Die Kraft des Nichtkovalenten

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979 Nachrichten aus der Chemie| 60 | Oktober 2012 | www.gdch.de/nachrichten S Im Jahr 1987 erhielten Donald J. Cram, Jean-Marie Lehn und Charles J. Pedersen den Nobel- preis für Chemie „for their devel- opment and use of molecules with structure-specific interactions of high selectivity“. 1) Mit ihren Ar- beiten zur Kationenerkennung durch Macrocyclen wie Kronenet- hern (1), Cryptanden (2) und Sphäranden (3) (Abbildung 1) hatten diese drei Wissenschaftler seit Ende der 1960er Jahre die Grundlagen dessen gelegt, was wir heute als supramolekulare Che- mie bezeichnen. Diese beschäftigt sich nicht mit der Synthese einzel- ner Moleküle und deren Eigen- schaften, sondern mit der Wech- selwirkung von Molekülen mitei- nander. Im Gegensatz zu Molekü- len, in denen starke kovalente Bindungen die Atome miteinander verbinden, werden supramoleku- lare Aggregate reversibel durch die meist viel schwächeren nichtkova- lenten Bindungen wie Wasser- stoffbrücken, ionische, aromati- sche oder Van-der-Waals-Wech- selwirkungen zusammengehal- ten. 2) Zu Beginn der supramolekularen Chemie stand überwiegend das Studium einfacher Modellsysteme im Vordergrund, also chemischer Wirtverbindungen oder Rezepto- ren, die mit einfachen Substraten (den Gästen) wie Alkalimetallkat- ionen oder Halogenanionen einen supramolekularen Wirt-Gast-Kom- plex bilden. Beispielsweise ent- deckte Charles Pedersen im Jahr 1967, dass der von ihm unabsicht- lich und zufällig hergestellte Kro- nenether 18-Krone-6 (1) Kaliumio- nen selektiv in Lösung bindet. Da- bei binden Ionen-Dipol-Wechsel- wirkungen das positiv geladene Ka- liumion im Inneren des Macrocy- clus mit den negativ polarisierten Sauerstoffatomen des Ethers (Ab- bildung 1). Die Stabilität dieses Komplexes ist um zirka den Faktor 100 größer als mit Natrium- oder Rubidiumionen. Dabei maskiert zudem der organische Ligand das Kaliumion in der Art, dass sich der Komplex – obwohl elektrisch gela- den – in unpolaren organischen Lösemitteln löst. In Gegenwart von 18-Krone-6 sind daher typische an- organische Salze wie Kaliumper- manganat KMnO 4 in Lösemitteln wie Benzol lösbar. Die Untersuchung solcher sehr einfacher Komplexbildungen half dabei, grundlegende Konzepte der supramolekularen Chemie zu ent- wickeln. Wieso bilden manche Teilchen miteinander stabile Wirt- Gast-Komplexe, andere, scheinbar ähnliche hingegen nicht? Woran erkennen sich die richtigen Mole- küle? Welche Kräfte halten solche Komplexe zusammen? Wie verän- dern sich durch eine solche Kom- plexbildung die Eigenschaften der beteiligten Teilchen? Carsten Schmuck Vor 25 Jahren ging der Chemienobelpreis an Forscher, welche die supramolekulare Chemie entwickelt hatten. Wie hat sich dieses Fachgebiet seitdem entwickelt? Welche Chancen bietet die supramolekulare Chemie heute und welche Herausforderungen sind noch zu meistern? Die Kraft des Nichtkovalenten BSupramolekulare ChemieV (3) (2) (1) Abb. 1. Für ihre Arbeiten zu Kronenethern, Cryptanden und Sphäranden, die in ihrem Inneren Alkali- metallkationen durch Ionen-Dipol-Wechselwirkungen komplexieren, erhielten Pedersen, Lehn und Cram im Jahr 1987 den Nobelpreis für Chemie. X

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S Im Jahr 1987 erhielten Donald J. Cram, Jean-Marie Lehn und Charles J. Pedersen den Nobel-preis für Chemie „for their devel-opment and use of molecules with structure-specific interactions of high selectivity“.1) Mit ihren Ar-beiten zur Kationenerkennung durch Macrocyclen wie Kronenet-hern (1), Cryptanden (2) und Sphäranden (3) (Abbildung 1) hatten diese drei Wissenschaftler seit Ende der 1960er Jahre die Grundlagen dessen gelegt, was wir heute als supramolekulare Che-mie bezeichnen. Diese beschäftigt sich nicht mit der Synthese einzel-ner Moleküle und deren Eigen-schaften, sondern mit der Wech-selwirkung von Molekülen mitei-nander. Im Gegensatz zu Molekü-len, in denen starke kovalente Bindungen die Atome miteinander verbinden, werden supramoleku-lare Aggregate reversibel durch die meist viel schwächeren nichtkova-lenten Bindungen wie Wasser-stoffbrücken, ionische, aromati-sche oder Van-der-Waals-Wech-selwirkungen zusammengehal-ten.2)

Zu Beginn der supramolekularen Chemie stand überwiegend das Studium einfacher Modellsysteme im Vordergrund, also chemischer Wirtverbindungen oder Rezepto-ren, die mit einfachen Substraten (den Gästen) wie Alkalimetallkat -ionen oder Halogenanionen einen supramolekularen Wirt-Gast-Kom-

plex bilden. Beispielsweise ent-deckte Charles Pedersen im Jahr 1967, dass der von ihm unabsicht-lich und zufällig hergestellte Kro-nenether 18-Krone-6 (1) Kaliumio-nen selektiv in Lösung bindet. Da-bei binden Ionen-Dipol-Wechsel-wirkungen das positiv geladene Ka-liumion im Inneren des Macrocy-clus mit den negativ polarisierten Sauerstoffatomen des Ethers (Ab-bildung 1). Die Stabilität dieses Komplexes ist um zirka den Faktor 100 größer als mit Natrium- oder Rubidiumionen. Dabei maskiert zudem der organische Ligand das Kaliumion in der Art, dass sich der Komplex – obwohl elektrisch gela-den – in unpolaren organischen

Lösemitteln löst. In Gegenwart von 18-Krone-6 sind daher typische an-organische Salze wie Kaliumper-manganat KMnO4 in Lösemitteln wie Benzol lösbar.

Die Untersuchung solcher sehr einfacher Komplexbildungen half dabei, grundlegende Konzepte der supramolekularen Chemie zu ent-wickeln. Wieso bilden manche Teilchen miteinander stabile Wirt-Gast-Komplexe, andere, scheinbar ähnliche hingegen nicht? Woran erkennen sich die richtigen Mole-küle? Welche Kräfte halten solche Komplexe zusammen? Wie verän-dern sich durch eine solche Kom-plexbildung die Eigenschaften der beteiligten Teilchen?

Carsten Schmuck

Vor 25 Jahren ging der Chemienobelpreis an Forscher, welche die supramolekulare Chemie entwickelt

hatten. Wie hat sich dieses Fachgebiet seitdem entwickelt? Welche Chancen bietet die supramolekulare

Chemie heute und welche Herausforderungen sind noch zu meistern?

Die Kraft des Nichtkovalenten

BSupramolekulare ChemieV

(3)

(2)(1)

Abb. 1. Für ihre Arbeiten zu Kronenethern, Cryptanden und Sphäranden, die in ihrem Inneren Alkali -

metallkationen durch Ionen-Dipol-Wechselwirkungen komplexieren, erhielten Pedersen, Lehn und Cram

im Jahr 1987 den Nobelpreis für Chemie.

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Lehn und Cram zeigten mit den Cryptanden (2) und Sphäranden (3), dass zusätzliche Bindungsstel-len und vor allem eine bessere Prä-organisation der Wirtverbindung die Stabilität solcher Komplexe steigern. Je besser Wirt und Gast im Hinblick auf ihre Form und Struktur und vor allem auf die Komplementarität der nichtkova-lenten Bindungsstellen zueinander passen, desto stabilere Komplexe bilden sich.

Als die supramolekulare Chemie noch nicht so hieß

S Die supramolekulare Chemie wurde nicht mit diesen frühen Ar-beiten zur Kationenerkennung er-funden, auch wenn Lehn den Be-griff im Jahr 1978 eingeführt hat („Chemistry beyond the mol-ecule“). Untersuchungen zu Cyclo-dextrin-Einschlusskomplexen gab es bereits in den 1890er Jahren. Zur gleichen Zeit entwickelte Alfred Werner die Grundlagen der moder-nen Koordinationschemie und Emil

Fischer seine berühmte „Schlüssel-Schloss-Analogie“, um die Selektivi-tät enzymatischer Umsetzungen zu erklären. Die Bildung eines Metall-komplexes aus einem Metallkation und einem oder mehreren Liganden oder die Bildung eines Enzym-Sub-strat-Komplexes sind aber genauso supramolekulare Vorgänge wie die Komplexierung eines Kaliumions durch 18-Krone-6. Auch die Was-serstoffbrücke, eine der wichtigsten nichtkovalenten Wechselwirkun-gen in der supramolekularen Che-mie, wurde sowohl experimentell als auch theoretisch bereits in den 1930er Jahren intensiv studiert.

Auch das im letzten Jahrhundert zunehmend besser werdende mole-kulare Verständnis biologisch-me-dizinischer Vorgänge offenbarte vie-le aus heutiger Sicht klassische Bei-spiele für supramolekulare Vorgän-ge. Dies verwundert nicht weiter, denn jeder biologische Vorgang oder jede Wirkung eines Medika-ments erfordern, dass mindestens zwei Teilchen auf molekularer Ebe-ne miteinander interagieren, also ei-nen supramolekularen Komplex bilden. So findet sich in der Natur ein Analogon für die von Pedersen entdeckten Kronenether: Das von einem Pilz produzierte cyclische Dodekadepsipeptid Valinomycin (4) (Abbildung 2).3) Auch dieses bindet effizient Kaliumionen und zwar ebenfalls selektiv gegenüber Natriumionen (die Bindungskon-stanten unterscheiden sich sogar um einen Faktor 104). Ähnlich wie im Inneren des Kronenthers werden die Kaliumionen durch Ionen-Di-pol-Wechselwirkungen diesmal mit den Carbonylsauerstoffatomen der Amidbindungen komplexiert. Der Komplex ist genauso wie der Kro-nenetherkomplex als Ganzes nach außen unpolar und damit hydro-phob. Valinomycin ist ein Iono-phor, also ein Molekül, das sich in die lipophile Zellmembran einlagert und dort den Transport von Ka -lium ionen aus dem Zellinneren er-möglicht. Dadurch wird das Elek-trolytgleichgewicht der Zelle ge-stört. Valinomycin ist daher zytoto-xisch.

(5)

(6)(7)

(8)

Abb. 2. Valinomycin (4) ist ein Kalium-bindendes Ionophor, ein natürliches Analogon von 18-Krone-6.

Rechts gezeigt ist die Röntgenstruktur des Komplexes. Im Komplex können Kaliumionen über eine unpolare

biologische Membran hinweg transportiert werden.

(4)

Abb. 3. Die antibakterielle Wirkung von Vancomycin (5) beruht auf der Komplexierung einer Dipeptid -

sequenz (D-Ala-D-Ala, 6), die bei der Synthese von Bakterienzellwänden eine wichtige Rolle spielt.

Resistente Bakterien nutzen anstelle des Dipeptids D-Ala-D-Ala (6) das Depsipeptid D-Ala-D-Lac (7), das

aufgrund einer abstoßenden Dipol-Dipol-Wechselwirkung von Vancomycin nicht mehr gebunden wird.

Ersetzt man die störende Carbonylgruppe durch einen Wasserstoffbrücken-Donor (8), wird auch das

Depsipeptid 7 wieder gebunden.

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Wie supramolekulare Chemie funktioniert

S Wenn also supramolekulare Vorgänge altbekannt und allgegenwärtig sind, was war dann das Neue an den Arbeiten von Pedersen, Lehn und Cram? Neu war, dass durch diese Arbeiten die Erkenntnis reifte, dass all diese zuvor scheinbar unterschiedlichen Vor-gänge, die man aus der anorganischen Chemie, der Biochemie, der organischen oder physikalischen Chemie seit Jahrzehnten gut kannte, den gleichen grundlegenden Regeln und Konzepten folgen. In dem Maß, in dem durch das Studium einfacher Mo-dellsysteme das Verständnis supramolekularer Vor-gänge wuchs, ließen sich neue Wirtverbindungen mit maßgeschneiderten Eigenschaften synthetisieren und für Anwendungen untersuchen.

Die gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstandene supramolekulare Chemie ist also kein neues, eigenes Teilgebiet der Chemie. Sie vereint vielmehr Methoden und Arbeitsweisen unterschiedlicher Disziplinen und Fachgebiete und nutzt diese zu einer interdisziplinä-ren Betrachtung intermolekularer Wechselwirkungen.

Die Forschung rund um das Glycopeptid-Antibio-tikum Vancomycin (5) illustriert diesen vielseitigen und interdisziplinären Charakter der supramolekula-ren Chemie (Abbildung 3).4) Vancomycin dient in der Medizin als Reserveantibiotikum, wenn die gän-gigen Antibiotika aufgrund von Resistenzen nicht mehr wirken. Ende der 1980er Jahre tauchten aller-dings erstmals Bakterienstämme auf, die auch gegen Vancomycin resistent sind.5)

Auf molekularer Ebene beruht die Wirkung des Vancomycins auf einem klassischen supramolekula-ren Vorgang. Es bindet sich auf der Oberfläche von Bakterien an eine Peptidstruktur, D-Ala-D-Ala (6), die für die Bildung der Zellwände essenziell ist. Die Zell-wand von Bakterien besteht vereinfacht gesprochen aus linearen Zuckersträngen, die durch Peptidketten quervernetzt sind und dadurch ihre mechanische Sta-bilität erhalten. Diese Quervernetzung ist eine enzy-matisch katalysierte Transamidierung zwischen einer

VV Die supramolekulare Chemie vereint Methoden

und Arbeitsweisen unterschiedlicher Disziplinen

und Fachgebiete und nutzt diese zu einer inter-

disziplinären Betrachtung intermolekularer

Wechselwirkungen.

VV Die Frage nach Anwendungen für supramoleku-

lare Systeme steht zunehmend im Vordergrund.

Erste Anwendung der supramolekularen Chemie

in der Sensorik, in der Medizin oder zur Erzeu-

gung neuer funktionaler Nanomaterialien gibt

es bereits.

VV Ein Vorteil für zukünftige Anwendungen supra-

molekularer Systeme ist deren Schaltbarkeit.

S QUERGELESEN

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Aminogruppe in einem Peptid-strang mit der C-terminalen D-Ala-D-Ala-Sequenz eines ande-ren. Auch die Penicilline greifen in diesen Schritt der Bakterienzell-wandsynthese ein, indem sie das für die Reaktion benötigte Enzym, eine Transpeptidase, irreversibel inhibie-ren. Vancomycin hingegen erkennt die D-Ala-D-Ala-Sequenz und um-hüllt diese wie ein Handschuh. Da-durch wird der Peptidstrang so mas-kiert („sterisch blockiert“), dass die Transamidierung nicht mehr statt-finden kann.

Die Grundlagen dieser supramo-lekularen Komplexbildung wurden viele Jahre intensiv untersucht,6) wodurch sich auch das thermo-dynamische Verständnis solcher schwachen Wechselwirkungen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung maßgeblich verbesserte. So ist heu-te bekannt, dass eine supramoleku-lare Komplexbildung ein viel-schichtiger, reversibler Prozess ist, bei dem neben der Bildung von nichtkovalenten Bindungen zwi-schen Wirt und Gast auch Verände-rungen der Konformationen und in der Solvathülle der beteiligten Teil-chen eine wichtige Rolle spielen. Je nach relativer Stärke dieser Fakto-ren, liegt das Gleichgewicht mehr oder weniger stark auf der Seite des Komplexes. Vancoymin ist ein rela-tiv starres, halbschalenförmiges Molekül, das die richtige Passform hat, um das Dipeptid in seinem In-neren durch insgesamt fünf Was-serstoffbrücken und eine Ladungs-wechselwirkung zu binden. Es hat daher eine hohe Affinität für sein Zielsubstrat.

Auch die Resistenzbildung gegen-über Vancomycin ist ein Beispiel für supramolekulare Chemie. Die Bak-terien ersetzen das Dipeptid D-Ala-D-Ala (6) durch das Depsi-peptid D-Ala-D-Lac (7), eine Amid-bindung wird durch eine Esterbin-dung ersetzt. Dieser minimale Tausch von NH gegen O hat für die chemische Reaktion bei der Bildung der Bakterienzellwand keine Aus-wirkung. Er hat allerdings dramati-sche Folgen für die supramolekulare Komplexbildung. Anstelle einer an-

Abb. 5. Sugammadex (10) ist ein mit Carboxylatgruppen modifiziertes �-Cyclodextrin, das selektiv kationi-

sche Muskelrelaxanzien wie Rocuronium (11) bindet. Es wird als Medikament verabreicht, um die Wirkung

der Muskelrelaxanzien am Ende einer Anästhesie aufzuheben.

(10)

(11)

(9)

Abb. 4. Die Komplexierung von Natriumionen verändert die Fluoreszenzeigenschaften des Sensors 9. Im

unkomplexierten Zustand wird das angeregte Fluorophor durch einen photoinduzierten Elektronentrans-

fer (PET) vom N-Atom des Kronenethers gequencht. Man beobachtet nur eine sehr geringe Fluoreszenz.

Wenn ein Natriumion im Kronenether gebunden wird, kann der PET nicht mehr stattfinden. Die Fluores-

zenz kehrt zurück.

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983Supramolekulare Chemie BMagazinV

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ziehenden Wasserstoffbrücke zwi-schen einem Carbonylsauerstoff -atom im Vancomycin und dem Amid-NH des Dipeptids liegt nun eine abstoßende Dipol-Dipol-Wech-selwirkung mit einem Ester-O-Atom vor. Dadurch bindet Vancomycin das Depsipeptid um einen Faktor 1000 schlechter als das Dipeptid. Aus supramolekularen Modellstudi-en mit gezielt veränderten Substra-ten ist bekannt, dass der Verlust der H-Brücke beim Übergang vom Di-peptid zum Depsipeptid die Affinität um einen Faktor 10 verringert, wäh-rend die zusätzliche destabilisieren-de Dipol-Dipol-Abstoßung für einen weiteren Faktor 100 verantwortlich ist.7) Die Komplexbildung mit dem Depsipeptid ist damit nicht mehr ausreichend stark, um unter physio-logischen Bedingungen die Synthese der Bakterienzellwand wirksam zu inhibieren.

Die supramolekularen Hinter-gründe sowohl der antibakteriellen Wirkung des Vancomycins als auch der Resistenzbildung sind somit bekannt und gut verstanden. Könnte man also nicht einfach ein Vancomycinderivat entwerfen, das bevorzugt das Depsipeptid bindet, um so zu einem neuen Antibioti-kum zu kommen? Dazu könnte man beispielsweise die störende Carbonylgruppe im Vancomycin entfernen und durch eine CH2-Gruppe ersetzen, die keine störenden Wechselwirkungen mit der gegenüberliegenden Amidbin-dung hat. Noch besser wäre es, wenn man die Carbonylgruppe, ei-nen Wasserstoffbrücken-Akzeptor, durch eine NH-Gruppe, einen Was-serstoffbrücken-Donor, ersetzt, die dann sogar wieder attraktive Wech-selwirkungen mit der Esterbin-dung im Depsipeptid (7) eingehen kann. In der Tat binden so verän-derte Vancomycinanaloga wie (8) (Abbildung 3, S. 980) das Depsi-peptid wieder genauso gut wie das Dipeptid.8) Leider scheitert in die-sem Fall eine praktische Anwen-dung solcher Vancomycinanaloga mit gezielt eingestellten supramo-lekularen Eigenschaften als neue Antibiotika am Syntheseaufwand.

Auf dem Weg zur Anwendung

S Die Frage, wie und wofür man supramolekulare Systeme nutzen kann, ist in den letzten Jahren zu-nehmend in den Vordergrund ge-rückt. Erste Anwendungen der su-pramolekularen Chemie in der Sen-sorik, in der Medizin oder zur Erzeu-gung neuer funktionaler Nanomate-rialien gibt es bereits. Die dabei ge-nutzten supramolekularen Systeme sind häufig vergleichsweise einfach. Modifiziert man z. B. die von Peder-sen entdeckten Kronenether mit zu-sätzlichen Fluorophoren, kommt man zu Sensoren wie (9), bei denen die Bindung von Kalium- oder Na-triumionen die Fluoreszenzeigen-schaften ändert (Abbildung 4).9) In Kunststoffmembranen fixiert dienen solche Sensoren zur Blutgasanalyse in Krankenhäusern. Die gleichzeitige Verwendung mehrerer Sensoren in einem Array erlaubt in Kombination mit statistischen Auswerteverfahren auch eine Multikomponentenanaly-se, etwa zur Bestimmung von In-haltsstoffen in Wein oder Whisky.10)

Cyclodextrine sind in der Lebens-mittelindustrie, der Kosmetik und Textilbranche im Einsatz (z. B. gegen Schweißgerüche).11) In der Medizin werden sie außerdem zum Wirkstoff-transport erprobt, unter anderem zur zellspezifischen Freisetzung von Wirkstoffen (Targeting).12) Bereits zugelassen ist seit Ende 2008 Sugam-madex, ein mit anionischen Carbox-ylatgruppen modifiziertes �-Cyclo-dextrin (10), das nach einer Narkose die Wirkung von kationischen Mus-kelrelaxanzien wie Rocuronium (11) aufhebt.13) Das unpolare Steroidge-rüst der Muskelrelaxanzien bindet im hydrophoben Hohlraum des Cy-clodextrins, während gleichzeitig die positiv geladene quarternäre Ammo-niumgruppe von den negativ gelade-nen Carboxylatgruppen am oberen Rand des Cyclodextrins komplexiert wird (Abbildung 5).

Vorteil: Schaltbarkeit

S Der Vorteil der supramolekula-ren Chemie liegt aber nicht nur da-rin, dass wir gezielt Wirtverbin-

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984 BMagazinV Supramolekulare Chemie

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dungen entwickeln können, die se-lektiv mit einem bestimmten Sub-strat wechselwirken. Supramoleku-lare Systeme sind zudem von au-ßen schaltbar und bieten sich da-her für adaptive Materialien an, die

auf ihre Umgebung reagieren. Denn die Stärke nichtkovalenter Wechselwirkungen ist im Gegen-satz zu kovalenten Bindungen von den äußeren Parametern wie pH-Wert, Temperatur oder Lösemittel abhängig.

Da supramolekulare Wechsel-wirkungen reversibel sind, beein-flussen veränderte Umgebungsbe-dingungen unmittelbar die supra-molekularen Aggregate. Ein ein-drucksvolles Beispiel sind supra-molekulare Polymere,14) bei denen Monomere mit selbstkomplemen-tären Bindungsstellen mit sich selbst zu hochmolekularen Aggre-gaten reagieren. Im Gegensatz zu klassischen Polymeren, bei denen die Monomere nach einer chemi-schen Reaktion durch stabile kova-lente Bindungen verknüpft sind und die sich daher nach der Poly-merisation nicht mehr verändern, basiert eine supramolekulare Poly-merisation auf einer reversiblen Gleichgewichtsreaktion. Daher

hängt beispielsweise der Aggregati-onsgrad unmittelbar von der Kon-zentration der Monomere ab. Aus dünnflüssigen Lösungen entstehen so mit zunehmender Konzentrati-on hochviskose oder gummiartige Gele, die aber je nach den supra-molekularen Eigenschaften der Monomere durch eine Änderung der Temperatur, des Lösemittels oder des pH-Werts wieder deaggre-gieren. Dadurch sind vielfältige An-wendungen denkbar, beispielswei-se Kunststofflacke, die sich bei Kratzern selbstheilen, oder bio-kompatible Hydrogele, die als me-chanische Stütze für gezieltes Zell-wachstum in der regenerativen Me-dizin dienen können.

Ein Beispiel für ein solches, von außen schaltbares Material ist der amphiphile Perylenfarbstoff (12).15) Die unpolaren Perylenmoleküle bilden in wässriger Lösung durch aromatische Wechselwirkungen lange Stapel, die sich dann weiter zu einem dreidimensionalen Netz-werk aus Fasern zusammenlagern (Abbildung 6). Es entsteht ein sta-biles, poröses Netzwerk, das sich beispielsweise als Filtrationsmem-bran nutzen lässt. Die Zugabe von Ethanol bricht die schwachen Sta-pelwechselwirkungen zwischen den Farbstoffmolekülen, das Netz-werk fällt in sich zusammen und die Membran löst sich wieder auf. Die Moleküle können aus der Lö-sung isoliert und erneut zur Her-stellung einer Membran in Wasser verwendet werden. Mit kovalenten Polymeren sind solche Schaltpro-zesse nicht möglich. Das heißt, auch auf schwachen Wechselwir-kungen beruhende supramolekula-re Systeme können heutzutage ähnliche makroskopische Eigen-schaften wie kovalente Materialien erreichen, behalten aber gleichzei-tig ihren reversiblen Charakter bei.

Ausblick

S Was bleibt zu tun? Nach wie vor verstehen wir insbesondere den quantitativen Einfluss der Solvata-tion auf die Interaktion von Mole-külen nur unzureichend. Selbst die

Abb. 6. Das amphiphile Perylenderivat 12 aggregiert in Wasser zu faserartigen Strukturen, die nanoporöse

dreidimensionale Netzwerke bilden. Diese können z. B. als Filtrationsmembranen verwendet werden. Zugabe

von Ethanol bricht die Stapel auf und führt somit zu einer kompletten Auflösung der Netzwerke. Solche schalt-

baren Materialien bieten interessante Perspektiven für neue Anwendungen.

(12)

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985Supramolekulare Chemie BMagazinV

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fundamentalen Eigenschaften ein-zelner schwacher Wechselwirkun-gen wie der allgewärtigen Dispersi-onskräfte sind noch nicht in allen Details geklärt. Auch die Vorhersa-ge der Strukturen und damit der makroskopischen Eigenschaften von supramolekularen Materialen ist bisher nicht oder nur in Aus-nahmen möglich. Ohne ein genau-es Verständnis, wie die supramole-kularen Eigenschaften der einzel-nen Moleküle im Wechselspiel mit dem Lösemittel zur Bildung selbst-aggregierter Systeme führen, ist es aber schwierig, solche Materialien zielgerichtet zu entwickeln.

Auch wenn supramolekulare Vorgänge reversible Gleichge-wichtsprozesse sind, scheint in manchen Fällen gerade bei der Bil-dung selbstaggregierter Materialien zudem die Kinetik eine wichtige Rolle zu spielen. Verstanden ist das bisher nicht.

In biologisch-medizinischen An-wendungen ist es im Reagenzglas bereits recht gut möglich, biologi-sche Prozesse mit supramolekula-ren Liganden selektiv zu beeinflus-sen. Unter den realen, sehr viel komplexeren Bedingungen einer lebenden Zelle bleibt dies aber nach wie vor schwierig.

Zu vielen dieser offenen Fragen laufen oder starten gerade größere Forschungsinitiativen sowohl in Deutschland als auch in Europa. Man darf daher gespannt sein, wel-che Fortschritte die Supramole- kulare Chemie in den nächsten 25 Jahren machen wird.

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Carsten Schmuck ist seit

dem Jahr 2008 Professor

für organische Chemie an

der Universität Duisburg-

Essen. Nach der Promotion

an der Ruhr-Universität Bo-

chum und einem Postdoktorandenaufenthalt

bei Ronald Breslow in New York habilitierte er

sich in Köln und war anschließend sechs Jahre

Professor für organische Chemie in Würzburg.

Er interessiert sich für supramolekulare Che-

mie in wässriger Lösung und entwickelt z. B.

mit kombinatorischen Methoden chemische

Rezeptoren für Proteine und Nukleinsäuren

oder nutzt selbstkomplementäre Zwitterio-

nen für den Aufbau schaltbarer Nanostruktu-

ren. [email protected]