Die Mag d Liter atur - Christine Lavant · Erzählungen aus dem N achlass: Der vier te Band der...

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Maike Wetzel Elly Roman. 148 S., geb., € 20,60 (Schöff- ling Verlag, Frankfurt/Main) Plötzlich wie vom Erdboden verschluckt Durchkomponiert: Maike Wetzels Roman „Elly“ über das Verschwinden eines Mädchens. Von Susanne Schaber E lly. Ein kurzer Name. Er endet mit dem vorletzten Buchstaben des Alphabets. Und vielleicht ist das ein Statement: Eine Ge- schichte ist nie vollends zu Ende, irgend- etwas kommt noch. Maike Wetzel über- lässt nichts dem Zufall, ihr Roman „Elly“ ist durchkomponiert bis in kleinste De- tails. Sein Konzept wurde schon im Vor- feld mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet, nun liegt das Buch vor: ein irritierendes, wenngleich etwas ko- kettes Stück Literatur. „Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus.“ Weil sie nicht fassbar ist. Das Geschehen, das um die solcherart beschworenen Ereignisse kreist, ist tragisch: Elly ist elf und ein selbstbewusstes Mädchen, als sie mit dem Fahrrad zum Judounterricht auf- bricht. Sie kennt den Weg über die Fel- der und die Autobahnbrücke. Kurz vor der Sporthalle, eine Polizeistation ist in der Nähe, wird sie zum letzten Mal ge- sehen. „In ihrem Kinderzimmer fehlt nichts. Keine Hose, kein Rock, keine Zahnbürste. Es gibt keinen Abschieds- brief. Auch später erhalten wir keine Nachricht. Meine Schwester Elly ist wie vom Erdboden verschluckt.“ Maike Wetzel hat Regie an der Münchner Filmhochschule studiert und realisierte als Regisseurin und Drehbuch- autorin mehrere Kurzfilme. Hier setzt sie sich den Folgen eines von Kriminalbeam- ten nie aufgeklärten Verschwindens auf die Spur. Ein Stakkato von einfachen, ab- gehackten Sätzen imaginiert die Schläge, die Eltern und Schwester hart treffen. Ängste wuchern, zugleich entfalten sich ins Irrationale ragende Hoffnungsszena- rien. Jede der Figuren hat ihre eigene Me- thode, den quälenden Unsicherheiten zu begegnen: Das reicht von Beschwörungs- fantasien bis hin zur wahnhaften Leug- nung der Wirklichkeit. „Meine Schwester ist tot. Ich traue mich kaum, das zu den- ken, weil ich weiß, dass mein Glaube ge- nügt, um sie umzubringen.“ Fassade familiärer Harmonie Wetzel beschreibt die Familie aus ver- schiedenen Perspektiven. Im Zusam- menspiel der Stimmen zeigt sich die Ver- zweiflung immer drängender. Entspre- chend groß sind die Projektionen, als die Meldung einläuft, ein junges Mädchen sei gefunden worden, die dem Profil der Vermissten entspricht. Damit spitzt sich der Realitätsverlust gefährlich zu. Gleichzeitig offenbart sich, wie die Fas- sade der familiären Harmonie schon Jah- re vorher zu bröckeln begonnen hat. „Elly“ ist ein flirrendes literarisches Gebilde, rhythmisch und dramaturgisch durchgestaltet und sprachlich fast schon überambitioniert mit seinen recht ge- suchten Bildern und Wendungen: „Doch irgendwann ist meine Schwester keine Nachricht mehr. Sie hat sich versendet.“ Da ist mancher Manierismus mit dabei. Die Geschehnisse treiben auf ein fu- rioses und darin geradezu kurioses Fi- nale ` a la Psychothriller zu. Ob dieses glaubwürdig oder doch überspannt ist, hat in diesem Fall keine übermäßige Be- deutung. Denn eigentlich geht es der Au- torin um etwas anderes: Ihr Roman ist ein subtiles Dokument über die subver- sive Kraft des Erzählens und der Imagi- nation und über deren befreiender, aber auch fataler Dynamik. „Elly“ wird zum Psychogramm einer Verweigerung, in mehrfachem Sinn. Das Buch verrückt uns für eine Weile den Blick. Q Christine Lavant Werke in vier Bänden Band 4: Erzählungen aus dem Nachlass. Mit ausgewählten autobiografischen Dokumenten. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. 828 S., geb., € 39,90 (Wallstein Verlag, Göttingen) „Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben“: Christine Lavant. [ © Musil-Institut] Erzählungen aus dem Nachlass: Der vierte Band der Werkausgabe von Christine Lavant macht endgültig deutlich, dass ihre Prosa kein Beiwerk der Lyrik ist, sondern in den besten Beispielen weltliterarisches Niveau hat. Von Cornelius Hell Die Magd der Literatur K aum einmal hat eine Werkaus- gabe so viel Unveröffentlichtes zutage gefördert und das Bild einer Autorin so grundlegend verändert wie die vierbändige Ausgabe von Christine Lavant, die rund um ihren 100. Geburtstag erschienen ist. Davor war sie als Verfasserin der Gedichtbände „Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“ und „Der Pfauenschrei“ bekannt – und das vor- wiegend in Österreich und im katholischen Kontext. Erst der von Thomas Bernhard herausgegebene Auswahlband hat sie auch in Deutschland bekannt gemacht. Der erste Band der Werkausgabe prä- sentiert Gedichte, die sie noch zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Der fast ebenso umfang- reiche dritte Band versammelt die Lyrik aus dem Nachlass und zeigt, dass Christine La- vant wichtige Gedichte zurückgehalten hat, weil sie ihr zu intim und privat waren, lässt aber auch deutlich werden, dass die drei Gedichtbände im Otto Müller Verlag auf ka- tholisch „getrimmt“ waren – das heißt, dass bei der endgültigen Auswahl vor allem sol- che Gedichte ausgeschlossen wurden, die mit der christlichen Bildwelt nicht kompati- bel sind. Die umfangreichen Herausgeber- nachworte von Doris Moser und dem 2016 aus dem Leben geschiedenen Fabjan Hafner rekonstruieren nicht nur die Entstehung der Gedichte, sondern liefern auch grundlegen- de Ansätze ihrer Interpretation und schälen sie aus dem katholischen Ghetto heraus. Die Sensation ist jedoch, dass mit dieser Edition die Prosa Lavants endlich als gleich- wertiger Teil ihres Werks sichtbar wird. Der fast 800 Seiten starke zweite Band zeigt, wie umfangreich die Prosa ist, die zwar zu Leb- zeiten der Autorin veröffentlicht wurde, aber mit Ausnahme der Neuauflage von „Das Kind“ nie die ihr gebührende Beachtung ge- funden hat. Eine Ursache dafür mag sein, dass man Frauen Prosa weniger zugetraut hat, während sie für Lyrik geradezu „zustän- dig“ waren (man denke nur an die unquali- fizierte Polemik Marcel Reich-Ranickis ge- gen Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“). Ein weiterer Grund liegt bei Lavants ers- tem deutschen Verlag, der zu klein war, um ihre Prosa durchzusetzen. Eine wesentliche Ursache benennt das Nachwort von Klaus Amann, dem Motor der Werkausgabe: Nach der Lüftung ihres Pseudonyms (Lavants Familienname war Thonhauser beziehungs- weise nach der Eheschließung Habernig) und einigen schlechten Erfahrungen verla- gerte Lavant Anfang der 1950er-Jahre ihr Schreiben „ganz auf die Lyrik, wo sich das Autobiografische besser kaschieren ließ“. Mit dem vierten Band liegt die Werkausgabe nun abgeschlossen vor, und die Erzählungen aus dem Nachlass machen endgültig deut- lich, dass Lavants Prosa kein Beiwerk ihrer Lyrik ist, sondern in den besten Beispielen weltliterarisches Niveau haben. Sicher trifft das auf die beiden Werke zu, die auch als Einzelausgaben vorliegen: die Erzählung „Das Wechselbälgchen“, mit der die Edition der Werke Lavants bei Wallstein 2012 begonnen hat, und die „Aufzeichnun- gen aus dem Irrenhaus“; die Nachworte von Amann sind für die Interpretation dieser Werke unerlässlich, weshalb es sich lohnt, diese Einzelausgaben anzuschaffen, auch wenn die Texte in der Gesamtausgabe ent- halten sind. Amann hebt die autobiografi- sche Basis von Lavants Schreiben hervor – „Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben“, hat sie einmal konstatiert und damit eine Fiktion gemeint, die nichts mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu tun hätte. Spiegelbild der Abhängigkeiten Aber gerade die „Aufzeichnungen“ machen auch deutlich, wie Lavant elf Jahre nach ih- rem eigenen Aufenthalt in der Nervenklinik durch den Kunstgriff der fiktiven Tagebuch- schreiberin das Erlebte in atemberaubender Dichte zu einem modellhaften Spiegelbild der Abhängigkeiten und Herrschaftsverhält- nisse macht, die sich in der geschlossenen Anstalt gar nicht so sehr von denen „drau- ßen“ unterscheiden. Aus dem „Wechsel- bälgchen“ liest Amann das bestürzende Mo- dell einer Leibeigenschaft, in dem die Magd, die vom Bauern geschwängert und dann zu einem Sprung aus großer Höhe gezwungen wird, um einen Abortus auszulösen, und da- bei ihr Auge verliert, dem Bauern auch noch dankbar sein muss, dass er ihr ein Glasauge bezahlt, bevor er sie vom Hof jagt. So brutal klingt eine Lavant-Erzählung, wenn man ihren Inhalt zusammenfasst – und damit Struktur und Wirkung dieser ein- zigartigen Prosa völlig verfälscht. Denn La- vant versteht sich auf die „Seiteneinstiege“ in die Gehäuse der verzweifelten Ausweglo- sigkeiten und brutalen Abhängigkeiten. Wie harmlos etwa beginnt die Erzählung „Der Taschendieb“, und wie lang dauert es, bis man begreift, dass da eine Frau am Werk ist, die geheim Abtreibungen durchführt. Und von der Beziehung zu ihrem halbwüchsigen Sohn heißt es dann: „Sie bekam, wenn sie bös wurde, immer Kopfschmerzen und musste ihn dann manchmal schlagen.“ Mit Recht insistiert Amann in seiner Interpreta- tion auf der Grammatik dieses Satzes, die die Gefangenschaft in den Lebensverhält- nissen auf den Punkt bringt. Diese Erzählung ist auch ein Beispiel da- für, wie sehr sich Lavant in immerneuen Va- riationen auf die Innensicht der Kinder ver- steht, auf ihr Erleben der Erwachsenenwelt und auf die subtilen Übergänge zwischen beiden in der Pubertät. In der Erzählung „Freundinnen“ setzt sie den brennenden Schmerz zweier Mädchen in Szene, deren rettende Freundschaft vom Lehrer und einer Pflegemutter zur Wahrung sozialer Hierar- chien brutal zerstört wird. Das alles spielt sich in einer Welt brutaler Armut ab, in der die „Bauernteufel“ gefürchtet sind und – wie in der Erzählung „Natternkrönlein“ – nur der Vater ein eigenes Bett hat. Ein Kernstück dieser Erzählungen sind die unvergleichlichen Dialoge, in denen alle Register von archaisch-märchenhaftem Ge- raune über Einsprengsel eines intakten oder auch durch Anpassung zerstörten Dialekts gezogen werden und sich die Brutalität auf leisen Sohlen anschleicht, um dann unver- mittelt zuzuschlagen. In der gesprochenen Sprache wie in der Kinderperspektive (vor allem in der des kranken und verspotteten Kindes) ist immer wieder die unverhüllt autobiografische Basis von Christine Lavants Schreiben präsent, aber zur großen Prosa- schriftstellerin wird sie gerade dadurch, wie sie diese Erfahrungen auf verschiedene Tex- te „verteilt“, immer wieder unterschiedlich aufrollt und sie mit Handlungssträngen überkreuzt, die davon weit entfernt sind. Diese Erzählungen aus dem Nachlass sind keineswegs nur eine Pflichtlektüre für Lavant-Kenner oder literaturgeschichtlich Interessierte. Hier öffnet sich ein brodelnder Prosastrom, der irritiert, den Atem stocken lässt und immer wieder die Augen für ge- schundene Menschen, vor allem Kinder, öff- net, die nie aus der Distanz beschrieben oder zu passiven Objekten gemacht werden. Q SAMSTAG, 27. OKTOBER 2018 LITERATUR SPECTRUM VII

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  • Maike WetzelEllyRoman. 148 S., geb., € 20,60 (Schöff-ling Verlag, Frankfurt/Main)

    Plötzlich wievom ErdbodenverschlucktDurchkomponiert: MaikeWetzels Roman „Elly“ über dasVerschwinden eines Mädchens.

    Von Susanne Schaber

    E lly. Ein kurzer Name. Er endetmit dem vorletzten Buchstabendes Alphabets. Und vielleicht istdas ein Statement: Eine Ge-schichte ist nie vollends zu Ende, irgend-etwas kommt noch. Maike Wetzel über-lässt nichts dem Zufall, ihr Roman „Elly“ist durchkomponiert bis in kleinste De-tails. Sein Konzept wurde schon im Vor-feld mit dem Robert-Gernhardt-Preisausgezeichnet, nun liegt das Buch vor:ein irritierendes, wenngleich etwas ko-kettes Stück Literatur.

    „Diese Geschichte ist nicht meineGeschichte. Ich bin nicht sicher, wem siegehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläftin unserem Haus und trotzdem ist siemir immer einen Schritt voraus.“ Weil sienicht fassbar ist. Das Geschehen, das umdie solcherart beschworenen Ereignissekreist, ist tragisch: Elly ist elf und einselbstbewusstes Mädchen, als sie mitdem Fahrrad zum Judounterricht auf-bricht. Sie kennt den Weg über die Fel-der und die Autobahnbrücke. Kurz vorder Sporthalle, eine Polizeistation ist inder Nähe, wird sie zum letzten Mal ge-sehen. „In ihrem Kinderzimmer fehltnichts. Keine Hose, kein Rock, keineZahnbürste. Es gibt keinen Abschieds-brief. Auch später erhalten wir keineNachricht. Meine Schwester Elly ist wievom Erdboden verschluckt.“

    Maike Wetzel hat Regie an derMünchner Filmhochschule studiert undrealisierte als Regisseurin und Drehbuch-autorin mehrere Kurzfilme. Hier setzt siesich den Folgen eines von Kriminalbeam-ten nie aufgeklärten Verschwindens aufdie Spur. Ein Stakkato von einfachen, ab-gehackten Sätzen imaginiert die Schläge,die Eltern und Schwester hart treffen.Ängste wuchern, zugleich entfalten sichins Irrationale ragende Hoffnungsszena-rien. Jede der Figuren hat ihre eigene Me-thode, den quälenden Unsicherheiten zubegegnen: Das reicht von Beschwörungs-fantasien bis hin zur wahnhaften Leug-nung der Wirklichkeit. „Meine Schwesterist tot. Ich traue mich kaum, das zu den-ken, weil ich weiß, dass mein Glaube ge-nügt, um sie umzubringen.“

    Fassade familiärer HarmonieWetzel beschreibt die Familie aus ver-schiedenen Perspektiven. Im Zusam-menspiel der Stimmen zeigt sich die Ver-zweiflung immer drängender. Entspre-chend groß sind die Projektionen, als dieMeldung einläuft, ein junges Mädchensei gefunden worden, die dem Profil derVermissten entspricht. Damit spitzt sichder Realitätsverlust gefährlich zu.Gleichzeitig offenbart sich, wie die Fas-sade der familiären Harmonie schon Jah-re vorher zu bröckeln begonnen hat.

    „Elly“ ist ein flirrendes literarischesGebilde, rhythmisch und dramaturgischdurchgestaltet und sprachlich fast schonüberambitioniert mit seinen recht ge-suchten Bildern und Wendungen: „Dochirgendwann ist meine Schwester keineNachricht mehr. Sie hat sich versendet.“Da ist mancher Manierismus mit dabei.

    Die Geschehnisse treiben auf ein fu-rioses und darin geradezu kurioses Fi-nale à la Psychothriller zu. Ob diesesglaubwürdig oder doch überspannt ist,hat in diesem Fall keine übermäßige Be-deutung. Denn eigentlich geht es der Au-torin um etwas anderes: Ihr Roman istein subtiles Dokument über die subver-sive Kraft des Erzählens und der Imagi-nation und über deren befreiender, aberauch fataler Dynamik. „Elly“ wird zumPsychogramm einer Verweigerung, inmehrfachem Sinn. Das Buch verrücktuns für eine Weile den Blick. Q

    Christine LavantWerke in vier BändenBand 4: Erzählungen aus dem Nachlass.Mit ausgewählten autobiografischenDokumenten. Hrsg. von Klaus Amannund Brigitte Strasser. 828 S., geb., € 39,90(Wallstein Verlag, Göttingen)

    „Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben“: Christine Lavant. [ © Musil-Institut]

    Erzählungen aus dem Nachlass:Der vierte Band der Werkausgabevon Christine Lavant machtendgültig deutlich, dass ihre Prosakein Beiwerk der Lyrik ist,sondern in den besten Beispielenweltliterarisches Niveau hat.

    Von Cornelius Hell

    Die MagdderLiteratur

    K aum einmal hat eine Werkaus-gabe so viel Unveröffentlichteszutage gefördert und das Bildeiner Autorin so grundlegendverändert wie die vierbändigeAusgabe von Christine Lavant, die rund umihren 100. Geburtstag erschienen ist. Davorwar sie als Verfasserin der Gedichtbände„Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“ und„Der Pfauenschrei“ bekannt – und das vor-wiegend in Österreich und im katholischenKontext. Erst der von Thomas Bernhardherausgegebene Auswahlband hat sie auchin Deutschland bekannt gemacht.

    Der erste Band der Werkausgabe prä-sentiert Gedichte, die sie noch zu Lebzeitenveröffentlicht hat. Der fast ebenso umfang-reiche dritte Band versammelt die Lyrik ausdem Nachlass und zeigt, dass Christine La-vant wichtige Gedichte zurückgehalten hat,weil sie ihr zu intim und privat waren, lässtaber auch deutlich werden, dass die dreiGedichtbände im Otto Müller Verlag auf ka-tholisch „getrimmt“ waren – das heißt, dassbei der endgültigen Auswahl vor allem sol-che Gedichte ausgeschlossen wurden, diemit der christlichen Bildwelt nicht kompati-bel sind. Die umfangreichen Herausgeber-nachworte von Doris Moser und dem 2016aus dem Leben geschiedenen Fabjan Hafnerrekonstruieren nicht nur die Entstehung derGedichte, sondern liefern auch grundlegen-de Ansätze ihrer Interpretation und schälensie aus dem katholischen Ghetto heraus.

    Die Sensation ist jedoch, dass mit dieserEdition die Prosa Lavants endlich als gleich-wertiger Teil ihres Werks sichtbar wird. Derfast 800 Seiten starke zweite Band zeigt, wieumfangreich die Prosa ist, die zwar zu Leb-zeiten der Autorin veröffentlicht wurde, abermit Ausnahme der Neuauflage von „DasKind“ nie die ihr gebührende Beachtung ge-funden hat. Eine Ursache dafür mag sein,dass man Frauen Prosa weniger zugetrauthat, während sie für Lyrik geradezu „zustän-dig“ waren (man denke nur an die unquali-fizierte Polemik Marcel Reich-Ranickis ge-gen Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“).

    Ein weiterer Grund liegt bei Lavants ers-tem deutschen Verlag, der zu klein war, umihre Prosa durchzusetzen. Eine wesentlicheUrsache benennt das Nachwort von KlausAmann, dem Motor der Werkausgabe: Nachder Lüftung ihres Pseudonyms (LavantsFamilienname war Thonhauser beziehungs-weise nach der Eheschließung Habernig)und einigen schlechten Erfahrungen verla-gerte Lavant Anfang der 1950er-Jahre ihrSchreiben „ganz auf die Lyrik, wo sich das

    Autobiografische besser kaschieren ließ“.Mit dem vierten Band liegt die Werkausgabenun abgeschlossen vor, und die Erzählungenaus dem Nachlass machen endgültig deut-lich, dass Lavants Prosa kein Beiwerk ihrerLyrik ist, sondern in den besten Beispielenweltliterarisches Niveau haben.

    Sicher trifft das auf die beiden Werke zu,die auch als Einzelausgaben vorliegen: dieErzählung „Das Wechselbälgchen“, mit derdie Edition der Werke Lavants bei Wallstein2012 begonnen hat, und die „Aufzeichnun-gen aus dem Irrenhaus“; die Nachworte vonAmann sind für die Interpretation dieserWerke unerlässlich, weshalb es sich lohnt,diese Einzelausgaben anzuschaffen, auchwenn die Texte in der Gesamtausgabe ent-halten sind. Amann hebt die autobiografi-sche Basis von Lavants Schreiben hervor –„Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben“,hat sie einmal konstatiert und damit eineFiktion gemeint, die nichts mit ihrer eigenenLebenswirklichkeit zu tun hätte.

    Spiegelbild der AbhängigkeitenAber gerade die „Aufzeichnungen“ machenauch deutlich, wie Lavant elf Jahre nach ih-rem eigenen Aufenthalt in der Nervenklinikdurch den Kunstgriff der fiktiven Tagebuch-schreiberin das Erlebte in atemberaubenderDichte zu einem modellhaften Spiegelbildder Abhängigkeiten und Herrschaftsverhält-nisse macht, die sich in der geschlossenenAnstalt gar nicht so sehr von denen „drau-ßen“ unterscheiden. Aus dem „Wechsel-bälgchen“ liest Amann das bestürzende Mo-dell einer Leibeigenschaft, in dem die Magd,die vom Bauern geschwängert und dann zueinem Sprung aus großer Höhe gezwungenwird, um einen Abortus auszulösen, und da-bei ihr Auge verliert, dem Bauern auch nochdankbar sein muss, dass er ihr ein Glasaugebezahlt, bevor er sie vom Hof jagt.

    So brutal klingt eine Lavant-Erzählung,wenn man ihren Inhalt zusammenfasst –und damit Struktur und Wirkung dieser ein-zigartigen Prosa völlig verfälscht. Denn La-vant versteht sich auf die „Seiteneinstiege“in die Gehäuse der verzweifelten Ausweglo-sigkeiten und brutalen Abhängigkeiten. Wieharmlos etwa beginnt die Erzählung „DerTaschendieb“, und wie lang dauert es, bis

    man begreift, dass da eine Frau am Werk ist,die geheim Abtreibungen durchführt. Undvon der Beziehung zu ihrem halbwüchsigenSohn heißt es dann: „Sie bekam, wennsie bös wurde, immer Kopfschmerzen undmusste ihn dann manchmal schlagen.“ MitRecht insistiert Amann in seiner Interpreta-tion auf der Grammatik dieses Satzes, diedie Gefangenschaft in den Lebensverhält-nissen auf den Punkt bringt.

    Diese Erzählung ist auch ein Beispiel da-für, wie sehr sich Lavant in immer neuen Va-riationen auf die Innensicht der Kinder ver-steht, auf ihr Erleben der Erwachsenenweltund auf die subtilen Übergänge zwischenbeiden in der Pubertät. In der Erzählung„Freundinnen“ setzt sie den brennendenSchmerz zweier Mädchen in Szene, derenrettende Freundschaft vom Lehrer und einerPflegemutter zur Wahrung sozialer Hierar-chien brutal zerstört wird. Das alles spieltsich in einer Welt brutaler Armut ab, in derdie „Bauernteufel“ gefürchtet sind und – wiein der Erzählung „Natternkrönlein“ – nurder Vater ein eigenes Bett hat.

    Ein Kernstück dieser Erzählungen sinddie unvergleichlichen Dialoge, in denen alleRegister von archaisch-märchenhaftem Ge-raune über Einsprengsel eines intakten oderauch durch Anpassung zerstörten Dialektsgezogen werden und sich die Brutalität aufleisen Sohlen anschleicht, um dann unver-mittelt zuzuschlagen. In der gesprochenenSprache wie in der Kinderperspektive (vorallem in der des kranken und verspottetenKindes) ist immer wieder die unverhülltautobiografische Basis von Christine LavantsSchreiben präsent, aber zur großen Prosa-schriftstellerin wird sie gerade dadurch, wiesie diese Erfahrungen auf verschiedene Tex-te „verteilt“, immer wieder unterschiedlichaufrollt und sie mit Handlungssträngenüberkreuzt, die davon weit entfernt sind.

    Diese Erzählungen aus dem Nachlasssind keineswegs nur eine Pflichtlektüre fürLavant-Kenner oder literaturgeschichtlichInteressierte. Hier öffnet sich ein brodelnderProsastrom, der irritiert, den Atem stockenlässt und immer wieder die Augen für ge-schundene Menschen, vor allem Kinder, öff-net, die nie aus der Distanz beschrieben oderzu passiven Objekten gemacht werden. Q

    SAMSTAG, 27. OKTOBER 2018 LITERATUR SPECTRUM VII