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Die Sprache der Deutschen in Rußland Peter Rosenberg Als seit 1764 die ersten deutschen Kolonisten nach Rußland zogen, konnten sie weniges aus der Heimat mitnehmen. Vieles mußte zurückgelassen werden, vieles ging auf der langen Reise verloren. Was sie aber „im Gepäck" hatten, war ihre deutsche Kultur und Sprache. Was aber war diese „deutsche Sprache"? Wie sah die Sprache der deutschen Bevölkerung in den Dörfern an der Wolga, im Schwarzmeergebiet, im Kaukasus, später in Sibirien und Mittelasien aus? Wie entwickelte sich diese Sprache im Laufe der Zeit, fern von Deutschland und abgeschnitten von der Sprachentwicklung in der Heimat? Wie kam es zur „Russifizierung" der Sprache dieser Siedler? Welche Folgen hatten die Deportationen und Verfolgungen in der Stalin-Zeit? Wo „lebt" heute noch die deutsche Sprache? Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag, so gut es auf knappem Raum geht, beantwortet werden. Das Bild der „mitwandernden" deutschen Sprache, die die

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Die Sprache der Deutschen inRußland

Peter Rosenberg

Als seit 1764 die ersten deutschen Kolonisten nach Rußlandzogen, konnten sie weniges aus der Heimat mitnehmen. Vielesmußte zurückgelassen werden, vieles ging auf der langen Reiseverloren. Was sie aber „im Gepäck" hatten, war ihre deutscheKultur und Sprache.

Was aber war diese „deutsche Sprache"? Wie sah die Sprache derdeutschen Bevölkerung in den Dörfern an der Wolga, imSchwarzmeergebiet, im Kaukasus, später in Sibirien undMittelasien aus? Wie entwickelte sich diese Sprache im Laufe derZeit, fern von Deutschland und abgeschnitten von derSprachentwicklung in der Heimat? Wie kam es zur„Russifizierung" der Sprache dieser Siedler? Welche Folgen hattendie Deportationen und Verfolgungen in der Stalin-Zeit? Wo „lebt"heute noch die deutsche Sprache? Diese Fragen sollen imfolgenden Beitrag, so gut es auf knappem Raum geht,beantwortet werden.

Das Bild der „mitwandernden" deutschen Sprache, die die

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Rußlanddeutschen - mitunter als einziges - bewahren konnten,während ihnen vieles andere genommen wurde, begleitet dieGeschichte der Deutschen in Rußland und der späterenSowjetunion: Auch in den Zeiten der Verfolgungen, desLagerlebens, der Sondersiedlungen, der Weiterwanderung hieltensie am Deutschen fest, so gut dies möglich war. Und es ist einebittere Ironie der Geschichte, daß der Niedergang der deutschenSprache in der Sowjetunion gerade in der Zeit beschleunigtwurde, in der eine erste bescheidene Liberalisierung erfolgte.

Die Sprache der Einwanderer

Die Sprachsituation in den deutschen Sprachinseln, die seit demEinladungsmanifest von Katharina II. 1762/63 an der Wolga, umPetersburg, im Schwarzmeergebiet, auf der Krim, im Kaukasus, inWolhynien und weiteren Gebieten angelegt wurden, ist inbestimmter Hinsicht einzigartig: Die Vielzahl von Dialekten, diedie Siedler aus zahlreichen deutschen Herkunftsräumen in dieseSprachinseln mitgebracht hatten, ist ein Kennzeichen derrußlanddeutschen Sprachinseln, wie es sich in dieser Ausprägungnur in wenigen anderen Regionen der Welt finden läßt. DieAbgeschlossenheit dieser Siedlungen, ihr sozialer, ökonomischer,kultureller und auch konfessioneller „Abstand" zur Bevölkerungder Umgebung ließ die deutschen Sprachinseln lange Zeitüberdauern, und noch heute sind Spuren dieser „archaischen"Dialekte in der Sprache älterer rußlanddeutscher Aussiedler in derBundesrepublik festzustellen.

Einen Hinweis auf die dialektale Zusammensetzung in der Frühzeitder Besiedlung gibt uns die Herkunft der Kolonisten:

Ein Großteil der etwa 23.000 Siedler, die 1764-1767 vor alleman die Wolga zogen, stammten aus Hessen, den Rheinlanden, derPfalz, Württemberg, in zahlenmäßig oft geringer Größenordnungim Grunde aber aus allen Gebieten des deutschen Sprachraums,auch aus dem Elsaß, aus Lothringen und der Schweiz, sowie ausden Niederlanden und Schweden (Vgl. Stumpp (1974), S. 23). Siegründeten 104 Siedlungen, in denen sich die Kolonisten in oft reinzufälliger Zusammensetzung (abgesehen von einer gewissenkonfessionellen Trennung) zusammenfanden.

Seit 1789 gründeten ostniederdeutsch sprechende Mennonitenaus Westpreußen, aus der Umgebung Danzigs, im

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Schwarzmeergebiet die Chortitzer „Altkolonie" (18 Dörfer), etwasspäter die Kolonie Molotschna mit 55 Dörfern.

Nach 1804 - auf Einladung Alexanders I. - zogen Siedler vorallem aus dem südwestdeutschen Raum, aus Württemberg,Baden, dem Elsaß, sowie aus Bayern und weiteren Regionen ingroßer Zahl ins Schwarzmeergebiet, auf die Krim und in denKaukasus. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich etwa55.000 Einwanderer in „Neurußland" nieder.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten Siedleraus zahlreichen Herkunftsgebieten, vor allem aus demost-mitteldeutschen Raum, aus Schlesien und dem heutigenPolen, nach Wolhynien.

Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhundertswurden zahlreiche Tochterkolonien im Orenburger Gebiet, inBaschkirien, in Sibirien und Mittelasien gegründet.

Alle diese Siedler verständigten sich in erster Linie in ihrenheimischen Dialekte. Diese Mundarten reichten vonoberdeutschem Schwäbisch, Badisch, Elsässisch oder Bairischüber westmitteldeutsches Hessisch oder Pfälzisch,ostmitteldeutsches Sächsisch, Thüringisch oder Schlesisch bis zuniederdeutschem „Plattdeutsch". Und selbst diese Bezeichnungenwerden der dialektalen Vielfalt kaum gerecht, fassen sie dochhöchst unterschiedliche Varietäten unter Begriffen wie„Niederdeutsch" oder „Hessisch" zusammen, deren Sprecher sichmitunter kaum verständigen konnten: Das ostniederdeutsche„Plautdietsch" der Rußlandmennoniten (in der Chortitzer Varietät)etwa ist mit seiner Aus-sprache des niederdeutschen k selbst fürandere Niederdeutsch-Sprecher nur schwer zu verstehen, wennniederdeutsches ick (‘ich’) zum Beispiel ätj lautet und die Kerkoder Kirke (‘Kirche’) als Tjoartje ausgesprochen wird. Hessisch-Sprecher würden den ‘Schlitten’ wohl als Schlidde bezeichnen,hätten aber sicherlich Schwierigkeiten, oberhessisches Schlirre als„verwandte" Aussprache anzusehen.

Einen Eindruck dieser einzigartigen Sprachsituation mag dieTatsache vermitteln, daß in manchen Orten an der WolgaKolonisten aus Dutzenden verschiedener DialektgebieteDeutschlands zusammentrafen, wie zum Beispiel im Dorf Preuß,das von Siedlern aus 129 verschiedenen Orten Deutschlands,

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Österreichs und des Elsaß gegründet worden ist. Wie sollten dieSiedler sprachlich miteinander verkehren, ohne daß ihnen diedeutsche Standardsprache zur Verfügung stand, die sich in derZeit der Auswanderung durch den Schulunterricht flächendeckendgerade erst durchzusetzen begann? Sie konnten es nur vermittelsihrer Dialekte tun.

Der dialektale Ausgleich der ersten 100 Jahre

Im Laufe der ersten hundert Jahre fand in den Kolonien einatemberaubender Prozeß der Dialektmischung statt, infolgedessen sich mehr oder weniger einheitliche Ortsmundarten - vorallem in den sogenannten Mutterkolonien - herausbildeten. Diejüngeren Tochterkolonien waren hiervon noch nicht lange genugerfaßt, und auch in den Mutterkolonien bestanden häufig nochlange Zeit mehrere dialektale Varianten nebeneinander. Ergebnisdes sprachlichen Ausgleichsprozesses war die Reduzierung derDialektvielfalt auf eine - immer noch stattliche - Anzahl vonHauptvarietäten:

In den wolgadeutschen Mundarten setzten sich hauptsächlichmitteldeutsche, vor allem westmitteldeutsche, das heißt hessischeund rheinfränkische, Dialektmerkmale durch. Nur eine kleineGruppe von Mundarten gehörte zum Ostmitteldeutschen,insbesondere in einigen Dörfern um Katharinenstadt im Nordendes Wolgagebiets. In einigen zwischen 1853 und 1872gegründeten Kolonien (zum Beispiel „Am Trakt") war dasOstniederdeutsche der Mennoniten auch an der Wolga vertreten.

Die Sprachbeschreibung der wolgadeutschen Dialekte, das heißtihre Sammlung, Klassifizierung und Kartierung, war dashistorische Werk von Georg Dinges, des großen wolgadeutschenDialektforschers und ersten Leiters der „Zentralstelle für dieErforschung der wolgadeutschen Mundarten" in Engels. DieZentralstelle war institutionell aus der Sektion fürMundartforschung der ethnographischen Abteilung des am 1.Oktober 1925 gegründeten Zentralmuseums der Wolgarepublikhervorgegangen.

Dinges, 1891 im Dorf Blumenfeld an der Wolga geboren, hatteseine Beschäftigung mit den wolgadeutschen Dialekten an derTschernyschewski-Universität Saratow begonnen, wo er zunächstLektor für deutsche Sprache, seit 1921 Dozent für germanische

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Philologie und ab 1923 Professor am Lehrstuhl fürwesteuropäische Sprachen und Literaturen war. In dieser Zeitkam er auch mit Viktor M. Schirmunski zusammen, dessenInteresse an den rußlanddeutschen Dialekten nicht zuletzt aufDinges zurückgeht. Dinges beschäftigte sich anfänglich mit demrussischen Einfluß in den deutschen Wolgadialekten. Das großeWerk der Spracherhebung wolgadeutscher Varietäten leisteteDinges - gemeinsam mit seinen Mitarbeitern und seiner FrauEmma - vor allem in den Jahren 1925 bis 1929, als er allewolgadeutschen Mutterkolonien zum Zwecke vonSpracherhebungen abwanderte. Während dieser Zeit unterhielt erauch regelmäßigen Kontakt zur berühmten Marburgerdialektologischen Schule in Deutschland, deren Methode der„Übersetzung" der sogenannten „Wenker-Sätze" er übernahm:„Testsätze", vom Begründer des Deutschen Sprachatlas, GeorgWenker, nach linguistischen Kriterien entworfen, wurden vonGewährsleuten in die örtliche Mundart übersetzt und die in ihnen„versteckten" sprachlichen Merkmale, die die Unterscheidungzwischen oberdeutschen, mitteldeutschen und niederdeutschenDialekten möglich machten, anschließend in Karten übertragen.Die durch das enge Zusammenleben in den rußlanddeutschenSprachinseln hervorgerufene neue Mischung dieser Merkmale, dieso in keinem binnendeutschen Dialekt auftrat, war für dieDialektologen in Rußland wie in Deutschland gleichermaßen vongrößtem Interesse, ließ sie doch Rückschlüsse zu auf dieMechanismen des Sprachausgleichs, wie er zum Beispiel auch dieHochsprachen und Verkehrsvarietäten in Europa erzeugt hatte.Dieser Erkenntnisgewinn war es, den Viktor Schirmunski im Augehatte, als er die rußlanddeutschen Sprachinseln als ein„großangelegtes sprachgeschichtliches Experiment" und als ein„sprachwissenschaftliches Laboratorium" bezeichnete, „in dem wiran der Hand geschichtlicher Zeugnisse in einer kurzen Zeitspannevon 100 bis 150 Jahren Entwicklungen verfolgen können, die sichim Mutterlande in mehreren Jahrhunderten abgespielt habenmüssen" (Schirmunski (1930), S. 113 f.) .

Wegen seiner Beschäftigung mit der deutschen Sprache undVolkskunde in der Sowjetunion sah sich Dinges in den spätenzwanziger Jahren zunehmend dem Vorwurf des „Nationalismus"ausgesetzt, der zu jener Zeit noch verhalten erhoben wurde. Mitdem heraufziehenden Ende der „Korenisierung", der Bewegungzur Verwurzelung und Stärkung der Nationalitäten und ihrer

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Sprachen im sowjetischen Vielvölkerstaat, wurden Dinges seinInteresse für die wolgadeutsche Sprache und Kultur und seineVerbindungen nach Deutschland zum Verhängnis. Noch vor demBeginn der großangelegten Verfolgungen gegenüber densogenannten „Nationalisten" wurde Dinges im Januar 1930verhaftet, nachdem es zu Auseinandersetzungen um dieEinladung reichsdeutscher Sprachwissenschaftler anläßlich derEröffnung der Pädagogischen Hochschule in Engels gekommenwar. Verhaftet wurde Dinges unter der Beschuldigung„konterrevolutionärer Aktivitäten", „nationalistischer Propaganda"und der Verbindungen zu einem „ausländischenSpionagezentrum". In den Verhören ging es immer wieder um dieKontakte nach Deutschland, um seinen angeblichen„Nationalismus", der etwa in Buchbestellungen aus Deutschland,in Seminaren zur Geschichte der Wolgadeutschen und in Kursenin deutscher Sprache zum Ausdruck gekommen sei, sowie um dieVerbindung zu Peter Sinner, der sich ebenfalls mit der deutschenSprache an der Wolga beschäftigt hatte und noch mehr als Dingeszur Zielscheibe des Nationalismus-Vorwurfs wurde. Obwohlschließlich die Spionagevorwürfe fallengelassen wurden, wurdeDinges dennoch am 1. Februar 1932 auf Beschluß der GPU zu dreiJahren Verbannung in Westsibirien verurteilt. Nach zwei JahrenUntersuchungshaft wurde er nach Kolpaschewo im Norden desTomsker Gebiets verbracht und arbeitete dort einige Zeit alsSanitäter im örtlichen Krankenhaus, wo er sich mit Typhusansteckte. Im Juli 1932 ist Georg Dinges gestorben. Einige seinerMaterialien wurden wegen Infektionsgefahr verbrannt, andere,darunter seine Erhebungsmaterialien zum WolgadeutschenSprachatlas, hatte er noch an seinen Nachfolger Andreas Dulsonübergeben können. Vieles blieb jedoch verschollen.

Ein Beispiel für die gemeinsamen Merkmale der meistenwolgadeutschen Dialekte gibt Andreas Dulson, der erste Leiter derSektion Volkskunde der ethnographischen Abteilung desZentralmuseums und Nachfolger von Georg Dinges in der„Zentralstelle" nach dessen Verhaftung: Alle westmitteldeutschenwolgadeutschen Mundarten teilen eine gemeinsame lautlicheErscheinung, bei der die stimmlosen Verschluß- und Reibelaute(unmittelbar nach der hauptbetonten Silbe) zu denentsprechenden stimmhaften werden, wenn ihnen ein Vokal oderSonorlaut (l, r, m, n) vorausgeht und ein Vokal folgt: Kabbe,lauder, schlouwe, fleisig oder derwe (für 'Kappen', 'lauter',

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'schlafen', 'fleißig', 'dürfen') (Vgl. Dulson (1933).

Diese Kennzeichen und eine Reihe weiterer „typischer"wolgadeutscher Merkmale - wie zum Beispiel w für hochdeutschesb (hiwe ‘hüben’), a für hochdeutsches au (aach ‘auch’) oder henfür ‘haben’ - finden sich auch in der folgenden authentischenSprachprobe eines wolgadeutschen Sprechers wieder, die ausdem Jahre 1990 stammt (Wolgadeutscher Sprecher aus Alexandrowka(Omsker Gebiet), geboren 1935. Aufnahme Rosenberg 1990.Transkription Rosenberg/A. Bock 1992. Die Sprachproben hier und imfolgenden sind authentische Aufnahmen. Zur Transkriptionsweise sieheEhlich, Rehbein (1976) :

Sprachprobe: Wolgadeutsche Varietät (Gebiet Omsk)

1 unsre eldernware viele wo dieruss’sche spracheiwrhaupt ga’ Unterunseren Eltern gabes viele, die dierussische Spracheüberhaupt gar

2 nicht kunnde. die sin hiwegebore un singroßgewachse unso nichtkonnten. Die sindhüben (hier)geboren und sindaufgewachsen,und so

3 sin se aachgstorwe dahier. diewußte weidr net . sind sie auch

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hier gestorben.Die konnten weiternichts.

4 wapsche dieruss’sche sprochkunnde se ga’ net. voobzce(russ.:überhaupt), dierussische Sprachekonnten sie garnicht.

5 dasche istoftemolsgepassiert . diekindr sind in diearmee Daze (russ.:sogar) ist esoftmals passiert,die Jungen sind indie Armee

6 gange un hensich mädjermitgebracht . hengeheirat . gegangensind und habensich Mädchenmitgebracht,haben geheiratet.

7 ‘s ware russe-mädjer . un nokame se her unkunde se Es warenRussenmädchen.Und dann kamendie Mädchen her

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und konnten

8 doch netdoitsch un diemoddr kunnt nichrusch . was wolltmr doch nichtDeutsch, und dieMutter konntenicht Russisch.Was wollte man

9 mache ‘swarn andremensche, ja . wol’net wol’ muß/ machen? Eswaren andereMenschen, ja?Volja nevolja(russ.: ob manwill

10 des mädjemuß doitsch lerne(...) ich hot oichgsaat von oder nicht)das Mädchen mußDeutsch lernen.Ich habe Euchgesagt, zu

11 anfang daßschwraiwe sich vielrusse . hier aach .awr Beginn, daßviele sich alsRusseneinschreiben(lassen), hierauch, aber (sie)

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12 spreje alldaitsch . sprechen nurDeutsch.

Die Gemeinsamkeiten der meisten wolgadeutschen Dialekteerklären, warum es oft möglich ist, einen Sprecher, der von derWolga kommt, unter anderen Rußlanddeutschen zu identifizieren.In ihren Gemeinsamkeiten zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zumhessisch-rheinfränkischen Dialektraum des Mutterlandes.

Eine solche „Heimatbestimmung" ist aber nicht unproblematisch:Die Ähnlichkeit mit binnendeutschen hessischen und pfälzischenDialekten gibt nicht immer die wirkliche Herkunft der Siedlerwieder, sondern stellt eben die Übereinstimmung der Dialekte, diesich an der Wolga im Laufe von hundert Jahren Dialektausgleichals dominant durchgesetzt haben, mit denen dar, die ihnen imgeschlossenen deutschen Sprachraum - nach ihrenHauptmerkmalen - entsprechen.

In den deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet war dieAusgangslage ähnlich heterogen wie an der Wolga. Hierdominierten von ihrer Anzahl her südwestdeutscheSiedlergruppen. In den Mischdialekten setzten sich vielerortsMerkmale des Südfränkischen durch, einer Übergangsvarietät, diein Deutschland im Gebiet zwischen dem Rheinfränkisch-Hessischen und dem Schwäbischen gesprochen wird.

Der Erforschung der rußlanddeutschen Dialekte imSchwarzmeergebiet hat sich vor allem Viktor Schirmunskigewidmet. Schirmunski, der herausragende sowjetischeDialektologe, der sich unter dem Einfluß von Georg Dinges mitden deutschen Inselmundarten zu beschäftigen begann, seit 1924in Leningrad einen Arbeitskreis zur Erforschung deutscherDialekte in den westlichen Gebieten der Sowjetunion leitete undzusammen mit seinem Schüler Alfred Ström, einemDeutschbalten, die deutschen Mundarten bei Petersburg, imSchwarzmeergebiet und im Kaukasus erforschte, hat wesentlicheTeile seiner sprachwissenschaftlichen Theorien anhand derrußlanddeutschen Dialekte gewonnen.

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Nach Schirmunski hatte es im Schwarzmeergebiet eine Tendenzzur Herausbildung einer „kolonistischen Gemeinsprache" gegeben,die auf Ähnlichkeiten der (süd- und rhein-) fränkischen Mundartenberuhte, zum Beispiel in der Verwendung von stimmlosem b, d, g für hochdeutsches b/p, d/t, g/k im Anlaut (zum Beispiel babbe für‘Papa’), in der „Entrundung" des hoch-deutschen ü zu i (hiwweund driwwe für ‘hüben und drüben’), des hochdeutschen ö zu e(kenne für ‘können’), des hochdeutschen oi zu ai (daitsch für„deutsch’) und einiger weiterer Merkmale (Schirmunski (1930), S.171). .

Merkmale des Südfränkischen, das eine Übergangsvarietätzwischen dem Schwäbischen und dem Pfälzischen darstellt undunter anderem in Dörfern bei Melitopol, bei Woronesch oder auchin Kolonien bei Petersburg/Leningrad gesprochen wurde, sindnach Schirmunski - neben den oben genannten - zum Beispielklaaid (‘Kleid’) und flaaisch (‘Fleisch’), kaafe (‘kaufen’) undglaawe (‘glauben’), owet oder obet (‘Abend’), liega (‘liegen’),bischt (‘bist’) (Derselbe (1928), S. 59f).

Die folgende Sprachprobe zeigt einige Merkmale einessüdfränkischen Dialekts, zum Beispiel gnumma (‘genommen’),diechl (‘Tüchlein’), aach (‘auch’) oder babbe (‘Papa’) ( Sprecherinaus dem Dorf Udal’noje (Altaj), geboren 1915 in der Ukraine. AufnahmeN. Berend 1986. Transkription Rosenberg/Vergin 1991. Wir danken FrauDr. Nina Berend herzlich für die Überlassung der Aufnahme.) : Sprachprobe: Südfränkische Varietät (Ukraine/Altaj)

1 mei maama hat michgschickt hat sie gsagt in ‘nwald (...) mei „Meine Mama hat michgeschickt", hat sie gesagt, „inden Wald (...). Mein

2 sohn hat sie gsagt des ‘sja net mei rechter sohn ichhab den ja

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Sohn", hat sie gesagt,„das ist ja nicht meinrichtiger Sohn. Ich habe denja

3 net gebore (...)des kindwar am gras drin g’lee sagtdie . nicht geboren (...). DasKind hat im Gras gelegen",sagt die,

4 frisch gebornes kind .zugedeckt mit . mitgrasblätter/mit gras . no „ein neu geborenesKind, zugedeckt mit Gras.Und da

5 hat mer a stimmzugrufe nemm des kind deskind wird immer hat mir eine Stimmezugerufen: ‘Nimm das Kind,das Kind wird immer

6 dei sei . no hab ich deskind gnumma hat sie gsagtghat ‘n mei deines sein!’ Da habe ichdas Kind genommen", hat siegesagt, „in meine

7 scherzele un mei diechlun hab des kind eigwickelt unbin zu Schürze und in meinTuch, und habe das Kindeingewickelt und bin nach

8 haus komme un dannhan sie gsagt/hen meielteren mich vum Hause gekommen. Unddann haben sie gesagt,

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haben meine Eltern michvom

9 hof gjagt trag des kind(...) vum hof . so die maamaun so aach de Hof gejagt: ‘Trage dasKind (...) vom Hof!’ So sagtedie Mama und auch der

10 babbe ich mußt vum hofi wsjo . no bin ich vum Papa. Ich mußte vomHof, i vsë (russisch etwa: undfertig), da bin ich vom

11 hof gange hat sie gsagtvon haus zu haus dort habich gebettelt Hof gegangen", hat siegesagt, „von Haus zu Haus.Dort habe ich gebettelt,

12 dort hab ich gschafft unso hab ich ihn großgezogn(...). dort habe ichgearbeitet, und so habe ichihn großgezogen (...).

Im Kaukasus und in anderen Gebieten (zum Beispiel bei Odessa)hat sich in den Dörfern der württembergischen Siedler regionalauch das Schwäbische relativ rein erhalten. Eine dieserschwäbischen Varietäten existiert auch heute noch als einer derwenigen weitgehend unvermischten Dialekte, zum Beispiel beiden älteren Sprechern in der Tochterkolonie Michailowka imGebiet Pawlodar im Nordosten von Kasachstan. Nach seinenHauptmerkmalen - zum Beispiel der Aussprache vonhochdeutschem Stroh als Strau oder von hochdeutschem Schneeals Schnai - läßt sich tatsächlich noch ein Rückbezug auf dieHerkunftsregion der meisten Siedler in Deutschlandrekonstruieren: die Umgebung von Blaubeuren in Schwaben.

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Einige dieser Merkmale zeigt die folgende Sprachprobe (Schwäbisch-Sprecherin aus Michailowka (Gebiet Pawlodar, Kasachstan),geboren 1921 in Rosenberg bei Tiflis (Kaukasus). Aufnahme N. Berend1986, Transkription Rosenberg/S. Weydt 1990. Wir danken Frau Dr. NinaBerend für die Überlassung der Aufnahme.):

Sprachprobe: Schwäbischer Dialekt I(Kaukasus/Kasachstan)

1 i hau miassaondrschraiba dass i uich haitnacht vrwacha muass . „Ich habe unterschreibenmüssen, daß ich euch heutenacht bewachen muß,

2 ond iä deant schnai uirsach zemarichta ond schaffet‘ich und ihr (tut) schnell eureSachen zusammenpackenund schafft euch

3 boitsaid morga fria ausmdorf dass dia uich et seangãu . etz hemir beizeiten morgen frühaus dem Dorf, daß die euchnicht sehen." Jetzt haben

4 dapferzema/zemagmacht des wasse no ghet ‘nd a kischd wir schnellzusammengepackt, das, wassie noch gehabt, und eineKiste

5 hen dia gehet . no agrosse kischd . en dui kischdhemma zwoi gloine haben die gehabt, na,

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eine große Kiste. In dieseKiste haben wir zwei kleine

6 kenda/ onda noidau amadrads ond dia zwoi kloinekenda . dort Kinder untenhineingetan, eine Matratzeund die zwei kleinen Kinderdort

7 noigsetzt (...) etz semmirgonga gonga gonga . etz ischdes abbor reingesetzt (...) Jetztsind wir gegangen,gegangen, gegangen. Jetztist es aber

8 schdockfinschd/faischdrworda . dr himml ieberlofaganz faischdr stockfinster geworden.Der Himmel überlaufen, ganzfinster

9 worda . etz hemmir drweag valora . mir mit derrakischd . dia geworden. Jetzt habenwir den Weg verloren, wir mitdieser Kiste, diesen

10 schlitta nous aus’n weagnouskomma . mir hend deschnai Schlitten, raus aus demWeg, herausgekommen. Wirhaben den Schnee

11 mitgschloift so wi abuldosa so semmir fort mitdenne kinda dort mitgeschleift, so wie einBulldozer, so sind wir fort mit

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den Kindern. Dort

12 uff derra schdepp . unddort isch doch so gwea . d’laithen ihr auf dieser Steppe, unddort ist es doch so gewesen:Die Leute haben ihre

13 fenschderlazuagschdoppt mit schdrau .do hot mer koin liacht gsea. Fensterlein zugestopftmit Stroh. Da hat man keinLicht gesehen.

Das Schwäbische - in der Ukraine wie auch in Transkaukasien -war in besonderem Maße Untersuchungsgegenstand derSprachstudien Schirmunskis. Am Schwäbischen (und auch amOberhessischen) entwickelte Schirmunski seine Theorie der„primären" und „sekundären" Dialektmerkmale, nach der imKontakt mehrerer Dialekte die am weitesten vom Hochdeutschenabweichenden Merkmale verdrängt würden: Bei den auffälligsten(primären) Merkmalen setze sich die dominante Varietät durchund verdränge die rezessive, während bei weniger auffälligen(sekundären) Merkmalen eine Mischung beider Dialektestattfände. Unter dem Einfluß der hochdeutschenStandardsprache oder der im Schwarzmeergebietvorherrschenden fränkischen Dialekte seien entferntereVarietäten, wie das Schwäbische und das Oberhessische,aufgrund ihrer Auffälligkeiten verdrängt worden und zu„neu-schwäbischen" und „neu-hessischen" Mundarten umgebildetworden (Schirmunski (1930), S. 118). Diese Erklärung betrifftallerdings nur die rein sprachliche Grundlage vonMischungsrichtungen und wird häufig modifiziert, zum Beispieldurch das Prestige eines Dialekts oder durch die Sprecheranzahl.

Das Schwäbische, das in Transkaukasien in den deutschenWeinbauerndörfern gesprochen wurde, die zurWinzergenossenschaft „Konkordia" gehörten, sei nachSchirmunski stark vom Hochdeutschen beeinflußt gewesen undhätte viele seiner „primären" Eigenschaften verloren (Derselbe(1928), S. 58f).Einige Merkmale dieser schwäbischen Varietäten -

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wie zum Beispiel die Nasalierung (wãi ‘Wein’), -scht fürhochdeutsches -st (koschtet ‘kostet’), die Endung -a (trinka‘trinken’), oi für hochdeutsches ai (veroinigung ‘Vereinigung’) -seien an der folgenden kurzen Sprachprobe dargestellt (Erzählungdes rußlanddeutschen Schriftstellers Ewald Katzenstein, Barnaul, geborenAnfang der zwanziger Jahre im Kaukasus. Aufnahme Rosenberg 1992.Transkription Rosenberg 1997) : Sprachprobe: Schwäbischer Dialekt II (Kaukasus/Altaj)

1 dia däitsche dia sendwãibaure gwea . dia hendihre wingert/ihre Die Deutschen, die sindWeinbauern gewesen. Diehatten ihre Weingärten

2 wãigärta/ihre wingert .dort also gbaut . also diesend dort also gebaut(angepflanzt), also die sind

3 arg räich gwea denn derwãi der koschtet geld und ellewellet e sehr reich gewesen, dennder Wein, der kostet Geld,und alle wollen ein

4 bissle wãi trinka (...)oder des hängt davõn ab wasfir e bißchen Wein trinken(...),oder das hängt davonab, was für einen

5 geschmack d’läit hendabr wãi wellet se elle und noisch do Geschmack die Leutehaben. Aber Wein wollen sie

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alle, und nun ist da

6 so e organisation gweakonkordia . hend ihr von deraghert . noi . so eine Organisationgewesen: „Konkordia". HabtIhr von der gehört? Nein?

7 ja, also dui konkordia desisch so e veroinigung drwãibaura gwea . Ja, also, die Konkordia,das ist so eine Vereinigungder Weinbauern gewesen

8 (...) ja . also dia hendihren wãi dort dere konkordiagen und dui (...) Ja, also, die habenihren Wein dort dieserKonkordia gegeben, und die

9 konkordia hat dera wãikupaschiert in flascheverpackt und hot se Konkordia hat diesenWein „kupaschiert", inFlaschen verpackt, und hatsie

10 in dr ganze Welt verkauft. au in Däitschland. in der ganzen Weltverkauft, auch inDeutschland.

„Reine" Dialekte aus dem binnendeutschen Sprachraum sindselten erhalten geblieben. Hugo Jedig, der seit 1960, als dieswieder möglich wurde, die dialektologische Arbeit von Dinges,Schirmunski und Dulson erst in Tomsk, dann in Omsk fortführte,nennt sechs solcher vergleichsweise „reiner" Dialekte, die bis inunsere Tage überdauerten: das Nordbairische (im Altaj-Gebiet),

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das Österreichisch-Bairische (in der Karpato-Ukraine), dasOberhessische (im Omsker Gebiet), das Schwäbische (inKasachstan und Tadschikistan), das Niederdeutsch derMennoniten (im Orenburger Gebiet; im Altaj, im Omsker undNowosibirsker Gebiet in Westsibirien; in Kasachstan, Kirgisien undTadschikistan,) sowie das Wolhyniendeutsche (in Westsibirien undKasachstan) (Jedig (1986), S. 77f.).

Die ostniederdeutsche Varietät der Mennoniten in der Chortitzerund Molotschnaer Kolonie im Schwarzmeergebiet, an der Wolga,später auch im Orenburger Gebiet und in Westsibirien (besondersin der Altaj-Region), gehörte zu den Varietäten, die sich in ihrenKerngebieten weitestgehend unvermischt bis heute erhaltenhaben. Allerdings kam es zu Mischungen zwischen den erwähntenbeiden Hauptvarietäten, der Chortitzer und Molotschnaer, wobeidie Molotschna-Varietät schon in der Ukraine alsprestigeträchtiger betrachtet wurde und sich auch in denTochterkolonien meist durchsetzte. Jedoch war diese Dominanznicht vollständig und folgte auch nicht völlig der Theorie derprimären und sekundären Dialektmerkmale Schirmunskis, wieHugo Jedig in seinen Untersuchungen zur niederdeutschenVarietät im Altaj nachweisen konnte: Von der eigentlich„rezessiven" Chortitzer Varietät blieben bei dialektaler Mischunggerade solche „auffälligen" Merkmale erhalten wie die Aussprachedes niederdeutschen k als tj (ätj für äk/ick, ‘ich’) und der Umlautfrüü für fruu (‘Frau’), hüüs für huus (‘Haus’) (Derselbe (1966)).

Die niederdeutsche Varietät der Mennoniten hatte sich aufgrundder konfessionellen, administrativen, wirtschaftlichen undschulischen Eigenständigkeit dieser Gruppe immer als besondersresistent gegen äußeren sprachlichen Einfluß gezeigt. DieMennoniten hatten in Westpreußen ihre ursprünglichgesprochenen niederländisch-friesischen Varietäten aufgegebenund die ost-niederdeutsche Varietät ihrer westpreußischenNachbarn als Alltagssprache angenommen. Allerdings wurde derGottesdienst auf Hochdeutsch abgehalten, und dieseSakralsprache wurde - für die eingeschränkten Zwecke desreligiösen Gebrauchs - auch über das eigene Schulwesen stets andie Kinder weitergegeben. Hochdeutschkenntnisse gehörten auchin Rußland immer zur Sprachkompetenz der Mennoniten, die dieanderen Sprecher deutscher Varietäten hierin meist weitübertrafen. Die Hochdeutschkompetenz führte nicht zur

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Verhochdeutschung des „Plautdietschen". Hochdeutsch undNiederdeutsch hatten viel-mehr jeweils ihren zugewiesenen Platzim Rahmen eines Sprachvariationssystems mit klarerFunktionszuweisung. Darüber hinaus unterstützte natürlich auchder sprachliche Abstand des Niederdeutschen von allen anderendeutschen Varietäten die Resistenz gegen sprachliche Mischung:Der Kontrast des von allen Altersgruppen gesprochenenNiederdeutschen der Mennoniten zu den anderen deutschenVarietäten stellte die einzige echte „Sprachbarriere" dar, die aucheine „Verständnisbarriere" bedeutete und sich allem dialektalenAusgleich stets widersetzte.

Eine „Plautdietsch"-Probe aus der heutigen Zeit zeigt einigeMerkmale dieser für viele schwer verständlichen Varietät derRußlandmennoniten - wie zum Beispiel ü für hochdeutsches u (nü‘nun’), a für hochdeutsches gesprochenes ä (latzte ‘ letzte’), tj fürhochdeutsches k (mejlichtjete ‘Möglichkeiten’) (Niederdeutsch-Sprecherin, Barnaul, geboren 1972 im Slavgorodskij Rajon (heute:deutscher Rayon Halbstadt). Aufnahme Rosenberg 1992. TranskriptionRosenberg/G. Klassen 1993):

Sprachprobe: Niederdeutsch der Rußlandmennoniten(Altaj)

1 mine ellere sin nichjleebich en nü en de . schon‘n . latzte johre Meine Eltern sind nichtgläubig, und nun schon inden letzten Jahren

2 wurdet beter (det) mitperestrojka verbunge un . de.. habe nu wurde es besser, (das),mit der Perestrojkaverbunden, und die habennun

3 meuer okmejlichtjeit/mejlichtjete aso .

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sind se/ im darp demensche auch mehr Möglichkeiten,also sind im Dorf dieMenschen

4 zwisch/twischen sichdichter jeworde de jläibje mitde nichjläibje einandernähergekommen, dieGläubigen und dieNichtgläubigen.

Der Dialektausgleichsprozeß in den ersten hundert Jahren derSiedlungsgeschichte hatte zu Mischdialekten geführt, die dieVerständigung in den Dörfern ermöglichten. Ein einheitliches„Rußlanddeutsch" hatte sich nicht herausgebildet.

Auch regionale Umgangssprachen (im Sinne etwa eineseinheitlichen „Wolgadeutschs") waren nur in Ansätzenentstanden: Solche Ansätze sind in neuen räumlichenStrukturierungen zu sehen, die an der Wolga dazu führten, daßman ein nördliches von einem südlichen Gebiet unterscheidenkonnte: Georg Dinges verweist auf der Grundlage seinerErhebungen auf eine Zweiteilung des wolgadeutschenwortgeographischen Kartenbildes, das eine nördliche Gruppeoberhalb von Pokrowsk und eine südliche Gruppe am Fluß Tarlykund auf der Bergseite zeige: In der nördlichen Gruppe würde zumBeispiel für 'Gurke' gurk (oder gurke, gork, gorke, gark)verwendet, unabhängig davon, welche Bezeichnung in diesenDörfern ursprünglich vorhanden war. In der südlichen Gruppe sinddie ursprünglich vorhandenen Bezeichnungen gummer (odergommer, gagummer), die im Norden verdrängt wurden, nochvorhanden. Die Erklärung dieser Zweiteilung sah Dinges imstädtischen Einfluß des „eine ostmitteldeutsche Mundart redendenMarxstadt" (ehemals Katharinenstadt) und in der Verkehrseinheitder nördlichen Gruppe, die durch die „kleinrussischen" Siedlungenbei Pokrowsk von den anderen wolgadeutschen Kolonienabgetrennt sei ( Dinges (1927)).

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Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die überörtlichenNeustrukturierungen der wolgadeutschen Sprachlandschaft sichwesentlich auf den Wortschatz beziehen, der- insbesondere soweit es sich um Wörter handelt, die sich überden Marktverkehrverbreiteten - am sensibelsten und dynamischsten aufVeränderungen in den Kommunikationsverhältnissen reagiert undAusgleichsvorgänge am schnellsten widerspiegelt.

Die sprachliche Ausstrahlung der Städte in den ländlichen Raumtrug, wie von Dinges dargestellt, zur Verbreitung kleinregionalerVerkehrsvarietäten, aber in späterer Zeit auch standardnaherVarietäten und des Russischen bei. Die Ausstrahlung städtischerUmgangssprachen findet allerdings für die rußlanddeutschenSiedlungsgebieten ihre deutliche Grenze in der geringen Anzahl„zentraler Orte". An der Wolga beispielsweise hat es 1912 sechs„Städte" mit 10.000 oder mehr Einwohnern gegeben: Balzer,Katharinenstadt, Frank, Norka, Grimm, Huck (hinzu kamenSeelmann und Jagodnaja Poljana mit 8000-9000 Einwohnern).Die Einwohnerzahl sagt jedoch noch wenig über einen„städtischen" Charakter dieser Orte aus. Die Dörfer an der Wolgawaren (durch das früh übernommene russische agrarischeUmteilungssystem mit geringerem Zwang zur Bildung vonTochterkolonien) sehr viel größer als in der Ukraine oderanderenorts.

Zentralörtliche Funktionen hatten nur wenige der größerenOrtschaften, an der Wolga etwa Balzer und Katharinenstadt.Engels (ehemals Pokrowsk), die Hauptstadt der Wolgarepublik,hatte diesbezüglich geringere Bedeutung. Die Stadt war nur zueinem kleineren Teil von Deutschen bewohnt und wurde imVolksmund als „Kosakenstadt" bezeichnet.

Die Verstädterung, also der Anteil von Stadtbewohnern an derGesamtbevölkerung, unter den rußlanddeutschen Kolonisten wargenerell gering: Sie betrug nach den Daten der Volkszählung von1897 im Wolgagebiet 3,63 Prozent (bei einer Bevölkerung von390.864 Deutschen), im Schwarzmeergebiet 6,23 Prozent (bei377.798 Deutschen), in Wolhynien 1,17 Prozent (bei 171.331Deutschen). Es handelte sich also um eine weitgehend dörflicheBevölkerung. Die Sozialstruktur weist auf überwiegend agrarischeBerufe hin: Der Anteil der Bauern an der Gesamtbevölkerung

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betrug im Wolgagebiet 98,42 Prozent, im Schwarzmeergebiet86,93 Prozent, im Kaukasus 81,49 Prozent (in Wolhynien jedochnur 64,02 Prozent).

Während städtische Umgangssprachen angesichts der ländlichenStruktur der rußlanddeutschen Siedlungsgebiete nur von geringerBedeutung waren, ergab sich eine gewisse Vereinheitlichung inden dialektalen Strukturen häufig jedoch aus der konfessionellenGliederung: „Es ist in ziemlich zahlreichen Fällen ein Unterschiedzwischen dem Wortschatze der katholischen und derprotestantischen Dörfer zu bemerken" (Ebenda). Ein solcherUnterschied zwischen dem „Katholischen" und dem „Lutherischen"zeigte sich an der Wolga zum Beispiel in der Bezeichnung„plaudern" in den katholischen (hessisch oder pfälzischsprechenden) Ortschaften der Bergseite gegenüber „schwätzen"in den meisten protestantischen Dörfern. Gründe für die Bildungdieser neuen Gemeinsamkeiten lagen in einem engerenwirtschaftlichen Verkehr und vor allem der Heirat innerhalb dereigenen Konfession, auf die auch Schirmunski für dasSchwarzmeergebiet hinweist. Noch heute finden wir dieBezeichnungen, jemand spreche „Katholisch" oder „Lutherisch".

Wie stand es nun - angesichts der Dialektvielfalt - um dieVerbreitung der hochdeutschen Standardsprache bei denRußlanddeutschen? Der wichtigste unterstützende Faktor desHoch-deutschen war die Schule. Zwar sprachen auch die Lehreroft ein dialektal gefärbtes Deutsch, doch stand dieses demHochdeutschen näher als die lokalen Ortsdialekte, die sonst imDorf üblich waren. Gemessen an der russischen bzw. ukrainischenUmgebung war die Elementarschulbildung der Deutschen zu jenerZeit weit überdurchschnittlich.

Das Schulsystem der Deutschen war in der Frühzeit demrussischen deutlich überlegen. Einschränkungen müssen jedochhinsichtlich höherer Schulabschlüsse (oberhalb derElementarschulbildung) gemacht werden, wo Deutsche undRussen ähnlich niedrige Werte zeigten. Dies gilt für das gesamte19. Jahrhundert. Die Alphabetisierung war besonders unter denLutheranern hoch, unter den Katholiken niedriger. Die Mennonitenhatten traditionell eine überdurchschnittliche Schulbildung. DieBildungsspezifik der Wolgadeutschen innerhalb der gesamtendeutschen Bevölkerung Rußlands läßt sich nach den Ergebnissen

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der Volkszählung von 1897 folgendermaßen kennzeichnen: Eshandelte sich um eine agrarische Bevölkerung mit hoherAlphabetisierung, aber vergleichsweise wenigen Absolventen einerhöheren Schulbildung und den niedrigsten Russischkenntnissenunter allen Deutschen des Russischen Reiches.

Auch die Kirche hat bei der Verbreitung des Hochdeutschen eineRolle gespielt: Die protestantischen Pfarrer - so wird gelegentlichin zeitgenössischen Quellen berichtet - hätten sich scharf gegendie Dialekte ausgesprochen. Die Geistlichen kamen in denmeisten Fällen nicht aus den Dörfern selber, sondern sie wurdenin vielen Fällen in Deutschland, in der Schweiz und seit 1802,dem Gründungsjahr, an der Universität zu Dorpat ausgebildet (Vgl. unter anderem Warkentin (1992), S. 33). Da bis zum ErstenWeltkrieg keine Trennung zwischen Kirche und Schule existierteund die Kirche auch die schulischen Funktionen übernahm, warhier ein Einfluß auf die Gesamtbevölkerung in bezug auf dasHochdeutsche festzustellen.

Eine gewisse Verbreitung des Hochdeutschen unter den Schülernwar also gegeben. Zumindest hat sich der hochdeutsche Einfluß ineiner „Diglossie" ausgewirkt, also einem Prestigegefälle zwischenHochdeutsch und Dialekten mit getrenntenVerwendungsbereichen, die offenbar auch eine Geringschätzungder Ortsdialekte bei den höheren Sozialschichten beinhaltete.Dinges verweist darauf, daß „alle gebildeten Leute im Dorfe undauch in der Stadt glauben, daß unsere Bauernsprache eineverdorbene Sprache sei" (Dinges (1923), S. 60f.).

Im Großen und Ganzen jedoch war bei allem sprachlichenAusgleich in den einzelnen Orten und allem Hochdeutscheinflußdie immer noch gegebene dialektale Vielfalt das herausragendeKennzeichen der rußlanddeutschen Siedlungen, die es nicht zurHerausbildung regionaler oder gar überregionalerVerkehrssprachen kommen ließ. Dazu war die Zeit zu kurz sowiedie Abgeschlossenheit der Kolonien und die immer noch gegebeneVerschiedenheit der Dialekte zu groß: Die Deutschen in Rußlandhaben Kolonien gebildet, jedoch nie eine einheitlicheSprachgemeinschaft.

Sprachkontakte zur russischen Bevölkerung

Der Kontakt zur russischen Umgebung war in der Frühzeit äußerst

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spärlich und beschränkte sich auf Handelskontakte undbestimmte Dienstleistungen. Zum Beispiel besaßen die Deutschennicht zufällig eine Reihe von russischen Lehnwörtern fürGegenstände der Holzbearbeitung. In den ersten Jahren derBesiedlung an der Wolga wurden Holzarbeiten und das Pflügender Brache von russischen Zimmerleuten und Saisonarbeiterngeleistet. Später wurden russische Lehrjungen bei deutschenBauern aufgenommen, insbesondere im Schwarzmeergebiet,seltener an der Wolga.

Interessanterweise bekamen die meisten der deutschen Dörfer ander Wolga nach ihrer Gründung russische Namen: 84 Dörfererhielten russische und nur 18 Dörfer deutsche oder französischeNamen (Vgl. Berend, Jedig (1991) S. 47). Erst später wurden siedeutsch benannt. Die russischen Ortsnamen waren zumeistLandschaftsnamen oder Ableitungen aus Personennamen vonrussischen Großgrundbesitzern.

Georg Dinges hatte bereits 1917 über den frühen russischenEinfluß in den Mundarten der deutschen Kolonisten derGouvernements Samara und Saratow gearbeitet. Er stellteanhand schriftlicher Zeugnisse etwa 800 Entlehnungen aus demRussischen zusammen, ohne sich allerdings über die Häufigkeit zuäußern, mit der diese Lexeme in der Sprache derRußlanddeutschen auftraten. Die Lehnwörter, vor allem aus dem18. und 19. Jahrhundert, betreffen die Bereiche des Handels undGewerbes, des neuen Lebens der Wolgadeutschen in derrussischen Umwelt und des offiziellen Staatslebens. Die Gründeder Entlehnungen sind vielfältig: Entlehnungen sind teils rationalmotiviert, indem neue Begriffe für neue Dinge gefunden werdenmußten, teils emotional-stilistisch motiviert, indem ausPrestigegründen fremdes Wortgut verwandt wurde. Interessant istin diesem Zusammenhang, daß bereits früh eine Russifizierungder Eigennamen stattgefunden hat; es wurden insbesondere dieans Russische angepaßten Vatersnamen („Georg Genrichowitsch")verwandt, aber auch deutsche Vornamen russifiziert („Grigorij").Bereits früh wird auch darauf verwiesen, daß die Wolgadeutschenrussische Schimpfwörter verwandt hätten, ein Phänomen, das bisheute fortbesteht. Bereits früh soll „ein Anstrich von russischerMentalität in der gesamten Lebensweise der Wolgadeutschen"vorhanden gewesen sein; der Einfluß der russischen Kultur warjedoch dank der kompakten Ansiedlung der Deutschen viel zu

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gering, um das Deutsche zu verdrängen (Vgl. ebenda, S. 48).

Während die Deutschen, die sich in den Städten ansiedelten, inregelmäßigen Sprachkontakt zur russischen Bevölkerung traten,blieben diese Kontakte auf dem Lande in der Frühzeit marginal.Eine gewisse Ausnahme stellten hier die örtlichen „Eliten" dar, dieregelmäßige administrative Kontakte zu russischsprachigenBehörden unterhielten, an der Wolga zum Beispiel zum„Deutschen Kontor", dem Saratower Büro der PetersburgerVormundschaftskanzlei, die in verstärktem Maße in die Kolonien„hineinzuregieren" versuchte. Der Kontakt mit dem Kontor selbstließ sich jedoch zum Teil in deutscher Sprache abwickeln, daneben Russen auch Deutsche zum Kontor gehörten, das 1782aufgelöst, 1797 wiedereröffnet wurde und bis 1876 existierte.Diese notwendigen Verwaltungskontakte betrafen aberkeineswegs die Mehrheit der Dorfbevölkerung.

Selbst unter den Dorfschulzen gab es in der frühen Periode derBesiedlung und offenbar auch noch längere Zeit danach nur sehrwenige Deutsche, die des Russischen mächtig oder überhaupt nuram Russischen interessiert gewesen wären. Der Zarenberater KarlHablitz machte im Jahre 1802 nach einer Inspektionsreise an dieWolga den Vorschlag, in jedem Dorf Waisenkinder alsRussischdolmetscher für den Dorfschulzen oder Bürgermeisterauszubilden, ein Vorschlag, der sich jedoch nicht durchsetzte, weilin fast keinem Dorf hieran Interesse bestand (Vgl. Bourret (1986),S. 166ff.).

Erst das Dekret vom 4. Juni 1871, mit dem die Sonderrechte derdeutschen Kolonisten aufgehoben wurden, leitete eine Periode derschrittweisen Russifizierung der öffentlichen Sprachdomänen ein:

Wenn auch nicht alle administrativen Maßnahmen, die mit den„Großen Reformen" Alexanders II. verbunden waren, in vollemUmfange durchgeführt worden sind, so ist dennoch von nun anfür bestimmte gesellschaftliche Bereiche bis zu einem gewissenGrade von einer Integration der Deutschen in die russischeVerwaltung zu sprechen. Dies gilt für das Militär, für dieAdministration und für Teile des Schulwesens. Alle drei Bereichebrachten eine gewisse Zunahme des Sprachkontakts zurrussischen Umgebung mit sich:

Die Einführung der Wehrpflicht für die Kolonisten bewirkte, daß

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unter den nun zahlreicher eindringenden russischen Lehnwörterneine beträchtliche Zahl aus dem Militärwesen stammte. DieTeilnahme von etwa 100.000 Kolonisten-Soldaten am ErstenWeltkrieg und insbesondere die Umwälzungen der Revolutionführten zu einer raschen Zunahme von russischen Formen in derSprache der Deutschen: Von 1500 Entlehnungen aus demRussischen, die F. Schiller 1929 für das Wolgagebietzusammenstellte, waren zwischen 1764 und 1914 nur 800 Wörteraufgenommen worden, in der kurzen Zeitspanne von 1914 bis1919 jedoch 700. Die Hälfte der 1.500 Entlehnungen ist allerdingsspäter wieder außer Gebrauch gekommen, da die bezeichnetenGegenstände unüblich wurden. Russische Wörter wurden jedochnach wie vor in deutscher Aussprache verwandt. In der Redeeines Dorfvorstehers aus dem Jahr 1916 hieß es zum Beispiel:„Ihr Laid! Haid is’n Brigas kum fum Voinskrnaèalnik" („Ihr Leute!Heute ist ein Befehl gekommen vom Militärchef") (Schiller (1929),S. 71f. ).

Die Unterstellung der deutschen Kolonien unter die russischeVerwaltung nach 1871 zog einen stärkeren Übergang derVerwaltungssprache zum Russischen nach sich. In derVerwendung des Russischen läßt sich von nun an einezunehmende „funktionale Diglossie" feststellen, eineFunktionsaufteilung zwischen dem Deutschen und demRussischen mit klar getrennten Verwendungsbereichen: Währenddie dörfliche Alltagssprache das Deutsche (in seinen Dialekten)war, gingen die Verwaltungsinstitutionen, das heißt einbestimmter Öffentlichkeitsbereich, nach und nach zum Russischenüber. Seit 1878 sind die Dorfurkunden in russischer Spracheverfaßt. Russisch wird die Sprache vor Gericht (Vgl. Manykin(1992), S. 17.). Die Postsprache war ohnehin das Russische.

Seit 1881 waren auch die rußlanddeutschen Schulen formal demrussischen Ministerium für Volksbildung unterstellt. In der Folgewurden die Gemeinden unter anderem verpflichtet, Russischlehreranzustellen. 1891 wurde auch den deutschen Schulmeisternaufgegeben, binnen zwei Jahren das russischeVolksschullehrerexamen abzulegen und fortan auf Russisch zuunterrichten. Als Unterrichtssprache sollte nur noch das Russischedienen (Vgl. Manykin (1992), S. 19, und Warkentin (1992), S. 37.) . Inder Realität ließ sich jedoch eine Russifizierung der Schulen nichtdurchsetzen. Vor allem die dörflichen Gemeindeschulen blieben

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weitgehend beim Deutschen.

Der aufkommende Nationalismus löste jedoch zunehmendeöffentliche Auseinandersetzungen aus, die sich häufig auf denSprachunterricht in der Schule richteten: Von russischer Seitewurde den Deutschen ein „Pangermanismus" besonders imSchulwesen nachgesagt. In der „Deutschen Volkszeitung"erschienen umgekehrt in den Jahren 1909 bis 1913 zahlreicheArtikel gegen eine „Russifizierung der deutschen Kolonisten undihrer Sprache"(Vgl. Manykin (1992), S. 7). Auch hier spielte dieSchule eine besondere Rolle in der Argumentation.

Auseinandersetzungen dieser Art kulminierten in der Zeit kurz vordem und während des Ersten Weltkrieges. 1915 erließ derSamaraer Gouverneur eine Verordnung, die die Verwendung derdeutschen Sprache in der Öffentlichkeit untersagte und mit einerStrafe von 3000 Rubeln oder drei Monaten Gefängnis belegte(Nach einem Artikel des Volkskommissars für Aufklärung A. Weber in denNACHRICHTEN von 1934; vgl. Manykin (1992), S. 18). Nach dergleichen Quelle soll es bereits in den Jahren 1905 bis 1907 zuVerbrennungen russischer Bücher und zur Vertreibung vonRussischlehrern in deutschen Dörfern an der Wolga gekommensein.

Dennoch kann für jene Zeit noch keinesfalls von einersprachlichen Russifizierung größeren Ausmaßes unter denRußlanddeutschen gesprochen werden. Die sprachlicheRussifizierung war in erster Linie eine Frage der sozialenSchichtzugehörigkeit. Dinges verwies auf die Gebildeten im Dorfe,die „immer Russisch" verwendeten, und erwähnte explizit den„Russenlehrer", der sich über die Unfähigkeit seiner Schüler,Russisch zu sprechen, „ausgelacht" habe (Dinges (1923), S. 60).

Der Schriftsteller und Sprachforscher Peter Sinner sah für dieWolga in der Hinwendung der höheren Schichten zum Russi-schenden Beginn eines allgemeinen Sprachwechsels, der später auchdie Allgemeinheit im Dorf erfas-sen würde: „Seine Mutter-sprachespricht ja das Volk auf dem Lande noch durchweg, aber nichtetwa des-halb, weil es diese bewußt für wert und teuer hält,sondern weil es die Lan-dessprache nicht be-herrscht. Es hebtaber schon mancher an, mit Neid oder Ehrfurcht zu denjenigenVolksgenossen emporzuschauen, die diese Sprache sprechen. Unddiese, die sogenannte Dorfintelligenz, Lehrer, Beamte und

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dergleichen, die in russischen Schulen etwas Bildung genossenhaben, beherrschen die deutsche Kultursprache überhaupt nicht,ihre eigene Mundart verachten sie aber" (Peter Sinner „Einuntergehendes Volkstum? Eine Aussprache", in WolgadeutscheMonatshefte 6 (1. Dezember 1922), Berlin; nach Warkentin (1992), S.45f.). Es waren die örtlichen „Eliten", die zuerst zum stärkerenGebrauch des Russischen übergingen. Bei der Masse derdeutschen Dorfbevölkerung wurden einzelne „eingedeutschte"Russizismen in ansonsten deutscher Rede verwandt (strastje,russisch zdraste ‘grüß dich’, ‘guten Tag’; baschalesta, russischpozhalujsta ‘danke’), bei den höheren Schichten trat jedoch alsweitergehende Erscheinung ein sogenanntes „Code Switching"auf: Es wurde in einer Äußerung abwechselnd Deutsch undRussisch - in deutscher „Färbung" - gesprochen. Ein Grund dafürwar ein hohes Sozialprestige des Russischen bei den höherenSozialschichten.

Wie scharf offenbar die Trennung zwischen der Verwendung desRussischen in der Verwaltungssphäre und dem Dialektgebrauchabseits „öffentlicher Angelegenheiten" war, kommt noch in ErnstReuters Eröffnungsansprache beim ersten Rätekongreß derdeutschen Kolonien des Wolgagebietes am 30. Juni 1918 inSaratow zum Ausdruck: „Die Arbeiter- und Bauernregierung kannes sich nicht leisten, vor Ort weiterhin in unzumutbarem Zustandzu verbleiben, da ihre Anweisungen und Verordnungen, dieDiskussionen und der Schriftverkehr in einer Sprache geführtwerden, die dem Volke unverständlich ist. Ein Großteil derwerktätigen Bevölkerung in den deutschen Kolonien beherrschtnur die deutsche Sprache, und das Ausbleiben einer örtlichenVerwaltung mit deutscher Amtssprache hat dazu geführt, daß dieBevölkerung darin eine Art geheimnisvolle Kunst sehen mußte,der nur wenige Auserkorene - Schreiber, Beamte, Menschen mithöherem Bildungsgrad usw. - mächtig sind ( Nach Hermann (1992),S. 167).

Die ausgeprägte Diglossiesituation mit fester Verteilung derSprachdomänen des Deutschen und Russischen hatte immerhindazu geführt, daß das Russische seine - auch später kaum mehranfechtbaren - Verwendungsbereiche einnahm. Die Sprache desalltäglichen Gebrauchs war jedoch ohne Zweifel die jeweiligedialektale Varietät des Deutschen.

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In den Jahren nach der Oktoberrevolution nahm das Deutscheüberall einen Aufschwung. Die sowjetische Nationalitätenpolitikverfolgte in den frühen Jahren - dem internationalistischen Zielder „Weltrevolution" verpflichtet - noch die Strategie, vor allerWelt zu demonstrieren, daß der Sozialismus auch zur „Befreiungder Nationen von Kolonialismus und Imperialismus" führe.Hiervon profitierten anfangs vor allem die sogenannten „wenigerentwickelten" Nationen und Völkerschaften, die eine beispielloseKampagne der Alphabetisierung, der Verschriftung und des„Ausbaus" ihrer Sprachen erlebten, sowie dieMinderheitengruppen, die - wie die Rußlanddeutschen - als„allochthone" Einwanderergruppen außerhalb ihres Mutterlandessiedelten oder als Grenzminderheiten von ihrer ethnischenHauptgruppe im Nachbarstaat getrennt lebten.

Die deutsche Sprache und die deutsche Kultur erlebten in denzwanziger Jahren eine unerwartete, vorübergehende Blütezeit:Der Aufbau eines vollständigen deutschsprachigenBildungswesens, die Gründung von Verlagen und Theatern, dieFülle deutschsprachiger Publikationen stabilisierten die deutscheSprache und das deutsche Kulturleben in beachtlicher Weise.

Der Aufbau eines einheitlichen staatlichen Bildungswesensförderte naturgemäß die Verbreitung der hochdeutschen„Literatursprache". Die Alltagssprache in den deutschenSiedlungen verkörperten jedoch immer noch in erster Linie diedeutschen Dialekte. Über den Dialekten erhob sich ein Spektrumvon mehr oder weniger kleinräumigen Verkehrsvarietäten undeiner hochdeutschnahen Schriftsprache, die in den Städten undzentralen Orten der deutschen Siedlungsgebiete verwendetwurden, vor allem von höheren Sozialschichten (besonders imSchwarzmeergebiet) sowie im politischen und administrativenApparat (besonders an der Wolga).

Wichtig für den Spracherhalt des Deutschen waren jedoch nichtnur die institutionellen Rechte wie etwa die Entscheidung über dieSchulsprache, sondern vor allem der Prestigegewinn, der mitdiesen Autonomierechten verbunden war. Die Russifizierung derrußlanddeutschen Alltagssprache wurde auf diese Weise -vorübergehend - noch einmal verzögert. Der Einzug desRussischen in die öffentlichen Verwaltungssphären setzte sichhingegen fort und wurde nur dort aufgehalten, wo - wie

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insbesondere in der Wolgarepublik, in geringerem Maße aber auchin den zwölf autonomen Rayons und den 550 deutschenDorfsowjets (außerhalb der Wolgarepublik) - Autonomierechte aufniederer Hierarchiestufe existierten (Vgl. Eisfeld (1991), S. 14).

Langfristig war jedoch den Bemühungen um eine Bewahrung derdeutschen Sprache kein Erfolg beschieden. Zwar war und blieb dieSowjetunion auch in den Verfassungen von 1924 und 1936 einVielvölkerstaat, und dies sicherte den nichtrussischen Ethnieneinen größeren nationalitäten- und sprachenpolitischen„Überlebensraum" als in anderen multiethnischen Staaten (wieetwa den USA). Jedoch arbeiteten alle politischen undgesellschaftlichen Prozesse der Modernisierung, der Migration(einschließlich des „Exports" russischer Spezialisten in diesibirischen und mittelasiatischen Entwicklungsgebiete), desAufbaus eines einheitlichen Staatsapparats und der „Unifizierung"der sowjetischen Gesellschaft auf eine umfassende Russifizierunghin. Dem Druck durch die Quasi-Staatssprache Russisch konntensich auch die Rußlanddeutschen nicht entziehen. Mit der„Sowjetisierung" der Gesellschaft wuchs der Einfluß desRussischen in einer diskontinuierlichen Entwicklung, die in derzweiten Hälfte der dreißiger Jahre ihren Wendepunkt erreichte.

Der seit 1933 öffentlich ausgetragene Kampf gegen den„Nationalismus" in der Sprachenfrage, der die „Korenisierung" zur„Verdeutschung" der Verwaltungssprache ablöste, deutet dasEnde der vorübergehenden Blüte des Deutschen an. Seit derersten Konferenz zur „Sprachpolitik der WolgadeutschenRepublik", begonnen am 24. Februar 1933, nehmen dieBemühungen um eine Russifizierung über dieAdministrationssprache hinaus drastisch zu: In zunehmendschärferem Ton wird die geringe Verbreitung vonRussischkenntnissen unter der Dorfbevölkerung gerügt. ZumBeispiel träten viele Kinder in die höhere Mittelschule ein, „ohneauch nur elementarste Kenntnisse in der russischen Sprache imLesen, Schreiben und in der mündlichen Rede zu haben. ... Sieverstehen nicht die einfachste Rede des Lehrers. Manche vonihnen besitzen einen aktiven Wortschatz von kaum 40 - 50Wörtern." Im Seelmanner „Pädtechnikum", der PädagogischenFachoberschule, gebe es zum Beispiel nur zehn russischeLehrbücher für 238 Studenten (NACHRICHTEN vom 15.11.1934; vgl.Manykin (1992), S. 36). Es nimmt nicht wunder, daß sich die

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Bemühungen um eine Aufwertung des Russischen zuvorderstgegen die Dialekte und ihre Wertschätzung richteten.

Als unmittelbarer Gegner in dieser Auseinandersetzung wurdendie wolgadeutschen Dialektforscher gebrandmarkt: „Die örtlichenNationalisten nehmen Einstellung ausschließlich auf dieMundarten, propagieren und idealisieren sie. ... Dinges, einer dernationaldemokratischen Sprachforscher, hat ganz offen dieindogermanische (faschistische) Sprachtheorie propagiert" (Weberin NACHRICHTEN 21.5.1934; vgl. Manykin (1992), S. 34).Dinges, Sinner und andere wurden in der Öffentlichkeit als„Konterrevolutionäre" diffamiert, da sie angeblich „systematisch,offen und geheim gegen die Erlernung der russischen Spracheauftraten, dieselbe als Unterrichtsfach ignorierten und dieAneignung derselben durch die Schüler bewußt hemmten" (Weberin NACHRICHTEN 16.11.1934; vgl. Manykin (1992), S. 36). Dies warendie Totschlag-Wörter, denen sich Dinges und Sinner während ihrerVerhöre gegenübersahen. Georg Dinges war zum Zeitpunkt dieseröffentlichen Diffamierungen bereits mehr als zwei Jahre tot. Überden Verbleib und das Todesdatum von Peter Sinner ist nichtsbekannt. Er war mit Dinges am 1. Februar 1932 zu drei Jahren„Konzlager" verurteilt worden. Andreas Dulson ist 1941 deportiertworden; er arbeitete danach lange Jahre als herausragenderSprachwissenschaftler auf anderem Gebiet weiter und erforschtedie kleinen Sprachen Sibiriens, insbesondere das Ketische, eineSprache sibirischer Ureinwohner am Jenissej von (zu dieser Zeit)noch 700 Sprechern. Er starb 1973 in Tomsk. Auch ViktorSchirmunski ist dreimal verhaftet worden. Eine Rolle spielte dabeiauch seine Beschäftigung mit den deutschen Mundarten und dieLeitung der Leningrader Arbeitsstelle, die 1931 aufgelöst wurde.Schirmunski mußte die Forschung 1933 abbrechen, was ihm aufseinem ersten literaturwissenschaftlichen Forschungsgebiet, demrussischen Formalismus, bereits widerfahren war. Erst 1956konnte er sein großes Werk über die „Deutsche Mundartenkunde"veröffentlichen, freilich ohne ein Kapitel zu den rußlanddeutschenDialekten, anhand derer er viele seiner Erkenntnisse gewonnenhatte.

Die Forschungsgeschichte der rußlanddeutschen Dialektologie istauf tragische Weise verbunden mit dem Schicksal derRußlanddeutschen selbst. Von der Diffamierung derSprachforscher, die sich mit den rußlanddeutschen Dialekten

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beschäftigten, war es nicht weit bis zur Verhaftung dieser„Nationalisten" und schließlich zur Deportation der gesamtendeutschen Bevölkerung, deren Sprache zur „Sprache derFaschisten" erklärt wurde (Vgl. Buchsweiler (1987)).

Die Sprachentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg

Die Deportationen lösten die wichtigste Existenzgrundlage derdeutschen Sprache in der Sowjetunion auf: die geschlossenedeutsche Siedlung. Insofern waren die Deportationen dieentscheidende Zäsur auch in der Sprachentwicklung derRußlanddeutschen. Hiermit verbunden war die Stigmatisierungdes Deutschen unter dem „Faschismus"-Vorwurf, der ein Übrigestat - auch in den nicht von Deportationen betroffenen Siedlungenin Sibirien und Mittelasien. Auch wenn - selbst in den Lagern -noch Deutsch gesprochen wurde, der Sprachstatus des Deutschenwar nun insgesamt von einer extremen Diglossiesituationgeprägt: Das Deutsche galt als „Sprache der Faschisten", die ineiner nicht-deutschen Öffentlichkeit krass stigmatisiert war.

Eine Scheidung zwischen „öffentlichen" und „nicht-öffentlichen"Sprachdomänen spielt auf dem Dorfe in der Regel keine sobedeutende Rolle wie in der Stadt. Dies traf auch auf die obenerwähnte Situation in den Siedlungen der rußlanddeutschenBevölkerung zu: Im heimischen Dialekt konnte man mit (fast)jedermann sprechen. Die Deportationen veränderten diese Lagejedoch grundlegend: Die Deportationen und dieWeiterwanderungen (nach der Aufhebung der Sondersiedlung1956) machten die „Mischsiedlung" zur Regel, in der Deutsche miteiner anderssprachigen Bevölkerung zusammenlebten. Damit warauch im Dorfe die Notwendigkeit der Verwendung der russischenSprache entstanden. Hierdurch und durch die wirtschaftliche undadministrative Zentralisierung hatte sich überdies das Dorf auch„strukturell" verändert: Es war ein „öffentlicher" Bereichentstanden, der der „öffentlichen" Sprache, dem Russischen,vorbehalten war.

Soweit die Deutschen die Mehrheitsbevölkerung stellten, führtedies zunächst lediglich zu einer Funktionsaufteilung zwischen demDeutschen und Russischen. Diese hatte - wie oben dargelegt -bereits vor dem Kriege eingesetzt, betraf aber in erster Liniediejenigen, die durch Beruf und Ausbildung oder politische und

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administrative Funktion mit der „Außenwelt" in sprachlichenKontakt treten mußten. Häufig aber waren Rußlanddeutsche inwenigen Familien unter eine anderssprachigeMehrheitsbevölkerung verstreut worden. Die heute zugänglichenDokumente, die detaillierte Informationen über dieDeportationsgeschichte enthalten, lassen erkennen, daß diesgezielt geschah, auch um die Existenzbedingungen deutscherSprache und Kultur aufzulösen (Vgl. Eisfeld, Herdt (1996). Mit derZeit - und vor allem als Folge der wachsenden Zahl vonMischehen - ging die Verwendung der deutschen Sprache indiesen Siedlungen immer weiter zurück.

War die Erlernung und Verwendung des Russischen durch dieBildung von Mischsiedlungen und die Entstehung einesöffentlichen (russisch geprägten) Kommunikationsbereichs eineNotwendigkeit geworden, so wurde sie durch die Stigmatisierungdes Deutschen als „Sprache der Faschisten" unabdingbar. Einemformellen Sprachverbot unterlag das Deutsche in der Sowjetzeitnie. Aber sein Gebrauch wurde zu einem „Kainsmal", zu einemErkennungszeichen des „verdächtigen Deutschen", dem man mitMißtrauen begegnete, der außerhalb der „sozialistischenVölkergemeinschaft" stand. Dies betraf in besonderem Maße dieDeutschen, die in der Stadt lebten. Deutsch in der Öffentlichkeitzu sprechen, im Bus, auf der Straße, auf der Arbeit, war hiernahezu unmöglich. Es war immer mit dem Risiko der„Erkennbarkeit" und der Ausgrenzung verbunden.

Natürlich betraf ein allgemeiner Rückgang in der Verwendung dernichtrussischen Sprachen auch andere Völker und Nationalitäten.Die russische Sprache war als gemeinsames „zwischennationales"Kommunikationsmedium für jeden einheitlichen Wirtschafts- undVerwaltungsaufbau notwendig. Die Bewahrung dernichtrussischen Sprachen entsprach andererseits demgesellschaftlichen Konzept des Vielvölkerstaates, das eineobligatorische Zuordnung zu einem Ethnos voraussetzte. DieSprache galt dabei seit jeher als eines der wesentlichenKennzeichen der „Nation". Eine Schwächung der Nationalsprachenstand insofern im Widerspruch zu diesem Konzept und machteden grundlegenden Antagonismus zwischen dem multiethnischenCharakter der sowjetischen Gesellschaft und ihrer schleichendenRussifizierung deutlich.

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Die propagierte „national-russische Zweisprachigkeit" erwies sich- vor allem für die Völker ohne oder mit nur geringenTerr-torialautonomierechten - als ein ungleiches Paar: Dierussische Sprache wurde im Laufe vor allem der Breschnjew-Zeitzum sprachlichen Medium und Symbol der Modernisierung dersowjetischen Gesellschaft und der Ideologie des„Internationalismus", der eines der Kernelemente des Konzeptsdes „Sowjetbürgers" war. Obwohl Russisch nie formelleStaatssprache war, verdrängte es die anderen Sprachen dochzunehmend aus den öffentlichen Funktionen in Wirtschaft,Verwaltung, Bildung und Kultur. Die obligatorische Einführung desRussischunterrichts in den Hoch- und Fachschulen 1964,markierte einen Meilenstein auf diesem Wege.

Auch die Verordnungen der Bildungsministerien verschiedenerUnionsrepubliken über die Einführung eines „erweitertenDeutschunterrichts" 1957 hatten diesen Prozeß nicht aufhaltenkönnen, obwohl damit nach 20 Jahren erstmals wieder dieMöglichkeit gewährt wurde, bei entsprechendem Quorum aufAntrag Muttersprachunterricht in deutscher Sprache zu erteilen.Tatsächlich erhielten nur wenige deutsche Schüler die Möglichkeitzur Teilnahme an einem muttersprachlichen Deutschunterricht.Die gesellschaftliche Dominanz des Russischen und das Wissender Eltern, daß jegliche Bildung Russischkenntnisse erforderte,führten im Gegenteil unionsweit zu einem steten Rückgang derAnzahl unterrichteter Sprachen in den Grundschulen derSowjetunion, die 1935 bei 80 Sprachen lag, in den siebzigerJahren jedoch nur noch bei 45 (Vgl. Simon (1986), S. 68).

Das Deutsche wurde jedoch ungleich härter als andere Sprachenvon der Russifizierung getroffen, da durch die extremeZwangsmigration der Deutschen die objektive Existenzgrundlageder geschlossenen Siedlungen bis auf wenige Kernregionenaufgelöst war und die Stigmatisierung auch die subjektiveGrundlage, das „Sprachprestige", unterminiert hatte.

Die Heterogenität der Mischsiedlungen, in denen die Deutschennach dem Kriege zumeist lebten, war darüber hinaus noch inanderer Hinsicht bedeutsam: Im Norden von Kasachstan, dergroßen Zuzugsregion der Rußlanddeutschen in der Nachkriegszeit,zum Beispiel lebten Deutsche nicht nur gemeinsam mit Russen,Ukrainern, Kasachen, Koreanern und anderen (zumeist)

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Russischsprachigen in einem Dorf, sondern auch die deutscheBevölkerung selbst war äußerst heterogen zusammengesetzt.Deutsche von der Wolga, aus dem Schwarzmeergebiet, von derKrim, aus dem Kaukasus, aus Wolhynien bildeten infolge derDeportation Mischsiedlungen, deren Bevölkerung oft eine Vielzahlvon Dialekten sprach. Viele zogen nach den Jahren der„Arbeitsarmee" und nach der Aufhebung der „Kommandantur" indie klimatisch wirtlicheren Regionen Mittelasiens weiter, zum Teilin die alten Tochterkolonien oder in neue Orten in deren Nähe.Hierdurch wurden häufig auch die deutschen Siedlungen, in diesie zogen, sprachlich heterogen.

Die Vielzahl von Dialekten, die in den Siedlungen der Deutschengesprochen wurden, war - wie bereits dargelegt - im Prinzipnichts Neues, sondern geradezu ein Wesensmerkmal derrußlanddeutschen Sprachsituation seit dem Beginn derKolonisation. Nun jedoch, unter den neuen Verhältnissen einerimmer übermächtiger werdenden Dominanz des Russischen undder Zersetzung der „Rückzugsgebiete" deutscher Sprache undKultur, schlug der russische Einfluß durch: Während im 19.Jahrhundert ein weitgehender Dialektausgleich in den Siedlungender Deutschen stattgefunden hatte und - durch deutschenSchulunterricht - auch die deutsche Standardsprache alsVerkehrssprache zumindest der höheren Gesellschaftsschichtenzur Verfügung stand, löste die sprachliche Heterogenität nuneinen beschleunigten Übergang zum Russischen aus.

Die Angaben für „Deutsch als Muttersprache" sanken folglich fürdie Rußlanddeutschen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkriegkontinuierlich: 1926 hatten noch 95 Prozent der Deutschen in derSowjetunion Deutsch als ihre Muttersprache angegeben, 1959waren dies noch 75 Prozent, 1970 nur noch 66,8 Prozent, 197957,7 Prozent, 1989 48,7 Prozent. In den Befragungen, die vomOsteuropa-Institut München Ende der achtziger Jahre unterrußlanddeutschen Aussiedlern vorgenommen wurden, zeigte sicheine drastische Abwärtsentwicklung der Angaben zum Deutschenals Muttersprache bei den nach 1956 (bis 1965) Geborenen (Vgl.Hilkes (1988), S. 5). Und selbst diese Angaben drückten eher einBekenntnis zur deutschen Kultur- und Sprachgemeinschaft alseine tatsächliche Sprachkompetenz aus.

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Die gegenwärtige Sprachsituation

Kennzeichen der Sprache der Rußlanddeutschen ist heute derweitgehende Übergang zum Russischen. Während Russisch beifast allen verbreitet ist (nach der Volkszählung 1989 bei 96,3Prozent der Deutschen), sprechen nur die Ältesten nochüberwiegend Deutsch, und zwar in Verbindung dialektalerElemente, zum Teil in einer Form, die in Deutschland kaum nochanzutreffen ist, mit zahlreichen russischen Interferenzen. Diehochdeutsche Standardsprache ist die schwächste derSprachvarietäten und nur unter älteren rußlanddeutschenSprechern und unter den Mennoniten stärker verbreitet.

Die Dialekte sind fast ausnahmslos Mischdialekte. Im Zuge derDeportation der Deutschen veränderten und vermischten sich dierußlanddeutschen Varietäten in den heterogenzusammengesetzten Siedlungen der Nachkriegszeit ein weiteresMal. Die sprachliche Heterogenität der rußlanddeutschenDorfgemeinschaften wurde zusätzlich verstärkt durch diesowjetische Siedlungspolitik der Bildung von „Zentraldörfern" undder Auflösung kleinerer Siedlungen, die in den siebziger Jahren(bis etwa 1985) ihren Höhepunkt fand. Dadurch wurden häufigdialektal weitgehend homogene Dörfer aufgelöst und mitNachbarorten zusammengelegt, die eine andere (deutsche)Varietät sprachen.

Der sprachliche Kontakt zwischen diesen Varietäten dauerte nichtlange genug, um zum Ausgleich zu führen, sondern erreichtemaximal noch die Stufe einer individuellen „Mehrdialektalität", inder die Verständigung dadurch gesichert wird, daß eine(zumindest passive) Kenntnis der anderen Dialekte im Dorfvorhanden ist. Meist aber bewirkt die dialektale Heterogenitätsolcher Zentraldörfer einen raschen Übergang zum Russischen imKontakt zwischen den Sprechern verschiedener Dialekte, dem sichnur diejenigen entziehen können, die noch überHochdeutschkenntnisse verfügen, was bei jüngeren Sprechern inder Regel nur unter den Mennoniten der Fall ist (Dies ist Ergebniseiner Sprachgebrauchsstudie, die zwischen 1991 und 1993 in Dörfern desAltaj unter der gesamten Schuljugend sowie bei etwa 25 Prozent dererwachsenen Bevölkerung durchgeführt wurde. Vgl. dazu Rosenberg(1993), (1994)).

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Für die Sprachwissenschaft sind die Varietäten derRußlanddeutschen auch heute noch aus mehreren Gründenhochinteressant: Sie lassen uns durch ihre sprachliche Mischungdie Prozesse, die zur Herausbildung von Verkehrsvarietäten,regionalen „Umgangssprachen" und auch zu unseren modernenStandardsprachen geführt haben, wie in einem Brennglasnachvollziehen. Hierbei sind insbesondere die Mechanismen vonInteresse, die zur Dominanz bestimmter Varietäten und zurZurückdrängung anderer Varietäten beigetragenhaben.

Die rußlanddeutschen Varietäten enthalten zahlreiche„Archaismen", die im geschlossenen deutschen Sprachgebiet nurnoch selten anzutreffen sind, wie etwa die Schnerch(‘Schwiegertochter’), das Luftschiff (‘Flugzeug’), nordicht (‘dann’)oder die Sitte des Ihrzens (anstelle des Siezens oder Duzens) vonEltern und Respektspersonen.

Auch die russischen Interferenzen und Spracheinflüsse sindaufschlußreich: Wortentlehnungen aus dem Russischen betreffenzumeist russische „Realien" des öffentlichen Lebens, technischeAusdrücke, Bezeichnungen in Kultur, Politik, Wirtschaft. RussischeEntlehnungen erstrecken sich aber bereits auf weitere Felder, wiezum Beispiel sogar auf grammatische Funktionen: In derniederdeutschen Varietät der Mennoniten in der Altaj-Region wirdzum Ausdruck des Konjunktivs in normaler Rede die russischeKonjunktivpartikel („by") in Form der entlehnten Partikel beverwendet: ätj be moake ... (‘ich würde ... machen’).

Auffällig in der Sprechweise von Rußlanddeutschen ist generell diehäufige Verwendung von russischen Partikeln, die derGesprächssteuerung und -gliederung, der Hörereinbeziehung,dem Ausdruck der Sprechereinschätzung oder der Interpretationeiner Gesprächssituation dienen: nu vot (etwa „na also"), nokonecno (etwa „ist doch klar"), vsë (etwa „das wär’s"). Solcheund ähnliche Wendungen sind heute typisch für die Redeweiserußlanddeutscher Sprecher. Auf diese Ausdrucksmittel, die für dieKommunikation unentbehrlich sind, können selbst diejenigen, dienoch relativ flüssig Deutsch beherrschen, heute kaum nochverzichten, ihr Gebrauch fällt den Sprechern oft nicht einmalmehr auf.

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Dies steht bereits an der Grenze zu einem Phänomen, das nochgravierender den russischen Spracheinfluß zeigt: das sogenannte„Code Switching", also die Einschaltung ganzer russischerPassagen, der beständige Wechsel zwischen deutschen undrussischen Äußerungen, die mitunter den Charakter einerMischsprache annehmen, die kaum noch eindeutig als „deutsch"oder „russisch" zuzuordnen ist, sondern „deutsch-russisch" istund eine immer stärkere Dominanz des Russischen zeigt.

Kennzeichen der Sprachentwicklung der Rußlanddeutschen in denvergangenen dreißig Jahren ist also ein rapider Rückgang desDeutschen und ein scheinbar unaufhaltsamer Sprachwechsel zumRussischen: Während zuvor Entlehnungen aus dem Russischennoch „eingedeutscht" wurden, also eine gewisse integrative„Kraft" der gesprochenen deutschen Sprache erkennen ließen,gehen die Sprecher nun unmittelbar zum Gebrauch desRussischen über. Unterstützt wird diese Entwicklung häufig durcheine Geringschätzung der dialektalen Varietäten derRußlanddeutschen, die gegenüber dem Russischen (und auchdem Hochdeutschen) als minderwertig gelten.

Zusammenfassend läßt sich die Sprachentwicklung derRußlanddeutschen in folgender Weise beschreiben:

Der sprachliche Ausgleich während der ersten hundert Jahre hatteaus der extremen Vielfalt von Dialekten weitgehend einheitlichedörfliche Mischvarietäten entstehen lassen, jedoch nicht zurHerausbildung eines einheitlichen „Rußlanddeutschs" odergroßräumiger „Umgangssprachen" geführt. Die „GroßenReformen" Alexanders II., die im Zuge der Modernisierung desZarenreiches auch die rußlanddeutschen Kolonisten in dierussische Gesellschaft und in die staatliche Verwaltung integrierensollten, bewirkten die Ausbildung einer „funktionalen Diglossie",bei der das Russische zur Sprache der Verwaltung und desöffentlichen Lebens wurde. Nationalistische Strömungen seit denachtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und insbesondere währenddes Ersten Weltkrieges führten zu Auseinandersetzungen auch inder „Sprachenfrage", vor allem im Schulwesen. DieAutonomierechte, die während der zwanziger Jahre auch denDeutschen im sowjetischen Vielvölkerstaat gewährt wurden,bedeuteten eine vorübergehende Blütezeit der deutschen Spracheund Kultur. Die Deportationen und Verfolgungen - spätestens seit

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1938/41 - stellten die entscheidende Zäsur in derSprachentwicklung der Rußlanddeutschen dar: Die Auflösung dergeschlossenen deutschen Sprachinseln, der Abbruch derSiedlungskontinuität und die Stigmatisierung der „Sprache derFaschisten" leiteten den Sprachverlust des Deutschen ein. Mit denDeportationen, den anschließenden Weiterwanderungen und derBildung von „Zentraldörfern" wurde der sprachlicheAusgleichsprozeß unter völlig veränderten Verhältnissen neuerlichin Gang gesetzt: Der „Unifizierung" der sowjetischen Gesellschaftund der einheitlichen Organisation des Staatsapparats folgte diesprachliche Assimilierung. Die Saat der Verfolgung undStigmatisierung der Deutschen und ihrer Sprache ging mitVerspätung auf: In den vergangenen gut dreißig Jahren, die aufdie bescheidene „Liberalisierung" nach der Teilrehabilitation derDeutschen 1964 folgten, vollzog sich ein rapider Sprachwechselzum Russischen.

Der russische Spracheinfluß hat die Stufe der „Anreicherung" derdörflichen Ausgleichsdialekte mit russischen Lehnworten längsthinter sich gelassen; er führt heute - vor allem bei den jüngerenSprechern - direkt zum Gebrauch des Russischen. Das Ende derrußlanddeutschen Sprachinseln scheint vorgezeichnet. Gegenüberder sprachlichen Dominanz des Russischen erweisen sich nurwenige „ethnoterritoriale Kerne" (Eisfeld (1987), S. 170). kompakter deutscher Siedlungen noch für einige Zeit alsresistent. Über ihr Schicksal entscheidet die Geschwindigkeit derAussiedlung.

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[ Letzte Änderung: September 7, 2001 12:02 | 2001 | Erstellt von Mario Behling ]