich zur Streuung so klein, dass sie im Alltag kaum ausreichen würden, Jungen von Mädchen zu unterscheiden.

Einige Körpermaße haben unmittel-baren Einfluss auf die Stimmqualität: So haben Jungen schon im Alter von sechs Jahren ein etwas größeres Lungenvolu-men als Mädchen, d. h. Jungen können theoretisch etwas längere Phrasen sin-gen als gleichaltrige Mädchen. Für die Kehlköpfe von Jungen und Mädchen liegen natürlich keine so umfangreichen Zahlen vor wie für Körpergröße, Ge-wicht und Kopfumfang.

Man findet in der Literatur, dass der Kehlkopf von Jungen vor der Pubertät schon eine „straffere Textur“ aufweist –

doch ist eine solche Einschätzung ohne objektive Daten höchst zweifelhaft.

Abgesehen von der Länge und Textur der Stimmbänder und der Größe und Gestalt des Kehlkopfes sind die Grö-ßenverhältnisse im Resonanzraum, also die Länge von Hohlräumen im Kopfbe-reich, entscheidend für den Stimm-klang. Es ist plausibel anzunehmen, dass sich die Tatsache, dass Jungen im Mittel einen etwas größeren Kopfum-fang haben, auch in einzelnen Grö-ßenverhältnissen im Schädel fortsetzt. Diese Unterschiede sind natürlich sehr klein. Doch können sehr geringe Un-terschiede in der Länge von Resonanz-räumen in Mund und Nase erhebliche Klangunterschiede hervorrufen.

Durch die Ergebnisse von anatomischen Untersuchungen wird also nicht ausge-schlossen, dass sich der Stimmklang von gleichaltrigen Mädchen und Jungen un-terscheidet. Ob diese Unterschiede al-lerdings wahrnehmbar sind und für eine Unterscheidung im Alltag ausreichen, ist fraglich.

Aussagekräftig für die Frage, ob ein be-vorzugter Einsatz von Knabenstimmen gegenüber Mädchenstimmen musika-lisch begründet werden kann, können also Hörversuche sein. Und wenn sich dann herausstellt, dass das Geschlecht von Kindern am Stimmklang erkannt werden kann, bliebe immer noch die Frage, ob die hörbaren Unterschiede auf die geringen anatomischen Unter-

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schiede zurückzuführen sind oder ob andere Ursachen überwiegen.

3. Die Sprechstimme von Mädchen und Jungen in HörversuchenErstaunlicherweise kann man das Ge-schlecht eines Kindes trotz der gerin-gen anatomischen Unterschiede recht treffsicher an seiner Sprechstimme er-kennen. In entsprechenden Versuchen fanden SACHS, LIEBERMAN und ERICK-SON 81% aller Zuhörereinschätzungen korrekt, INGRISANO ca. 70%, WEIN-BERG ca. 75% und PERRY Werte zwi-schen 56% (korrekte Identifikation von achtjährigen Mädchen) und 82% (kor-rekte Identifikation von zwölfjährigen Jungen). Alle diese Untersuchungen sind mit englischsprachigen Kindern gemacht worden, doch scheint es so zu sein, dass die Ergebnisse grundsätzlich übertragbar sind.

Wie ist diese große Treffsicherheit der Testhörer trotz sehr geringer Un-terschiede im Körperbau zu erklären? Männer und Frauen sind in der Regel gut anhand ihrer Sprechstimme als sol-che zu identifizieren. Das liegt vor allem daran, dass Männer deutlich tiefer spre-chen als Frauen. Aber auch bei geflü-sterten Äußerungen ist das Geschlecht erkennbar, denn Männer haben nicht nur einen größeren Kehlkopf, sondern im Allgemeinen auch größere Reso-nanzbereiche: Der Kehlkopf sitzt tiefer am Hals, der Kiefer ist länger usw. Da-durch sprechen Männer die Vokale mit tieferen Formanten aus, d. h., die für die

einzelnen Vokale charakteristischerwei-se besonders verstärkten Frequenzbe-reiche liegen bei Männern tiefer als bei Frauen, und dies hören wir auch dann heraus, wenn sie nur flüstern. Die Un-terschiede in den Vokalformanten sind jedoch größer, als die anatomischen Un-terschiede es vermuten lassen würden, d. h., die Unterschiede sind auch kultu-rell bedingt. Jeder kann Tonhöhe und Klangfarbe seiner Sprechstimme und den Klang seiner Singstimme innerhalb gewisser Grenzen variieren. Kulturelle Gepflogenheiten wirken auch auf Kin-der ein und beeinflussen die Art, wie sie sprechen.

Wie sich in akustischen Analysen der Sprechstimmen von Kindern heraus-stellte, sprechen Jungen zwar nicht mit tieferer Stimme als Mädchen, sie spre-chen aber schon im Alter von 5 Jahren die Vokale mit tieferen Formanten aus. Mit körperlichen Unterschieden sind diese tieferen Formantwerte allerdings nicht zu erklären. Jungen orientieren sich offenbar an der Sprechweise von Männern und erzeugen tiefere Vokale, indem sie z. B. die Lippen nach vorn schieben und so den Vokaltrakt verlän-gern. Mädchen scheinen dagegen eher mit einem verkürzten Vokaltrakt – also mit einer leichten Tendenz zum Lächeln – zu sprechen.

Dass diese Unterschiede für die Hörer wichtig waren, zeigte sich daran, dass das Merkmal bei den Kindern, die am häufigsten richtig eingeschätzt wurden,

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besonders deutlich ausgeprägt war, während die Kinder, die oft falsch ein-geordnet wurden, auch Vokalformanten aufwiesen, die eher denen des anderen Geschlechts entsprachen.

4. Die Singstimme von Mädchen und Jungen in HörversuchenPeta WHITE hat 320 nicht speziell im Singen ausgebildete Kinder zwischen 3 und 12 Jahren ein Kinderlied einsingen lassen und diese Aufnahmen vier Exper-ten für die Singstimme vorgeführt. Die Hörer sollten einschätzen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handel-te. Dabei erzielten sie eine Trefferquote, die in der Größenordnung der Unter-suchungen über die Sprechstimme von Kindern liegt: 71,6% der Kinder wurden richtig erkannt. Dabei zeigte sich auch, dass Jungen mit zunehmendem Alter besser erkannt wurden, während es bei Mädchen keinen solchen Effekt gab. Of-fenbar machen sich hier erste Erschei-nungen des Stimmwechsels bemerkbar.Dieses Ergebnis sagt jedoch nicht viel über den Klang von ausgebildeten Kin-derstimmen. Da die Sprechstimmen von Jungen und Mädchen aufgrund der genannten Effekte recht gut zuzuord-nen sind, ist es nicht weiter erstaunlich, dass der unausgebildete Gesang eben-falls Merkmale enthält, die für die Hörer ein bestimmtes Geschlecht nahe legen. Interessant für die Musikpraxis ist je-doch der Klang von trainierten Kinder-stimmen, und zwar von Kinderstimmen der höchsten Qualitätsstufe. Und hier kommt nun das Problem zum tragen, das

ich am Beginn dieses Textes erläutert habe: Die Ausbildung von Mädchen und Jungen in Chören ist eben nicht gleich.

Eine neue Situation ergab sich Anfang der neunziger Jahre, als in England an mehreren Kathedralen zusätzlich zu den Knabensopranisten ein Mädchenchor für die Sopranpartie eingerichtet wurde. Um den ersten dieser Mädchenchöre, den der Kathedrale von Salisbury, gab es einigen Wirbel, obwohl es nicht, wie behauptet wurde, das erste Mal war, dass Mädchen in anglikanischen Kirchen sangen. Wer britische Chorzeitschriften aus den achtziger Jahren durchblättert, sieht ebenso viele Bilder von Mädchen wie Jungen in Chorhemden. In kleineren Gemeinden war es allein aus prak-tischen Gründen schon früher üblich, den Chor auch für Mädchen oder sogar Frauen zu öffnen. Die Saint David’s Ca-thedral in Wales verwendet seit 1960 ei-nen gemischten Kinderchor, der sich bis 1991 faktisch zu einem Mädchenchor entwickelt hatte. Während die Kathe-drale von Salisbury also unter großem Medienecho den ersten Mädchen-Ka-thedralenchor der Church of England eröffnete, bemühte sich die St. David’s Cathedral gerade um die Neugründung eines Knabenchores, weil kaum noch Jungen in den gemischten Chor kamen.

Neu am Chor von Salisbury war dage-gen, dass es sich um eine Kathedrale mit Chorschule handelte und dass die Auf-nahme von Mädchen erstmals ebenso wie bei den Jungen mit einem Stipendi-

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um für diese Schule verbunden war. Es handelte sich also nicht in erster Linie um eine musikalische Innovation, son-dern um eine gesellschaftliche: Mäd-chen konnten schon lange anglikanische Kirchenmusik singen und im Gottes-dienst mitwirken, wenn auch nicht auf diesem Niveau, wie es in den berühmten Chören mit angeschlossenem Internat möglich ist. Ein solches Chorstipendium kann aber ein wichtiger Türöffner sein, wenn es um weitere Stipendien in guten Schulen und Universitäten geht. Des-halb ging es den Befürwortern und wohl auch den Gegnern von Mädchenchören nicht allein um eine musikalische Frage, sondern auch darum, zu welchen Ausbil-dungswegen und zu welcher Art der Er-ziehung Mädchen Zugang haben sollen.Die meisten anderen englischen Kathe-dralen sind der Entwicklung gefolgt, doch sie haben unterschiedliche Wege gewählt: Von den 42 Kathedralen der Church of England haben derzeit 23 ei-nen zusätzlichen Mädchenchor, drei ar-beiten ohnehin mit einem gemischten Kinderchor. Von diesen 23 Mädchenchö-ren bestehen aber nur sechs ausschließ-lich aus Mädchen unter vierzehn Jahren, bei vieren müssen die Mädchen den Chor mit spätestens sechzehn Jahren verlassen, und sieben sind faktisch Frau-enchöre mit Mitgliedern bis zu achtzehn oder sogar zwanzig Jahren.

Während einige Versuche nur Zufalls-treffer hervorbrachten, und zum Teil sogar Hinweise darauf lieferten, dass der Chorklang in die eine oder andere

Richtung beeinflussbar ist, gab es auch einige Tests, bei denen Knaben- und Mädchenchöre auseinander gehalten wurden. Die besten Quoten wurden allerdings bei Versuchen mit kommer-ziellen Aufnahmen erreicht, hier kom-men auch tontechnische Manipulati-onen als Fehlerquelle in Frage. Für das Phänomen, dass Knabenchöre offenbar seltener falsch als Mädchenchöre ein-geschätzt werden als umgekehrt, gibt es ebenso wenig eine Erklärung wie für den gegenteiligen Effekt bei solistisch singenden Kindern.

Hinweise auf die akustischen Parame-ter, die für das Urteil der Hörerinnen und Hörer maßgeblich waren, sind bis-her spärlich. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist zusätzlich schwierig, weil aus praktischen Gründen meistens englische Chöre untersucht wurden, bei denen die Altstimme von Männern gesungen wird. Es könnte sein, dass die Ergebnisse für Kinder-Altstimmen noch einmal anders ausfallen. Auch wenn die Untersuchungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sehr verwirrend sind und nicht viel weiterhelfen, so gibt es doch immerhin Hinweise darauf, dass Jungen so klingen können wie Mädchen und umgekehrt.

5. „Jungs haben Stimmbruch, bei den Mädchen wird die Stimme einfach im-mer schöner“Ich möchte mich jetzt einem anderen As-pekt zuwenden und dabei von den Hör-versuchen nur festhalten: Der klangliche

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Unterschied zwischen ausgebildeten Jungen und Mädchen ist auf jeden Fall subtil. 60% richtig erkannte Beispiele ist kein so beeindruckendes Ergebnis, dass man von zwei eindeutig verschiedenen Instrumenten sprechen könnte. Umso erstaunlicher ist, wie die Gesangstim-men von Jungen und Mädchen in der Literatur beschrieben werden: Knabenstimmen

klar, kristallen, brillant stark, kräftig, hart, kühl, schneidend,

metallisch, sachlich, objektiv, streng, herb, spröde Brustresonanz über-wiegt

naiv, natürlich, wie verklärt, aus einer anderen Welt körperlos, metaphysisch, immateriell keusch, rein, platonisch ungeschlechtlich, unpersönlich, gleichförmig

Mädchenstimmen verhaucht schwach, dünn, leise, weich, warm,

flach Kopfresonanz überwiegt

Stichworte zum Klang von Mädchen- und Knabenstimmen aus Chorleitungs-Lehrbüchern, Gesangschulen und ähn- lichen Texten des 20. Jahrhunderts (zu-meist der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts)Die Charakterisierungen lassen sich in drei Gruppen einordnen: Die klarste und zugleich am häufigsten zu findende Behauptung ist die, dass Mädchen ver-haucht und evtl. auch in der Folge leiser

singen. Diese These könnte durchaus akustisch verifizierbar sein, zumindest was Kinder in einem bestimmten Alter betrifft: Zum Stimmwechsel bei Mädchen ist relativ wenig bekannt, doch sieht es so aus, als würde sich die Mutation bei Mäd-chen anders bemerkbar machen als bei Jungen: Die Stimme wird nicht unbedingt tiefer, aber für eine gewisse Zeit „hau-chig“, weil die Stimmlippen nicht rich-tig schließen. Dieser Zustand wird aber meist nicht zum Anlass genommen, die Mädchen vom Chorsingen auszuschlie-ßen. Und so sind nicht wenige zwölfjäh-rige Mädchen mit mutationsbedingt ver-hauchten Stimmen zu hören, was umso mehr auffällt, weil Jungen in diesem Alter recht kräftige Stimmen haben, weil sie ei-nerseits schon relativ groß, andererseits eben noch nicht im Stimmwechsel sind. Auch wenn experimentelle Belege feh-len, hat diese Behauptung eine gewisse Plausibilität, und ich halte es durchaus für denkbar, dass die relativ guten Quo-ten bei den Hörversuchen allein mit die-sem Phänomen zu erklären sind.

Bei der zweiten Gruppe von Beschrei-bungen werden unverkennbar Eigen-schaften, die allgemein als männlich bzw. weiblich angesehen werden, auf Kinderstimmen übertragen. Für Jungen kommen Adjektive wie „objektiv“, „hart“ und „kräftig“ zum Einsatz, bei Mädchen ist die Rede von „Wärme“, „Weichheit“ und „Schwäche“.

Die dritte Gruppe bilden Adjektive wie „unpersönlich“, „verklärt“, „keusch“ oder

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„wie aus einer anderen Welt“, für die bei Mädchen keine entsprechenden Ei-genschaften erwähnt werden. Offenbar wird Knabenstimmen hier eine beson-dere Nähe zu religiösem Erleben zuge-schrieben. Knaben sind demnach also, im Gegensatz zu Mädchen, besonders geeignet für religiöse Musik. Zu einem gewissen Grad mag diese Vorstellung sich aus einem Gewöhnungseffekt er-klären: Das typische Repertoire für Kna-benchöre ist geistliche Musik, und so ist es nicht verwunderlich, wenn zu diesem Stimmklang ein bestimmtes Repertoire zu passen scheint. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Mädchenstimmen zumindest nicht dramatisch anders klingen, fragt man sich doch, warum man exklusiv Knaben Eigenschaften wie Keuschheit, Reinheit und Verklärtheit zuordnet – Eigenschaften, die gewöhn-liche zwölfjährige Jungen bekanntlich keineswegs aufweisen.

Beschreibungen von Knaben als „Engel“ sind zwar unmodern, aber immer noch lebendig, und zwar lebt dieses Klischee vor allem als ausdrückliche Negation weiter: Kein Bericht über das Leben in einem Knabenchor verzichtet auf die Bemerkungen, dass die Mitglieder des Chores übrigens in den Probenpausen sehr gern Fußball spielen und überhaupt „keine Engel“ seien. Wie absurd diese Beteuerung einer ziemlich offensicht-lichen und irrelevanten Tatsache ist, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, in einem Bericht über den RIAS-Kam-merchor würde man erwähnen, dass die

Mitglieder in den Chorpausen mitunter eine Zigarette rauchen oder über den Dirigenten lästern. Die Erwähnung, dass ausgerechnet die Sänger eines Knaben-chores keine Engel seien, ist nur sinn-voll, wenn man unterstellt, dass man ja meinen könnte, sie seien es.

Dass Knabenchöre gerade in der Ad-ventszeit Hochsaison haben, hängt nicht nur mit sentimentaler Kinderlie-be in dieser Zeit zusammen, sondern auch damit, dass viele Menschen bis heute Knabenstimmen als besonders geeignet für religiöse Musik betrachten. Und nicht selten wird auch die Diskus-sion um die authentische Besetzung von geistlicher alter Musik auf diese Weise religiös aufgeladen. Warum aber sind Jungenstimmen rein und keusch, und was sind dann Mädchenstimmen – schmutzig und verdorben?

In einem recht einflussreichen amerika-nischen Chorleitungslehrbuch von 1932 lesen wir:

Der Knabe ist in dem psychologischen Zustand, der für ein Kind angemessen ist. In gewissem Sinne ist er vor der Pu-bertät weiter vom Reifezustand eines Mannes entfernt als das Mädchen vom Reifezustand der Frau. [...] Seine Natur muss in der Adoleszenz große Ände-rungen erfahren, und seine Kehle zeigt diese Änderungen durch eine physio-logische Transformation an. Die Natur des Mädchens entwickelt sich eher, als dass sie einen Wandel erfährt, und ihre

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Kehle wird diese Tatsache durch ein bloßes Wachstum anzeigen, sie entgeht den anatomischen Umstellungen ihres Bruders. Das alles bedeutet, dass die Natur Jungen dafür ausstattet, Dinge einer anderen Dimension auszudrücken als Frauen, etwas weniger Persönliches und damit weniger Körperliches, etwas, das sich dem Metaphysischen nähert, etwas, das sich in den feinen Grenzen des schönen Gesangs der körperlosen Spiritualität nähert.[...]

Der Knabe (als ein musikalisches Instru-ment mit wirklicher, künstlerischer Be-gabung) ist daher für den Ausdruck von unpersönlichen Gedanken geeignet, für Begriffe, die schon seit langem als transzendente Bilder in seinem Gehirn leben. Musik, die vollständige, persön-liche, bewusste und emotionale Erfah-rung verlangt, kann nicht angemessen von Knabensopranen gesungen werden.Hier wird die Idee, dass Knaben weiter vom Zustand des Mannes entfernt sind als Mädchen vom Zustand der Frau, mit dem Gedanken verbunden, dass dieser besondere Zustand dem Knaben einen besonderen Zugang zu überpersön-lichen, transzendenten Inhalten ver-schafft – auch wenn Mädchen hier gar nicht als Vergleich auftauchen, sondern nur Frauen.

Und so drückt auch eine Äußerung wie „Jungs haben Stimmbruch, bei den Mäd-chen wird die Stimme einfach immer schöner“, obwohl freundlich gemeint, nicht uneingeschränkt Positives über

die Mädchenstimme aus: Auch hier schwingt mit, dass Mädchen sich nur „entwickeln“ müssen, während Jungen bereits als Kinder etwas Besonderes sind, und sei’s etwas besonders Unper-sönliches. Dass wir Knabenstimmen und geistliche Musik als eine vertraute Kom-bination empfinden, hat seine Ursache darin, dass es Frauen lange Zeit verboten war, in der Kirche zu singen. Dass jedoch heute noch beharrlich daran festgehal-ten wird, dass weibliche Kinderstimmen für den nötigen unpersönlichen und rei-nen Ausdruck völlig ungeeignet wären, ist auch eine Nachwirkung einer Ideolo-gie aus dem 19. Jahrhundert.

Persönliche Wertung:Es mag unter den verschiedensten Ge-sichtspunkten Aussagen geben, die die Existenz von Knabenchören in Frage stellen können. Manches davon mag sogar von dogmatischen oder ideolo-gischen Standpunkten aus entwickelt worden sein, anderes ist erklärlich aus den gesellschaftlichen Entwicklungen heraus, aber was bleibt?

Erst mal, ganz konkret, die Tatsache, dass die Knabenchöre nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, von, wie es beim Kreuzchor der Fall ist, jedes Jahr weit über 100.000 Besuchern live ge-hört werden und durch ihre Auftritte nicht nur Freude geben, sondern auch Stärkung und Trost. Ehrfurcht vor den großen Kultureinrichtungen schwingt bei meiner eigenen Anerkennung der Knabenchöre mit.

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Was in der Gemeinschaft der Kruzianer entsteht, ist wertvoll. Natürlich könnte man hier auch nach Kritikpunkten su-chen, aber die Qualität der lebenslang bestehenden Freundschaften spricht für sich und auch für das Leben im Kreuz-chor. Aus meiner Sicht hier eher ein Plä-doyer für die Knabenchortradition.

Untersuchungen der Klanglichkeit hin und her: die Stimme eines gut ausgebil-deten Knaben, ob solistisch oder in der Gruppe, hat eine Qualität, die über das

Ohr das Herz erreicht. Und das unbe-wusste Wissen, dass diese Stimmen so vergänglich sind, nur wenige Jahre zur Verfügung stehen, transportiert gera-de in der geistlichen Musik ernste, die Existenz betreffende Texte, umso tiefer in die Seele. Es gibt eine Aura um diese Chöre, die von vielen, vielen Menschen wahrgenommen wird. Ein rationalistisch geprägtes Zeitalter würde an seiner Verarmung arbeiten, wenn es diese Ka-tegorien des Menschseins verleugnen wollte.

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Dr. Fritz Hähle

Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie vielleicht schon öfter Gäste im Johann-Amos-Comenius-Club gewesen sind, Sie wissen, dass es jetzt eine Diskussion gibt. Ich würde am lieb-sten sagen, eine kurze Diskussion. Aber das weiß man vorher nie so genau. Wir haben jedenfalls Zeit. Und Sie können Ihre Fragen an uns richten mit Hilfe der ausgegebenen Wortmelde-Zettel. Ich hoffe, dass auf kurze Fragen dann auch kurze Antworten möglich sind.

Ich danke erst einmal Herrn Kreuzkan-tor Roderich Kreile ganz herzlich für sei-nen hochinteressanten Vortrag. Dieser hat uns ganz neue geistige Höhen eröff-net. So haben wir das noch nie gehört. Die feinen Unterschiede, die machen es eben aus.

Als Ingenieur würde ich die Frage: „Ha-ben Knabenchöre noch eine Zukunft“, so beantworten: „Jawohl – als Män-nerchöre“. Dann sind sie auch weni-ger anfällig gegenüber irgendwelchen Beschlüssen der Europäischen Union. Denn die wird ja nun nicht fordern, dass auch Frauen in die Männerchöre hinein müssen, denn dann wären es keine Män-nerchöre mehr. Aber Spaß beiseite!

Wir sind hier, um einer langen Traditi-on zu gedenken. Es ist eine große Ehre, dass wir einen Kreuzkantor gehört ha-ben. Es gab schon vor ihm große Namen. Wenn ich nur an die jüngere Zeit denke,

dann fallen mir Rudolf Mauersberger und Martin Flämig ein. Mit Mauersber-ger verbinde ich ein Wiederaufleben der Werke von Heinrich Schütz. Ich verfüge über eine ganze Reihe von Schallplatten mit Musik von Heinrich Schütz. Die sind in den 1970er-Jahren produziert worden und es ist schön, über diesen Schatz ver-fügen zu können.

Sachsen hat ein besonderes Vorrecht, weil hier gleich mehrere Knabenchöre etabliert sind. Wer sie immer mal wieder hört, ob in Leipzig den Thomanerchor oder hier in Dresden den Kreuzchor, der wird die Fragen, die vielleicht jetzt auftauchen, alle nicht mehr stellen. Son-dern man schmilzt dahin, ob des wun-derbaren Klangs und der wunderbaren Aussage, die sich immer wieder neu er-schließt und uns über Jahrhunderte mit der christlichen Prägung unseres Landes verbindet.

Immerhin ist der Kreuzchor ja mehr als 700 Jahre alt – fast 800, also-

Herr KreileWir feiern in drei Jahren unser 800-Jäh-riges.

Herr HähleJa gut, das heißt, der Kreuzchor ist älter als die Reformation, wobei die Knaben-chöre mit der Reformation noch mal einen besonderen Qualitätsschwung erfahren haben.

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In Dresden gibt es zudem auch noch die Kapellknaben, die unter Heinrich Schütz kaum vom Kreuzchor zu trennen waren. Schütz hat sich beider Chöre bedient. Er war als Hofkapellmeister zuständig für die Kapellknaben. Aber es ist wohl auch bekannt – korrigieren Sie mich bitte –

dass er mit dem Kreuzchor gearbeitet hat. Und Schütz hat in der Zeit des Drei-ßigjährigen Krieges auch oft ohne In-strumente arbeiten müssen. Er war also ganz besonders darauf angewiesen auf Gesangstimmen, die sein musikalisches Werk interpretieren konnten.

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Steffen Flath MdL

Schlusswort

Das war Ihr Beifall Herr Kreile. Es freut mich sehr, dass diese Comenius-Veran-staltung so gut gelungen ist und es war in der Tat mal was ganz anderes. Da ich ja ein Erzgebirger bin, da Singen nicht zu meiner Stärke zählt, ich aber im Pu-blikum ein paar Erzgebirger identifiziert habe, nehmt Ihr einfach mal den Wunsch nach Sangesknaben mit. Oder aber Herr Oberbürgermeister, Sie sagen, vielleicht reicht auch inzwischen schon der Speck-gürtel von Dresden weit ins Erzgebirge hinein, für Freiberg zumindest dürfte das zutreffen.

Ich möchte Sie einladen für den 29. Mai 2013, 18:00 Uhr, hier am gleichen Ort. Referieren wird unser Altministerprä-sident Prof. Kurt Biedenkopf zu einem Thema, das mit der Schuldenkrise, auch mit der Krise des Rechts in Europa zu tun hat. Und ich glaube, ich verspreche nicht zu viel, es wird ein außerordentlich inte-ressanter Abend. Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder mit dabei wären.

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Impressum

Der Dresdner Kreuzchor – haben Knabenchöre noch eine Zukunft?Veranstaltung am 16. April 2013

HerausgeberCDU-Fraktiondes Sächsischen Landtages

RedaktionJan Donhauser

Satz, Gestaltung und DruckZ&Z Agentur Dresden

Dresden, August 2013

Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern im Wahlkampf zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Den Parteien ist es gestattet, die Druck-schrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.

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