Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische...

329
Die Transformation Osteuropas Eine Herausforderung für sozialwissenschaftliche Theorien Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum - Fakultät für Sozialwissenschaft - vorgelegt von Dirk Heinrich aus Essen Bochum 2000

Transcript of Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische...

Page 1: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Die Transformation OsteuropasEine Herausforderung für sozialwissenschaftliche Theorien

Inauguraldissertation

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Doktors der Sozialwissenschaft der

Ruhr-Universität Bochum

- Fakultät für Sozialwissenschaft -

vorgelegt von

Dirk Heinrich

aus Essen

Bochum 2000

Page 2: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

i

INHALT

AbbildungenAbkürzungsverzeichnis

EINLEITUNG

I. TRANSFORMATIONSFORSCHUNG VOR 1989

II. DER ZUSAMMENBRUCH DER ALTEN ORDNUNG

1 Makrotheoretische Ansätze1.1 Systemische Defizite1.2 Geopolitische Herausforderungen1.3 Modernisierungsdefizite

Exkurs: ModernisierungstheorienÖkonomische DefizitePolitische DefiziteDefizite in der Wertverallgemeinerung

1.4 Zusammenfassung

2 Mesotheoretische Ansätze2.1 Exkurs: Institutionentheorien2.2 Defizite intermediärer Institutionen2.3 Effekte strategischer Institutionenänderungen2.4 Zusammenfassung

3 Mikrotheoretische Ansätze3.1 Interaktionen politischer Akteure3.2 Öffentliche Mobilisierung3.3 Zusammenfassung

4 Die Verhandlungen an den Runden Tischen: EinModellentwurf

4.1 Strategische Spiele4.2 Normativer Rahmen4.3 Verständigung4.4 Zusammenfassung

29

303135404046486068

7374829298

102105117129

135

137148156160

1

17

iiiiv

Page 3: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

ii

III. DIE KONSOLIDIERUNG DER NEUEN POLITISCHEN ORDNUNG

1 Vorbemerkung1.1 Demokratie1.2 Konsolidierung

2 Das Erbe der kommunistischen Regime2.1 Strukturelles Vermächtnis2.2 Institutionelle Defizite2.3 Elitenkontinuität2.4 Zusammenfassung

3 Der Umbau der Institutionen3.1 Verfassung3.2 Regierungssystem3.3 Wahlsystem3.4 Parteien und Interessengruppen3.5 Architekten des institutionellen Umbaus3.6 Zusammenfassung

4 Stabilisierung4.1 Institutionelle Stabilitätsbedingungen4.2 Compliance4.3 Zusammenfassung

5 Die politische Konsolidierung im Spannungsfeld vonWirtschaft und Kultur

5.1 Erste Reaktionen: Dilemmas der Reformen5.2 Erste Revisionen: Chancen und Risiken für Reformen5.3 Zusammenfassung

IV. ERGEBNIS

1 Die Mehrebenenanalyse des Zusammenbruchs2 Die Mehrebenenanalyse der politischen Konsolidierung3 Schlußfolgerungen für die Theoriebildung

LITERATUR

162

163163167

176177186192197

199200209216223230235

236237241245

247

247255260

262

265273281

300

Page 4: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

iii

ABBILDUNGEN

Abbildung 1: Games of Transitions by AgreementAbbildung 2: Charakteristik der „RT-Spiele“ in OsteuropaAbbildung 3: Der ZusammenbruchAbbildung 4: Die politische Konsolidierung

108147298299

Page 5: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

iv

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

BCP Bulgarien Communist PartyBRD Bundesrepublik DeutschlandBSP Bulgarien Socialist Partybspw. beispielsweisebzw. beziehungsweiseCSFR Tschechische und Slowakische Föderative RepublikCSSR Tschechoslowakische Sozialistische RepublikDDR Deutsche Demokratische Republikders. derselbeDGS Deutsche Gesellschaft für Soziologied.h. das heißtdies. dieselbeFDGB Freier Deutscher GewerkschaftsbundGUS Gemeinschaft unabhängiger StaatenHg. HerausgeberHSWP Hungarian Socialist Worker’s PartyJg. JahrgangKGB Komiteit gossudarstwennoi besopasnosti = Komitee für

StaatssicherheitKPdSU Kommunistische Partei der SowjetunionNÖS Neues Ökonomisches System der Leitung und PlanungNr. NummerPUWP Communist Party of PolandRGW Rat für gegenseitige WirtschaftshilfeRT Runder TischSED Sozialistische Einheitspartei DeutschlandsSEU Subjective Expected UtilitySU Sowjetunionu.a. unter anderemUDF Union of Democratic ForcesUdSSR Union der Sozialistischen SowjetrepublikenUS United StatesUSA United States of AmericaUSS Union Souveräner Staatenv. vonvgl. vergleicheVol. Volumez.B. zum Beispielz.T. zum Teilz.Z. zur Zeit

Page 6: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 1

EINLEITUNG

Page 7: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 2

Die vorliegende Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung sozialwissenschaftlicherErklärungs- und Untersuchungsansätze zur Transformation Osteuropas. Es werden Lei-stungen und Grenzen aktueller theoretischer Ansätze in der Transformationsforschungaufgezeigt und ein Modell entworfen, mit dem sich die Ansätze zusammenfügen lassen.Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrierenkann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und an der Entwicklung dernoch jungen Transformationsforschung mitzuwirken.Die Transformation Osteuropas ist ein Glücksfall für den Versuch, eine integrativeMethode zu entwickeln. Selten hat ein Thema so viele Wissenschaftler aus verschiede-nen sozialwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt und in einem vergleichbaren Maßezur Anwendung unterschiedlicher theoretischer Perspektiven motiviert. Darüber hinausbietet die historische Nähe zum Anwendungsbezug Vorteile: Einstieg und Zugang zumThema fallen vergleichsweise leicht, weil zahlreiche Quellen und umfangreiche Litera-tur, in der das Phänomen Transformation mit aktuellen theoretischen Methoden aufge-arbeitet wird, zur Verfügung stehen. Zugleich ist die zeitliche Distanz von bis zu einerDekade eine gute Voraussetzung für einen nüchternen Blick; die Entwicklung in denosteuopäischen Staaten läßt sich mittlerweile realistischer einschätzen, und entspre-chend kann ein erstes kritisches Resümee zum Beitrag der TransformationsforschungOsteuropas und zu den blinden Flecken der theoretischen Beschreibungen gezogenwerden.Warum es zu den umfangreichen theoretischen Anstrengungen kam, wird verständlich,wenn man rekapituliert, welche Bedeutung die Ereignisse in Osteuropa für die Sozial-wissenschaften hatten. Deshalb erfolgt einleitend eine kurze Momentaufnahme der Er-eignisse um 1989, mit der an das Thema Transformation Osteuropas und an die Pro-blemstellung und Herausforderung, die sich aus der Transformation für die Sozialwis-senschaften ergaben, herangeführt wird. Anschließend wird die These der vorliegendenArbeit entwickelt und das Vorgehen zu ihrer Prüfung vorgestellt.

Die jüngsten Umbrüche in Osteuropa, die ihre dramatischen Höhepunkte von 1989 bis1992 hatten, sind uns allen noch in lebendiger Erinnerung. Auch wenn heute, ca. 10Jahre später, die anfängliche Euphorie und Begeisterung vor dem Hintergrund ent-täuschter Erwartungen, schmerzlicher Entwicklungen und realistischerer Entwicklungs-einschätzungen verblaßt sein mögen, so ist das Erstaunen über die Plötzlichkeit und dasAusmaß der Entwicklung noch nicht gewichen. Wir sind Zeugen eines Prozesses ge-worden, bei dem sich in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne tiefgreifende Verände-rungen mit weitreichenden Folgen ereigneten1: Die kommunistischen Regime2 in der

1 Für eine ausführliche Darstellung der politischen Prozesse in den Jahren des Umbruchs vgl.Weltgeschehen, W. Zürrer (Hg.:): Band IV 1989 und IV 1991 (für die Entwicklung in der Sowjetunion),Band II 1990 (für die Entwicklung in Rumänien und Ungarn), Band IV 1990 (für die Entwicklung inPolen und der Tschechoslowakei).

Page 8: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 3

DDR, der Tschechoslowakei und in Rumänien brachen zusammen. In Polen gewann dieSolidarnosc die Wahlen zum nationalen Parlament, d.h. eine nicht-kommunistische Re-gierung entstand. In Ungarn und Bulgarien wurden Mehrparteiensysteme etabliert. Par-allel zu diesen Ereignissen erfolgte der Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese Ent-wicklung und die vorausgehenden politischen und ökonomischen Veränderungen in derBlockvormacht spielten sicherlich eine Schlüsselrolle beim Zusammenbruch der ande-ren kommunistischen Regime. Mit der Breshnew-Doktrin3 drohte noch die Gefahr einermilitärischen Intervention der Truppen des Warschauer Paktes für den Fall, daß diekommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas politische Alleingänge planten. Mitder Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU bzw. zum Präsidenten derSowjetunion und mit der von ihm angestrengten Reformpolitik der Glasnost sowie Pe-restroika veränderte sich die Beziehung zwischen den kommunistischen Staaten. Der inder Breshnew-Doktrin zum Ausdruck kommende sowjetische Hegemonialanspruchwurde endgültig aufgegeben, als Gorbatschow bei den Feiern zum vierzigsten Jahrestagder DDR am 7. Oktober 1989 verkündete: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Le-ben.“. Damit fiel ein wesentlicher Rückhalt nationaler kommunistischer Führungenweg, auf den diese ihren Widerstand gegen demokratische Reformen noch hätten stüt-zen können.In der DDR zeigte sich diese Auswirkung besonders deutlich: Der Prozeß, der mit denBürgerprotesten gegen die Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 be-gann und sich mit der Grenzöffnung in Ungarn am 11. September des selben Jahresrasant beschleunigte, konnte sich nun weitgehend ungehindert fortsetzen. Im Juni 1989hatte sich die DDR-Führung noch solidarisch mit der Repressionspolitik der chinesi-schen Regierung gezeigt, die am 4. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens inPeking ein Massaker veranstaltet hatte. Damit demonstrierte das Politbüro Stärke undsignalisierte Repressionsbereitschaft. Kaum vier Monate später, am 18. Oktober 1989,wurde der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker vom SED-Politbüro abgesetzt, und am7. November trat dann sogar die gesamte DDR-Regierung zurück. Der Grenzöffnung inUngarn folgten Ausreisen über die Prager und Warschauer Botschaften der BRD. Die

2 Der Verwendung des Begriffs Kommunismus ist in diesem Zusammenhang keine inhaltliche Bedeutungbeizumessen. Seine Nutzung rechtfertigt sich allein durch Konvention. In der Literatur werden dieosteuropäischen Systeme vor ihrem Umbruch vorwiegend mit dem Begriff Kommunismus beschrieben(vgl. exemplarisch v. Beyme 1995: 26; Elster / Offe / Preuss 1998). Diesem Trend wird hier - mit derIntention, eine einheitliche und unmißverständliche Terminologie beizubehalten - gefolgt. Dies geschiehtauch auf die Gefahr hin, daß fälschlich angenommen werden kann, hinter der Begriffswahl verberge sichder Versuch, auf zynische Art und Weise die Ideen Marx‘ und Engels‘ als von der Geschichte widerlegtzu disqualifizieren.3 Die Breshnew-Doktrin steht für den sowjetischen Hegemonialanspruch in Osteuropa, der sichinsbesondere mit der Rechtfertigung des Einmarsches der Truppen des Warschauer Pakts in derTschechoslowakei im August 1968 verfestigte. Die Rechtfertigung bezog sich auf die Prinzipien der„gegenseitigen brüderlichen Hilfe“ und des „proletarisch-sozialistischen Internationalismus“. Aus ihnenwurde zum „Schutz der sozialistischen Errungenschaften“ das Recht und die Pflicht zur Interventionabgeleitet (Meissner 1969).

Page 9: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 4

DDR-Führung ließ die Flüchtlinge in Zügen durch das DDR-Gebiet ausreisen. Die Be-völkerung reagierte nicht etwa – wie die Führung wohl hoffte – mit Protesten gegen dieFlüchtlinge, sondern verstärkte ihre gegen die DDR-Führung gerichteten Demonstratio-nen in Leipzig, Dresden und Berlin. Am 9. November 1989 fiel dann die Mauer, nach-dem die DDR die sofortige und unverzügliche Reisefreiheit verkündete. Im Septemberdes folgenden Jahres unterzeichneten die beiden deutschen Außenminister und die Au-ßenminister der vier Siegermächte den „Vertrag über die abschließende Regelung inbezug auf Deutschland“ und schufen so die völkerrechtlichen Voraussetzungen für dieWiedervereinigung Deutschlands. Am 3. Oktober 1990 kam es zum Beitritt der DDRzur BRD.1989 begann auch in der Tschechoslowakei ein friedlicher Umbruch („velvet revolu-tion“4). Am 29. November wurde im Abgeordnetenhaus die Beendigung der dominan-ten Rolle der kommunistischen Partei beschlossen, im Dezember dann wurde VaclavHavel zum Präsidenten der CSFR gewählt. 1990 folgten die ersten demokratischenParlamentswahlen. Die Verhandlungen um die Machtverteilung in der Föderation ku-mulierten in der Auflösung der CSFR in zwei unabhängige Staaten - Tschechien undSlowakei - am 25. November 1992.In Ungarn und Bulgarien kam es 1990 zu den ersten freien Wahlen. Ebenso in Rumä-nien, wo in einem blutigen Aufstand 1989 die letzte Bastion des Stalinismus in Osteu-ropa fiel. Der Diktator Ceauçescu und seine Frau wurden nach dem Urteil eines Mili-tärtribunals exekutiert. Kurz darauf wurden von einer Interimsregierung Dekrete erlas-sen, die die Führungsrolle der kommunistischen Partei abschafften und Parlaments- undPräsidentenwahl einleiteten.Nicht nur die föderale Tschechoslowakei, sondern auch der Staatenverbund Jugosla-wien und die in der Sowjetunion zusammengefaßten 15 Republiken fielen auseinander.Im Dezember 1991 erkannte Deutschland in einem Alleingang die UnabhängigkeitKroatiens an. Im Januar 1992 folgte dann die Anerkennung Kroatiens und Sloweniensdurch die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten.Die Auflösung der Sowjetunion - wie sie von Stalin erschaffen wurde - kündigte sichmit den Unabhängigkeitsbestrebungen der drei baltischen Staaten an5. Estland erklärtebereits 1988 Estnisch zur offiziellen Staatssprache, und 1989 wurde Lettisch in Lettlandzur Staatssprache. Weitere Schritte zur Eigenständigkeit folgten 1989 unter anderem mitder Souveränitätserklärung in Lettland und Litauen. Und im November 1990 erklärtendann die Führer der drei baltischen Staaten in einem gemeinsamen Beschluß, daß sieden neuen Unionsvertrag nicht unterschreiben würden. Gorbatschow stemmte sich ge-gen die Unabhängigkeitsbestrebungen, konnte sie nach dem mißlungenen Putschver-such am 19. August 1991 aber nicht mehr aufhalten. Die drei baltischen Staaten wurden 4 Vgl. zur „sanften Revolution“ Baláz (1996).5 Vgl. für die Entwicklung in Lettland Plakans (1997), für die Entwicklung in Litauen Krickus (1997) undfür die Entwicklungen in Estland Raun (1997).

Page 10: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 5

aus der Union entlassen, und ihre Unabhängigkeit wurde anerkannt. 1991 erklärten auchdie zentralasiatischen Republiken (Usbekistan, Kirkisien, Turkmenistan, Tadschikistan,Kasachstan), die Republiken Transkaukasiens (Armenien, Aserbeidschan, Georgien)und die westlichen Republiken (Ukraine, Weißrußland, Moldowa) ihre Unabhängigkeit.Allein Rußland verzichtete auf die Unabhängigkeitserklärung. Gorbatschow versuchte,die Republiken in einer Union Souveräner Staaten (USS) zusammenzuhalten. Das Pro-jekt scheiterte, als bei einer Volksbefragung in der Ukraine mit deutlicher Mehrheit ge-gen die Union votiert wurde. Die Präsidenten Rußlands, der Ukraine und der Parlament-spräsident Weißrußlands vereinbarten daraufhin die Bildung einer Gemeinschaft unab-hängiger Staaten (GUS). Mit dem Anschluß der zentralasiatischen und transkaukasi-schen Republiken (allerdings ohne Georgien) bildete dieser Verbund, der weder Staats-gebilde ist noch Bürger mit einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit umfaßt, das Endeder Sowjetunion. Der russische Präsident Jelzin verkündet am 25. Dezember 1991, daßdie Sowjetunion aufgehört habe zu existieren.

Die Umbrüche der politischen Landschaft bildeten aber nur einen Ausschnitt - sozusa-gen die „Highlights“, mit denen sich der Gegenstand in Erinnerung rufen läßt - einesüber die Grenzen des Politischen hinausgreifenden Prozesses. Parallel zu den politi-schen und territorialen Änderungen erfolgten gravierende ökonomische und kulturelleÄnderungen.Die planwirtschaftliche Organisation, in der die Politik die Kontrolle über wirtschaftli-che Abläufe beanspruchte, sowie ihre schattenwirtschaftlichen Randerscheinungensollten in eine Marktwirtschaft, in der ein effektiveres Wirtschaftssystem gesehenwurde, überführt werden. Auch wenn Länder wie Ungarn und Polen bereits vor demUmbruch marktwirtschaftliche Elemente eingeführt hatten, so waren dies doch nur er-ste, vergleichsweise kleine Schritte eines fundamentalen Umbaus. Das Projekt der Ein-führung einer Marktwirtschaft, bei der das wirtschaftliche Management durch die Re-gierung zurückgeschraubt werden sollte, staatliches Eigentum privatisiert werden sollte,Preise nicht mehr staatlich reguliert, sondern über Geld- und Marktmechanismen ge-steuert werden sollten und privates Unternehmertum ermöglicht sowie gefördert werdensollte, erforderte umfassende institutionelle Änderungen. Selbst elementare Vorausset-zungen für Privatisierung und die Integration der nationalen Märkte in den internatio-nalen Handel wie die Sicherung individueller Rechte, mit denen Vertragssicherheit undPrivateigentum garantiert werden, gab es nicht und mußten von Grund auf neu aufge-baut werden6.Die politischen und ökonomischen Neustrukturierungen mußten auf das kulturelleSelbstverständnis der Bürger rückwirken. Die kollektiven Werte und individuellenKompetenzen, die sich unter den kommunistischen Regimen herausgebildet hatten, 6 Für einen Überblick über die ökonomischen „Tasks of the Transition“ vgl. Clague (1992: 5f).

Page 11: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 6

wurden obsolet. Neue Identifikationsmöglichkeiten, Selbstdefinitionen und Solidaritäts-formen wurden gesucht. Der institutionelle Umbau erforderte für den Erfolg seiner an-gestrebten Ziele - Marktwirtschaft und Demokratie - eine adäquate Kultur ökonomi-scher und politischer Einstellungen und Aktivitäten. Leistungsorientierung und Unter-nehmergeist mit Risikobereitschaft für den Aufbau einer funktionierenden Marktwirt-schaft mußten sich entwickeln und die Etablierung einer funktionierenden Demokratiewar auf den Ausbau bürgerlicher Werte und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten angewie-sen. Vielfach wies die Entwicklung aber in eine ganz andere Richtung: Zuvor unter-drückte religiöse oder nationalistisch-ethnische Identifikationsmuster bildeten für vieleBürgerinnen und Bürger einen willkommenen Ersatz für die ideologischen Identifika-tionsmuster, die mit dem Zusammenbruch wegfielen.

Die Sozialwissenschaften hatten zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem derartig raschenZusammenbruch gerechnet und waren deshalb von der Plötzlichkeit der Ereignisseüberrascht. Was sich ex post als Stagnation erwies, wurde ex ante gerne als Stabilitätinterpretiert (v. Beyme 1994: 16f). Dementsprechend unvorbereitet traf auch das Aus-maß der gesellschaftlichen Änderungen die Sozialwissenschaften. Der Soziologie, Poli-tikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft fehlten bewährte, praxisorientierte Strate-giekonzepte für ein derartiges Großprojekt der gesellschaftlichen Neustrukturierung.Trotzdem mußte schnell gehandelt werden, weil Entscheidungen bereits Prozesse an-stießen, deren Wirkungen sich nicht wieder rückgängig machen ließen.Für Ökonomen und Ökonominnen war es nun wichtig, die angemessene Geschwindig-keit für die Überführung der Planwirtschaft in privatwirtschaftliche Geldwirtschaft undfür die Integration der Transformationsökonomien in die Weltwirtschaft abzuwägen(vgl. Harberger 1992; Fischer 1992; Riese 1995). Allerdings mangelte es an Erfahrungmit Wirtschaften in Transformationsprozessen. Weil Reformanstrengungen stets mitUnsicherheiten konfrontiert sind, waren radikale Änderungen riskant. Es gab keine si-cheren Erkenntnisse bezüglich eines erfolgversprechenden Weges zur Marktwirtschaft,nicht zuletzt weil die heterogenen Konditionen der staatlichen Unternehmen und dergesellschaftlichen Kontexte berücksichtigt werden mußten. Die post-kommunistischenStaaten unterschieden sich untereinander z.T. gravierend in ihrem ökonomischen Erbeaus der kommunistischen Zeit und somit auch in ihren ökonomischen Voraussetzungen.Außerdem mußten hohe soziale Kosten bei erfolgloser Umsetzung der Transformations-strategien befürchtet werden. Bei Unwirtschaftlichkeit drohten Firmenschließungen,und von den Privatisierungen waren Preissteigerungen bei den Konsumgütern zu er-warten.Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler sowie Soziologinnen und So-ziologen waren von den Ereignissen in doppelter Hinsicht gefordert. Erstens mußte dastheoretische Defizit, das durch den Mangel zielgenauer Prognosen über die Entwicklung

Page 12: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 7

der kommunistischen Staaten offensichtlich wurde, im Nachhinein mit schlüssigen Er-klärungen ausgeglichen werden. Bekannte Ansätze, die den verschiedenen etabliertentheoretischen Paradigmen folgen, aber auch neue Modelle, wurden ins Feld geführt, umdie Ursachen und Dynamiken des Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropaaufzuarbeiten. Die zweite Herausforderung bestand - und besteht auch noch eine De-kade nach dem Zusammenbruch - darin, den Prozeß der Konsolidierung der neuen Ord-nung wissenschaftlich zu begleiten. Nicht nur die Pfade zu einer effektiven Marktwirt-schaft, sondern auch die zu einer stabilen Demokratie sind beschwerlich und kompli-ziert. Es gibt Hindernisse wie die genannten sozialen Kosten, die die Akzeptanz demo-kratischer Institutionen senken. Auf Abwege kann die Entwicklung geraten, wenn derUmbau politischer Institutionen von machtstrategischem Opportunismus korrumpiertwird. Und Abgründe tun sich auf, wo Unabhängigkeitsbestrebungen oder politischesKalkül religiöse, nationalistisch motivierte oder ethnische Konflikte bzw. Kriege provo-zieren. Hier sind die Sozialwissenschaften gefordert, Risiken aufzudecken und aufChancen für eine wünschenswerte, zur erfolgreichen Konsolidierung führende Ent-wicklung hinzuweisen.

Die theoretischen Herausforderungen, die aus der Transformation Osteuropas folgen,fordern nicht nur die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, sie erwei-sen sich auch als ein Erprobungsfeld für sozialwissenschaftliche Ansätze konkurrieren-der Paradigmen. Rückblickend stehen die Ansätze in einem Wettbewerb um die ange-messene Erklärung des Zusammenbruchs. Mit Blick auf die zu erwartende Entwicklunguntersteht die Transformationsforschung einerseits einem Paradigmentest, weil der Ver-such einer umfassenden Gesellschaftsreform mit dem Unmöglichkeitstheorem holisti-scher Politik konkurriert (vgl. Wiesenthal 1999). Andererseits muß sie sich bewähren,indem sie relevante Kriterien identifiziert, anhand derer sich die Möglichkeiten für eineerfolgreiche Konsolidierung einschätzen lassen. Im Wettbewerb der Paradigmen liegteine Chance für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung, die mit der vorliegendenArbeit aufgegriffen wird; im kritischen Vergleich der verschiedenen Ansätze sollen dieStärken und Schwächen bzw. Leistungen und Grenzen konkurrierender, aber auch sichöffnender, integrierender Konzepte aufgedeckt werden.

Die verschiedenen theoretischen Ansätze der Transformationsforschung konkurrierenbereits bei der Begriffswahl und mit der durch sie nahegelegten globalen Definition derProzesse in Osteuropa. Die verschiedensten Begriffe wurden zur Etikettierung der Um-brüche gewählt: Systemwechsel, Systemwandel, Revolution, Regimewandel, Moderni-sierung, Transition und Transformation werden quasi synonym gebraucht. Bestimmteals entscheidend erachtete Charakteristiken der Entwicklung sowie Eigenheiten, aber

Page 13: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 8

auch Unterschiede zu anderen Entwicklungen werden mit der Begriffswahl hervorgeho-ben7.Auch in dieser Arbeit wird mit der Verwendung des Transformationsbegriffs eine spezi-fische Perspektive auf die Prozesse in Osteuropa präjudiziert, und das, obwohl er eineweitgehend neutrale, für unterschiedlichste Perspektiven offene und allgemeine Kenn-zeichnung des gesamten Phänomens leisten soll.Mit Transformation soll im folgenden ein Prozeß benannt werden, der von einem be-stimmten strukturellen Zustand ausgeht und zu einem neuen strukturellen Zustand führt.Dieser Umbildungs- oder Austauschprozeß kann alle gesellschaftlichen Teilsystemebetreffen. Daher lassen sich die politische, die ökonomische, die kulturelle und die so-ziale Transformation voneinander unterscheiden. Die Veränderung sozialer Strukturenwird in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Soziologie, gemeinhin als sozia-ler Wandel beschrieben. Insofern stellt sich die Frage, welche Merkmale die Prozesseeines sozialen Wandels wie in Osteuropa derartig hervorheben, daß sie einen eigenenBegriff verdienen. Das distinktive Merkmal ist die Radikalität des Wandels. Die Trans-formationen in Osteuropa waren nicht etwa durch einen vorsichtigen, adaptiven Wandelder Strukturen an eine veränderte Umwelt gekennzeichnet. Dann hätte nämlich einneues Gleichgewicht innerhalb der alten Ordnung die Stabilität des Systems gesichert.Die Änderungen in Osteuropa sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß alte Struktu-ren aufgelöst wurden und daß versucht wird, neue Strukturen - eine neue Ordnung - zuetablieren. Die Systeme vollzogen und vollziehen noch einen Identitätswandel. Ein sol-cher Identitätswandel fällt auch unter das Konzept des sozialen Wandels. Sozialer Wan-del umfaßt gleichermaßen den Wandel innerhalb eines Systems und den Wandel desSystems (vgl. Parsons 1951: 480f; Zapf 1969). Die Forschung zum sozialen Wandelallerdings bezieht sich vorrangig auf den erstgenannten Prozeß. Dagegen soll mit demTransformationsbegriff hervorgehoben werden, daß - anders als beispielsweise bei einergradualistischen Rationalisierung - ein Prozeß grundlegender Änderungen der System-identität in einem hochdynamischen Tempo den Anwendungsbezug der Untersuchungbildet.Der Transformationsbegriff bezeichnet aber nicht etwa nur einen, in der bisherigen For-schung vielleicht zu kurz gekommenen, Teilbereich des sozialen Wandels. Er ist auchoffen für die Untersuchung der Prozesse, die zwischen dem alten und neuen strukturel-len Zustand stattfinden. Die Transformationsforschung thematisiert nicht nur Ursachenund Richtung der Änderungsprozesse und bleibt daher auch nicht wie die Forschungzum sozialen Wandel primär makrosoziologisch (vgl. Zapf 1969: 18). Weil in derTransformationsforschung die Art und Weise des Umbildungs- oder Austauschprozes-ses nicht festgelegt ist, sondern offen, interessiert sie sich auch für die Verlaufsformen 7 Besonders deutlich wird diese Intention bei der Verwendung des Begriffs „Revolution“. Mit dieserCharakterisierung des Umbruchs wird versucht, dem öffentlichen Protest eine zentrale Bedeutung für denZusammenbruch zuzuweisen (vgl. Opp 1994; Goldstone 1994).

Page 14: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 9

und Sequenzen der Änderungsprozesse. Damit schließt Transformationsforschung ne-ben den Makroprozessen auch Mesoprozesse wie den Institutionenumbau und Mikro-prozesse wie das Aushandeln neuer institutioneller Arrangements ein.Politische, ökonomische und kulturelle Änderungen, die in der Geschichte westlicherDemokratien nacheinander verliefen und oftmals in einem Verhältnis von Bedingungbzw. Voraussetzung und logischer Konsequenz zueinander standen, vollzogen sich inOsteuropa gleichzeitig. Zur Kennzeichnung dieses Ausmaßes der Änderungsprozesse inOsteuropa wird in der aktuellen Transformationsforschung häufig der Begriff desSystemwechsels gewählt (vgl. Merkel 1994; Rüland 1994; Welzel 1994). Systemwech-sel steht für eine alle Teilbereichstransformationen umfassende Charakterisierung derosteuropäischen gesellschaftlichen Änderungen.Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Terminologie nicht an, weil durch die Be-griffswahl nicht vorgegeben werden soll, wie das Ausmaß der Transformation Osteuro-pas relativ zu anderen Transformationen - bspw. Südeuropas oder Lateinamerikas - ein-geschätzt wird. Hier gibt es durchaus unterschiedliche Einschätzungen8. Die Frage, in-wiefern Gleichzeitigkeiten herausragende Merkmale der osteuropäischen Transforma-tion bildeten und in ihnen ein bisher unbekanntes Dilemma begründet liegt, das denerfolgreichen Übergang zur Marktwirtschaft und Demokratisierung erschwert oder so-gar verhindern kann, ist bis heute unbeantwortet. Dieser Umstand wird mit der Verwen-dung des Systemwechselbegriffes verdrängt.Dem Transformationsbegriff wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Bemühen umNeutralität gefolgt. Mit ihm soll die Festlegung auf ein analytisches Primat vermiedenwerden. Zugleich soll einer Bewertung der osteuropäischen Transformation im Ver-gleich zu anderen Transformationen vorgebeugt werden, um für Akzente und Schwer-punkte, die in Analysen der osteuropäischen Transformation gesetzt werden, offen zubleiben. Dennoch ist der Transformationbegriff nicht vollständig neutral9. Mit seinerVerwendung wird die Radikalität, d.h. die Intensität und die hohe Dynamik, der Um-brüche hervorgehoben. Dieser evaluative bias rechtfertigt sich nicht nur durch die all-

8 Przeworski weist die Einschätzung zurück, daß die Transformationen in Osteuropa und insbesondere derKonsolidierungsprozeß mit umfassenderen Schwierigkeiten konfrontiert ist als die vorausgegangenenTransformationen Südeuropas und Lateinamerikas: „A glance at the macroeconomic indicators at thetime of democratic transition suffices us to conclude that Latin American countries did not enjoy an easiersituation than Eastern European countries.“ (1991: 139). Darüber hinaus finden sich bereits beiO’Donnell (1986) vielfach Anmerkungen über die Schwierigkeiten einer kulturellen Anpassung an dasneue Regime und über ökonomische Herausforderungen, die mit der Demokratisierung in Südeuropa undLateinamerika einhergingen. Sie erinnern stark an die „Gleichzeitigkeiten“, die als die Besonderheiten derosteuropäischen Transformation identifiziert werden.9 Anders argumentiert hier Sandschneider (1994: 23): Für ihn ist der Bergriff „Transformation“ neutral,weil er inhaltlich und ideologisch unbelastet ist. Sandschneider unterstellt, daß der Begriff„Transformation“ auf eine intentionale Änderung des Systems verweise, im Gegensatz zu „sozialemWandel“, der evolutionäre Prozesse beschreibe. Genau von dieser Verwendung desTransformationsbegriffes soll hier aber Abstand genommen werden, weil sie in bezug auf dasangemessene theoretische Paradigma bereits eine Vorentscheidung zugunsten mikro- und vielleicht nochmesotheoretischer Ansätze trifft.

Page 15: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 10

gemeine Überraschung über den Zusammenbruch, sondern auch durch eine gewisseIntersubjektivität, die durch die ausnahmslos übereinstimmenden Einschätzungen in deretablierten Transformationsforschung zum Ausdruck kommt. Neutral ist der Begriff indieser Arbeit auch deshalb nicht, weil er in einer Weise eingeführt wird, die vorgibt, daßes einer integrativen Perspektive bedarf, die sowohl Makro- als auch Meso- und Mikro-prozesse berücksichtigt, um die Entwicklungen in Osteuropa theoretisch aufzuarbeiten.In diesem methodischen bias des Transformationsbegriffes spiegelt sich das Projekt dervorliegenden Arbeit wider. Ob die Prämisse einer integrativen Perspektive gerechtfer-tigt ist, muß anhand der Argumente und Ergebnisse dieser und vergleichbarer Arbeitenerst noch entschieden werden.

Die Fragestellung in dieser Arbeit betrifft also die Methode10, mit der sich die sozial-wissenschaftliche Forschung komplexen sozialen Phänomenen nähern kann. These derUntersuchung ist, daß nur eine integrative Methode, die unterschiedliche analytischeAnsatzhöhen zusammenführt, theoretische Herausforderungen, wie sie sich aus komple-xen sozialen Phänomenen bzw. Prozessen ergeben, annehmen und bewältigen kann. DieErklärung und eine entwicklungsbegleitende Forschung werden erst möglich, wennProzesse wie die Transformation Osteuropas sowohl auf der Makro- als auch auf derMeso- und Mikroebene, also mit einem Mehrebenenansatz, reflektiert11 werden.

In der Transformationsforschung gibt es bereits Untersuchungen, die mit einer Mehr-ebenenanalyse arbeiten. Merkel hat eine solche Methode entwickelt (vgl. 1995). Miteiner analytischen Trennung von „Problem-Triaden“ der Transformationstheorie kanner einerseits den Untersuchungsgegenstand eingrenzen, so daß sich Problembereichetrotz vielfältiger Wechselwirkungen untersuchen lassen, und andererseits kann er zei-gen, daß die Variablen verschiedener analytischer Ebenen miteinander verwoben sind12.Dieser Methode wird in der in der vorliegenden Arbeit nicht gefolgt, weil sie einen an-deren Schwerpunkt setzt. Es geht nicht darum, den Untersuchungsgegenstand anhandzusätzlicher analytischer Kategorien auf eine übersichtliche Größe zu reduzieren, umdann Variablen auf den verschiedenen sozialen Ebenen und ihre Wechselwirkungen zuidentifizieren. Vielmehr sollen Vorzüge und Bausteine eines Mehrebenenmodells auf-gezeigt werden, in dem nicht nur Variablen der unterschiedlichen Ebenen zusammenge-führt werden, sondern für die Prozesse auf der jeweiligen Ebene auch die analytische 10 Mit Methode ist hier die analytische Ansatzhöhe gemeint. Damit einher geht oftmals auch die Präferenzfür entweder eine deduktiv-nomologische oder eine induktiv-generalisierende Forschungslogik.11 Zur Reflexion als Funktion bzw. Aufgabe von Theorie vgl. Willke (1995: 133).12 Merkel trennt in die „systemspezifische Triade“. Hier wird in soziale, ökonomische und politischeTransformationsprozesse differenziert. In eine „phasenspezifische Triade“, die nach Zeitabschnitten –Ende des alten Systems, Demokratisierung und Konsolidierung – differenziert. Und in eine„ebenenspezifische Triade“, mit der die Transformation nach ihren Prozessen auf der Makro-, Meso- undMikroebene zerlegt werden kann. Auf diese Weise kann Merkel die Interdependenzen undWechselwirkungen innerhalb der einzelnen Triaden untersuchen (vgl. 1995: 32).

Page 16: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 11

Perspektive, ihre Logik und ihre Mechanismen genutzt werden. Die vorliegenden Arbeitversucht zu zeigen, wie systemische Prozesse, Struktur- bzw. Differenzierungsprozesse,Institutionalisierungs- und Entinstitutionalisierungsprozesse, Interaktionen und Akteurs-handeln miteinander verbunden sind.Theorien können allerdings nicht einfach willkürlich miteinander kombiniert werden.Bei der parallelen Nutzung unterschiedlicher Prämissen dürfen keine Widersprücheauftreten. An die These der Angemessenheit einer integrativen Methode für die Unter-suchung komplexer Phänomene schließt deshalb die Frage an, auf welche Weise ver-schiedene Forschungsansätze miteinander verbunden werden können und was darausfür den theoretischen Status der Modelle folgt. Der Entwurf einer Mehrebenenanalysemuß also: a) Kriterien für das Primat einer bestimmten analytischen Perspektive bei derUntersuchung eines Teilausschnitts des Phänomens angeben, b) Schnittstellen aufzei-gen, an denen sich die Ebenen aneinanderfügen lassen, und c) klären, welche Ein-schränkung aus der Kombination unterschiedlicher theoretischer Paradigmen bezüglichder Aussagekraft folgt. Nur so läßt sich zeigen, wie die Theorien ineinandergreifen kön-nen, ohne dabei in Widerspruch zu ihren eigenen Prämissen zu geraten, und warum essinnvoll sein kann, von deterministischen und prognosefähigen Modellen zugunsteneiner realitätsnäheren Modellierung Abstand zu nehmen13.

Um zu zeigen, wie die Variablen unterschiedlicher Analyseebenen ineinandergreifenund sich darüber hinaus auch die Logiken der entsprechenden Perspektiven ergänzen,wird folgendes Vorgehen gewählt: Eine Auswahl von Beiträgen, die die Transformatio-nen Osteuropas aus verschiedenen analytischen Perspektiven untersucht, wird vorge-stellt. Die Ergebnisse der Beiträge werden dabei mit der Zielsetzung aufgearbeitet zuverdeutlichen, für welche Bereiche sich bestimmte analytische Ansatzhöhen bewähren,wo die jeweiligen Grenzen einer Makro-, Meso- und Mikroanalyse liegen und an wel-chen Stellen die analytischen Ebenen zusammengefügt werden können.Die Arbeit beginnt mit einer Einführung in die Themen der Transformationsforschung,wie sie vor 1989 betrieben wurde (Teil I). Es wird gezeigt, warum die vorhandenenTransformationstheorien eine Erklärung oder sogar Vorhersage der TransformationOsteuropas nicht leisten konnten bzw. auf einen solchen Anspruch erst gar nicht ange-legt waren, und wodurch sich die Fragestellung der aktuellen Transformationsforschungvon den Themen früherer Untersuchungen abhebt.Den Kern der Arbeit bilden die Teile zum Zusammenbruch der alten Ordnung (Teil II)und zur Konsolidierung der neuen politischen Ordnung (Teil III). In ihnen werden diezwei großen Fragestellungen der Transformationsforschung nach 1989 aufgearbeitet14.

13 Zum Verhältnis von der Prognosequalität theoretischer Modelle und der Wiedergabe von Realität durchtheoretische Modelle vgl. v. Beyme (1995: 11).14 Diese Gliederung macht nicht nur Sinn, weil sie den Themen der Transformationsforschung folgt. Eineähnliche analytische Trennung des Untersuchungsgegenstands Transformation schlagen auch Kopecky

Page 17: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 12

Die erste Fragestellung entsprang der Überraschung über die Entwicklung der osteuro-päischen Systeme „now, out of never“ (Kuran 1989; 1995). Als Reaktion auf die Ge-schehnisse bildete die Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs der kommunisti-schen Systeme das erste große Thema der Transformationsforschung. In Teil II werdenBeiträge zusammengetragen, die den analytischen Blick zurück auf diese einleitendePhase der Transformation werfen. Die Beiträge werden entsprechend der analytischenAnsatzhöhe ihrer Modelle und Erklärungen den makrotheoretischen, den mesotheoreti-schen oder den mikrotheoretischen Ansätzen zugeordnet. Von einer systemspezifischenUnterteilung, die Prozesse in den gesellschaftlichen Teilsystemen getrennt betrachtet,wird abgesehen, weil gerade in den Wechselwirkungen über die Teilbereiche hinwegein Schlüssel für das Verständnis des Zusammenbruchs liegt. Dafür unterliegt dem Ver-gleich der verschiedenen Erklärungsmodelle eine andere Unterteilung. Sie erfolgt ent-lang der Dynamik des Transformationsprozesses bzw. des Zusammenbruchs. Mit dieserKategorie wird für die Mehrebenenanalyse eine neue Dimension gewonnen. Anhand derDynamik lassen sich nämlich nicht nur Phasen bzw. Abschnitte analytisch trennen. Siebildet ein Kriterium, mit dem - anders als in einem statischen Mehrebenenmodell - Ab-schnitte der Transformation angegeben werden können, für die sich eine bestimmteanalytische Perspektive bewährt. Anhand dieser Zuordnung wird dann auch deutlich,wo die Schnittstellen liegen, an denen die analytischen Perspektiven ineinandergreifenkönnen, d.h. wo sich Integrationsmöglichkeiten für unterschiedliche theoretische An-sätze auftun.Modelle zusammenzuführen, die verschiedenen Prämissen folgen, ist nicht selbstver-ständlich und steht oftmals gegen die Intention der Autoren. Zum Teil sind die Analy-sen mit einem exklusiven Erklärungsanspruch verfaßt worden. In diesen Fällen soll ge-zeigt werden, daß der Erklärungsbereich dennoch eingeschränkt ist, so daß für die um-fassendere Fragestellung, um die es hier geht, zusätzliche Erklärungsbausteine hinzuge-fügt werden müssen. Die Modelle müssen sich für Erklärungsmodelle anderer analyti-scher Ansatzhöhen öffnen und damit andere Prämissen zulassen, um ad hoc Erklärun-gen und Widersprüche zu vermeiden.Teil II schließt mit einem Kapitel ab, in dem ein Modellentwurf für die Verhandlungenan den Runden Tischen vorgestellt wird. Sie bildeten in fünf osteuropäischen Staatenden Übergang von der Phase des Zusammenbruchs der alten Ordnung zu der Phase desEntstehen einer neuen Ordnung. Runde Tische hatten in Ungarn, der DDR, in Polen, inder Tschechoslowakei und in Bulgarien eine zentrale Bedeutung bei der Ablösung deralten Regime und z.T. auch bei der Formulierung der institutionellen Grundlagen für die und Mudde (2000) vor. Sie unterscheiden zwischen einer „...transition from a communist regime [...] to ademocracy and the subsequent transition from an initial democratic arrangement towards a truelyconsolidated democracy.“ (Kopecky / Mudde 2000: 521). In dieser Gliederung sehen sie einen wichtigenSchritt zum Verständnis der unterschiedlichen Entwicklungen in den ostmitteleuropäischen Staateneinerseits und den post-sowjetischen bzw. post-jugoslawischen Staaten andererseits: Sie befinden sich inunterschiedlichen Transitionsphasen.

Page 18: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 13

neuen demokratischen Regime. Trotz dieser Schlüsselstellung im Transformationsver-lauf sind die Verhandlungsprozesse theoretisch kaum aufgearbeitet. Mit dem Model-lentwurf wird versucht, zum Verständnis der Prozesse beizutragen und die Rolle derRunden Tische bei den Transformationen Osteuropas aufzudecken.

Die zweite Fragestellung, auf die sich die Forschung zur Transformation Osteuropaskonzentrierte, ist die nach den Bedingungen und Chancen bzw. Risiken einer erfolgrei-chen Etablierung von Demokratie und Marktwirtschaft. Teil III befaßt sich dementspre-chend mit der Konsolidierung der neuen Systeme. Dabei erfolgt aus pragmatischenGründen eine Einschränkung auf die Konsolidierung des politischen Teilsystems. Eineweiterreichende Untersuchung, die außerdem die Bedingungen und Prozesse einer Kon-solidierung in den Bereichen Kultur und Wirtschaft umfaßt, würde den Rahmen dieserArbeit sprengen. Daß aber das politische Teilsystem und nicht etwa das ökonomischeoder kulturelle gewählt wurde, hat auch einen inhaltlichen Grund. Die Grundlagen fürdie ökonomische und kulturelle Konsolidierung werden im Rahmen des Umbaus derpolitischen Institutionen gelegt15. Das macht die Prozesse in den anderen Teilbereichenzwar nicht weniger interessant oder minder relevant. Dem politischen Umbau kommtaber eine vorrangige Bedeutung zu, der bei der Eingrenzung des Themas hier Rechnunggetragen wird.Die komplexe Fragestellung nach der politischen Konsolidierung läßt sich ebenso wiedie Frage nach dem Zusammenbruch präzisieren, wenn der Prozeß entsprechend seinerDynamik in Abschnitte gliedert wird. Am Beispiel der politischen Konsolidierung wirdmit einer Auswahl zentraler Themen gezeigt, daß für den Versuch, Aussagen über einezukünftige Entwicklung – Konsolidierungschancen und -risiken der jungen Demokra-tien - zu wagen, die Trennung in Erbe, Umbau und Stabilisierung fruchtbar ist. DieFrage nach der Konsolidierung verweist auf einen Prozeß, dessen Ergebnisse in einemdynamischen Zusammenwirken 1. von Variablen, die sich aus der Hinterlassenschaftder kommunistischen Systeme ergeben, 2. von Variablen, die sich im Umbauprozeßherausgebildet haben und 3. von Variablen, die bestimmen, ob das aktuelle Handeln derAkteure und die aktuellen Institutioneneigenschaften zur Stabilisierung beitragen, fest-gelegt werden16.

15 Damit soll nicht behauptet werden, daß Politik die hierarchische Spitze der Gesellschaft oder ihrSteuerungszentrum im Sinne der „alteuropäischen“ Vorstellung des Primats der Politik bildet. Es wirdlediglich von der „...Möglichkeit einer absichtsvollen und im Sinne der eigenen Ziele erfolgreichenIntervention [...] der Politik in die Strukturen und Prozesse der Wirtschaft und andererFunktionssysteme...“ (Scharpf 1989:18) also einer Steuerungschance ausgegangen. Mit der Frage nachden Bedingungen der Etablierung neuer demokratischer Institutionen werden dieUmsetzungsschwierigkeiten politischer Zielvorstellungen gerade zum Untersuchungsgegenstand derKonsolidierungsforschung.16 Merkels Mehrebenenmodell hingegen suggeriert eine statische Betrachtungsweise, weil esunberücksichtigt läßt, daß bestimmte Abschnitte der Konsolidierung durch eine hervorgehobeneBedeutung von Variablen auf einer oder zwei analytischen Ebenen gekennzeichnet sind (vgl. 1995).

Page 19: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 14

Ganz anders als die Beiträge zum Zusammenbruch haben die meisten Beiträge zur poli-tischen Konsolidierung einen klar reduzierten Erklärungsanspruch. Sie beschränkenihren Untersuchungsgegenstand auf einen kleinen, eng umgrenzten Ausschnitt. DerHauptteil der Beiträge befaßt sich entweder mit der Bedeutung einzelner institutionellerArrangements wie der Verfassung, des Regierungs- und Wahlsystemssystems oder derParteien bzw. des Parteiensystems für die Konsolidierung, oder er untersucht die Aus-wirkungen von Wechselwirkungen innerhalb des Institutionenmix‘ bzw. von politischenInstitutionen mit Variablen aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Auch dieseBeiträge lassen sich wie die Analysen zum Zusammenbruch zu einem vollständigerenBild der politischen Konsolidierung zusammenfügen. In diesem Bild werden nicht nurKriterien einer Konsolidierung benannt. Es gilt auch, die Bedingungen für die Erfüllungsolcher Kriterien auf den unterschiedlichen analytischen Ebenen und in den zeitlichenAbschnitten zu nennen sowie die Bedeutung einzelner Variablen zu klären. Erst mitdiesen Bausteinen kann die Konsolidierungsforschung aus dem laufenden Prozeß derKonsolidierung heraus einen Blick auf die Chancen und Risiken für die zukünftigeEntwicklung wagen.Die Themen und Problembereiche der Konsolidierung der neuen politischen Ordnungwerden den drei Phasen der Konsolidierung zugeordnet: Aus dem Erbe der kommuni-stischen Regime ergeben sich Aufgabenstellungen, aber auch erste Bedingungen für denUmbau. Bei dem Umbau der Institutionen werden in meist komplizierten Verhand-lungsprozessen und aufeinanderfolgenden Entscheidungsschritten die Grundlagen füreine demokratische Ordnung gelegt. In der Phase der Stabilisierung entscheiden dannbestimmte Institutionenmerkmale einerseits und die Handlungen der Akteure anderer-seits über die Chancen und Risiken einer Überführung der neuen Institutionen in stabiledemokratische Strukturen. Über die Phasen der Konsolidierung hinweg, aber auch in-nerhalb der Phasen, greifen die analytischen Ebenen ineinander. Es sind nicht aus-schließlich entweder Makro- oder Meso- oder Mikroprozesse, die die Stabilisierungs-chancen bestimmen. Vielmehr läßt sich zeigen, daß ein Ensemble von Kriterien aufallen drei Ebenen in einer der Dynamik des Konsolidierungsprozesses folgenden Ab-folge über die Aussichten für die Entwicklung der jungen Demokratie entscheiden.Im abschließenden Kapitel von Teil III wird auf Wechselwirkungen eingegangen, diesich daraus ergeben, daß die politische Konsolidierung im Spannungsfeld wirtschaft-licher und kultureller Entwicklungen liegt. Bei den Transformationen Osteuropas findetdie politische Entwicklung im Kontext eines weitreichenden Umbaus im Bereich derWirtschaft und tiefgreifender Änderungen des kulturellen Selbstverständnisses sowieder kulturellen Identität der Bevölkerung und der Eliten statt. Unmittelbar im Anschlußan den Zusammenbruch wurde in diesen Gleichzeitigkeiten ein bedrohliches Hindernisfür die politische Konsolidierung und die Etablierung einer funktionierenden Marktwirt-schaft gesehen (vgl. Offe 1994; Elster 1990). Die Negativszenarien, die sich aus der

Page 20: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 15

kritischen Einschätzung ergaben, erfüllten sich nicht. Aus diesem Grunde sind Ende der90er Jahre die Einschätzungen der Entwicklungschancen zurückhaltender und positivergeworden. Positiver, weil sich einige Länder schneller in die gewünschte Richtung ent-wickeln konnten als erwartet wurde. Zurückhaltender, weil erkannt wurde, daß vor demHintergrund des komplexen Variablengefüges der Wechselwirkungen Vorhersagen,positive wie negative, ausgesprochen schlecht zu treffen sind.Der letzte Teil der Arbeit (Teil IV) stellt die Ergebnisse der Diskussion unterschied-licher Ansätze der Transformationsforschung und der Themen der Transformation zu-sammenfassend dar. Es werden Mehrebenenmodelle für den Zusammenbruch und fürdie Konsolidierung entworfen, in denen die Integration der verschiedenen theoretischenAnsätze erfolgt. Die Arbeit schließt mit einem Überblick über aktuelle Theorietrendsund der Einordnung der vorgeschlagenen Methode in die Landschaft sozialwissen-schaftlicher Theorien.

In der vorliegenden Arbeit konnten nicht alle Beiträge zur Transformation Osteuropasberücksichtigt werden. Es mußte eine Auswahl getroffen werden, die sich an der Be-deutung der Beiträge für die Beantwortung der Fragestellungen zur TransformationOsteuropas - den Ursachen des Zusammenbruchs der alten Ordnung und der Problema-tik der Konsolidierung einer Demokratie - orientierte. Insofern kann keine Vollständig-keit beansprucht werden. Auch wurde nicht versucht, die aufgezeigten Zusammenhängeauf jedes einzelne Beispiel einer Transformation Osteuropas anzuwenden. Mit derAuswahl der Beiträge hat gleichzeitig eine Einschränkung der Beispiele, auf die zurVerdeutlichung verwiesen wird, stattgefunden. Am ausführlichsten und umfangreich-sten wurde zum Zusammenbruch der ost- und südmitteleuropäischen Staaten geforscht.Deshalb werden die besonderen Entwicklungen der baltischen Staaten sowie andererNachfolgestaaten der UdSSR, Albaniens und des ehemaligen Jugoslawiens nur amRande erwähnt. Im Vordergrund der Arbeit steht eine methodische Fragestellung - nichteine komparative Analyse, in der alle möglichen Fälle berücksichtigt werden sollen. DieFragestellung der Arbeit selbst ist so komplex, daß der Gegenstand eingegrenzt werdenmuß, um zu vorsichtigen Ergebnissen zu gelangen. Aus diesen Gründen werden sich diemeisten Hinweise auf die Entwicklungen in Polen, der Tschechoslowakei (Tschechienund Slowakei), Bulgariens, der DDR, Rumäniens, Ungarns und der SU beziehen. Desweiteren werden die Beispiele hauptsächlich zur Verdeutlichung der theoretischen Mo-delle und daher durchaus auch wechselnd herangezogen. Es wird nicht versucht, dieTransformation einer konkreten Auswahl osteuropäischer Staaten nachzuvollziehen.Vielmehr bildet die Untersuchung der theoretischen Bewältigung nicht aller, aber derzentralen Fragen sowie Themen- und Problembereiche der Transformation Osteuropasden Fokus der Arbeit.

Page 21: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Einleitung 16

Auch die behandelten Themen der politischen Konsolidierung erschöpfen nicht die ge-samte Problematik der Chancen und Risiken einer wünschenswerten Entwicklung. DieAuswahl rechtfertigt sich durch die Bedeutung, die den Themen in der Transformations-forschung beigemessen wird. Besonders die Bedingungen und Wirkungen der neuenVerfassungen, des gewählten Regierungssystems, des Wahlsystems und der Struktur derParteien und Interessengruppen bilden die Schwerpunkte aktueller Forschung. Das be-deutet keinesfalls, daß Themen wie „der Einfluß der internationalen Verflechtung“ oder„die Auswirkung von föderaler bzw. zentraler Organisationsform des Staates auf dieKonsolidierungschancen“ weniger relevant sind. Zum Teil verweisen sie sogar auf gra-vierende Lücken in der Transformationsforschung17, die jedoch mit der vorliegendenUntersuchung nicht aufgearbeitet werden können, sondern eine eigene Untersuchungverdienen.Der Autor ist bestrebt, mit den genannten Einschränkungen einen Beitrag zur Klarheitder Argumentation und zur Seriosität der Methode zu leisten.

17 Eine kritische Revision der Themen und Lücken (insbesondere im Bereich der internationalenBeziehungen) aktueller Transformationsforschung liefern Kopecky und Mudde (2000).

Page 22: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 17

I. TRANSFORMATIONSFORSCHUNG VOR 1989

Page 23: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 18

Eine integrative, über mehrere analytische Ebenen reichende Analyse stellt in derTransformationsforschung eine Neuerung dar. Vor 1989 hatten entweder makrotheoreti-sche oder mikrotheoretische Ansätze die Transformationsforschung bestimmt. Trans-formationsforschung wurde als Demokratisierungsforschung betrieben oder als ein Un-terkapitel bei der Erforschung des sozialen Wandels behandelt.

Bis in die 70er Jahre herrschten makrotheoretische bzw. markrosoziologische Ansätzevor; Lipset (1959), Moore (1966), Huntington (1965, 1966, 1968) und Parsons (1951;1969a; 1969b; 1972) sind ihre bekanntesten Vertreter.Lipset (1959) führte demokratische Stabilität und die Entwicklung zur Demokratie aufeine Liste von strukturellen Variablen zurück, die er aus Korrelationstudien gewann.Diese Variablen entscheiden in seinem Modell darüber, ob die beiden prinzipiellen Cha-rakteristiken einer stabilen Demokratie, ökonomische Entwicklung und Legitimität,erfüllt werden. Die ökonomische Entwicklung wird von Wohlstand, Industrialisierungsowie dem Grad der Urbanisierung und Bildung bestimmt. Über die Legitimität ent-scheiden die Effektivität des Systems (als Funktion der ökonomischen Entwicklung)und die Art und Weise, wie mit historisch entstandenen Konfliktlinien umgegangenwird. Sowohl für Wohlstand als auch für Industrialisierung und den Grad der Urbanisie-rung kann Lipset eine Korrelation zur Existenz von Demokratien feststellen. Dabei zeigtsich, daß der Grad der Bildung der wichtigste Faktor ist. Diese Ergebnisse kann Lipsetauch kausal begründen (1959: 81f): Industrialisierung und Urbanisierung wirken unter-stützend bei der Entwicklung von Wohlstand. Wohlstand und Bildung fördern Demo-kratie, weil sie die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die unteren Schichten einerseitslänger planen können und andererseits eine komplexere und differenziertere Sicht aufdie Politik haben: „A belief in secular reformist gradualism can only be the ideology ofa relatively well-to-do lower class.“ (Lipset 1959: 83). Mit Bildung und Wohlstand re-duziert sich der Zuspruch zu Ideologien und die Unterstützung von Extremisten, weilsie den Glauben an demokratische Normen wie politische Toleranz und universalisti-sche Normen, die eine Auswahl auf der Basis von Kompetenz und Leistung fordern,hervorbringen und unterstützen.Legitimität ist nach Lipset deshalb entscheidend, weil Legitimitätskrisen die Stabilitätdes politischen Systems gefährden. Drei Quellen der Legitimität nennt Lipset (1959:86f): Erstens die Übereinstimmung der Normen einer Gesellschaft mit den demokrati-schen Normen. Zweitens die Fähigkeit des politischen Systems, mit einer effektivenBürokratie effektive Entscheidungen zu treffen, und drittens die Unterstützung der de-mokratischen Entscheidungsfindung durch die Institutionen des politischen Systems.Als effektiv werden die politischen Entscheidungen bewertet, wenn die zentralen The-men, die historisch die Gesellschaft gespalten haben, bewältigt werden. Die Rolle derKirche bzw. der Religion im Staat sollte geklärt sein. Den unteren sozialen Schichten

Page 24: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 19

muß mit dem allgemeinen Wahlrecht der Zugang zur Macht garantiert werden und As-soziationsfreiheit eingeräumt werden. Und der Verteilungskampf um das nationale Ein-kommen muß auf moderate Bahnen gelenkt werden. Hier können intermediäre Institu-tionen1 eine vermittelnde Funktion einnehmen und konstitutionelle Arrangements (diePateiensystem, Wahlsystem und Staatsform gestalten) so eingerichtet werden, daß siesowohl die gesellschaftliche Werteintegration fördern als auch eine moderate Spannungzwischen konkurrierenden politischen Kräften aufrechterhalten.

Während sich Lipset auf die makrosoziologischen Bedingungen einer demokratischenOrdnung konzentrierte und die Genese der Bedingungen unbeachtet ließ, rückten Mooreund Huntington die historischen Entstehungsbedingungen der strukturellen Vorausset-zungen moderner Gesellschaftsformen ins Blickfeld.Moores (1966) makrosoziologisch-historische Untersuchung zur Herkunft von Diktaturund Demokratie zeigt drei Wege von der vorindustriellen zur modernen Welt, denen erden Status genereller Entwicklungsmuster zuwies. Der erste Weg ist durch die „bour-geois revolution“ geprägt (Moore 1966: 3f): Sie führte auf demokratischem Wege zurmodernen Gesellschaft, und sie hat die Kombination von Kapitalismus und westlicherDemokratie hervorgebracht. Typische Beispiele sind die puritanische Revolution (derBürgerkrieg in England), die französische Revolution und der amerikanische Bürger-krieg. Der zweite Weg führte zwar auch zum Kapitalismus, endete aber anschließend imFaschismus (Moore 1966: 228f): Diese „capitalist and reactionary form“ der Moderni-sierung konnte in Japan und in Deutschland beobachtet werden. Der dritte und letzteWeg ist „communism“, wie er in China und Rußland entstand (Moore 1966: 162f,453f).Alle drei Entwicklungspfade führt Moore auf dominante historische Macht- und Kon-fliktkonfigurationen zurück (1966: xif): Aus der Art und Weise, wie die ländliche Ober-klasse und die Bauern mit der zentralen Herausforderung der Kommerzialisierung derLandwirtschaft umgingen, ergaben sich langfristig die richtungsweisenden Konfigura-tionen. Die Konfiguration der „bourgeois revolution“ war dadurch gekennzeichnet, daßsich eine Gruppe herausbilden konnte, die ökonomisch unabhängig war und die gegendie Hindernisse einer demokratischen Version des Kapitalismus kämpfte. Die ländlicheOberklasse war entweder an diesem Kampf direkt beteiligt oder wurde in einer Revolu-tion bzw. in einem Bürgerkrieg „aus dem Weg geräumt“. Die bäuerliche Bevölkerungwar, wenn nicht beteiligt, dann bedeutungslos. Bei der Konfiguration der „capitalist andreactionary form“ der Modernisierung war der Impuls einer bürgerlichen Revolutionschwächer, und wenn es zu einer solchen kam, dann wurde sie zerschlagen. Als Ergeb-nis der abgebrochenen bürgerlichen Revolution verbündeten sich Teile der industriellen

1 Vgl. für eine Definition und zur Erläuterung der Funktion von intermediären Institutionen in dieserArbeit: Teil II, Kapitel 2.

Page 25: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 20

und kommerziellen Klasse mit Dissidenten der herrschenden Klasse, die sich haupt-sächlich vom Land rekrutierte (Landadel), um die politischen und ökonomischen Ände-rungen durchzusetzen, nach denen eine moderne industrielle Gesellschaft verlangt.Semi-parlamentarische Systeme wurden gebildet, die zwar der Industrialisierung för-derlich waren, aber schwache Demokratien hervorbrachten. Die Konsequenz der Mo-derne ohne echte Revolution war der Faschismus (Moore 1966: 506). Der Kommunis-mus bildete nach Moore das Resultat einer Konfiguration, bei der umfassende ländlicheBürokratien die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung un-terdrückten. Dies führte dazu, daß die städtisch-bürgerliche Schicht zu schwach blieb,um Allianzen mit der Landbevölkerung für eine bürgerliche Revolution zu bilden unddaß eine riesige bäuerliche Landbevölkerung bestehen blieb, die zur Hauptkraft einesrevolutionären Umbruchs wurde.Ebenso wie Moore formulierte Huntington seine Transformationstheorie auf der Basiseiner makrohistorischen Untersuchung der Entwicklungspfade zur politischen Moderni-sierung und Demokratie (vgl. 1965; 1966; 1968). Politische Modernisierung ist in sei-nem Konzept durch drei Kriterien gekennzeichnet: 1. die Rationalisierung von Autori-tät, 2. die Ausdifferenzierung neuer politischer Funktionen sowie der entsprechendenStrukturen, die diese Funktionen erfüllen, und 3. die zunehmende politische Partizipa-tion gesellschaftlicher Gruppen sowie der Entwicklung entsprechender Assoziationen(Verbände, Parteien). Das erste Kriterium steht für die Ablösung traditioneller Autori-tätsformen und die Etablierung einer singulären, säkularen, national-politischen Auto-rität. Das zweite Kriterium beschreibt die Entwicklung einer administrativen, rationalarbeitenden Hierarchie, in der die Verteilung von Positionen weniger nach dem Krite-rium der Zuschreibung („ascription“), sondern nach dem der Leistung („achievement“)erfolgt. Und das dritte Kriterium verweist auf den Umstand, daß in modernen politi-schen Systemen die Bürger in die Regierungsangelegenheiten involviert sind.Um eine Entwicklungsprognose zu formulieren, war es für Huntington entscheidend zuzeigen, daß nicht nur die parlamentarische Demokratie, sondern auch die Einparteien-diktatur kommunistischer Prägung diese Kriterien erfüllen kann (vgl. 1966; 1968). Überwelchen dieser beiden Wege die politische Modernisierung eingelöst wird, entscheidetsich mit der strukturprägenden historischen Entwicklung in dem jeweiligen Land.Der Prozeß der Demokratisierung vollzog sich nach Huntington sukzessive über vieleJahrhunderte, in denen die Rationalisierung der Autorität einem strukturellen Differen-zierungsprozeß2 und der zunehmenden Massenpartizipation folgte. In Kontinentaleu-ropa, England und Nordamerika hat diese Entwicklung demokratische Systeme hervor-

2 Mit struktureller Differenzierung meint Huntington eine Ausdifferenzierung politischer Funktionen undder parallelen Entwicklung spezialisierter Strukturen, die die entsprechende Funktionserfüllung leisten:„Areas of peculiar competence –legal, military, administrative, scientific – become seperated from thepolitical realm, and autonomous, specialised, but subordinate, organs arise to dicharge those tasks.“(1966: 378).

Page 26: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 21

gebracht. Andere Länder, die in den 60er Jahren an der Schwelle zur politischen Mo-dernisierung standen, hatten von diesen drei Entwicklungstypen völlig abweichendehistorische Erfahrungen gemacht. Ihre Erfahrungen mündeten in eine soziale Struktur,in der Huntington ein unüberwindbares strukturelles Hindernis für eine demokratischeEntwicklung in absehbarer Zukunft sah. Die in die Unabhängigkeit entlassenen afrika-nischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten hatten oftmals eine feudaleStruktur geerbt. Damit ging eine Sozialstruktur einher, bei der der Graben zwischen armund reich, zwischen moderner Elite und traditionsorientierter Masse und zwischen poli-tisch, sozial sowie ökonomisch Starken und Schwachen enorm tief war. Die Kluftkonnte in den Staaten, die erfolgreich eine Demokratie etablierten, durch eine starkeRegierungsmacht geschlossen werden (wie im Europa des 17. Jahrhunderts), oder esgab sie erst gar nicht (wie in Nordamerika3).In diesem Unterschied steckt der für Huntington entscheidende Hinweis auf die Ent-wicklungschancen neuer Demokratien: Demokratische Institutionen stehen in einemKonfliktverhältnis zu den Modernisierungs- und Reformerfordernissen, die sich mitThemen der sozialen Wohlfahrt, einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung und derBildung eines Mittelstandes ergeben. Entsprechende Modernisierungsschritte brächtenfür die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas fundamentale Änderungen, die nachHuntington eigentlich nur mit Revolutionen durchgesetzt werden können. Nur so kön-nen starke Regierungen schwache Regierungen ablösen. Die liberalen, pluralistisch-demokratischen Regierungsformen Westeuropas oder Nordamerikas lassen sich nichteinfach übertragen. Huntington meint, daß in den Ländern, in denen die Modernisierungsimultan eine Konzentration von Macht, Strukturdifferenzierung und die Ausweitungder Partizipation verlangt, dieses Ziel viel besser durch ein Einparteiensystem erreichtwerden kann. Dieser strukturelle Zusammenhang veranlaßte ihn zu der These, daß derKommunismus das relevante Modell für die Modernisierung der Staaten im 20. Jahr-hundert sei: „If Versailles set the standard for one century and Westminster for another,the Kremlin may well be the most relevant model for the modernizing countries of thiscentury.“ (Huntington 1966: 413).Huntingtons und Moores Transformationsanalysen sind Beispiele für die historisch in-spirierte makrotheoretische Argumentation, daß in der Geschichte eine Weichenstellungfür die strukturelle Entwicklung erfolgt und so die Chancen einer zukünftigen Ent-wicklung determiniert werden.

Die Geschichte hat nun den Makrodeterminismus Lipsets, Moors und Huntingtons wi-derlegt. Der zentrale Zusammenhang von Wohlstand und Demokratisierung in LipsetsModell wurde mit der Entwicklung armer Länder in Südeuropa und Lateinamerika zu

3 „Americans, de Tocqueville said, were born equal and hence never had to worry about creating equality;they enjoyed the fruits of a democratic revolution without having suffered one.“ (Huntington 1968: 7).

Page 27: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 22

Demokratien aufgebrochen. Moores und Huntingtons Vorstellung, nach der in moder-nen Gesellschaften unterschiedliche Entwicklungswege möglich waren, hat mit denEntwicklungen in Osteuropa erheblich an Plausibilität eingebüßt. Seit den 90er Jahrenkann das kommunistische Modell nicht mehr als Modernisierungsalternative neben demModell demokratischer Gesellschaften bestehen.Alle drei Ansätze argumentierten überwiegend auf der Basis von Korrelationsstudien.Bestimmte Eigenschaften eines Anfangszustandes wurden mit Eigenschaften einesEndzustandes in Verbindung gebracht. Faschismus, Kommunismus oder Demokratiebildeten ein Ergebnis, das von spezifischen strukturellen Bedingungen determiniertwurde, die die Autoren als essentiell erachteten. Einen von der induktiven Logik diesermakrohistorischen komparativen Soziologie abweichenden, makrotheoretischen Ansatzentwickelte Parsons. Seine Aussagen über gesellschaftliche Entwicklung deduzierte eraus der Logik seines systemtheoretischen Modells.Bereits in den 50er Jahren hatte Parsons Grundbausteine für eine Theorie des sozialenWandels formuliert, die er dann in den 60er Jahren mit einem Ansatz zum strukturellenWandel weiter ausarbeitete. In den 50er Jahren versuchte er zu zeigen, daß mit dem„structural-functional“ Ansatz (1951: 535) die Dynamik des Wandels innerhalb einessozialen Systems, aber auch der Wandel des sozialen Systems selbst, erklärt werdenkann.Parsons beschrieb zwei Problemstellungen des sozialen Wandels: Erstens, warum eszum Wandel kommt, also welches seine Auslöser sind. Dabei spielen die Konzepte desGleichgewichts („equilibrium“) und der Spannungen („strains“) eine zentrale Rolle.Und zweitens, in welche Richtung der Wandel verläuft. Den Schlüssel zum Muster desgesellschaftlichen Entwicklungstrends sah er in den 50er Jahren in Max Webers Prinzipder Rationalisierung (1951: 496f). Diese Vorstellung baute er in den 60er Jahren zueinem Evolutionskonzept der gesellschaftlichen Entwicklung aus (vgl. 1969a, 1969b).Die Auslöser gesellschaftlicher Änderungsprozesse liegen in strukturellen Spannungen,die das gesellschaftliche Gleichgewicht stören (1951: 480f). „Spannung bezieht sichhier auf die Beziehung zwischen zwei oder mehreren struktuellen Einheiten (z.B. Sub-systeme eines Systems), die die Tendenz hat, einen Druck in Richtung auf den Wandeldieser Beziehung auszuüben, eine Veränderung, die mit dem Gleichgewicht des betref-fenden Systemteils unvereinbar wäre.“ (Parsons 1969a: 38). Solche Spannungen entste-hen beispielsweise durch Störungen der Erwartungsmuster des Persönlichkeitssystems,die durch kulturelle Entwicklungen, z.B. technischen Fortschritt oder religiöse Ideen,angestoßen werden (1951: 490f) oder aber auch von der politischen oder ökonomischenEbene des Systems ausgehen (1969a: 46). Die Integrationstendenz des Handlungs-systems wehrt sich gegen den Wandel, weil das System eine Tendenz zum „boundary-maintaining“ hat (1951: 481). Stabile Systeme können interne Spannungen ausgleichen,so daß auch äußere Änderungen neutralisiert werden, bevor sie stabilitätsbedrohende

Page 28: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 23

Auswirkungen entfalten, wenn das Wertesystem stabil ist (1969a: 40). Werden die ge-sellschaftlichen Werte und Normen aber derart in Frage gestellt, daß die Spannungennicht durch Wiederherstellung der Konformität gelöst oder anderweitig gehemmt bzw.isoliert werden können, dann verbleibt nur der Weg einer Wandlung der Struktur:„Wenn die Spannung groß genug wird, können die Kontrollmechanismen die Konfor-mität mit den normativen Erwartungen, die den Bestand der Struktur garantieren, nichtmehr aufrechterhalten“ (Parsons 1969a: 38). Entweder wird das alte Gleichgewicht ineinem „re-equilibrating process“ wiederhergestellt, oder ein neues Gleichgewicht wirdmit der strukturellen Neuorganisation4 des Systems angestrebt.Parsons bezog sich in seinen Analysen bereits 1951 auf die Entwicklung in der Sowjet-union (SU), um seine Vorstellungen zum sozialen Wandel zu verdeutlichen (1951:525f): Die strukturellen Widersprüche, die er in der Entwicklung des revolutionärenRegimes des Sowjetsystem feststellen konnte, veranlaßten ihn schon damals zu einerkritischen Einschätzung der Systemstabilität. Die erste zentrale Spannung identifizierteer in dem Widerspruch, der sich daraus ergab, daß die utopische Annahme einerzwangfreien Gesellschaftsform der Realität eines Konformitätsdrucks weichen mußte.Zumindest die Teile der Bevölkerung, die an der revolutionären Bewegung nicht betei-ligt waren, mußten entsprechend der revolutionären Werte diszipliniert und zu ihnen hinerzogen werden. Der Widerspruch wurde legitimiert, indem der Zustand einerzwangfreien, kommunistischen Gesellschaft in die Zukunft projiziert wurde, so daß deraktuelle Zwang als (vorübergehendes) Mittel zum Zweck deklariert werden konnte.Eine zweite Spannung sah Parsons in den Auswirkungen der drastischen Industrialisie-rungsanstrengungen in der SU. Er konnte zwar erkennen, daß die Industrialisierung derSystemstabilität anfänglich zuträglich war: Interne Anstrengungen helfen, einen Zu-stand der „emergency“ aufrechtzuerhalten, der die Integration der Gesellschaft fördert.Allerdings produziert erfolgreiche Industrialisierung auch eine Spannung, weil sie Indi-vidualismus fördert. Es findet nämlich eine Verschiebung vom Orientierungsmuster„universalistic-ascriptiv“ zum Orientierungsmuster „universalistic-achievment“ statt,die von der Struktur des Wertesystems nicht aufgefangen werden kann. Das hat seineUrsache darin, daß die Ungleichheiten, die sich aus der sozialen Stratifikation in einerindustriellen Gesellschaft ergeben, offensichtlich der herrschenden Ideologie widerspre-chen. In diesem Widerspruch ist ein Integrationsproblem angelegt. Ungleichheit kannnicht - wie in den kapitalistischen Gesellschaften – mit funktionaler Leistungsfähigkeitlegitimiert werden.Parsons versuchte auch die Richtung anzugeben, die ein aus Spannungen resultierenderStrukturwandel einschlagen kann. In den 60er Jahren formulierte er seinen evolutionä-

4 An dieser Argumentation wird deutlich, daß Parsons‘ Theorie des strukturellen Wandels eineTransformationstheorie in dem hier verstandenen Sinne darstellt: Strukturelle Neuorganisation beschreibteinen Prozeß, bei dem sich die gesamtgesellschaftliche Struktur – als Reaktion auf eine Entwicklung, beider das gesellschaftliche Norm- und Wertemuster in Frage gestellt wird - (radikal) wandelt.

Page 29: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 24

ren Ansatz des Strukturwandels (1969b), bei dem das Konzept der Rationalität hinterdie gesteigerte Anpassungskapazität zurücktritt, die den Modernisierungsprozeß neu-zeitlicher Gesellschaften charakterisiert. Parsons entwarf universelle Regeln („Univer-salien“) für die Evolution von Kultur und Gesellschaft. Sie stellen strukturelle Innova-tionen dar, die zu einer gesteigerten Anpassungskapazität führen und somit dem Be-stand des Systems zugute kommen. Die Entwicklung moderner Gesellschaften in demevolutionären Prozeß ist zielgerichtet (1972: 176). Sie bewegt sich auf eine Struktur„...bürokratischer Organisationsformen zur Realisierung kollektiver Ziele; Geld undMarktsysteme; ein allgemeingültiges universalistisches Rechtssystem und die demokra-tische Assoziation mit gewählter Führung...“ (1969b: 72) zu. Diese strukturellen Verän-derungen sind als evolutionäre Universalien das Resultat von Differenzierungsprozes-sen und dem damit einhergehenden funktionalen Bedarf an integrativen Strukturen.In seinen Beiträgen zur evolutionären gesellschaftlichen Entwicklung äußerte sich Par-sons wiederholt zum sowjetischen bzw. kommunistischen Gesellschaftssystem. Dabeiverknüpfte er das evolutionäre Konzept mit seinen früheren Analysen der Spannungenund Gleichgewichtsstörungen und konnte so eine zwar vorsichtige, aber dennoch kon-krete Prognose zur Entwicklung der SU wagen, die den Leser heute in ihrer Klarheitüberrascht und deshalb hier ausführlich zitiert wird: „Ich stelle tatsächlich die Prognose,daß sich die kommunistische Gesellschaftsorganisation als instabil erweisen wird undentweder Anpassung in Richtung auf die Wahlrechtsdemokratie und ein pluralistischesParteiensystem machen oder in weniger entwickelte und politisch weniger effektiveOrganisationsformen „regredieren“ wird; im zweiten Fall würden sich die kommuni-stischen Länder viel langsamer weiterentwickeln als im ersten Fall. Diese Voraussagestützt sich nicht zuletzt darauf, daß die Kommunistische Partei überall die Aufgabe be-tont hat, das Volk für eine neue Gesellschaft zu erziehen. Langfristig wird ihre Legiti-mität bestimmt untergraben, wenn die Parteiführung weiterhin nicht willens ist, demVolk zu vertrauen, das sie erzogen hat. In unserem Zusammenhang aber heißt demVolk zu vertrauen: ihm einen Teil der politischen Verantwortung anzuvertrauen. Daskann nur bedeuten, daß die monolithische Einheitspartei schließlich ihr Monopol derpolitischen Verantwortung aufgeben muß. (Damit sind keinesfalls die vielen kompli-zierten Wege analysiert, auf denen sich diese Entwicklung vollziehen könnte; aber da-mit ist die Richtung angezeigt, in die die Entwicklung höchstwahrscheinlich gehen wird,wenn die negativen Konsequenzen vermieden werden sollen).“ (1969b: 71).An dieser Prognose wird zweierlei deutlich: Erstens hat sich die strukturell-funktionaleTheorie Parsons‘ mit ihrer Vorhersage bewährt5. Mit der makrotheoretischen Analysekonnten sowohl Ursachen des Umbruchs anhand der Spannungen erkannt werden als

5 Was nicht heißen muß, daß außer dem von Parsons betonten Legitimitätsproblem keine weiterenFaktoren Ursache der Entwicklung gewesen sein konnten. Ex post lassen sich die Ursachen natürlichdifferenzierter betrachten.

Page 30: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 25

auch die Richtung der Entwicklung angezeigt werden. Zweitens wird deutlich, was dieTheorie nicht leistete und auch nicht zu leisten vorgab: Das Wie des Wandels verbleibtungeklärt, weil die Wege der Entwicklung - wie der parenthetisch gefaßte Teil des Zi-tats ausführt - nicht analysiert werden.

In den 70er und 80er Jahren verblaßte das Interesse der Transformationsforschung anmakrotheoretischen Entwicklungskonzepten. Es fand ein Bruch mit dem makrosoziolo-gischen Paradigma statt. Neue Wege wurden beschritten, um die Erfahrungen, die mitden zahlreichen Demokratisierungen in Südeuropa und dann in Lateinamerika gemachtwurden, theoretisch aufzuarbeiten. Dabei rückten andere Themen ins Blickfeld derTransformationsforschung. Insbesondere, weil sich die makrotheoretische Transforma-tionsforschung, die die Wege der Demokratisierung beschreiben wollte, nicht bewahr-heitet hatte, konnten sich nun Ansätze behaupten, die die Strategien der Demokratisiererund ihrer Gegner in den Mittelpunkt rückten. Die bekannteste und umfangreichste ver-gleichende Studie Transitions from Authoritarian Rule; Prospects for Democracy ist amWoodrow Wilson International Center for Scholars unter der Leitung von GuillermoO’Donnell, Phillippe C. Schmitter und Laurence Whitehead (1986) entstanden. Schonder Titel verweist auf den von den bisherigen Transformationstheorien abweichendenFokus der Studie. Den Untersuchungsgegenstand bildet ein Zwischenstadium: „Whatwe refer to as „transition“ is the intervall between one political regime and another.“(O’Donnell / Schmitter 1986: 6). Die Autoren konzentrierten sich nicht etwa auf denZusammenbruch des alten Regimes, sondern auf die Phase des Übergangs von autoritä-ren zu demokratischen Regimen.In den 80er Jahren waren die Umbrüche in Südeuropa und Lateinamerika weniger aufÜberraschung gestoßen als der Umbruch in Osteuropa in der folgenden Dekade. Wasdas öffentliche Interesse und die Intellektuellen beschäftigte, war daher weniger dieFrage nach dem Warum, also den Ursachen des Umbruchs, als vielmehr das Risiko ei-ner Rückwärtsbewegung zum Autoritarismus und z.T. auch die Befürchtung einer Ent-wicklung zum Sozialismus (vgl. O’Donnell / Schmitter 1986: 11f). Deshalb lag dasprimäre Interesse bei den Fragen nach dem Wie, d.h. der Gestaltung des Übergangs, undnach den Chancen für eine Stabilisierung der Demokratie. Neben dem vitalen Interesse,die jungen Demokratien zu stabilisieren und gegen regressive Tendenzen zu immuni-sieren6, gab es zwei weitere Gründe dafür, daß anders als bei der Transformation Osteu-ropas die Ursache der Transformationen wenn überhaupt, dann nur von sekundäremInteresse für die Forschung war. Der erste Grund liegt in dem Unterschied zwischendem Selbstverständnis der kommunistischen Regime und dem der autoritären Regime:Der Kommunismus war ein Zukunftsentwurf mit ideologischem Charakter, der eine 6 Dieses Interesse bildet explizit den normativen Hintergrund der Studie. Lowenthal bemerkt einleitend,daß das Transition-Projekte einer „normative Orientation“ mit einem „...frank bias for democracy...“(1986: x) folgte.

Page 31: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 26

Welt versprach, die es anzustreben galt. Die Utopie diente den Regimen Osteuropas,sich auf eine unbestimmte, aber in jedem Falle sehr lange Zeit zu legitimieren. Nicht-kommunistische autoritäre Regime nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen waren vonvornherein als Übergangsregime konzipiert - „They are regimes that practice dicta-torship and repression in the present while promising democracy and freedom in thefuture.“ (O’Donnell / Schmitter 1986: 15). Sie legitimierten ihre Herrschaft in der Regelmit dem Verweis auf ihre Leistung als Stifter sozialen Friedens oder ökonomischenFortschritts. Der Übergang zur Demokratie war in den autoritären Regimen angelegtund war im Bewußtsein der Öffentlichkeit präsent – der Bestand der autoritären (Über-gangs-)Regime stand unter kontinuierlichem Begründungsdruck.Ein zweiter Grund für das mäßige Interesse der Transitionsstudie an den Ursachen derTransformation läßt sich darin vermuten, daß demokratisierende Schritte in autoritärenRegimen überlegt und intentional und nicht etwa aus einer Not- und Zwangslage herauserfolgen. Die Demokratisierung mit liberalisierenden Schritten bietet sich nämlich para-doxerweise zu einem Zeitpunkt an, zu dem der Erfolg des autoritären Regimes umfas-send wahrgenommen wird7. Das Regime muß also nicht - entgegen seinem Interesse -zusammenbrechen, damit es zu einer Demokratisierung kommt. Ganz im Gegenteil, dieStabilität der Regime kann eine günstige Voraussetzung für den Wandel bilden.Unter diesen Umständen mußte sich die Überraschung über die Transformation inGrenzen halten und die Frage nach dem Zusammenbruch in den Hintergrund geraten.Liegt das primäre Interesse dann bei den dynamischen Prozessen des Übergangs8, ge-raten Akteurskonstellationen und Entscheidungen sowie Motive der am Umbau betei-ligten Akteure ins Blickfeld; Elitenhandeln, die Rolle des Militärs und die Wirkungenöffentlicher Mobilisierung bilden den Fokus. Externen Variablen wie der geostrategi-schen Situation wurde als Kontext für die Öffnung des autoritären Regimes nur eineuntergeordnete Bedeutung zugeschrieben. Wiederholt taucht der Hinweis auf, daß „do-mestic, internal factors“ über die Institutionalisierung und den Verlauf der Transitionentscheiden (O‘Donnell / Schmitter 1986: 18; Lowenthal 1986: xi). Mit den internenFaktoren sind nicht etwa regimespezifische Struktureigenschaften gemeint, sondernAkteurskonstellationen und Akteure, deren Entscheidungen keinesfalls von ma-krostrukturellen Faktoren determiniert werden. Daraus erklärt sich das analytische Pri-mat der Beiträge in der Transitionsstudie9. Ihren Kern bilden akteurstheoretische An-sätze. Hinweise auf strukturelle Variablen, die der „... strukturalistisch aufgeklärte de-

7 O’Donnel und Schmitter führen diesen paradoxen Zusammenhang aus: Die „Soft-Liner“, als Initiatorender Liberalisierung, hoffen in einer erfolgreichen Phase, daß die Effektivität des Regimes in öffentlicheUnterstützung für das Regime während der Transition übertragen werden kann (1986: 16).8 Insofern handelt es sich bei den Studien nämlich auch nicht um theoretische und empirischeTransformationsstudien, wie bspw. Merkel (1995: 31) bemerkt, sondern eben um Transitionsstudien, dieeine begrenztere Fragestellung bearbeiten.9 Der Zusammenhang von Dynamik des Änderungsprozesses und analytischer Ansatzhöhe derUntersuchung wird in der vorliegenden Arbeit ausführlich ausgeführt (vgl. Teil IV).

Page 32: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 27

skriptiv-typologische Akteursansatz ...“ (Merkel 1995: 31) der Transitionsstudie durch-aus enthält, fungieren nicht als Erklärungsbausteine des Zusammenbruchs. StrukturelleVariablen werden von den Autoren mit der Absicht eingeführt, die Schwierigkeiten zuspezifizieren, die im Erbe der autoritären Regime angelegt sind und somit Ausgangsbe-dingungen für den Start der Institutionalisierung eines demokratischen Regimes be-schreiben, so daß komparative Aussagen über Entwicklungschancen und -risiken mög-lich werden10.Von der akteurszentrierten Transformationsforschung der 80er Jahre, die primär alsTransitionsforschung betrieben wurde, konnten weder Antworten auf die Frage nachden Ursachen des Zusammenbruches der osteuropäischen Regime noch Vorhersagenüber die weitere Entwicklung erwartet werden. Es lag nicht an der theoretischen Quali-tät der Ergebnisse, daß die Transformationsforschung Ende der 80er Jahre von dem Zu-sammenbruch der kommunistischen Regime überrascht wurde. Vielmehr verbindet dieTransformation Osteuropas die alte Fragestellung nach den Ursachen gesellschaftlicherEntwicklung mit der Frage nach den Prozessen des Übergangs - der Transition.

Mit der Transformation Osteuropas steht die sozialwissenschaftliche Theorie also vorFragenkomplexen, die umfangreicher sind als die Fragestellungen, die Parsons bei sei-nem Ausführungen zum sozialen Wandel oder die Transformationsforschung zu denUmbrüchen in Südeuropa und Lateinamerika beschäftigten. Einerseits interessieren dieUrsachen des Zusammenbruchs und andererseits die Prozesse des Übergangs und diesich daraus ergebenden Chancen und Risiken für das neue, angestrebte Regime. Für dieaktuelle Transformationsforschung bedeutet das, daß sie eine Syntheseleistung zu er-bringen hat. Es muß versucht werden, zusammenzufügen, was historisch getrennt war.Mit der Transformation Osteuropas haben sich Problemstellungen ergeben, die in denTransformationstheorien vor 1989 thematisch und zeitlich auseinanderfielen. Für eine 10 Beispielsweise lassen sich in der komparativen Studie O’Donnells derartige Hinweise finden (1986):Eine Gefahr für die Demokratisierung in den meisten lateinamerkanischen Staaten wird in demstrukturellen Erbe eines vergleichsweise hohen Militarisierungsgrades, der als eine Bedrohung für dieAutoritätshoheit des demokratischen Souveräns verstanden wird, gesehen. Darüber hinaus gab der hoheGrad sozio-ökonomischer Ungleichheit eher Grund zur pessimistischen Einschätzung derEntwicklungschancen, weil Demokratien nicht als optimale Lösung für „Equity-Probleme“ gelten. Derzivilgesellschaftliche Hintergrund bildet auch eine interessante Größe. In Lateinamerika war erwesentlich schwächer ausgeprägt als in Südeuropa, so daß den Ideen der politischen Demokratie und desPluralismus eine zweifelhafte Bedeutung zugeschrieben wurde. O’Donnell befürchtete daher fürLateinamerika eine generelle Offenheit für autoritäre Lösungen, wenn sich die demokratischenInstitutionen nicht bewährten oder anderweitig Chaos drohte.Auch wurde in den Studien versucht, aus den Spezifika der autoritären Herrschaftsausübung Aussagenüber den möglichen Weg zur Demokratisierung abzuleiten. (O’Donnell <1986: 4f> erweitert im Versuch,generalisierende Aussagen zu treffen, zwar die klassischen drei Typen moderner Herrschaftsformen –Totalitarismus, Autoritarismus und Demokratie -, muß aber so viele Ausnahmen und Hybride der neuenTypen einführen, daß an der generalisierenden Qualität der Typologie gezweifelt werden kann.).Demnach erfolgte auch mit diesen Hinweisen keine Untersuchung der Ursachen der Ablösung des altenRegimes. Die Autoren versuchen nur zu klären, warum die Demokratisierung in Südeuropavielversprechender verlief als in Lateinamerika (Schmitter 1986:4) und ob aus dem Weg der TransitionSchlüsse für die Demokratisierungsmöglichkeiten gezogen werden können.

Page 33: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Transformationsforschung vor 1989 28

umfassende Analyse des Phänomens „Transformation Osteuropas“ müssen sie heutezusammengebracht werden: Auslöser des Zusammenbruchs, Dynamiken des Umbausund Mechanismen der Konsolidierung bilden das Ensemble der Untersuchungsgegen-stände aktueller Transformationsforschung.An eine makrotheoretische Logik zur Transformation bzw. zum sozialen Wandel wirdheute angeknüpft, wenn System- und Strukturdefizite kommunistischer Regime aufge-zeigt werden, die zwar nicht zwingend den Zusammenbruch induzieren, mit denen sichaber Bedingungen (also Ursachen) für die Öffnung eines „Transformationsfensters“benennen lassen. Wie die dynamischen Prozesse des Übergangs und Umbaus ausge-staltet werden, hängt von der Zusammensetzung der beteiligten Akteure und ihren Ent-scheidungen bzw. Handlungen ab. Solche Prozesse können mit mikrotheoretischenAnalysen untersucht werden, was auch schon die Transitionsforschung der 80er Jahrengezeigt hat.

Page 34: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 29

II. DER ZUSAMMENBRUCH DER ALTEN ORDNUNG

Page 35: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 30

1. Makrotheoretische Ansätze

Makrotheoretische Ansätze beschreiben die „Strukturierung der Transformationsoptio-nen“. Sie untersuchen, wie in den kommunistischen Systemen die Möglichkeit für eineTransformation entstanden ist, indem sie system- oder strukturspezifische Defizite undinnere Widersprüche herausstellen.In der systemtheoretischen Perspektive wird die Transformation als ein autonomer Pro-zeß sozialer Evolution beschrieben. Der Zusammenbruch folgte einer inneren Logik,ergab sich also aus systemimmanenten Eigenschaften. Die besonderen Eigenschaftender kommunistischen Systeme blockierten die Strukturerhaltung des Systems bei gege-benen Umweltanforderungen. Strukturtheoretische Ansätze konkretisieren diesen Zu-sammenhang, indem sie beschreiben, wie über externe Bedingungen interne Prozesse inGang gesetzt wurden, die wiederum den Charakter der externen Beziehungen maßge-bend bestimmten. Solche Bedingungen können sich aus der Interstate-Competition er-geben. Der Wettbewerb kann Konfliktlinien, aber auch Konvergenzlinien hervorbrin-gen. Die geopolitische Theorie konzentriert sich auf den ersten Aspekt; die Auswirkun-gen zwischenstaatlicher Konflikte auf die Systemstabilität. Modernisierungstheorienhingegen konzentrieren sich eher auf die Eigengesetzlichkeit der internen Entwicklungim System, die durch externe Variablen lediglich angestoßen wird, und damit auf denzweiten Aspekt. Die Modernisierung führte zu Konvergenzen sowohl durch den wirt-schaftlichen Wettbewerb als auch durch den Kulturtransfer in der „Weltkultur“ über dieMedien oder die z.T. durchlässigen Grenzen.Die Einteilung der im folgenden vorgestellten Ansätze erfolgt einerseits nach dem Ab-straktionsgrad der Theorien und andererseits nach dem Ausmaß der Bedeutung, die denexternen bzw. internen Variablen zugeschrieben wird. Die systemtheoretischen Unter-suchungen stellen in ihren Mittelpunkt den Vergleich der spezifischen Steuerungsmodiund Umweltverarbeitungskapazitäten von kommunistischen Systemen und demokrati-schen Systemen. Der geopolitische Ansatz betont die Bedeutung der Interstate-Compe-tition und damit das Primat externer Variablen. Eine weitere Gruppe bilden Erklärungs-versuche, die modernisierungstheoretisch argumentieren. Sie identifizieren interne Pro-zesse bzw. Strukturdefizite als Ursachen von Krisen. Diesen systemimmanenten Defi-ziten und Widersprüchen wird in den Analysen zur Transformation in Osteuropa diegrößere Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb wird ihren Argumenten in den folgendenAbschnitten auch das Hauptaugenmerk entgegengebracht.

Page 36: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 31

1.1 Systemische Defizite

Brechen Systeme zusammen wie in Osteuropa, dann liegt das daran, daß ihnen wichtigeStabilitätsfaktoren fehlen. Aus der systemtheoretischen Perspektive konnten die westli-chen Systeme bestehen, weil sie eine höhere Stabilisierungsfähigkeit als die kommuni-stischen Systeme zeigten. Die autopoietische Systemtheorie - wie von Luhmann (vgl.1984) entwickelt - bietet ein Instrumentarium, mit dem sich die spezifischen Faktorenbenennen lassen, die in kommunistischen Systemen für den Stabilitätsmangel verant-wortlich waren.Das Autopoiese-Konzept beschreibt den Grad, in dem Systeme nach funktionsspezifi-schen Kriterien operieren bzw. operativ geschlossen sind (vgl. Luhmann 1984; Willke1989). Soziale Systeme haben in einer evolutionären Entwicklung zum Primat derfunktionalen Differenzierung sogenannte Spezialsprachen in Form spezialisierterKommunikationsmedien herausgebildet (vgl. Luhmann 1975: 170f; 1984: 222; 1994:28f): Für das Teilsystem der Politik ist dies Macht, für die Wirtschaft Geld und für dieWissenschaft Wahrheit (um nur einige Beispiele zu nennen). In diesen Medien ent-scheidet die sogenannte Leitdifferenz, ob und wie Information verarbeitet werden kann(vgl. Willke 1992: 169). Politik differenziert und selektiert nach dem Code Regierungoder Opposition, Wirtschaft nach zahlen oder nicht zahlen und Wissenschaft nach wahroder unwahr. Erst die Ausbildung dieser systemspezifischen, binären Codierungen er-laubt es, Information bzw. Umwelteinflüsse effektiv nach systemspezifischen Rationa-litäten zu verarbeiten.Als entscheidendes Stabilitätskriterium für ein System identifiziert die autopoietischeSystemtheorie die Funktion der dynamischen Strukturanpassung an exogene wie endo-gene Anforderungen oder Schocks (vgl. Luhmann; 1984 Willke 1989). Diese Anforde-rungen können in funktional stark differenzierten modernen Gesellschaften erfüllt wer-den, wenn sich die Strukturen der Teilsysteme dynamisch und mit der allgemeinenfunktionalen Differenzierung koevolutiv entwickeln (vgl. Sandschneider 1994). DieSystem-Umwelt-Relation erfordert immer wieder Anpassungsleistungen. Sie bilden dieVoraussetzungen für eine effektive Problembearbeitung, die davor schützt, daß neueAnforderungen und Schocks die Systemstabilität gefährden. Für gesellschaftliche Teil-systeme folgt daraus, daß sie mit Bezug auf die Umwelt hinreichend ausdifferenziertund spezialisiert sein müssen (vgl. Luhmann 1984: 476f).Systeme unterscheiden sich signifikant in ihrer Anreizperzeption. Die Qualität der un-terschiedlichen Wahrnehmung und der aus ihr folgenden Reaktionen läßt sich an dersysteminternen Differenzierung messen und verweist damit auf den Grad des autopoie-tischen Charakters des Systems. Nur wenn Systeme ihrem eigenen Code bzw. ihrer ei-genen Leitdifferenz folgen, d.h. selbstreferentiell (autopoietisch) operieren, können sieeigene Rationalitäten ausbilden, mit denen optimal auf Umweltanforderungen reagiertwerden kann (Luhmann 1984: 60f). Nicht erfüllt wird die Anpassungsleistung, wenn es

Page 37: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 32

eine den differenzierten Teilsystemen „übergeordnete Superrepräsentation“ (Merkel1994) gibt. Mit „übergeordneter Superrepräsentation“ ist der Übergriff teilsystem-un-spezifischer Codes gemeint. In diesen Fällen kann das Teilsystem nicht mehr nach eige-nen Kriterien Umweltanforderungen verarbeiten. Die Dominanz einer systemfremdenLeitdifferenz der Anreizperzeption senkt bei hoher Komplexität die Problemlösungska-pazität, weil die Vorteile der Ausdifferenzierung unterminiert werden, was effizienz-mindernd wirkt. Die Autopoiesis wird resistent gegen teilsystem-spezifische Anforde-rungen, so daß das Teilsystem nicht in der ihm eigenen Rationalität auf die Umweltän-derungen reagieren kann. Das System verliert in der sich verändernden Umwelt zuneh-mend an Stabilität.

Was folgt aus diesen Zusammenhängen für autoritäre bzw. totalitäre Systeme wie denkommunistischen Regimen? Systemtheoretisch wird argumentiert, daß moderne For-men nicht-demokratischer Systeme durch die repressiv erzwungene Übernahme einerLeitdifferenz gekennzeichnet sind (Sandschneider 1994): Die gesellschaftlichen Teil-systeme wurden im Kommunismus durch die Übernahme des Codes des politischenTeilsystems an die Politik gekoppelt1. Die Ökonomie oder auch die Wissenschaftkonnten nicht mehr nach ihren eigenen Kriterien operieren, sondern mußten sich immerprimär dem Code der Politik unterordnen. Sie verloren ihre Autonomie, d.h. die unab-hängige, teilsystem-rationale Verarbeitung von Umweltanreizen war unmöglich. DieFolge eines solchen Zustandes ist eine rigide Steuerung mit Funktionskrisen. Dysfunk-tionalität kann weder weiterverarbeitet noch durch Anpassung kompensiert werden. Dieinadäquate Struktur perpetuiert sich, weil keine effektiven Rückkoppelungsmechanis-men entwickelt werden können. Mobilisierungsressourcen und Verarbeitungskapazitätwerden nicht nur unterdrückt, sondern auch verbraucht, so daß ein adäquater Struktur-wandel über Selbststeuerungs- und Selbstorganisationskapazitäten (Autopoiesis) inner-halb des bestehenden Systems unmöglich wird. In einem solchen Zustand wird eineTransformation nötig, da die Absorption externer Anreize nur mit einer Umdefinitionder Leitdifferenz und der Zulassung teilsystemischer Differenzen, also dem Identitäts-verlust des bestehenden Systems, gelingt.Sandschneiders systemtheoretische Argumentation bewältigt die theoretische Heraus-forderung des Zusammenbruchs kommunistischer Regime auf hohem Abstraktionsni-veau. Sie bewegt sich auf einer Allgemeinheitsstufe, die den pauschalen Vergleich zwi-schen planwirtschaftlich organisierten, kommunistischen Regimen und marktwirt-schaftlich organisierten, demokratischen Regimen ermöglicht.Historische Prozesse bestätigen die systemtheoretischen Annahmen auch in einer weni-ger abstrakten Konfrontation mit empirischen Fakten. Heute läßt sich anhand offenkun- 1 Mit dem Primat einer Leitdifferenz findet eine Entdifferenzierung statt. Sie etabliert sich mit derDespezifizierung teilsystemischer Codes. Die gesamte Wirklichkeit wird nach dem dualen Code derPartei, nämlich sozialistisch / antisozialistisch kommuniziert (vgl. Pollack 1990).

Page 38: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 33

dig gewordener funktionaler Defizite nachzeichnen, wie es zum evolutionären Zusam-menbruch kommen mußte (Brie 1992): Funktionale Defizite wurden bspw. in der SUmit dem Konstitutionskonzept als zentrale Dimensionen der Identität des Systems eta-bliert: Der Sozialismus konzipierte und legitimierte sich als „Gegenform“ (Brie 1992:70f; Bude 19932) zu den Modernisierungserscheinungen des Kapitalismus. Damitwurde der Sowjetunion die konfrontativ-kompetitive Beziehung zu den nichtsozialisti-schen Weltmetropolen in die innere Struktur „eingeschrieben“. Garantierte ihr sozialbü-rokratisch organisierter Gesellschaftstyp anfänglich auch äußere Stabilität, so führteandererseits die mangelnde funktionale Differenzierung und die administrative Res-sourcenzentralisierung zur inneren Selbstauflösung – insbesondere wegen der immen-sen Kosten für den (militärischen) Wettbewerb. Das Fortschrittspotential der in einigenDimensionen durchaus modernen Gesellschaft reduzierte sich drastisch durch die zen-trale Organisation, von der eigentlich eine stärkere Rationalität erwartet wurde. Sy-stemimmanente Krisen wurden daher unvermeidbar.Auf der Grundlage dieser Logik stellt sich der Transformationsprozeß als evolutionärerKrisenzyklus dar, den Brie (1992) wie folgt beschreibt: Die künstlich zurückgehaltenenPotentiale führten in der SU nicht nur zur ökonomischen Stagnation. Sie verstärktenauch den Drang, strukturelle Evolutionspotentiale nach der Logik teilautonomer Syste-me mit spezifischen Codes auszubilden - jenseits des dominanten politischen Steue-rungsmodus. Beispielsweise bildeten sich in privaten Kreisen Nischen mit teilsystemi-schen Logiken. Jede Veränderung, die mit konsequenten Reformen des Systems erfol-gen würde (d.h. jede Tendenz, dem Drang nach Differenzierung nachzugeben), mußteaber bei der vorhandenen Universalisierung der Rationalität des politischen Systemszum Zusammenbruch führen. Jede kreative Nutzung eines Krisenzyklus in Form einersinnvollen inneren Komplexitätserweiterung stellte die Reproduktionslogik des Systemsgenerell in Frage.Mit dieser Argumentation läßt sich dem Staatssozialismus eine Paradoxie nachweisen,die unvermeidbar zu einer Krise oder mindestens zu subversiven Tendenzen führenmuß. Die Anforderungen, die mit dem Streben nach Erhalt oder sogar Überlegenheitdes Systems innerhalb des Weltsystems entstehen, dürfen die Evolutionsfähigkeit unddie damit verbundenen Potentiale der Gesellschaften nicht unterdrücken. Nicht rigideSteuerung, sondern nur eine kybernetische Lenkung3 kann Stabilität garantieren (vgl.Sandschneider 1994) und einen effektiven Rückkopplungsmechanismus in Funktionsetzen (vgl. Merkel 1994). Die Unterdrückung der Evolutionsfähigkeit und der teilsy-stemischen Rationalitäten durch eine rigide Steuerung (mit einem dominanten Code,

2 Diese negative Selbstdefinition weist Bude auch für die DDR nach, deren Politikkonzept er als„tragische Selbstbeschreibung“ tituliert.3 Damit ist hier die Selbststeuerung gemeint, die einem teilsystemischen Code folgt und eineRückkopplung garantiert.

Page 39: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 34

einer dominanten Leitdifferenz) sind aber zentrale Identitätsmerkmale autoritärer undinsbesondere totalitärer Systeme.

Die Zuständigkeit der Systemtheorie für die Transformationsforschung bleibt abgrenz-bar und läßt Raum für die Theoretisierung individueller und kollektiver Handlungen,die nicht im Widerspruch zur Systemtheorie stehen muß. Zum Teil deutet sich dieserSchritt in den systemtheoretischen Analysen an. Bei Brie (1992) beschreiben der Prozeßder Dezentralisierung von Macht und die Entstehung von Gegengesellschaften (Ni-schen) nichts anderes als oppositionelle Potentiale auf der Grundlage einer bunten Pa-lette individueller Bedürfnisse und Orientierungen. Diese reichen von strategischen Op-tionen beim zunehmenden horizontalen Aushandeln von Interessen bis hin zu Bestre-bungen zur Herstellung einer überzeugenden integren Identität des Individuums in einerGemeinschaft. Hieraus erwächst die Notwendigkeit einer systematischen Erklärungdieser Prozesse individueller und kollektiver Interaktionen nach der Logik der relevan-ten individuellen Orientierungen. Eine solche Erklärung beginnt mit der Untersuchungder Begrenzungen des diskretionären Raums individueller Entscheidungen und Hand-lungen, die an der Untersuchung der strukturellen Bedingungen ansetzt. Die Beschrei-bung des Handlungsrahmens findet auf der Grundlage konkreter struktureller Entwick-lungen statt. Über historische, geopolitische Variablen und Besonderheiten der Organi-sationsformen, der Institutionenstruktur sowie des Differenzierungsgrades können die„...strukturellen Möglichkeitsbedingungen der Demokratie innerhalb gegebener Macht-konstellationen...“ (Merkel 1994: 14) identifiziert werden. Diese die Richtung der in-krementalen evolutionären Prozesse konkretisierenden und dynamisierenden Bedingun-gen stehen im Mittelpunkt der strukturtheoretischen Ansätze.

Page 40: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 35

1.2 Geopolitische Herausforderungen

Die geopolitische Theorie hat strukturelle Variablen des Zusammenbruchs in expliziterAbgrenzung zu den Modernisierungs- und Konvergenztheorien sowie der ökonomi-schen Theorie herausgearbeitet. Dimensionen der politischen Ökonomie - wie Mängeldes ökonomischen Systems des Kommunismus - werden als abhängige, von geopoliti-schen Größen determinierte Variablen behandelt (vgl. Collins 1995). Die Modernisie-rungs- und Konvergenztheorien werden mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß ihrenunspezifischen und schlecht zu verifizierenden Annahmen mit der geopolitischen Theo-rie ein Ansatz entgegengehalten werden kann, der einem deduktiv-nomologischen An-spruch gerecht wird. Collins und Waller (1993) beanspruchen explizit, die Antriebs-kräfte für Krisen und Zusammenbrüche von Staaten angeben zu können, die in ihrerstreng kausalen Wirkungsweise auch Vorhersagen erlauben. Der Zusammenbruch desKommunismus läßt sich in dieser Darstellung kurzerhand als „geopolitisches Scheitern“kennzeichnen.In der geopolitischen Theorie dient das Konfliktpotential der Interstate-Beziehung alsErklärungsgrundlage für den strukturellen Zusammenbruch (Collins / Waller 1993;Collins 1995): Die Autoren gehen davon aus, daß die militärischen Positionen im inter-nationalen Machtkampf im wesentlichen von der geopolitischen Lage abhängig sind.Der Zugriff auf Ressourcen, die Anzahl der Grenzen bzw. Fronten und die Ausdehnungdes Staatsgebietes prägen die geopolitische Belastung und bestimmen damit die Haus-haltslast sowie die Fiskalpolitik des Staates. Hierdurch werden interne Dimensionen vonexternen Konfliktlagen determiniert. Der Ressourcenzugang in Konfliktsituationen er-hält somit indirekt über die Steuerpolitik eine Schlüsselstellung für innenpolitische Pro-zesse. Die geopolitische Macht wird im Umkehrschluß bestimmt von der internen Res-sourcengewinnung. Eliten und Öffentlichkeit reagieren auf die Belastung dieser Makro-prozesse. Kumulieren die Konfliktsituationen, wie in der Sowjetunion, läßt sich derStaatszusammenbruch mit dem von Collins gezeichneten Wirkungsmodell (bei zuneh-mender Verletzlichkeit des Staates und seiner Herrscher in Krisen) nachvollziehen. Diegeopolitische Theorie beruft sich mit ihrer Argumentation auf Max Weber (vgl. 1972:520f), demzufolge die Legitimität der Eliten gegenüber der Bevölkerung von derMachtausübung des Staates nach außen abhängt: Die durch die Eliten vertretenen Ideo-logien sind nur dann populär, wenn die geopolitische Situation günstig ist. Folgerichtigfindet zur Legitimitätswahrung ein Kampf um das externe Machtprestige statt. Auf diezunehmenden Konfliktsituationen wird mit einem verstärkten Rückgriff auf Ressourcenreagiert, der bei Überextension - wie beim Rüstungswettlauf und Kriegen - zu derenErschöpfung bis hin zur staatlichen Desintegration führt. Einerseits erscheint die Füh-rung ineffektiv. Das bestimmt sowohl den Grad der Elitenkonvergenz, als auch die Re-

Page 41: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 36

aktion der Öffentlichkeit; d.h. in Folge der fiskalischen Probleme kommt es zur Legiti-mitätskrise. Andererseits bestimmen solche, die Legitimität der Herrschenden in Fragestellenden Krisen, die oft mit dem Kontrollverlust über die Mittel der Gewalt einherge-hen, auch die Entstehung von ethnischer Identifikation und Nationalismus. Desintegra-tion wird neben Systemänderung zu einer naheliegenden Option für diejenigen, die dieKosten der wahrgenommenen Ineffektivität zu tragen haben.In der Tat stand es in den späten 80er Jahren um die geopolitischen Faktoren der SUschlecht: Durch das Wettrüsten geriet sie in ihrem Zugriff auf Ressourcen gegenüberihrem politischen Gegner USA ins Hintertreffen. Die übermäßige Ausdehnung desStaatsgebietes trug zur Beschleunigung der Wirtschaftskrise bei. Darüber hinaus war dieSU als Binnenland an vielen weit voneinander entfernten Grenzen militärisch aktiv, wasdie wirtschaftlichen Kosten des Truppenerhalts in astronomische Dimensionen wachsenließ.Es erscheint plausibel, daß unter diesen Bedingungen der wirtschaftlichen Schwächunginnenpolitische Konflikte in der SU zunahmen und damit zum Zusammenbruch beitru-gen. Nach der geopolitischen Theorie wird der Ausgang der Krise aber keineswegs derGestaltung politischer Akteure zugeschrieben. Selbst das Auftreten zentraler Akteurewie Gorbatschow wird als Ergebnis struktureller Entwicklungen gesehen. Gorbatschowist lediglich als opportunistische Figur zu verstehen, die nicht etwa aktiv auf den Trans-formationsverlauf einwirken kann, sondern sich vielmehr den geopolitischen Realitätenanpaßt (vgl. Collins / Waller 1993: 307).

Die geopolitische Theorie konnte bereits in den 80er Jahren mit ihrem Modell den Zu-sammenbruch der SU vorhersagen (vgl. Collins 1980; 1986). Das macht die Wirkungs-modelle der geopolitischen Theorie aber noch nicht zu einem Paradigma für die Trans-formation oder auch nur für den Zusammenbruch von Staaten. Es bleibt nämlich zwei-felhaft, ob die strukturellen Variablen mit den geopolitischen Dimensionen ausge-schöpft sind. Wichtige Probleme sind in dieser Theorie unberücksichtigt:Die SU war nicht nur durch die außenpolitische Konfliktkonstellation unter Druck ge-raten, sondern auch stark von Korruption betroffen. Diese weitere Variable hatte durch-aus nachhaltigen Einfluß auf die Legitimität des Regimes, wenngleich sie nicht notwen-digerweise abhängige Variable geopolitischer Dimensionen war. China hat das Problemder Korruption vergleichsweise gut in den Griff bekommen. Die SU nicht. Hieraus er-wächst Erklärungsbedarf, der auf die Prozesse innerhalb der Elitenfraktionen verweist.Unterschiedliche Institutionen, Politikstile und Entscheidungsstrategien scheinen entge-gen den Annahmen der geopolitischen Theorie zur Verfügung zu stehen. Das verdeut-licht sich auch an der engen Auslegung des Legitimitätsbegriffs von Weber. Machtpre-stige war nur eine Legitimitätsquelle neben anderen, auf die sich die Machthaber berie-fen (vgl. Holmes 1993).

Page 42: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 37

Indirekt deutet sich in der geopolitischen Analyse an, daß die internationale Herausfor-derung eine wirtschaftliche Modernisierung fordert und somit die Beziehung zwischenBeherrschten und Herrschern sowie die Beziehungen innerhalb der Eliten ändert. DenEliten und der Fraktionsbildung in ihren Reihen obliegt es, auf die internationale Her-ausforderung mit Marktreformen oder verstärkter repressiver Ausbeutung zu reagieren.Liberalisierende Marktreformen, wie sie in den 80er Jahren in den osteuropäischenStaaten zu beobachten waren, werden im Zuge von Institutionenänderungen implemen-tiert. Die Analyse des Zusammenhangs von Interstate-Competition und institutionellemWechsel, der u.a. über die Unterminierung des Repressionswillens in der Elite dieTransformation einleiten kann, geht über einen einfachen geopolitischen Makrodeter-minismus hinaus. Deshalb müssen die externen geopolitischen Mechanismen durch denVerweis auf interne Spezifika ergänzt werden. Das geschieht, wenn die institutionellvermittelte Beziehung von externen Variablen zu internen Größen thematisiert wird.Weede (1992) unternimmt einen solchen Schritt: Ausgangspunkt für sein Wirkungsmo-dell bildet der Umstand, daß die Nationalstaaten sich dem internationalen Wettbewerbum effiziente Ressourcennutzung nicht entziehen können. Der Bevölkerung werdenOpfer zur Aufrechterhaltung der äußern Sicherheit abverlangt. Als Gegenleistung mußdie Regierung Zugeständnisse an die Bürger machen. Diese erfolgen meist in Form vonEigentumsrechten. Die somit anfallenden Kosten bzw. die Abtretung von Kontroll- undVerfügungsrechten bedeuten eine Limitierung der Macht der Regierung. Institutionellfixierte Besitz- und Eigentumsrechte unterscheiden sich wesentlich in ihrer Effizienz.Damit ist die Ressourcennutzung keine fixe Größe, wie es die geopolitische Theoriesuggeriert. Staaten mit ineffizienteren Besitz- und Eigentumsrechten sind im Kontextdes Interstate-Conflicts effizienteren Nachbarn unterlegen. Es muß die Änderung derBesitz- und Eigentumsrechte also ein instituioneller Wandel erwogen werden, um dienationale Identität im internationalen Macht- und Prestigewettbewerb zu behaupten. DerDruck auf die Staatsfinanzen durch die geopolitische Belastung droht ansonsten einenSchwellenwert zu überschreiten, an dem sich der externe Druck in einer Revolutionentlädt.Dieser Hinweis auf institutionelle Änderungen als interne Wirkung des externen Drucksrückt Zusammenhänge in den Vordergrund, die der Komplexität des Transformations-prozesses entsprechen. Allerdings findet mit der Beibehaltung des Konflikts als primäreErklärungsdimension eine systematische Einschränkung der Analyse statt. Wandel kannnämlich auch als ein Ergebnis von Konvergenzen verstanden werden, die im Rahmendes Konfliktpotentials des „modern world systems“ entstehen und ihre eigene Dynamikentwickeln.

Page 43: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 38

Eine militärische Konfliktsituation kann in einen wirtschaftlichen Wettbewerb münden,der die Grundlage für Konvergenzen der konkurrierenden Systeme bildet. Dieses Ar-gument schließt an die geopolitische Theorie an und bildet eine mit ihr kompatible Er-gänzung, wenn der Zusammenhang von Konflikt und Konvergenz offengelegt wird. Einsolcher Zusammenhang wird von Janos wie folgt erklärt (1991): Charismatische Füh-rung kann der Bevölkerung hohe Opfer abverlangen. Deshalb lassen sich Erschöpfungund Desintegration hinausgezögern. Zustimmung oder sogar Unterwerfung unter Führerund Sache werden erreicht. Bezogen auf die Sowjetunion ergibt sich folgendes Bild:Die bolschewistische, kommunistisch-ideologische Revolution gab der Sache und ihrenFührern das Charisma der Erlösung von den Bürden zaristischer Herrschaft. Mit derZeit wird der Zauber der Erlösung von der Routine eingeholt, die Erlösung wird ratio-nalisiert. Subversive Elemente und die drohende Palastrevolution werden mit kontinu-ierlichem Terror abgewehrt.Stalins exzessive „Säuberungsaktionen“ sind Beispiel für eine derartige Reaktion. DerTyrann konnte mit diesen Mitteln von der Bevölkerung hohe Opfer für die Aufrechter-haltung des Militärapparates erzwingen. Militarisierung ist aber nur eine der Möglich-keiten, auf die Effekte der globalen wirtschaftlichen Entwicklung zu reagieren. Diesverdeutlicht Janos (1991) mit Spencers Militanz- und Industrialismusmodell: Entwederwird im internationalen Wettbewerb die Option der externen Aktivität gewählt, eineOrientierung, wie sie der Ansatz der geopolitischen Theorie thematisiert. Oder es wirddie Möglichkeit der internen Aktivität, d.h. zunehmender Ausbau der Industrie, gewählt.(Auch hier wird deutlich, daß der Ressourcenzugriff nicht - wie in der geopolitischenTheorie - als fixe Größe behandelt werden kann.) Mit Gorbatschow setzte sich diezweite Option durch: Die konfliktinduzierende Idee des Klassenkampfes wird den wirt-schaftlichen Ideen des Wettbewerbs untergeordnet oder gänzlich aufgegeben. Der Wan-del erfolgt in zwei Schritten. Er beginnt mit der Rationalisierung der Erlösung und dra-matisiert sich unter den externen Konditionen des „modern world systems“ mit derTransformation der Militanz zu einer fatalen Form der Industrialisierung.

Die geopolitische Theorie behandelt bedeutsame externe Variablen, über die ein Regi-mewandel angestoßen wird. Allerdings vernachlässigt sie andere Variablen, die ebensozu Wandlungsprozessen führen können – wie zum Beispiel Korruption – und zur Klä-rung von länderspezifischen Unterschieden unerläßlich sind. Damit eng verbunden isteine weitere Einschränkung des Erklärungsbereiches der geopolitischen Theorie. Sieergibt sich daraus, daß die Theorie nur die Entwicklung der SU thematisiert. Die für dieSU geltenden Konfliktlinien versagen bei der Anwendung auf die anderen osteuropäi-schen Staaten. Für die Transformationen in diesen Staaten spielten vielmehr dem Kon-fliktpotential entgegengesetzte Variablen, die zu Konvergenzen zwischen Ost und Westführten, eine primäre Rolle.

Page 44: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 39

Daher läßt sich mit der Ergänzung der Wirkungsmodelle um interne Variablen derIdentitätsverlust und Wandel des Systems in stabilen, durch Entspannung gekennzeich-neten Zeiten besser verstehen als mit dem konflikttheoretischen Ansatz der geopoliti-schen Theorie4. Faktisch hat sich ja die frühere Freund-Feind-Logik extern in der Ideedes gemeinsamen europäischen Hauses und intern in Perestroika und Glasnost aufge-löst. Die zunehmende Konvergenz der Systeme manifestierte sich in der intensiverenwirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen. Aus der wirtschaftlichen Entwicklungentstanden auch Ansprüche an eine politische bzw. demokratische Umstrukturierung.Auf diesem Wege konnten sich zentrifugale, d.h. desintegrierende, Kräfte legitimieren,aus denen eine bedrohliche Situation für die Regierungsstabilität resultierte.Die in Anlehnung an die geopolitische Theorie formulierten Argumente (1. der durcheine Konfliktsituation hervorgerufenen Notwendigkeit institutioneller Änderungen <vgl.Weede 1992> und 2. der zu Konvergenzen führenden Legitimationsproblematik im ge-opolitischen Interstate-Conflict <vgl. Janos 1991>) werden von den Modernisierungs-theorien aufgegriffen. Interne Variablen wie die institutionelle Änderung in Richtungzunehmender Demokratisierung und die Neudefinition der Legitimität über die Leistun-gen im wirtschaftlichen Wettbewerb verweisen auf die Annäherung der unterschiedli-chen Systeme. Die Konvergenzen führten in kommunistischen Systemen zwangsläufigzu inneren Spannungen. Diesem Thema wird von den Modernisierungs- und Konver-genztheorien ein wichtiger Platz im Mosaik der Erklärungsbausteine zugewiesen. Kon-vergenzen, beispielsweise zwischen der DDR und der BRD, lassen auch andere externeVariablen, die nicht aus militärischen Krisen- oder Konfliktsituationen erwachsen, ver-muten. Darüber hinaus verlangen interne Variablen - wie die Problemverarbeitungska-pazität und Selbstbeobachtungsfähigkeit der Regime - nach einer differenzierteren Un-tersuchung der Legitimitätsproblematik und der institutionellen Besonderheiten in deneinzelnen osteuropäischen Staaten. In diesem Zusammenhang zwischen externen undinternen Variablen liegt der „natürliche“ Anschlußpunkt modernisierungstheoretischerArgumentation an die geopolitische Theorie.

4 Es lassen sich leicht konkrete Prozesse in der Geschichte der historischen Voraussetzungen derTransformation finden, die Janos‘ zweistufigem Modell des Wandels widersprechen (vgl. Di Palma1991). Beispielsweise kann Janos' „devolutionist interpretation“ nicht den Übergang von der relativruhigen und stabilen Breshnew-Ära zu der folgenden Ära der Krisen erklären.

Page 45: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 40

1.3 Modernisierungsdefizite

Wenn strukturtheoretische Analysen des Transformationsprozesses auf Spannungen,Defizite und Differenzierungsmängel der osteuropäischen Systeme verweisen, dannnutzen sie das Vokabular der Modernisierungstheorie. Damit lehnen sie sich an ein vonParsons (1972) entwickeltes theoretisches Gerüst, das den historischen Entwicklungenvon Gesellschaften eine universale und evolutionäre Logik unterstellt. Über die Moder-nisierungstheorie Parsons‘ wurde in den 60er und 70er Jahren eine breite Kritik undAuseinandersetzung geführt (vgl. Alexander 1993; Baláz / Bobach 1995; Müller 1991;Wehler 1975; Zapf 1993), die einerseits Parsons selbst zu Korrekturen veranlaßte (vgl.1969a, 1969b) und andererseits zu einer Diversifizierung der modernisierungstheoreti-schen Ansätze führte (Alexander 1993). Insofern bleibt es oft unklar, auf welche Ent-wicklungsmechanismen sich die Autoren berufen, wenn sie sich des modernisierung-stheoretischen Vokabulars bedienen. Aus diesem Grunde sollen hier einige theoretischeVorbemerkungen, quasi als Ordnungsschema für die Vorstellung der modernisierungs-theoretisch-strukturellen Argumente, vorangestellt werden.

Exkurs: ModernisierungstheorienAusgangsbasis des Modernisierungskonzepts von Parsons bildet die Idee, daß sich einuniversales Entwicklungsmuster für Gesellschaften aufgrund „evolutionärer Wand-lungsprozesse“ durchsetzt (Parsons 1969b, 1975): Geraten Gesellschaften in den Ein-fluß der Weltmärkte, westlicher Kultur oder anderer Variablen im internationalen Kon-text5, dann kommt es zu den internen Prozessen der Standardhebung einerseits und Dif-ferenzierung andererseits. Standardhebung meint, daß die aus der Differenzierung her-vorgegangenen neuen Einheiten über ein erweitertes Anpassungsvermögen verfügen.Differenzierung führt somit zu einer Weiterentwicklung, mit der auf ein breiteres Spek-trum von Anforderungen flexibler reagiert werden kann. Standardhebung bedeutet des-halb immer auch zunehmende Komplexität der Strukturen, was eine Integrationspro-blematik mit sich bringt. Die neuen Einheiten müssen in den normativen Rahmen dergesellschaftlichen Einheit einbezogen werden. Es bedarf einer Werteverallgemeinerungauf einer höheren Allgemeinheitsstufe, um die soziale Stabilität der neuen komplexenStruktur zu sichern. In dieser Logik der Modernisierung hat sich besonders seit der bür-gerlichen, französischen Revolution und der industriellen Entwicklung in England dermoderne Gesellschaftstyp herausgebildet, der mit den Systemen Westeuropas, Japans

5 Hier liegt die Anschlußmöglichkeit nach „oben“, d.h. an strukturtheoretische Ansätze, die die Interstate-Beziehungen als Ursache der Transformation untersuchen – wie die Geopolitische Theorie.

Page 46: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 41

und besonders der USA, die sich an die Spitze des modernen Systems gesetzt haben(Parsons 1972: 156), identifiziert wird.

Der Logik der Differenzierung der Gesellschaft folgt eine Binnendifferenzierung inSubsysteme. Einen Teil dieses allgemeinen Trends in der frühen Phase der Modernisie-rung bildete die industrielle Revolution, in der sich das Subsystem der Wirtschaft her-ausbildete. Mit zunehmender Produktivität setzten sich arbeitsteilige Strukturen durch,die einen funktionalen Bedarf an integrativen Strukturen bewirkten (Parsons 1972). Da-her wird die industrielle Revolution von einer demokratischen Revolution begleitet.Über letztere definierte sich eine neue Art der Mitgliedschaft in der gesellschaftlichenGemeinschaft, die Wohlstandsunterschiede politisch z.T. rechtfertigen kann und somitintegrativ wirkt; Ungleichheiten werden durch die Gleichheitskomponenten des allge-meinen Wahlrechts und der Abschaffung der Gewichtung von Stimmen ausgeglichen(Parsons 1972). Zentrales Merkmal jeder Industriegesellschaft ist ein universalistischesRechtssystem, das die Differenzierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft von derRegierung und die gleichzeitige legitime Kontrolle über sie garantiert.In einer dritten Modernisierungsrevolution bewegen sich das kulturelle System und dieNormen der gesellschaftlichen Gemeinschaft auseinander. Diese Entwicklung setzt par-allel zu den Entwicklungen der industriellen und demokratischen Revolution ein undverbindet deren Themen (Parsons 1972): Die Legitimation der gesellschaftlichen Ord-nung säkularisiert sich mit einer neuen Kultur, deren Wertestandards sich über die all-gemeine Bildungsexpansion durch setzen. Mit der Institutionalisierung einer neuenKultur - bspw. der intellektuellen Wissenschaftskultur - wird eine Gemeinschaft defi-niert, die sich nicht auf Religion, sondern auf allgemeine säkulare Werte beruft. Sie er-füllen eine Integrationsfunktion, indem sie die Kluft zwischen den Zielen der Chancen-gleichheit (als Thema der industriellen Revolution) und Gleichheit der Bürger (alsThema der demokratischen Revolution) und die tatsächlichen Ungleichheiten überbrüc-ken. Die soziale Schichtung ist auf dieser Wertgrundlage legitim, weil sie auf dem„...funktionalen Bedürfnis der Kompetenz...“ (Parsons 1972: 153) beruht.Als Ergebnis der Modernisierung entsteht ein funktional ausdifferenziertes Gesell-schaftssystem mit den vier Teilbereichen der Kultur, der Politik, der Ökonomie und dergesellschaftlichen Gemeinschaft. Die besondere Herausforderung für die gesellschaftli-chen Strukturen liegt darin, intergrative Institutionen zu stellen, mit denen sich die sub-systemischen Leistungen aufeinander abstimmen lassen (vgl. Müller 1991; Parsons1972).

Es läßt sich leicht erkennen, daß Parsons‘ Konzept der universalgesellschaftlichen Mo-dernisierungsentwicklung Kategorien für eine Diagnose der versäumten Differenzierungbzw. Modernisierung in den kommunistischen Gesellschaften liefert: Über die Identifi-

Page 47: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 42

kation struktureller Hindernisse der gesellschaftlichen Differenzierung, aber auch durchden Nachweis mangelnder Integration kann versucht werden, Spannungen und Wider-sprüche aufzuzeigen, die zur Desintegration der kommunistischen Systeme führten.Modernisierungsdefizite erscheinen offensichtlich; die Ökonomie orientierte sich nichtprimär an den Maßstäben der Effizienz, es gab keine Gewaltenteilung und die sozialeOrdnung in Form von Gesetzgebung und Regierungsgewalt wurde von einer quasi-reli-giösen Ideologie geleitet. Und die genauere Betrachtung der Beziehung der Subsystemezueinander zeigt, warum die Subsysteme ihre funktionalen Anforderungen nicht erfül-len konnten6. Das Subsystem der Ökonomie wurde in seiner Funktion der Anpassung(Adaptation) von den Interventionen des politischen Systems behindert; in den mehroder weniger starken Ausprägungen einer Befehlswirtschaft in den osteuropäischenStaaten vor 1989 wurde die Allokation der Ressourcen politisch-administrativ gesteuert.In der Beziehung der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu dem kulturellen System einer-seits und dem politischen System andererseits (Parsons 1980: 284) zeigt sich, warumauch diese drei Teilbereiche ihre Aufgabe nicht erfüllen konnten. Das politische Systemkonnte die formulierten Ziele nicht erreichen (Goal Attainment) und Entscheidungennicht durchsetzen, weil es nicht in der Lage war, Kapazitäten für effektives kollektivesHandeln zu mobilisieren. Einer der Gründe war, daß die im kulturellen System reprä-sentierten Wertmuster (Latent Pattern Maintenance) keine adäquate Legitimation derMacht aufrechterhalten konnten. Der Konsens für Kollektivhandlungen schwand, weildie Verfahrensregeln für die Autorisierung des Kollektivhandelns keine Unterstützungbei der Bevölkerung fanden – die Bindung des Interesses der Bevölkerung an die kol-lektiven Ziele war einem nicht aufzuhaltenden Erosionsprozeß unterworfen. Die ge-meinsamen Wertebindungen des gesellschaftlichen Gemeinwesens zerfielen, weil u.a.die öffentlich proklamierten Werte nicht den moralischen Werten entsprachen, diedurch Internalisierung in das Persönlichkeitssystem verankert wurden. Solidarität inte-grierte (Integration) nur noch die Gemeinschaften in den gesellschaftlichen Nischen(Freundeskreis und Familie), während sich das Verhältnis zur öffentlichen Gesellschaftrationalisierte – obwohl dem System die Unterstützung entzogen wurde und Verant-wortung abgeschoben wurde, griff man gerne auf seine materiellen Vorteile (den Insti-tutionen der sozialen Sicherheit) zurück.Das Grundproblem der osteuropäischen Systeme bildete in dieser Betrachtung die un-genügende Differenzierung und eine damit verbundene behindernde Interdependenz dergesellschaftlichen Subsysteme. Hierin liegt eine der Ursachen der mangelnden Fähig-keit zur Selbstbeobachtung und Selbstbewertung (vgl. Joas / Kohli 1993; Offe 1994). 6 Mit Parsons‘ Modell läßt sich jedes Handlungssystem (also auch Gesellschaften als soziale Systeme)mit einem allgemeinen Paradigma – dem so genannten AGIL-Schema – auf ihre Funktionserfüllung hinanalysieren. Die Subsysteme können danach befragt werden, inwiefern sie 1. die allgemeine Anpassungan die Bedingungen der Umwelt (Adaptation), 2. die Orientierung an der Erreichung von Zielen (GoalAttainment), eine interne Integration des Systems (Integration) und die Erhaltung der Steuerungs- undKontrollanlagen (Latent Pattern Maintenance) leisten (Parsons 1976: 124).

Page 48: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 43

Anders als in den westlichen Industrienationen bekamen die osteuropäischen Systemekein Feedback über Märkte bzw. Preise und intermediäre Institutionen der Interessen-vermittlung. Ihnen fehlte somit die Grundlage für eine flexible Adaption.

Die aktuellen modernisierungstheoretischen Ansätze beziehen sich im wesentlichen aufdas Instrumentarium und die Kategorien Parsons‘. In der Argumentation der Autorenfindet man daher selten grundlegend neue Ideen. Interessant sind die weitergehendenAnalysen und Auslegungen dennoch, weil sie eine konkrete Identifikation der relevan-ten Variablen und Widersprüche an dem eingetretenen Fall des osteuropäischen Wan-dels versuchen.Dennoch ist kritisch darauf hinzuweisen, daß mit der einfachen Übertragung des klassi-schen Modernisierungskonzepts nach Parsons - bzw. mit der unkritischen Anwendungdes modernisierungstheoretischen Vokabulars - Korrekturen unberücksichtigt bleiben,die seit den 60er Jahren erfolgt waren. In dieser Zeit hat vor dem Hintergrund gesell-schaftlicher Krisen, sowohl in den entwickelten als auch in den weniger entwickeltenGesellschaften, eine modernisierungskritische Diskussion eingesetzt (vgl. Alexander1993), die das Konzept der Modernisierung sowohl methodisch als auch theoretischdekonstruierte (vgl. Wehler 1975). Gesellschaftliche Krisen waren eindeutig eine Folgeund Ausprägung der Modernisierung. Fehlgeschlagene Entwicklungsprojekte und dasAusbeutungsargument verwiesen auf die negativen Seiten des amerikanischen Modells.Es zeigte sich, daß nicht nur Fortschritt, sondern auch Regression zur Modernisierunggehörten. Zudem konkurrierten das sowjetische, chinesische und kubanische Modell mitden westlich-kapitalistischen Auslegungen der Modenisierung (Zapf 1991: 33).Mit diesen Widersprüchen wurde klar, daß es sich bei dem Modernisierungskonzept umeine normative Theorie handelte. Ihre Funktion lag nach Alexander darin, den Men-schen nahezulegen, wie sie leben sollten (1993). Sie erklärte also weniger als daß sieMotivationen lieferte, indem sie mit der zunehmenden sozialen Differenzierung eineWerteverwirklichung in Aussicht stellte. Besonders die Orientierung an den USA alsVorreiter der Modernisierung (vgl. Parsons 1972) provozierte Ende der 60er Jahre eineUmkehrung der Modernisierungssemantik:„They inverted modernization theory's binary code, viewing american rationality asinstrumental rather than moral and expressive, big science as technocratic rather thaninventive. They saw conformity rather than independence; power elites rather than de-mocracy; and deception and disappointment rather than authenticity, responsibility, andromance.“ (Alexander 1993: 174).Mit der inhaltlichen Umkehrung, wie sie bei Alexander zum Ausdruck kommt, gerinntdas Konzept der Modernisierung zu einer:„...Formel, die den zweifelhaften Vorzug besitzt, auf jeden gesellschaftlichen Vorgangzuzutreffen und deshalb keinen erklärt.“ (Müller 1991).

Page 49: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 44

Wenn sich heute beobachten läßt, daß die Verwendung des Vokabulars der klassischenModernisierungstheorie eine Renaissance erfährt, bedeutet das kein Wiederauflebenderselben universalen Logik, wie sie Parsons7 noch vorschwebte. Das Konzept der Mo-dernisierung liefert in den gegenwärtigen Analysen primär eine semantische Heuristik.Hierin liegt seine besondere Leistung. Die identifizierten Sphären in der Gesellschaft -Politik, Ökonomie, Kultur und gesellschaftliche Gemeinschaft -, der Grad ihrer Diffe-renziertheit und das Ausmaß von Integrationsleistungen gelten als Bezugsrahmen fürdie Beschreibung widersprüchlicher Entwicklungen und bilden Ausgangspunkte für denNachweis struktureller Defizite8. Mit diesen Bezügen lassen sich wichtige unabhängigeVariablen für die Destabilisierung der osteuropäischen Gesellschaften auffinden.

In den folgenden drei Abschnitten werden Ansätze vorgestellt, welche die widersprüch-lichen Entwicklungen und Spannungen in den osteuropäischen Gesellschaftsstrukturenentlang modernisierungstheoretischer Kategorien aufzeigen. Strukturelle Defizite deskommunistischen Systems gelten als verantwortlich für eine verhinderte Differenzie-rung, für eine Entwicklung, die sich gegen die universale Logik der Modernisierungstemmte. Hierin sehen die Autoren Referenzpunkte für die Analyse der Ausgangsbedin-gungen des strukturellen Wandels in den osteuropäischen Staaten.

Im ersten Abschnitt wird die Diskussion um die mangelnde Abgrenzung der politischenSphäre von der ökonomischen Sphäre thematisiert. Diese Diskussion löst sich nichtetwa in einem neoliberalen Appell für eine von staatlichen Eingriffen unberührte Öko-nomie auf. Vielmehr zeigt sie, daß Rationalitätsverluste nicht nur aus der mangelndenEntscheidungsfreiheit einzelner ökonomischer Akteure resultierten, sondern sich min-destens ebenso aus der mangelnden Institutionalisierung mediärerer Interessenvermitt-lung ergaben. Dieses strukturelle Hindernis verhinderte die für eine planmäßige Steue-rung notwendige Selbstbeobachtung und protegierte ein verfälschtes Feedback.

Im zweiten Abschnitt werden Ansätze vorgestellt, die für die demokratischen Entwick-lungen im kommunistischen System Defizite identifizieren; eine gesteigerte Anpas-sungskapazität der sozialen Einheiten „gesellschaftliche Gemeinschaft“ und „Politik“konnte sich nicht entwickeln. Entgegen der Struktur und Entwicklung kommunistischerSysteme ist eine konsequente Entwicklung der demokratischen Revolution gekenn-zeichnet von der Entstehung von Parlamenten und Parteiensystemen und der Herausbil-dung eines liberalen Rechts mit unabhängiger Rechtsprechung, die Vertragsfreiheit und 7 Parsons selbst reformuliert seine Modernisierungstheorie in einer „neo-evolutionären“ Theorie (1969b).8 In dieser Weise legt auch Zapf das Konzept des evolutionären Determinismus bei Parsons aus (1996:172f): Hinter dem Konzept verberge sich ein Modell evolutionärer Universalien, das nur ex post gelte,und mit dem sich komparative Analysen bezüglich der Anpassungsfähigkeit verschiedener Institutionenbeurteilen ließen. Mit dem Institutionenvergleich könne man Über- bzw. Unterlegenheit einigerGesellschaften beurteilen.

Page 50: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 45

Privateigentum garantieren (vgl. Müller 1991). Mit der demokratischen Revolution ent-steht in dem Modell Parsons' eine Zivilgesellschaft, in der sich die Sphäre des Politi-schen durch ein Legitimationskonzept auszeichnet, dessen Grundlage die klassischenbürgerlichen Freiheitsrechte und die modernen Rechte der politischen Meinungs- undInteressenartikulation bilden (vgl. Baláz / Bobach 1995). In den kommunistischen Re-gimen Osteuropas gab es nur schwach entwickelte Ansätze einer Zivilgesellschaft. Da-her bildet für die Analyse der politischen Modernisierungsdefizite als Ausgangsbedin-gungen des Zusammenbruchs der Regime das Konzept der Zivilgesellschaft („CivilSociety“) einen zentralen Aspekt. Je nach Ausprägung der zivilgesellschaftlichen An-sätze lassen sich länderspezifische Entwicklungsunterschiede aufzeigen.

Der dritte Abschnitt befaßt sich mit den Ansätzen, die an die von Parsons für die Bil-dungsrevolution identifizierten Differenzierungsprozesse vom kulturellen System undden Normen der gesellschaftlichen Gemeinschaft anknüpfen. Die marxistisch-leninisti-sche Ideologie wurde als quasireligiöse Ideologie erkannt, auf deren Grundlage ein ra-tionalisiertes Verhältnis von Kultur und Gesellschaft unterdrückt wurde. Vor dem Hin-tergrund der offensichtlich zunehmenden Ungleichheit bezüglich der materiellen undnicht-materiellen Privilegien wie Wohlstand und Macht in den kommunistischen Ge-sellschaften ergab sich ein Widerspruch zu den Werten der egalitären Ideologie. EineWerteverallgemeinerung, die die „motivationale Verpflichtung des Individuum“ (vgl.Parsons 1972) zum Erhalt der Gesellschaft aufrechterhalten konnte, wurde durch dieausschließlich geltende Ideologie unterdrückt. Den Mitgliedern der Gesellschaft konn-ten keine hinreichenden Befriedigungen und Belohnungen geboten werden, so daß dieGesellschaft als Gegenleistung auf Leistungen ihrer Mitglieder hätte zurückgreifen kön-nen9.

Die Trennung dieser drei Problembereiche ist analytisch und folgt den Kategorien desModernisierungsprozesses, wie er von Parsons beschrieben wurde. Die Entwicklungenin den Bereichen sind theoretisch10 wie empirisch eng miteinander verwoben, was durchdie analytische Trennung nicht vernachlässigt wird. Die Unterteilung ist hilfreich, weilsie der Konkretisierung des mehrdimensionalen und in der Literatur oft unbestimmtenModernisierungskonzepts bzw. -begriffs dient. Sie verdeutlicht außerdem, wo derSchwerpunkt der Argumentation bzw. der Fokus der Untersuchung liegt11.

9 Vgl. Parsons zu Persönlichkeit als Umwelt der Gesellschaft (1976: 131f).10 Vgl. beispielsweise für die Verbindung von gesellschaftlichem Gemeinwesen mit dem kulturellenSystem und dem politischen System Parsons 1976 (284f).11 Joas und Kohli ordnen die Erklärungen des Transformationsprozesses in einer allgemeineren Typologie(1993). Sie orientieren sich dabei an Dimensionen, die sich z.T. in der hier vorgeschlagenenKategorisierung der modernisierungstheoretischen Ansätze wiederfinden. Damit bestätigt sich dieAussage, daß sich die Untersuchungen in der Regel nur auf Teilbereiche des komplexen,vieldimensionalen strukturellen Entwicklungsprozeß konzentrieren.

Page 51: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 46

Ökonomische DefiziteStrukturtheoretische Ansätze, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Wirtschaftbzw. Gesellschaft und Wirtschaft auseinandersetzen, versuchen aufzuzeigen, wie dieFolgen der Wirtschaftslenkung einerseits und die Auswirkungen der Arbeitsverhältnisseandererseits zur Destabilisierung der osteuropäischen Systeme führten.Bezogen auf die Planwirtschaften ist das konservativ-liberale Argument für einen im-pliziten Strukturdefekt das sogenannte „Planungsparadox“ (vgl. Luhmann 1984, Ganß-mann 1993):„Die uns interessierende Frage lautet, ob ein soziales System sich selbst planen kannund mit welchen Problemen man rechnen muß, wenn dies versucht wird. [...] Jede Pla-nung erzeugt Betroffene – sei es, daß sie benachteiligt werden, sei es, daß nicht all ihreWünsche erfüllt werden. Die Betroffenen werden wissen wollen und sie werden freieKapazitäten der Kommunikation nutzen wollen, um zu erfahren und möglichst zu än-dern, was geplant wird. Das System reagiert im Falle von Planung deshalb nicht nur aufdie erreichten Zustände, auf Erfolge und Mißerfolge der Planung, sondern auch auf diePlanung selbst. Es erzeugt, wenn es plant, Vollzug und Widerstand zugleich.“(Luhmann 1984: 635).Und weiter unten heißt es bei Luhmann:„Planung ist zunächst eine bestimmte Art der Anfertigung einer Selbstbeschreibung desSystems. Im Falle von Planung wird diese Selbstbeschreibung an der Zukunft orientiert.Gerade das eröffnet immer auch die Möglichkeit, sich anders zu verhalten, als eineplanmäßige Bestimmung es vorsieht, nämlich etwas Vorgesehenes, mit dem viele rech-

Sie heben allerdings hervor, daß das Konzept von Habermas eine Ausnahme bildet. SeineCharakterisierung der Transformation Osteuropas als „nachholende Revolution“ wird von ihnen undanderen Autoren als modernisierungstheoretische Beschreibung des gesamten Entwicklungsprozessesinterpretiert (vgl. Balasz / Bobach 1995; Joas / Kohli 1993; Zapf 1996). Diese Rezeption Habermas istaus zwei Gründen irreführend:1. beziehen sich die Autoren bei ihrer Rezeption auf den Artikel „Die nachholende Revolution“(Habermas 1990: 179f), dessen primärer Gegenstand nicht die Entwicklungen in den osteuropäischenLändern ist, sondern die Bedeutung des Zusammenbruchs des Sozialismus für „...das theoretische Erbeder westeuropäischen Linken.“ (Habermas 1990: 179f). Die Zuordnung des Habermasschen Konzepts dernachholenden Modernisierung zu den modernisierungstheoretischen Änsätzen ist somit nicht plausibel.Das sich in den Entwicklungen der Transformation ausdrückende „Ausgreifen der Moderne“ scheint ehersemantisches Ergebnis eines systemtheoretischen Zusammenhanges zu sein, der sich auf diegesellschaftliche Steuerung bezieht: Habermas argumentiert, daß der Versuch, durch administrativePlanung den systemischen Eigensinn einer ausdifferenzierten Marktökonomie zu steuern, dasDifferenzierungsniveau moderner Gesellschaften aufs Spiel setze (1990: 190).Somit entspricht 2. die analytische Ansatzhöhe der von Habermas angedeuteten Entwicklung nicht derAnsatzhöhe modernisierungstheoretischer Untersuchungen (auf Länder- und Jahresebene - Zapf 1996).Habermas argumentiert auf einer höheren Abstraktionsebene. Er liefert keinemodernisierungstheoretischen Begründungen und Mechanismen der nationalen Entwicklungen. Deshalbwird hier von der scheinbar selbstverständlichen Einordnung des „HabermasschenTransformationsansatzes“ (Balasz / Bobach 1995; Zapf 1996) in die Gruppe dermodernisierungstheoretischen Transformationsanalysen abgesehen. Die alleinige Verwendung desBegriffs der Moderne sagt noch nichts aus über die Analyseebene.

Page 52: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 47

nen, gerade deshalb nicht zu wollen, es zu unterlaufen, zu boykottieren oder auch nurProfit daraus zu ziehen, daß man sich untypisch verhält.“ (1984: 637).Das Paradox steht für den unterstellten Widerspruch zwischen der Art der Entschei-dungsfindung (dezentral vs. zentral) und der Wirtschaftslenkung bzw. dem wirtschaftli-chen Plan: Zentrale Planung und dezentrales Entscheidungsinteresse schließen einanderaus. Der Widerspruch besteht darin, daß die planenden Eliten komplexe Produktions-und Absatzprozesse auf den unteren Ebenen weder komplett vorhersehen noch gestaltenkönnen. Sie müssen ihre Konzepte in einen „trial-and-error-Verfahren“ erproben(Ganßmann 1993), bleiben aber auf eine situationsspezifische Mitgestaltung der unterenEbenen angewiesen. Bei den dezentralen Entscheidungen entstehen dem Plan entgegen-gesetzte Interessen. Gibt es nämlich keine Entscheidungsspielräume, dann werden diePlaner im ad-hoc-Stil intervenieren müssen. Über Lagerhaltung werden dann – wie inder DDR - die nötigen Reserven für die Elastizität bzw. Intervention bei Deckungs-lücken geschaffen. Heimlich werden Ressourcenreservoirs angelegt, um die öffentlichvorgeschriebenen Planziele zu erreichen; die unrealistischen Planvorgaben werden sounterlaufen. Dadurch entstehen einerseits Grau- und Schattenzonen in der Ökonomie,und andererseits werden den Planern Informationen über die tatsächliche Wirtschaftslei-stung vorenthalten (Ganßmann 1993).Allerdings muß der Mechanismus nicht zu der konservativ-liberalen Schlußfolgerungführen, daß das Planungsparadox nur in einer dezentral organisierten Marktwirtschaftvermieden werden kann. Ganßmann (1993) argumentiert, daß durch den Zusammen-bruch der Planwirtschaften nicht die Unmöglichkeit von Planung nachgewiesen ist.Vielmehr zeige der osteuropäische Zusammenbruch, daß eine Planung ohne Demokratienicht möglich ist. Das Planungs-Paradox mache somit deutlich, daß es den kommuni-stischen Systemen an Formen der politischen Vermittlung von Interessengegensätzenfehlte. Der Planung müsse mit der demokratischen Abstimmung ein Korrektiv hinzuge-fügt werden, das die im Plan artikulierten Forderungen der Eliten eingrenzen kann.Mit dieser Argumentation hat Ganßmann das Demokratiedefizit beim Festlegen derwirtschaftlichen Ziele als primäre Ursache für die uneffektive Wirtschaftslenkung iden-tifiziert. Hinzu kommen interne Spannungen in der Struktur der realsozialistischen Ar-beitsverhältnisse (Ganßmann 1993; Lötsch 1993):Ein zentrales Merkmal der Arbeitsverhältnisse war die Beschäftigungsgarantie. Mit ihrfiel eine in den marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften zentrale Variable derSteuerung des Arbeitsverhaltens weg: Mit Entlassung konnte nicht gedroht werden, alsoverblieben nur der Lohnanreiz und die überstrapazierten und daher oft wirkungslosenpolitischen und moralischen Ressourcen. Lohnsteigerungen liefen ins Leere, weil dieProduktion die Nachfrage nicht bedienen konnte und die Kaufkraft des Geldes nachließ.Damit fiel der Konsum hinter die „Selbstbestimmung der Arbeitsverausgabung“(Ganßmann 1993) als Dimension der Lebensqualität zurück. Das insbesondere für die

Page 53: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 48

Bevölkerung der DDR ständig präsente Reichtumsgefälle wurde auf die unterschiedli-che Systemstruktur zurückgeführt. Dabei wurde vergessen, daß der Wohlstand nichtohne zusätzlichen Arbeitsaufwand zu haben ist. Hinzu kam, daß der Entwicklung derProduktivkräfte, die im internationalen Wettbewerb dringend erfolgen mußte, eine be-stimmte Werthaltung entgegenstand. Vor dem Hintergrund eines nivellierenden Werte-systems wurde die Arbeiterklasse zwar protegiert, die Attraktivität akademischer Aus-bildungen hingegen sank (Lötsch 1993). Die Intelligenz war von Statusverlusten betrof-fen. Dies führte mit zunehmenden wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen zuInnovatonsdefiziten. Es fehlten die intellektuellen Potentiale, mit denen sich die realso-zialistischen Systeme den globalen Prozessen der Modernisierung im wirtschaftlichenBereich hätten stellen können. Dies wog besonders schwer vor dem Hintergrund dermangelhaften internationalen Arbeitsteilung im RGW, der eher damit beschäftigt war,den Mitgliedern kooperative Alleingänge mit dem Westen zu erschweren.Das Scheitern der Ökonomie trug so zur Bereitschaft für einen Systemwechsel bei. Al-lerdings war es nicht ausschließlich ein Differenzierungsdefizit zwischen den gesell-schaftlichen Bereichen Politik und Ökonomie, dem das funktionale Versagen der Öko-nomie zugeschrieben werden kann. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Pla-nungs-Paradox zeigt, daß Rationalitätsdefizite in der Steuerung nicht nur durch man-gelnde Autonomie wirtschaftlichen Handelns entstehen. Das ökonomisch-politischeStrukturdefizit mangelhafter demokratischer Kontrolle ist vielmehr ein Integrationsde-fizit bezüglich der Vermittlung und Reflexion divergierender politischer und wirt-schaftlicher Interessen. Auch der Hinweis, daß das Interesse der wirtschaftlichen Elitebzw. Intelligenz nicht institutionell artikuliert werden konnte, weist auf ein problemati-sches Demokratiedefizit in den osteuropäischen Staaten und nicht primär auf eine un-vollständige marktinduzierte Modernisierung hin.

Politische DefiziteBereits an dem Verhältnis von Ökonomie und Politik zeigt sich, welche Effizienzein-bußen mit Demokratisierungsdefiziten verbunden sein können. Mangelndes Feedbackstand der nach Effizienzkriterien erfolgenden Allokation von Ressourcen entgegen.Demokratiedefizite bewirkten darüber hinaus auch Spannungen im Verhältnis von dergesellschaftlichen Gemeinschaft zur Politik. Die wirtschaftliche Entwicklung und derWettbewerb mit dem Westen führten zu einer allgemeinen Standardhebung – beispiels-weise über die Reformen der Eigentumsrechte. Die gesellschaftliche Struktur gewannan Komplexität, die sich u. a. in den zu beobachtenden Wohlstandsunterschieden aus-drückte. Solche Ungleichkomponenten müssen in der Logik der Modernisierung durchGleichheitskomponenten ausgeglichen werden, soll die Stabilität des Systems gewahrt

Page 54: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 49

bleiben. Parsons (1975) interpretierte mit diesem Mechanismus die Einführung des all-gemeinen und gleichen Wahlrechts in industrialisierten Gesellschaften.Für die Stabilitätsanalyse der osteuropäischen Staaten wird allgemeiner nach den Chan-cen angemessener Formen der Interessenrepräsentation und Partizipation – als mögli-cher Ausgleich für Ungleichheiten – gefragt. Die Wirkung des Mangels an Institutionen,die eine Interessenvermittlung leisten, auf die Integration der Gesellschaft und die poli-tische Integrationsleistung teilweise vorhandener Ansätze einer Civil Society12 stehenim Zentrum der Erörterungen.

Die Defizite im Bereich der Institutionen, die eine Interessenvermittlung und -artikula-tion bzw. die politische Partizipation hätten ermöglichen können, waren offensichtlichund bildeten strukturelle Hindernisse für die demokratische Entwicklung. Der Mangelstand im Widerspruch zu den emanzipatorischen Ideen des Kommunismus und hattedeshalb gravierende Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gesell-schaftliche Anpassungsfähigkeit. Wie sich dieser Wirkungszusammenhang darstellt,wird von Eisenstadt erörtert (1994):Den Ausgangspunkt für die Demokratisierungsdefizite sieht er in dem Umstand, daß diePlanwirtschaft nicht leistete, was versprochen wurde. In der wirtschaftlichen Leistungaber war die versprochene „Heilswirkung“ verankert. Damit mußten sich die Systememehr auf die totalitäre Legitimation stützen. Nur die Repressionen bildeten eine Mög-lichkeit, mit der Leistung der weiterentwickelten westlichen Gesellschaften mitzuhalten.In den grundsätzlichen Voraussetzungen der kommunistischen Regime allerdings – beiden Ideen der Freiheit, Emanzipation und auch politischen Emanzipation – hatte auchdie Vorstellung einer Civil Society ihre Wurzeln. Die kommunistischen Regime konn-ten ihre eigenen Ideen nicht negieren, und die Widersprüche zwischen den partizipatori-schen Ideen und der totalitären Komponente ließen sich somit nicht vermeiden. Siewurden vor dem Hintergrund der modernen Institutionen kommunistischer Gesell-schaften - wie der Bildungsexpansion einerseits und den eingeschränkten Möglichkeitenzur demokratischen Partizipation andererseits - offensichtlich. Diese „Mißrepräsentationder Moderne“ führte zu dem Aufbrechen der Kohäsion innerhalb der Eliten. Die Kaderwurden - so Eisenstadt - in den kommunistischen Gesellschaften mit zwei unterschiedli-chen Orientierungen sozialisiert. Einmal mit einer „Jakobinischen Orientierung“, derenstrukturelles Äquivalent in dem totalitären Charakter der Regime bestand, und zum an-deren im Namen der Freiheit. Der zweite Aspekt war verbunden mit den Ideen von Par-tizipation und Demokratie und stand somit im Konflikt mit den herrschenden politi-schen Verhältnissen. Eine aufbrechende Elitenkohäsion ließ sich insbesondere in Un-garn und in der SU beobachten. In den Staaten, in denen sich die Spannungen der Mo-

12 Für eine ausführliche und allgemeine Einführung in die Problematik der Zivilgesellschaft vgl. v.Beyme (2000).

Page 55: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 50

derne nicht über Konflikte innerhalb der Eliten vermittelten, konnten sich die Wider-sprüche auf dem Wege der Mobilisierung der Öffentlichkeit – wie in Polen und derDDR – ausdrücken. Eisenstadt weist allerdings darauf hin, daß der Zusammenbruchkommunistischer Regime einem allgemeineren Kriterium unterzuordnen ist. Das Pro-jekt der Moderne leidet generell an einer potentiellen Brüchigkeit. Auch in den westli-chen Gesellschaften gibt es Spannungen zwischen den konkurrierenden Konzeptionendes allgemeinen Willens und der Beziehung dieser Konzeptionen zu der tatsächlichenRepräsentation bestimmter Interessen einzelner Gesellschaftssektoren. Mit der Ände-rung interner oder internationaler Bedingungen kann es dann zu Protesten kommen, diedie Beziehung aggregierter Interessen zu den verfolgten Konzepten des Allgemeingutsthematisieren. Moderne Gesellschaften brauchen also einen Rahmen, in dem die ver-schiedenen alternativen Konzepte der Realisierung des Allgemeingutes konkurrierenkönnen, ohne die Arbeitsweise des Systems zu gefährden. Diese Anforderung verlangtvon modernen Gesellschaften, daß sich die Grenzen des Politischen neu definieren las-sen und die Basis der Legitimation transformierbar ist. Genau an diesen Kapazitätenmangelte es den kommunistischen Gesellschaften. Die Selbsttransformationsfähigkeitscheiterte bereits an dem Mangel institutionalisierter Möglichkeiten der Vermittlungalternativer Konzepte. Natürlich gab es auch zaghafte Ansätze der Interessenvermitt-lung. Nur konnten sie diesen Mangel nicht überwinden. Die kommunistischen Gesell-schaften mußten ständig um ihre Stabilität ringen (Pollack 1993).Der Ort defizitärer Interessenvermittlung lag in dem Spannungszentrum der einerseitserfolgten funktionalen Differenzierung im ökonomischen Bereich und der politisch for-cierten Homogenisierung andererseits (Pollack 1993). Die Spannung bildet eine cha-rakteristische Zustandsbeschreibung kommunistischer Gesellschaften, die Pollack(1993) auf die bereichsspezifischen Verselbständigungstendenzen und die politisch-ideologische Gleichschaltung, die für die unmoderne Verbindung von Individuum undGesellschaft stand, zurückführt: Politische Entscheidungen wurden ohne Feedback oderLegitimierungsgrundlage bei der Bevölkerung getroffen. Auf das Feedback meinte manverzichten zu können. Vertraut wurde hingegen auf den Einsatz repressiver Machtmit-tel. Das mußte allerdings eine sinkende Leistungsbereitschaft der Bevölkerung zurFolge haben. Dieser Charakterzug kommunistischer Gesellschaften ließ die Modernisie-rungsentwicklung in Verzug geraten. Die sich de facto verselbständigenden teilsystemi-schen Interessen waren, wie sich auch im Falle der Wirtschaftsplanung zeigte, institu-tionell nicht abgesichert, und eine Institutionalisierung von Interessenvermittlung zwi-schen Gesellschaft und Individuum widersprach der herrschenden Ideologie.Dennoch gab es zumindest Ansätze der Interessenvermittlung: In Polen stand die Ge-werkschaftsbewegung Solidarosc für die Kritik am Regime, in Ungarn wiesen die in-nerparteilichen Reformprozesse auf die Interessenpluralität hin, und in der DDR profi-lierte sich die evangelische Kirche als Anwalt der Modernisierung. Die Funktionswahr-

Page 56: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 51

nehmung dieser Institutionen war allerdings unbefriedigend, was das Beispiel der evan-gelischen Kirche in der DDR zeigt. Sie spielte zwar mittelbar für die Transformation inder DDR eine bedeutende Rolle. Trotzdem kann daraus nicht geschlossen werden, daßsie im System der DDR eine integrierende Institution mit der Funktion der Interessen-vermittlung darstellte. Die evangelische Kirche in der DDR genoß eine begrenzte Auto-nomie, mit der sie Anlaufstelle für eine kritische Öffentlichkeit sein konnte (Pollack1993). In ihrem Rahmen fanden vermittelnde Gespräche statt und sie übernahm mitihrem Engagement kurzfristig eine gesellschaftsstabilisierende Funktion. Wie wenig dieAusübung dieser Funktion an die Kirche als religiöse Institution gebunden war, zeigtesich nach der Öffnung der österreich-ungarischen Grenze. Mit ihr setzte eine Abwande-rung der alternativen Gruppen aus der Kirche ein. Damit kann ex post auf die Funktionder Kirche in der DDR geschlossen werden. In Pollacks Darstellung war die Rolle derKirche primär eine Rolle als Puffer mit begrenzter Integrationsfunktion und nicht etwaeine integrierende Vermittlung alternativer Konzepte. Die relative Bedeutungslosigkeitder Kirche läßt sich mit einem weiteren, modernisierungskompatiblen Argument be-gründen (Meuschel 1993): Es bildete sich zwar eine „religiöse Kultur des Widerstan-des“ in der DDR. Zur Modernisierung gehörte aber die Entwicklung einer säkularenCivil Society der politischen Verständigung. Nur mit ihr können demokratische Struktu-ren stabilisiert werden, wenn es in der „modernen“ Politik keine letzten Gründe undabsoluten Werte mehr geben soll. Als sich in der DDR mit der Veränderung der außen-politischen Situation alternative Protestmöglichkeiten boten, wurde der religiöse Kon-text verlassen. Die Einbindung einer potentiellen Opposition in der Kirche zögerte dieEntwicklung einer Civil Society in der DDR also eher hinaus.Die Kirche konnte das Ausbrechen der inneren Widersprüche nur verzögern. Pollacksund Meuschels Argumente verdeutlichen, daß die Rolle der Kirche als intermediäreInstitution nicht überschätzt werden darf. Sie war weder ein Modernisierungsfaktor, wasdie Demokratisierung betraf, noch hatte sie eine katalytische Funktion für die sich mitdem Umbruch durchsetzende Modernisierung.Das Integrationsdefizit, das der mangelhaften Vermittlungsleistung bzw. ungenügendenPartizipationsmöglichkeiten entsprang, offenbarte sich aber nicht nur in der unzurei-chenden Vermittlung von partialen Interessen der Bevölkerung zu den Entscheidungs-trägern. Ähnlich dichotom gestaltete sich das Verhältnis von der Parteiführung zu denMitgliedern der Partei und den bürokratischen Kadern. Zu dem mangelnden Feedbackseitens der Bevölkerung gesellte sich somit der Umstand, daß innerhalb der BürokratieAushandlungsprozesse, die einen Rationalitätsgewinn bzw. notwendige Selbstbeob-achtung hätten bringen können, nicht institutionell vermittelt, sondern unterdrückt wur-den (Glaeßner 1993):Die Kader waren den Parteispitzen nicht aus sachlicher Diensttreue verpflichtet. DieGeltungsgründe der Herrschaft der Avantgarde lagen vielmehr in der herrschenden

Page 57: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 52

Ideologie oder sogar in einer persönlichen Hingabe an den charismatischen Führer. DieZentrale kontrollierte die Bürokratie mit Anweisungen. Einen „Prozeß der Kon-fliktaustragung und Konsensbildung konkurrierender Teilbürokratien...“ (Glaeßner1993: 74) gab es nicht. Mit diesem Hinweis zeigt Glaeßner, wie wenig die politischeFührung einer Kontrolle unterstand.Zwei Mängel griffen ineinander. Einerseits begegnete dem Bürger der Staat in Formeiner Bürokratie, die die Gründe ihrer Anweisungen nicht offenzulegen brauchte und inder man sich gern auf Anweisungen von oben zurückzog (ein Merkmal kommunisti-scher Gesellschaften, das sich formal daran festmacht, daß es keine Verwaltungsge-richtsbarkeit gab). Eine Emanzipation der Bevölkerung gegenüber den Herrschendenblieb ausgeschlossen. Sie hätte in einem Zielkonflikt zum Avantgardekonzept der Parteigestanden. In ihrer Ohnmacht zog sich die Bevölkerung in Nischen zurück. Auf deranderen Seite spiegelte die verantwortungsscheue Haltung der Bürokraten ihre Angstvor Entscheidungen wider. Es wurde versucht, Entscheidungen nach oben abzugeben;eine Tendenz, die das System erstarren und zu einem innovationsunfähigen Block ge-rinnen ließ. Hierin offenbarte sich ein zweifacher Widerspruch kommunistischer Syste-me (Glaeßner 1993): Vor dem Hintergrund der marxistisch-leninistischen Doktrinkonnte eine Selbstregulierung gesellschaftlicher Subsysteme – wie von Teilbürokratien– nicht zugelassen werden. Und das Ziel der sozialen Gleichheit wurde mit der sozialenDifferenzierung innerhalb der Machtsphäre ad absurdum geführt13. Mit dieser Ent-wicklung bildeten sich Verhaltensweisen und Wertorientierungen, die in einem Konfliktmit dem Gleichheitspostulat standen. Solche Vermittlungsdefizite verlangten nach einerFortsetzung der inneren Differenzierungsprozesse, die nach Glaeßner nur durch Druckaus der Gesellschaft in Richtung zweier Alternativen – Reform oder Bruch – möglichwar.

Der Mangel an institutionalisierter Interessenvermittlung läßt sich also einmal in derBeziehung von Bevölkerung und Eliten verorten und zum zweiten innerhalb der Elitenselbst. Der Beziehung von Bevölkerung und Eliten wird in den modernisierungstheore-tischen Untersuchungen eine zentrale Rolle für den Verlauf des Zusammenbruchs zuge-schrieben. Die Autoren sehen in den unterdrückten Partizipationsmöglichkeiten nichtnur eine wesentliche Ursache für Demokratie- und Integrationsdefizite, sondern auchfür die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Ansätze, mit denen sich die Bevölkerung ineinigen Ländern zur Wehr zu setzen versuchte.

13 Meuschel (1993) setzt sich ausführlicher mit diesem Widerspruch auseinander. Sie identifiziert zweiEntwicklungstendenzen in der Gesellschaft der DDR. Einerseits eine Entdifferenzierung, derenhomogenisierende Strukturen zur Stagnation beitrugen. Auf der anderen Seite versuchte die Partei, einegewisse Ungleichheit und soziale Differenz aufrecht zu erhalten. Eine Kooperation der Partei mitbereichsspezifischen Fachleuten mußte stattfinden. Mit ihr erfolgte dann aber auch die partielleFreisetzung teilsystemischer Handlungslogiken.

Page 58: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 53

Für die Transformationsanalyse beschreibt das Konzept der Civil Society den Grad, indem es in den osteuropäischen Staaten Ansätze und Bestrebungen gab, politische Ent-scheidungen zur demokratischen Disposition zu stellen. Inwiefern gab es Bewegungen,die institutionelle Voraussetzungen anstrebten, die politische Kommunikationsrechtesichern und damit der „... konflikthaften Vielfalt gesellschaftlicher Interessen und Ori-entierungen ...“ (Deppe / Dubiel / Rödel 1991: 12) Raum geben sollten? Dabei muß manzwei Dimensionen des Verhältnisses der Gesellschaft zur Politik berücksichtigen(Mänicke-Gyöngyösi 1991): Erstens ist Civil Society der Ausdruck der Selbstverteidi-gung der Gesellschaft gegenüber der staatlichen Politik (und Ökonomie). Und zweitenssteht Civil Society für eine sich selbst regulierende Gesellschaft, d.h. für die Bestre-bung, staatliche Institutionen, politische Öffentlichkeit und Ökonomie neu zu koordinie-ren. Für die osteuropäischen Staaten verband sich damit der Versuch, die etatistischenÜberregulierungen der Gesellschaft zu überwinden (Mänicke-Gyöngyösi 1991: 221).Das Konzept der Zivilgesellschaft stand in Osteuropa für die Hoffnung, daß sich dieLebenswelt gegen das System durchsetzen könne (vgl. Zapf 1996). Der totalitäre Cha-rakter der osteuropäischen Systeme unterdrückte Formen der Interessenvermittlung und-organisation zwischen autoritärem Staat und Individuum und etablierte damit einSpannungsverhältnis von gesellschaftlicher Gemeinschaft zur Politik. Mit der Heraus-bildung einer politischen Gegenöffentlichkeit in einigen Staaten Osteuropas schien sichdiese „Spannung“ in der Logik der Modernisierung zu lösen; eine demokratische Ent-wicklung mußte sich durchsetzen. Die sich in der Entstehung einer unabhängigen Ge-werkschaft in Polen oder in den Demonstrationen in Leipzig ausdrückenden Formeneiner Zivilgesellschaft standen für die Freiheit von staatlicher Willkür, für Rechts-gleichheit und für ein gleiches Wahlrecht.Ansätze einer Civil Society entstanden vornehmlich in Polen, Ungarn und der Tsche-choslowakei. Sie waren eine Reaktion der Gesellschaft auf die „schizoide Trennung vonÖffentlichkeit und Privatheit“ (Deppe / Dubiel / Rödel 1991), d.h. auf die Tendenz zuwidersprüchlichen moralischen Ansprüchen des privaten und des öffentlichen Selbst,die in der Struktur der Systeme angelegt war.Die osteuropäischen Regime unterschieden sich bezüglich der Ausprägung zivilgesell-schaftlicher Ansätze voneinander. Mit diesen verschiedenen, länderspezifischen struktu-rellen Hintergründen erschließen sich Ursachen für die Unterschiedlichkeit der Ent-wicklungen. Im folgenden soll an vier konkreten Beispielen ausgeführt werden, wie mitder Ausprägung der Civil Society erklärt wird, warum es in manchen Staaten zum radi-kalen Bruch kommen mußte, während in anderen Staaten mit Reformen reagiert wurde.

1. In der DDR gab es einen eruptiven Umbruch. Wo lagen die Ursachen für die Unter-drückung einer Aufarbeitung von Modernisierungsdefiziten in reformierenden Schrit-ten?

Page 59: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 54

Meuschel (1993) argumentiert, daß die Ursachen im Verhältnis von Einparteienherr-schaft zur Bevölkerung lagen. Parallel verweist sie auf die Dichotomie der Beziehungder Parteikader und der Bürokraten zu der Avantgarde der Partei, d.h. die Loyalität derEliten wird thematisiert. Meuschels Analyse zeigt, daß das Konzept der Loyalitätstrukturell mit dem Konzept Civil Society verbunden ist:Der entscheidende Strukturkonflikt in den kommunistischen Regimen lag nicht so sehrin den sozialen Ungleichheiten entlang der Beziehung von Herrschern und Beherrsch-ten, d.h. der Dichotomie zwischen Gesellschaft und Staat. Vielmehr verstärkte sich dieSpannung zwischen Staat und Gesellschaft, da sich als Folge der durch den wissen-schaftlich-technischen Fortschritt vorangetriebenen Industrialisierung die Dominanz derAdministration über alle Lebensbereiche durchsetzte (Meuschel 1991, 1993: 104). Mitder „Überpolitisierung“ des Lebens entwickelte sich eine unpolitische Haltung in derGesellschaft. Damit mußte sich die soziale Integration auf Kleingruppen wie Familieund Freundeskreis als moralische Gemeinschaft verlagern. Kritisch war diese Entwick-lung vor dem Hintergrund der durchaus erfolgten wissenschaftlich-technischen Ent-wicklung. Der wachsende Wohlstand und die Technisierung wurden von Leistungs-druck begleitet, der die Gemeinschaften der privaten Nischen untergrub. Meuschelschildert, wie Wärme, Solidarität und Geborgenheit abgelöst wurden von Innerlichkeit,Autoritarismus und Anpassung. Die Nischengesellschaft zerbrach an diesem Rückzugauf Persönlichkeitskultur und die private Welt.Ähnlich argumentieren auch Huinink und Mayer (1993). Sie schildern, wie gerade dassoziale Sicherungssystem der DDR in Verbindung mit der restriktiven Politik egoisti-sche, selbstbegünstigende Motive in der Bevölkerung erstarken ließen14. Einerseits wardie politische Interessenartikulation nicht möglich. Die Lebensverläufe waren aber vonUnsicherheit und Unmündigkeit geprägt, weil sie von eigenen Entscheidungen weitge-hend abgekoppelt waren. Die Menschen erfuhren eine direktive Steuerung ihres Lebensvon oben. Beispielsweise gab es wenig Entscheidungsmöglichkeiten bei der Wahl desberuflichen Werdegangs. Auf der anderen Seite förderte das System die Entstehung vonstaatlicher Regulierung unabhängiger, informeller Strukturen (Huinink / Mayer 1993:154; Zapf 1990: 30). Diese Netzwerke gegenseitiger Hilfe und schattenwirtschaftlicherAktivitäten wurden von der Regierung wegen der schlechten Versorgungslage geduldet.Hier konnten sich instrumentelle soziale Beziehungen insbesondere im Rückgriff auf

14 Ebenso wie Deppe, Dubiel und Rödel (1991): Sie identifizieren unterschiedliche Konnotationen desBegriffs der Civil Society für einerseits Polen und Ungarn und andererseits die DDR bzw. die deutscheTradition. Für die Gesellschaften Polens und Ungarns verbirgt sich hinter dem Begriff die Vision deröffentlichen politischen Teilhabe, während sich in der deutschen Tradition mit Civil Society die„...besitzindividualistische Vision einer Marktgesellschaft...“ (12) verbindet. Hierin liegt ein zusätzlicherVerweis auf die Unterschiede der Ansätze einer Civil Society in Polen, Ungarn (evtl. auch derTschechoslowakei) zu den Bewegungen in der DDR. In der DDR standen die öffentlichenProtestbewegungen - anders als in Polen und Ungarn - nicht für die Teilhabe am öffentlichen Leben undeine verstärkte Selbstverwaltung. Auch gab es in der DDR keine Gegeneliten, die Entwürfe zurSelbstverwaltung hätten entwickeln können (vgl. Zapf 1990: 21).

Page 60: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 55

die staatlichen Garantien entwickeln. Huinink und Mayer charakterisieren die Aktivitä-ten im informellen Sektor als gekennzeichnet von einer free-rider-Mentalität.Eine solche Entwicklung war besonders problematisch vor dem Hintergrund einer par-allel verlaufenden, DDR-spezifischen Entwicklung: Auf Grund der Zweiteilung desdeutschen Staates verfügte die SED-Herrschaft nicht über eine unhinterfragte national-staatliche Basis (Meuschel 1993: 102). Die SED war laufend damit beschäftigt, nacheinem „Modell DDR“ zu suchen, das in Abgrenzung vom Westen eigene Qualitätenbesaß. Die Intelligenz – und das gilt verstärkt für die politischen Kader – sah in Re-formbemühungen immer die Bedrohung der Eigenstaatlichkeit, was ihre prinzipielleLoyalität zur Parteispitze verfestigte. Diese Entwicklung wirkte allen Ansätzen einerCivil Society, mit denen die Bürger ihr Interesse hätten artikulieren können und einegesellschaftliche Integration erfolgt wäre, entgegen.Beide von Meuschel hervorgehobenen Entwicklungen griffen ineinander und verur-sachten den eruptiven Verlauf der Transformation in der DDR. Die starke Loyalität derEliten verhinderte das Aufbrechen der Antagonismen, wie es sich bspw. in Polen undUngarn beobachten ließ, wo die Ablösung des kommunistischen Regimes nicht mit ei-nem solchen drastischen Bruch erfolgte. Dem Druck, der sich aus den strukturellen Wi-dersprüchen ergab, wurde mit Reformen nachgegeben. In Polen und Ungarn gab es„Kerne“ einer Civil Society. In der DDR hingegen gab es keine kollektive Erfahrungmit einer widerständigen Praxis. Die Widersprüche stauten sich und lösten sich auf ineiner „...eruptiven Geltung der Unzufriedenheit...“ (Meuschel 1993: 99) – in einemBruch (Glaeßner 1993).

Die Widersprüche in der politischen Modernisierung bildeten somit nicht nur eine Vor-aussetzung für die Auseinandersetzungen innerhalb der Eliten. Sie provozierten vorallem die öffentliche Mobilisierung in den kommunistischen Gesellschaften.Deutlich wird ein solches Aufbrechen der gesellschaftlichen Antagonismen an denEntwicklungen und Ansätzen einer Civil Society vor allem in Polen, aber auch in Un-garn und der Tschechoslowakei.

2. Für Polen läßt sich zeigen, wie die mangelnde Institutionalisierung von gesellschaft-lichen Interessenlagen gepaart mit einer Legitimitätsschwäche des Systems öffentlichenProtest provozierte (vgl. Tatur 1991). Die Protestbewegung richtete sich auf eine zu-nehmende Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen in Form von stärkererSelbstverwaltung und somit auf eine Stärkung von Elementen einer Civil Society. Nichteinmal die Unterdrückung der Ansätze einer Civil Society konnte den Zusammenbruchverhindern. Das Potential einer „Revolution von unten“ wurde zwar mit repressivenMitteln unterdrückt (der Erklärung des Kriegsrechts im Dezember 1981 folgte das Ver-bot der Gewerkschaft). Diese Unterdrückung konnte den Widerstand und Protest lang-

Page 61: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 56

fristig aber nicht brechen. Die Notwendigkeit, politische und ökonomische Änderungeneinzuleiten, blieb bestehen. Lediglich der Charakter der Transformation änderte sich;die Veränderungen wurden von „oben“ gelenkt. Dem entsprach ein Stimmungswandelin der Bevölkerung: Das Motiv einer Zivilgesellschaft, sich von der Willkür der Herr-schenden zu befreien, wurde abgelöst von der Hoffnung, mit der Einführung vonMarktwirtschaft und Privatisierung der katastrophalen ökonomischen Situation zu ent-kommen (vgl. Linz / Stepan 1998: 255f).Taturs Untersuchungen setzen an den Auswirkungen der demokratischen Defizite despolnischen Systems auf die Integration der Gesellschaft an. In ihrer Darstellung führendie strukturellen Defizite zu einer „sozialen Schizophrenie“ (1991: 238), die sich in ei-ner unvereinbaren Trennung von öffentlichem Selbst und privatem Selbst im Bewußt-sein der Bevölkerung widerspiegelte. In dieser Spannung sieht Tatur eine wichtige Ur-sache für die Entwicklung der Ansätze einer Zivilgesellschaft in Polen:In der etatistischen Gesellschaft des Polens in den 70er Jahren fehlte ein institutionali-sierter „Raum“, in dem die gemeinschaftlichen Interessen integriert wurden. Einen öf-fentlichen Gruppenzusammenhalt gab es nicht. Die Lebensstile der Bevölkerung Polensreflektierten dennoch gemeinsame Moralvorstellungen und Werthaltungen. Diese Ori-entierungen waren aber eher privater Natur und bezogen sich – wie in den meistenkommunistischen Staaten – auf das Leben in den gesellschaftlichen Nischen der Familieund Freundeskreise (Tatur 1991).Die Haltung in den 70ern gegenüber der staatlichen Ordnung beschreibt Tatur einerseitsals Ablehnung, die sich im Rückzug in die Nischen ausdrückte und zur „Dichotomievon öffentlicher und privater Sphäre“ (1991: 237) im Bewußtsein der Menschen führte.Andererseits ließ sich auch eine Tendenz zur Anpassung beobachten, in der die sozialeRolle in ihrer Ausgestaltung den persönlichen Interessen und Loyalitäten folgte. Taturbeschreibt, wie sich aus dieser Haltung ein revolutionäres Potential entwickeln konnte.Der dissonante Zustand - von öffentlichem und privaten Selbst - verlangte nach einerkognitiven Befreiung. Der Widerstand gegen den Staat artikulierte sich auf dem Hinter-grund der privaten Moral und der Solidarität in den Nischen. Die kognitve Befreiungzielte darauf, in Wahrheit zu leben; Denken und Handeln in Einklang zu bringen (Tatur1991: 238).Tatur zeigt mit ihrer Argumentation, daß der Mangel an öffentlicher Gruppenidentitätdurch die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Ansätzen, die politische Solidaritätstiften können, ersetzt werden kann. Damit liefert sie eine Begründung für die moderni-sierungstheoretische These, nach der sich eine demokratische Entwicklung in einer mo-dernen oder teilmodernen Gesellschaft durchsetzen muß.Mit den Massenstreiks Anfang der 80er Jahre, die sich gegen die Willkür der Herr-schenden richteten, bot sich die Möglichkeit der Bildung von Gruppenidentitäten (Tatur1991): Je nach Haltung gegenüber den Streiks konnte in „wir“ und „sie“ unterschieden

Page 62: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 57

werden. Die Wir-Identität war eine moralische Identität, die in Abgrenzung vom Systementstand und in der Sprache der katholischen Kirche und des Papstes formuliert wurde.Mit dieser neuen Identität wurden politische Interessen artikuliert, und somit entstanddas Projekt der Civil Society. Institutionalisiert wurde das Projekt mit der Solidarnosc.Das sich neu artikulierte kollektive Selbst baute auf eine Schicksalsgemeinschaft, diemit der Verhängung des Kriegsrechts eine Wandlung erfuhr. Die Basis der Solidarnosczerstritt sich im Untergrund, was dazu führte, daß sich die Bindung der Arbeiter an dieGewerkschaft auflöste. Die Kirche bot der Schicksalsgemeinschaft jetzt ihren Schutzan. Mitte der 80er vollzog sich somit ein Stimmungswechsel in der Gesellschaft (Tatur1991: 242): Gemeinschaft wurde im Rahmen der Kirche metaphysisch definiert undrituell erlebt; die Identität der Bewegung wurde entpolitisiert. Tatur weist hier auf eineEntwicklung hin, in der die moralische Grundlage der Civil Society in Polen von demöffentlichen Leben weitgehend isoliert wurde15. Die Proteste im Mai und August 1988organisierten sich unabhängig von der Solidarnosc und artikulierten die Ängste einerexistentiellen Bedrohung in einer sich kontinuierlich verschlechternden ökonomischenSituation. Materielle und nicht mehr moralische Interessen dominierten jetzt die politi-schen Einstellungen: Modelle der Reformen, die eine stärkere Selbstverwaltung an-strebten, wurden durch die Bestrebungen der Einführung der Marktwirtschaft abgelöst.Erst die Schwächung der Civil Society ermöglichte die „Revolution von oben“. DieAushandlungsprozesse an den Runden Tischen waren eine korporatistische Lösung aus-gehandelter Kompromisse (Tatur 1991: 245). Diese Ergebnisse werden von Tatur nichtals Resultat der Interessenartikulation einer Civil Society gewertet. Nicht in der Aggre-gation gesellschaftlicher Interessen lag die neue Legitimationsbasis der gesellschaftli-chen Ordnung in Polen. Vielmehr orientierte sich die Zustimmung und Unterstützungdes Systems an der ökonomischen Performance. Nur von der Realisierung des Marktesund den Privatisierungen wurde eine Verbesserung der Lebensumstände erwartet. Den-noch hat das Projekt der Civil Society für die Transformation in Polen eine entschei-dende Bedeutung gehabt. Die Regierung erkannte die Bedeutung der ehemaligen Ge-werkschaftsführer und besonders der Person Walesas bei der informellen Kontaktauf-nahme mit der Opposition Ende 1987, die zu der Einrichtung der Runden Tische führ-ten, implizit an.Mit dem Argument von Tatur wird die Bedeutung eines wichtigen Erklärungsschrittsklar. Sie beschreibt, wie strukturelle Defizite zu Spannungen auf der Ebene der Bevöl-kerung - der Akteure also - führen können. Die Prozesse auf dieser Ebene bilden dieVoraussetzung für eine weitere strukturelle Entwicklung. Im etatistischen StaatsgebildePolens, das von einem gering ausdifferenzierten Verhältnis von Staat und Gesellschaftgekennzeichnet war, entwickelten sich aus der Spannung zwischen dem öffentlichen

15 Ähnlich wie in der DDR hemmte die Einbindung der Opposition in die Kirche die Entfaltung der CivilSociety auch in Polen (vgl. Meuschel 1993).

Page 63: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 58

und dem privaten Selbst Ansätze einer Zivilgesellschaft. Auch die Untersuchungen zuden Ansätzen einer Zivilgesellschaft in anderen osteuropäischen Staaten weisen auf denreflexiven Zusammenhang von individuellen Dispositionen und strukturellen Änderun-gen.

3. Für Ungarn bildete der Umgang mit den traumatischen Geschehnissen von 1956 denReferenzpunkt für die Einstellung gegenüber dem herrschenden System. Die verschie-denen Thematisierungen und Interpretationen hatten eine symbolische Wirkung mitEinfluß auf die Transformation des politischen Systems.Die 60er Jahre waren eine Zeit der „kollektiven Verdrängung der Zeitgeschichte“(Varga 1991). Niemand brach das Schweigen um den Mythos der Niederschlagung ei-ner Konterrevolution, mit dem die drastische Reaktion auf den Aufstand von 1956 ver-deckt wurde. Der Mythos der Abwehr einer Konterrevolution bildete die Legitimations-basis der bestehenden Macht. Die Greueltaten wurden von der Bevölkerung vergessen,um sich einen erträglichen Alltag zu sichern. Die Regierung bot der Bevölkerung imGegenzug einen gewissen Wohlstand; eine liberalisierte Wirtschaftspolitik, Reisefrei-heit, und ein freier Umgang mit ausländischen Kulturgütern wurden eingeführt. DieseErrungenschaften des Kádárismus16 ermöglichten es, sich in die Privatheit zurückzuzie-hen.Innerhalb der Parteiführung kam es allerdings zu Machtkämpfen, die sich unter ande-rem an der Debatte um die Formulierungen „Konterrevolution“ bzw. „Volksaufstand“entzündeten. Parallel zur innerparteilichen Opposition gab es eine alternative Öffent-lichkeit in Form von universitären Clubs, der ökologischen Bewegung und einer Viel-zahl von Vereinen. Insbesondere die studentischen Aktivitäten und das Anliegen derökologischen Protestbewegung verlagerten sich auf den außeruniversitären Bereich. DieElite der Hochschulen beteiligte sich an den Vorschlägen zum Aufbau eines Mehrpar-teiensystems und demokratischen Wahlkampfes (Szabó 1991: 210), während sich dieBevölkerung an der Interpretation der Geschichte und dem Staudammprojekt öffentlichbeteiligen konnte. Der wichtigste Gegenstand der ökologischen Bewegung – der Stau-damm für ein Donau-Kraftwerk – wurde zum Symbol eines Scheidepunkts zwischenden konservativen Kräften und den Reformern. Das ließ die Ökologiebewegung zu ei-nem Bestandteil der Demokratisierungsbewegung werden (Szabó 1991: 209).Die ökologische Bewegung stand für die sich selbst verteidigende Gesellschaft gegenden Staat. Die Beteiligung der Intelligenz am politischen Diskussionsprozeß um Kon-zepte der Selbstorganisation und Selbsthilfe - als Antwort auf die sich seit Mitte der80er Jahre abzeichnende ökologische Krise – stand für die Bestrebungen einer sich aus

16 Kádár bot der ungarischen Gesellschaft nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 einen Paktbzw. Gesellschaftsvertrag an (vgl. Eörsi 1993); die Entpolitisierung der Bevölkerung wurde mit derVerbesserung des materiellen Alltags, z.B. durch rechtliche Ansprüche auf sozialeVersicherungsleistungen, „erkauft“.

Page 64: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 59

dem Etatismus befreienden, selbstregulierenden Gesellschaft. In diesen beiden Dimen-sionen einer Civil Society – Verteidigung gegen den Staat und Bestrebungen zurSelbstorganisation (Mänicke-Gyöngyösi 1991) - fanden die Aktivitäten der Bewegun-gen in Ungarn statt.Die Eliten reagierten aber auch auf das historische Bewußtsein der Bevölkerung. Das„Komitee für Historische Gerechtigkeit“, das sich aus einer Betroffenheit entwickelte,dann aber öffentliche Bedeutung erlangte, gewann entscheidenden Einfluß auf den öf-fentlichen Umgang mit der Geschichte. Im Mai 1990 verabschiedete das erste frei ge-wählte Parlament in Ungarn eine neue Version der Geschichte von 1956; sie wurde of-fiziell als Revolution formuliert. Damit wurde der Kádárismus symbolisch zu Grabegetragen, und die Bevölkerung Ungarns konnte zur Authentizität zurückfinden.

4. Die Entwicklung in der Tschechoslowakei stand für einen ähnlichen Befreiungs-schlag wie er in Ungarn stattgefunden hatte. Dem „Leben der Lüge“ (V. Havel), seit derNiederschlagung des Prager Frühlings 1968, stand eine unterdrückte, dem Regime wi-dersprechende Werthaltung der Bevölkerung entgegen. Ihre Wurzeln lagen in einer tie-fen humanistischen und demokratischen Tradition (vgl. Horský 1991: 296). Als es dieUmstände erlaubten bzw. nahelegten, befreiten sich diese Wertorientierungen aus derPrivatheit. Die Geschehnisse in Polen, Ungarn und der DDR führten der Opposition vor,daß nicht mit einer militärischen Intervention zu rechnen war und daß friedlicheMassendemonstrationen gepaart mit dem Druck demokratisch gesinnter Gruppierungenein erfolgreiches Prozedere für einen Systemwechsel sein konnten (Horsý 1991: 281).Dem Beispiel der anderen Länder wurde gefolgt mit Massenprotesten und General-streiks (November 1989). Die Bevölkerung wehrte sich aber auch in organisierter Form.Bürgerbewegungen, die z.T. an die 1977 gegründete Charter 77 anknüpften oder auchvielfach ganz neu entstanden, stellten sich gegen die Obrigkeit, indem sie den „Demon-strationsrausch“ (Horský 1991: 287) unterstützten oder sogar organisierten – wie imFalle des Streikkomitees der Prager Hochschulen. Die Gewaltlosigkeit der Bewegungenstand für die Authentizität ihrer Werthaltungen; private humanistische Haltungen wur-den in der öffentlichen Konfrontation mit den gewalteinsetzenden Parteikadern beibe-halten – die Studenten wehrten sich nicht gegen die Knüppel der Polizei.

Die in den vier Beispielen wiederholt auftretende Thematisierung der Dispositionen derAkteure und der Werthaltungen in der „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ folgt aus dermodernisierungstheoretischen Untersuchung der Differenzierungs- und Integrationsde-fizite. Die Mechanismen der Modernisierungstheorie führen zu den Dimensionen der(zivilgesellschaftlichen) Kultur und der Legitimation des Regimes. Verschiedene Cha-raktertypen zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten lassen sich in diesem Rah-

Page 65: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 60

men miteinander vergleichen17. Kognitive und moralische Entwicklungen auf individu-eller Ebene bilden die Kategorien des Vergleichs und beschreiben die Bedingungen fürzivilgesellschaftliche Ansätze. Mit der Modernisierungstheorie liegt also auch eine Per-spektive vor, mit der je nach Charakter des Verhältnisses von Individuen zur öffentli-chen Sphäre strukturelle Unstimmigkeiten und Spannungen aufgedeckt werden können.Im nächsten Abschnitt spielt die Untersuchung zur Legitimität in kommunistischen Ge-sellschaften eine zentrale Rolle. Legitimität ist ebenfalls eine Kategorie, die sich auf dieAkteure bezieht. Sie beschreibt die von Akteuren (Eliten) wahrgenommene Einstellungund Bewertung anderer Akteure (der Gemeinschaft bzw. Bevölkerung) gegenüber demHerrschaftssystem (vgl. auch Holmes 1993).

Defizite in der Wertverallgemeinerung

Dieser Abschnitt stellt Argumente vor, die den Konsens über die Ausübung der Herr-schaft und Macht in kommunistischen Staaten problematisieren. Ein solcher Konsensmuß auf allgemein anerkannten Werten beruhen. Über sie wird die motivationale Unter-stützung der Individuen einer Gesellschaft garantiert.Wie konnten sich die Eliten kommunistischer Gesellschaften, die sich selbst ohne all-gemeingültiges, qualifizierendes Kriterium ernannt hatten, Akzeptanz und Unterstüt-zung für ihren Macht- und Herrschaftsanspruch sichern? Sie mußten ihren Anspruch aufeine rationale Grundlage stellen, indem sie sich über Ziele oder Zustimmung betreffendder Form der Machtausübung (legal) legitimierten. Die Auseinandersetzung mit derLegitimation kommunistischer Führungen und der mit ihr verbundenen Probleme bzw.Widersprüche führt zu der Untersuchung der Frage, inwiefern diese Gesellschaften inder Lage waren, den Übergang in die dritte, integrierende Phase der Moderne zu voll-ziehen. Ließ sich mit ihren Systemen vor dem Hintergrund der geltenden quasi-religiö-sen Ideologien ein rationalisiertes Verhältnis von Kultur und Gesellschaft etablieren?Die Herausforderung zur Wertverallgemeinerung bzw. der Anspruch, die Führung ra-tional zu legitimieren, ergab sich sowohl aus den wahrgenommenen Entwicklungen in

17 Mänicke-Gyöngyösi analysiert die Auswertung dreier Volkszählungen (1919, 1959, 1979) in der SU,die von den Soziologen L.A. Gordon und A.K. Nazimova (1987) vorgenommen wurden, um zu zeigen,daß die strukturellen Voraussetzungen zu einer kognitiven und moralischen Haltung bei den Bürgern derSU führten, die zivilgesellschaftlichem Engagement widersprach. Für die Lebensstile der 70er und 80erJahre in der SU zeigt sich dabei folgendes Stimmungsbild (Mänicke-Gyöngyösi 1990: 182):Die Gesellschaft konnte die Vermittlung von öffentlicher und privater Moral nicht leisten. Es stand keinRaum für die Integration gemeinschaftlicher Interessen zur Verfügung. Vielmehr standen der Integrationinstitutionelle Schranken entgegen. Für die Regeln des Verhaltens schienen die Familien undFreundeskeise relevant.Der Grund für die geringe motivationale Unterstützung (Handlungsbereitschaft) lag in dem Verhältnis zuden Normen der öffentlichen Umwelt. In den öffentlichen Sphären der SU – anders als in den Nischen –galten die Werte nur in einer kognitiv-abstrakten Weise. An dieser Haltung hat sich auch in den folgendenJahrzehnten nicht viel geändert.

Page 66: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 61

den modernen westlichen Staaten – also aufgrund externer Ursachen – als auch aus in-ternen Entwicklungen. Es zeigte sich, wie einerseits der Wettbewerb mit den westlichenGesellschaften die Werte der marxistisch-leninistischen Ideologie in Frage stellte undandererseits interne Machtprozesse zur Neudefinition der legitimatorischen Basis desFührungsanspruchs führten: Die internen Entwicklungen mit ihren tatsächlichen Ein-kommens- und Machtunterschieden standen im Widerspruch zu den Zielen der Gleich-heit. Es bedurfte daher einer neuen Wertgrundlage auf einer höheren Allgemeinheits-stufe, die die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung rechtfertigen konnte –bspw. als funktionales Erfordernis. Nur so hätte die gesellschaftliche Integration ge-wahrt werden können.

Auf welchem Wege der externe Wettbewerb mit den westlichen Staaten über wirt-schaftlichen Fortschritt zu einer Legitimationskrise autoritärer bzw. totalitärer Regimeführte, kann mit einem konvergenztheoretischen Modernisierungsansatz gezeigt werden(Pye 1990):Die Modernisierung setzte über die Interaktion des internationalen Systems mit denNationalstaaten alle Regierungen unter Druck. Mit dem Zuwachs des technischen Wis-sens und der Weiterentwicklung der Medien kam es zu Zusammenstößen der nationalenKulturen mit der „Weltkultur“; wirtschaftliche Annäherungen und Handelsabkommenentstanden, Informationsbarrieren wurden wirkungslos. Der Zugang zu anderen Kultu-ren führt zur Konfrontation der durch sie vermittelten Standards mit den engstirnigennationalen Werten – wie sie die Umsetzung der marxistisch-leninistischen Ideologievermittelt. Die Werthaltungen sind für die Bildung nationaler Loyalitäten und damitauch für die Legitimität spezifischer Politikstile wichtig. Ungeachtet dessen erfolgtenmit der wirtschaftlichen Annäherung auch Eingeständnisse an universelle transnationaleStandards, d.h. an andere Kulturen und Werte.Es wird klar, daß mit der Aufweichung idiosynkratischer Werte den nationalen Regie-rungen eine wesentliche Legitimitätsressource – mit der sich die tatsächlichen Un-gleichheiten legitimieren ließen - und damit auch eine Machtressource entzogen wurde.Die Bedeutung der eigenen Werte wird sozusagen von oben relativiert, ohne daß die soentstehende Lücke gefüllt würde, so daß die Unterordnung weiterhin gerechtfertigt wer-den könnte. Pye bemerkt deshalb zurecht, daß die Modernisierungsprozesse den politi-schen Kräften die Mobilisierung und Dominierung der Gesellschaft erschweren. Dasgilt insbesondere für eine Situation des fortgeschrittenen Vertrauensverlusts, wie siesich u.a. als Ergebnis des zunehmenden kulturellen Austausches zwischen Ost und Westin den marxistisch-leninistischen Systemen herausbildete.

Die kommunistischen Führungen haben den Legitimationsmangel wahrgenommen undmußten darauf reagieren. Welche Auswirkungen hatten diese Reaktionen auf die Ak-

Page 67: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 62

zeptanz des Macht- und Herrschaftsanspruchs - und damit mittelbar auf die Stabilität?Holmes (1993) gibt mit einer „Theorie der Legitimationskrise“ eine Antwort auf dieseFrage. Er liefert ein komplexes Analyseschema, mit dem sich nicht nur fundamentaleWidersprüche kommunistischer Gesellschaften aufzeigen lassen, sondern auch den Kri-senentwicklungen eindeutige Indizien zuordnen lassen. Die Indizien für eine der Dyna-mik der Widersprüche folgende Krise sind die Kampagnen gegen Korruption. In ihnensieht Holmes das entscheidende Symbol für eine Entwicklung zur Krise; Antikorrupti-onskampagnen verweisen auf einen Wechsel in der Legitimationsweise. Dieser Wechselsteht für einen Prozeß der Transformation. Den Kern seiner Argumentation bildet eineallgemeine Theorie der Krisen-Dynamik in kommunistischen Staaten (Holmes 1993):Nach der revolutionären Gründung eines Staates ist die Legitimationsweise noch relativunbedeutend. Macht wird hauptsächlich durch Zwang ausgeübt. Erst mit einer gewissenRoutine ändert sich die Situation. Die Führer erkennen die Notwendigkeit, sich selbst zulegitimieren. Damit ändert sich das Primat der Machtausübung. Nicht mehr Zwang be-herrscht die Ordnung, sondern eine normative Unterstützung der gesellschaftlichenOrdnung wird bei den Massen gesucht. In dieser Phase wechseln die Führer zu teleolo-gischen Formen der Legitimation. Die Machtausübung soll entweder über einen offizi-ellen Nationalismus oder über „Eudämonismus“ legitimiert werden. Beides sind zwarFormen rationaler Legitimation, sie müssen aber nicht unbedingt auf Gesetzen und Le-galität beruhen. Entscheidend ist, daß die Bürokratie geführt wird, um Ziele - wie wirt-schaftliches Wachstum oder Identitätsstiftung über nationale Symbole - zu erreichen.Die „eudämonistische“ Legitimation kann gegen die Intention der Führung wirken,wenn die Bevölkerung mehr erwartet als geleistet wird, oder wenn offizieller Nationa-lismus inoffiziellen Nationalismus inspiriert. In kommunistischen Systemen kommt es -wegen der strukturellen Hindernisse für eine ökonomische Effizienz - unweigerlich zudiesen negativen Auswirkungen. Eine weitere Entwicklung setzt ein. Der Übergang zueiner legal-rationalen Legitimationsform, die modernen Staaten angemessenen ist, wirdeingeleitet. Legal-rationale Legitimation stellt den Gehorsam gegenüber Normen überden Gehorsam gegenüber Personen. Der Versuch der Führung, die Balance zwischenden Legitimationsformen zu ändern in Richtung legal-rationale Legitimität, offenbartesich in der zunehmenden Thematisierung von Korruption. Antikorruptionskampagnensind ein Indiz für die Wahrnehmung der schwindenden Legitimität des Führungsan-spruchs und der Systemform. Die Wahrnehmung der Legitimität bei der Führung kon-zentriert sich dabei primär auf die Haltung einerseits der Mitglieder der Führung undandererseits der Bürokraten. Ihre motivationale Unterstützung ist entscheidend für denSystemerhalt. Eine nachlassende Unterstützung wird wahrgenommen, wenn Teile derFührung und Bürokaten ihre Macht und Privilegien durch Reformen bedroht sehen. Die„eudämonistische“ Legitimation für die Führung wird unterwandert und somit proble-matisch. Wird aus den eigenen Reihen eine derartige Bedrohung wahrgenommen, dann

Page 68: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 63

bildet das Bemühen, sich zunehmend gegenüber den Massen zu legitimieren, eine Lö-sung. Die Führung wechselt dazu über, die öffentliche Meinung gegen Aspekte der Bü-rokratie – Korruption bzw. Amtsmißbrauch – zu wenden. Hiervon erwartet sie eine Be-wegung in Richtung legal-rationale Legitimation.Die Antikorruptionskampagnen reichten nicht aus, um die modernen kommunistischenStaaten in der legal-rationalen Form zu legitimieren. Mit ihnen wurden eher neue Legi-timationsprobleme geschaffen, da es einen fundamentalen Widerspruch zwischen kom-munistischen Systemen und legaler Rationalität gibt. Der Widerspruch liegt zwischendem Konzept des „rule-of-law“ und dem kommunistischen Machtkonzept, das nacheiner avantgardistischen Führung verlangt. Folglich gesellt sich zu den Bürokaten - alsQuelle von Instabilität - die enttäuschte und frustrierte Bevölkerung. Die Führung mußauf eine solche krisenhafte Entwicklung reagieren; entweder mit Zwang oder mit derGewährung voller legaler Rationalität. Nach Holmes mündet der Widerspruch in einemKollaps, auch wenn es zeitweise einen Rückzug zum Zwang geben kann.

Antikorruptionskampagnen bilden zwar kein Kriterium für die Identifikation einerKrise, sie verweisen aber auf die Wahrnehmung der Akteure. Holmes sieht in dieserWahrnehmung einen ausreichenden Beleg für eine Krise oder die Bewegung zu ihr.Legal-rationale Legitimation und kommunistische Macht sind inkompatibel. Deswegenkann davon ausgegangen werden, daß mit dem Ausmaß des Bestrebens eines kommuni-stischen Systems, sich legal-rational zu legitimieren, die Legitimationskrise zunimmt.Ein eindeutiges Zeichen für eine Legitimationskrise liegt auch vor, wenn sich das Re-gime zurück zum Zwang als Form der Machtausübung bewegt.In der Entwicklung der kommunistischen Staaten Osteuropas ließen sich konkrete Hin-weise auf eine transformatorische Dynamik des Legitimationswechsels beobachten(Holmes 1993): Die kommunistische Führung der SU paßte sich Politiken an, die ihrSystem dem Westen ähnlicher werden ließen. Zu dieser Konvergenztendenz kam es vordem Hintergrund der ökonomischen- und Legitimationsprobleme. Die Umsetzung derneuen Politiken führte aber entgegen ihrer Intention dazu, daß sich die negativen Folgendes Kommunismus und des Kapitalismus durchsetzten. Die positiven Aspekte der bei-den Steuerungsvarianten rückten in die Ferne. Die Ursache für die Realisierung einessolchen „worst-case-scenarios“ sieht Holmes in dem erwähnten fundamentalen Wider-spruch zwischen der offiziellen Ideologie und den Versuchen einer rational teleologi-schen oder legalen Legitimation.Holmes (1993) führt aus, wie die während der stalinistischen Periode vorherrschendeDominanz der Macht durch Zwang von dem Versuch, die Legitimation von der Öffent-lichkeit auf der Basis von Leistung zu erhalten, abgelöst wurde: Gegenüber den Massenwurde die „eudämonistische“ Legitimation die dominante Legitimationsweise. Die 60erund 70er Jahre waren von weitgehenden ökonomischen Reformen geprägt. Hätte das

Page 69: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 64

System hier gute Leistung erbracht, dann wäre evtl. die Legitimation gestiegen. Dieswar ein wichtiges Ziel der sowjetischen Führung vor dem Hintergrund der geopoliti-schen Situation. Die schwächere Position der SU im militärischen Wettbewerb mit denUSA führte zu einem Verlust des Selbstvertrauens der Führung. Die leistungsbezogene,instrumentelle Legitimation war dann allerdings in den 80er Jahren mit gravierendenökonomischen Problemen konfrontiert. Die Gründe dafür lagen in der zurückgehendenIntegration des osteuropäischen Marktes in den kapitalistischen Markt (vgl. auch Lötsch1993). Außerdem verhinderten mangelnde politische Reformen eine ökonomische Mo-dernisierung. Der Konservatismus einer Bürokratie, auf die der Druck zur ökonomi-schen Leistung einen negativen, entfremdenden Effekt hatte, konnte seine hemmendeWirkung ungehindert entfalten. Die „eudämonistische“ Legitimation mußte zusammen-brechen. Der Führung blieb nur, sich in Richtung einer anderen Legitimationsform neuzu orientieren. Ihre Wahl fiel auf die legal-rationale Legitimationsweise, mit der sie dieöffentliche Meinung gegen die Kader mobilisierte. Diese Verschiebung identifiziertHolmes für die 70er und besonders die 80er Jahre anhand der zunehmenden Antikor-ruptionskampagnen als Form der Mobilisierung der Öffentlichkeit. Holmes‘ Untersu-chungen zeigen eine deutliche Zunahme von öffentlichen Berichten und Medienkampa-gnen zur Korruption und Amtsmißbrauch in der Ära nach Breshnew (1993: 120f). Indieser Entwicklung lag ein Hinweis darauf, daß die Führung den Widerspruch zwischenden existierenden Werten und der legalen Rationalität wahrnahm. Je weiter sich dieFührung in Richtung legal-rationale Legitimation bewegte, desto mehr fand sie sichselbst in einer widersprüchlichen Transformation. Die Kampagnen wirkten sich somitdysfunktional aus – sie hatten einen negativen Einfluß auf das Regime und die Legiti-mität des Systems. Es kam zu einer allgemeinen Krise.Die Bewegung von einer Legitimationsform zur anderen mag helfen, eine Krise zuüberwinden. Ihr Vorteil liegt in der buy time-Strategie (Holmes 1993). Stehen ihre Zieleaber im Widerspruch zu den strukturellen Voraussetzungen (hier der marxistisch-lenini-stischen Ideologie), dann wirken sie mittel- bis langfristig eher dysfunktional.

Die anderen osteuropäischen Staaten haben mit der Krise in der SU ihre externe Legiti-mation verloren. Die SU konnte nicht mehr als Modell fungieren. Auf diese Weise in-itiierten die Prozesse des Integrationsverlustes in der SU die Transformationsentwick-lungen in den anderen osteuropäischen Staaten.Der Wandel in den osteuropäischen Staaten ist aber nicht nur Ergebnis der Entwicklun-gen in der SU. Parallele Prozesse des Legitimationswechsels ließen sich auch außerhalbder SU beobachten. Meuschel (1991) hat bspw. den Legitimationswandel in der DDRuntersucht. Sie beschreibt, wie sich Legitimität als Orientierung an den Werten des An-tifaschismus und Sozialismus zu einer labilen Loyalität wandelte. In dem neuen Zustandder Loyalität wendeten sich die Mitglieder der Gesellschaft von dem Wertekatalog des

Page 70: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 65

Marxismus-Leninismis ab, akzeptierten aber weiterhin die Herrschaftsverhältnisse, weildiese der Verfolgung privater Interessen nicht im Weg standen, sondern die Realisie-rung egoistischer Motive ermöglichten und förderten.Während von 1945 bis Mitte der 50er Jahre ein stalinistischer Antifaschismus Legiti-mität in der DDR stiftete, wurde ab Mitte der 50er bis Ende der 60er mit den technokra-tischen Reformen und der sozialistischen Utopie versucht, eine teleologische Legitima-tionsgrundlage aufzubauen (Meuschel 1991). Der Stalinismus war gescheitert. MitChruschtschow in der SU und Ulbricht in der DDR setzte eine Reformphase ein, die indem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt die Grundlage für das angestrebte Zieleiner klassenlosen Gesellschaft sah. Die Reformen wurden aber sowohl in der SU alsauch in der DDR abgebrochen; in der SU mit dem Beginn der Breshnew-Ära und demSturz von Chruschtschow, in der DDR mit dem Einsetzen der Honecker-Ära. Ein ent-scheidender Grund lag in den ökonomischen Ungleichgewichten und Versorgungskri-sen. Sie waren Folgen der Teilmodernisierung.Eine weitere - von Meuschel hervorgehobene - Ursache für den Abbruch der Reformendurch die SED-Führung war die Angst vor Arbeiterunruhen und Demokratisierungs-bestrebungen, wie sie sich Ende der 60er Jahre in der Tschechoslowakei beobachtenließen. Eine neue Phase der Systemlegitimation begann. Sie war gekennzeichnet durchden Verlust der Utopie, was sich in dem Label des „real-existierenden Sozialismus“ausdrückte; das utopische Ziel wurde in eine ungewisse Zukunft verschoben. Damitgerieten aber auch die Widersprüche der Gesellschaft vermehrt ins Blickfeld.Meuschel schildert, auf welchem Wege die Legitimität zur Loyalität transformiert: Dieweitgehende Tolerierung bildete die Herrschaftsbasis und nicht eine durch Legitimitätgestiftete motivationale Unterstützung. In diesem Zustand glich die DDR stark denwestlichen Systemen. Dennoch war der real-existierende Sozialismus wesentlich ver-wundbarer. Ihm fehlte nämlich – im Gegensatz zu den westlichen Gesellschaften – eineKultur individueller Verantwortung, Pluralität politischer Institutionen und Mechanis-men demokratischer Teilhabe. Persönliches Versagen wurde somit dem Parteienstaatangelastet. Politische Verantwortung für Fehlentwicklungen konnte, anders als im We-sten, eindeutig einer politischen Institution zugewiesen werden. Die Gesellschaft warnicht in das politische System eingebunden, konnte sich also auch hier jeder Verant-wortung entziehen.Die SED versuchte sich in einer Loyalitätspolitik, indem sie z.B. eine tolerantere Kir-chenpolitik verfolgte. Hiermit schuf sie allerdings Möglichkeiten für die Entwicklungoppositioneller Gruppen, die sich aus der Kirche heraus gegen das System wendeten(1989 kam es aus diesen Reihen zu einem Aufruf zum Wahlboykott), und somit Reak-tionen provozierten (den Wahlbetrug der SED), die selbst die Loyalität beschleunigtzusammenbrechen ließen.

Page 71: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 66

Pye beschreibt die Diffusion westlicher Wertestandards. Holmes identifiziert die Indi-zien, die auf eine Erosion der motivationalen Unterstützung des Systems weisen. Meu-schel beschreibt den Politikwandel in der DDR in seiner Auswirkung auf die Systemle-gitimation. Wie sich allerdings Wertewandel und der Wandel des legitimatorischenSelbstverständnisses auf die individuellen Einstellungsmuster auswirken und auf diesemWege letztendlich zu einer Disposition für einen Systemwechsel führten, ist nicht Ge-genstand der Analysen. Der Wirkungsbeziehung von Legitimationsweise und Motiva-tion muß mit einer Fragestellung auf den Grund gegangen werden, die die Beziehungzwischen normativer Selbstthematisierung eines Systems und den impliziten Persön-lichkeits- bzw. Identitätskonzepten aufspüren will. Holmes umgeht das Problem, indemer die Bedeutung der Unterstützung nur indirekt thematisiert; nicht der Einstellungs-wandel in der Bevölkerung selbst, sondern seine Wahrnehmung durch die Eliten, ist fürpolitische Änderungen verantwortlich. Für die Transformation in der SU können damitwahrscheinlich die zentralen Variablen benannt sein. Die Eliten reagierten auf die man-gelnde motivationale Unterstützung. Die Bevölkerung in der SU reagierte passiv aufstrukturelle Bedingungen, indem sie mit illegalen und halblegalen, schattenwirtschaftli-chen Aktivitäten einen „selbstverstärkenden Aufzehrungsmechanismus“ (Scrubar 1991)förderte.Offen bleibt, über welche Prozesse die Einstellungsmuster in der gesellschaftlichenGemeinschaft auf die gesellschaftliche Integration zurück wirkten. Auch bei Meuscheldeutet sich die Thematisierung der individuellen Einstellungsmuster nur in der Legiti-mationsdefinition - Legitimation als Orientierung an einen systemspezifischen Werte-katalog - an. In diese Lücke stoßen die Untersuchungen von Bude und Scrubar.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen den normativen Widersprüchen und einer Dis-position für einen Regimewechsel, wie Bude am Fall DDR zeigt (1993): Die Legitima-tion der DDR über die antifaschistische Politikkonzeption war eine „tragische“ Selbst-beschreibung. Tragisch war sie, weil sich das gesellschaftliche Streben gegen Verfallund Untergang richtete. Als konstitutives Prinzip der DDR-Gesellschaft fungiert dasIdeal der universellen Gerechtigkeit, die in der Tugend der sittlichen Aufrichtigkeit ihradäquates Persönlichkeitskonzept findet. In der tragischen Perspektive des Antifaschis-mus ist der Faschismus aus dem Verlust der Einheit der Arbeiterklasse entstanden. Ei-nem ähnlichen erneuten Verfall mußte vorgebeugt werden. So wurden unter anderemauch die Aktivitäten des Stasiapparats und die Tendenz zum Totalitarismus des Systemsgerechtfertigt.Zwar bestimmte bis in die 80er Jahre hinein das antifaschistische Selbstverständnis dasIdentitätsbewußtsein der Jugend. Zunehmend verschob sich aber das Primat der Identi-fikation auf die DDR als eine im Aufstieg begriffene Gesellschaft. Mit den Reformender Eigentumsordnung in den 50er und 60er Jahren allerdings kam es zu „Statusge-

Page 72: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 67

winnlern“ (Bude 1993: 276), die bestrebt waren, ihre Position gegenüber Jüngeren undNachzüglern zu verteidigen. Dieser Legitimationswechsel hin zu einer „teleologischenLegitimation“ – wie auch von Holmes (1993) und Meuschel (1991) beschrieben - legteden Grundstein für die Aushöhlung der antifaschistischen Legitimationsgrundlage. DieAbgrenzung der Aufsteigenden stand im Widerspruch zum Konzept der Einigkeit. Ver-stärkt wurde der Widerspruch durch die sich in der DDR etablierende Konfliktvermei-dungsstrategie, deren Grundlage persönliche Beziehungen - die den Zugang zu den be-liebten Westgütern ermöglichten - bildeten. Die Gesellschaft war in der Wahrnehmungihrer Bürger, die die soziale Ungleichheit täglich erfahren mußten, nicht authentisch.Die Folge davon war eine zweite Gesellschaft neben der des Antifaschismus. Parallelzur „sittlichen Aufrichtigkeit“ in der Öffentlichkeit suchte man sich in dieser Nischeseine individuellen Vorteile. Die individuelle Wahrnehmung dieses kulturellen Zusam-menbruchs im DDR-Alltag ließ bei der Bevölkerung die Disposition für eine Wendeentstehen.

Scrubar beschreibt, wie sich die strukturellen Merkmale kommunistischer Gesellschaf-ten auf die normativen und moralischen Haltungen gegenüber dem Regime - und somitauf die soziale Identität und Solidarität - auswirkten. Unter den Bedingungen der „Pri-vatisierung des Staates durch die Partei“ (Scrubar 1991: 418) und der Verstaatlichungder Wirtschaft wurde die primäre Integrationsleistung nur noch durch Umverteilungs-netzwerke erbracht. Sie nutzten auf illegale bzw. halblegale Weise die staatlichen Res-sourcen und Institutionen für ihr Selbstinteresse. In der Abhängigkeit der einzelnen vondiesen Netzwerken und damit der Erfahrung mangelnder Autonomie lag die Ursache füreine partikularisierende Selbstdefinition der Individuen (Scrubar 1991: 424):Individuelle Leistungen blieben weitgehend unbedeutend. Wichtig waren familiärer undfreundschaftlicher Zusammenhalt in den Netzen. Die Gesellschaft dividierte sich ent-lang dieser Identifikationslinie; über die Netzwerke hinaus gab es keine Solidarität. Ge-sellschaft wurde als „Feindesland“ (Scrubar 1991: 424) definiert. Scrubar zeigt mit demRückgriff auf Parsons, daß in der dichotomen Unterscheidung des „wir“ und der „ande-ren“ der Grundstein für eine Demodernisierung auf der Ebene der sozialen Beziehungenund normativen Muster gelegt war. Zwei wichtige Errungenschaften moderner Gesell-schaften hat der Kommunismus abgeschafft. Dies sind die Motivationsfähigkeit desGeldes und die Kalkulierbarkeit des Handelns (auf Grund der Formalisierung sozialerBeziehungen durch positives Recht). An ihre Stelle traten die Netzwerke. Für die Situa-tionsdefinition solcher Gesellschaften ergibt sich nach Parsons‘ Kategorien der patternvariables18 die Zuordnung zu „particularistic-ascriptive patterns“ (Parsons 1951). Dasheißt, Errungenschaften und Wohlstand einzelner sind nicht durch Leistung erworben, 18 Pattern variables bilden ein von Parsons entwickeltes analytisches Schema, mit dem sich sozialePhänomene (Handlungsorientierungen, aber auch Gesellschaften oder Kulturen) klassifizieren undbeschreiben lassen (vgl. Parsons 1951: 46f).

Page 73: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 68

sondern auf der Basis von zugeschriebenen Eigenschaften (Positionen bzw. Schlüssel-stellungen bei dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen), in der Regel illegal ent-standen. Moderne Gesellschaften hingegen zeichnen sich durch ein „universalistic-achievement pattern“ aus. Wohlstand soll primär eine leistungsbegründete Eigenschaftsein.Die Identitätskonzepte in den kommunistischen Gesellschaften bauten auf eine norma-tive Haltung der Loyalität gegenüber den Netzwerken auf und wurden durch die Erfah-rung, daß Leistung nicht belohnt wird, geprägt. Hier sind die desintegrierenden, morali-schen Vorbehalte gegenüber den Errungenschaften (Wohlstand) anderer angelegt. Esgab keine übergreifenden verallgemeinerten Werte, die unter den strukturellen Bedin-gungen des Kommunismus politische Solidarität stiften konnten bzw. Ungleichheitenrechtfertigten. Die strukturellen Defizite waren in Scrubars Perspektive zu tief in dendichotomen sozialen Identitäten verwurzelt.

Die Untersuchungen zu den Legitimitätsversuchen kommen zu dem Schluß, daß dievielfältigen Ansätze einer Wertverallgemeinerung die bestehenden Widersprüche derSysteme nur stärkten oder neue heraufbeschworen, sie aber in keinem Falle abbauenkonnten. Neue Formen der Legitimation verfingen sich im Widerspruch zu den Wertender vorherrschenden Ideologie. Die motivationale Unterstützung des Systems scheitertean den Spannungen, die sich aus der ökonomisch-politischen Entwicklung einerseitsund der marxistisch-leninistischen Ideologie andererseits ergaben. Symbolische Inte-grationsversuche realisierten nicht das angestrebte Ziel, weil sie nicht bei der grund-sätzlichen Spannung ansetzten und damit an den Erwartungen der Bevölkerung vorbei-steuerten. Vor dem Hintergrund einer quasi-religiösen Ideologie konnte es kein rationa-lisertes Verhältnis der Gesellschaft und Bürokratie gegenüber der die Macht und Herr-schaft ausübenden Führung geben. Integrationsversuche über die Formulierung neuerLegitimationskonzepte trugen vielmehr zur Spaltung der Gesellschaft bei.

1.4 Zusammenfassung

Mit der Klärung struktureller Variablen beschreiben systemtheoretische Ansätze imallgemeinen und strukturtheoretische Ansätze im speziellen die Konstitutionen vonoben, die als „exogener Schock“ Verhaltensänderungen hervorruft und neue Hand-lungsoptionen entstehen läßt. Damit liefern sie einen von vielen Bausteinen im Erklä-rungsgebäude für den gesamten Transformationsprozeß.Die Systemtheorie beschreibt die Prozesse auf der Makroebene des komplexen Trans-formationsphänomens und liefert damit einen komplementär-ergänzenden Ansatz zurTransformationsforschung. Mit ihr können Zyklen thematisiert werden, die zur Krise

Page 74: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 69

und zum Zusammenbruch des Staatssozialismus geführt haben. Somit läßt sich verste-hen, unter welchen Bedingungen das „Transformationsfenster“, das die Chance für ei-nen demokratisch-marktwirtschaftlichen Umbau bietet, in den kommunistischen Gesell-schaften entstehen konnte.In der Kategorisierung strukturtheoretischer Transformationsanalysen als entweder kon-flikttheoretisch oder konvergenz- bzw. modernisierungstheoretisch liegt eine unfrucht-bare Dichotomisierung. Die Kategorien verweisen jeweils auf eine der Ausprägungender vielseitigen und sich wandelnden zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Unter-scheidung in konflikt- oder konvergenz- bzw. modernisierungstheoretische Ansätzekann lediglich auf die analytische Präferenz der Autoren verweisen; sie kann nicht eineallgemeine Charakterisierung der Transformationsbedingungen darstellen. Die Einord-nung der Ansätze anhand dieser Attribute beschreibt ein analytisches Primat bei derUntersuchung und Erklärung zweier paralleler und sukzessiver Prozesse. Sowohl beiden geopolitischen, als auch bei den modernisierungstheoretischen Ansätzen sind dieErklärungslücken offensichtlich. Sie leisten allerdings eine Konkretisierung der evolu-tionären Vorbedingungen des Zusammenbruchs, wie sie von der Systemtheorie be-schrieben werden. Mit der geopolitischen Theorie können einige von der Systemtheorieangedeutete Umwelteinflüsse in ihrer Wirkung auf die Stabilität des alten Regimes kon-kretisiert werden. Die Modernisierungstheorie zeigt z.T. anhand des Beispiels konkreterStaaten, zu welcher Problematik interne Differenzierungsefizite führen. Der Zusam-menhang von diesen externen und internen Prozessen wird an der Schnittstelle von geo-politischer (Konflikt-)Theorie und modernisierungstheoretischer Konvergenztheorieinhaltlich begründet. In der Systemtheorie bildet der Zusammenhang von Umweltein-flüssen und interner Differenzierung einen zentralen Bestandteil der Stabilitätsanalyse.Sie liefert somit den theoretischen Überbau für die Zusammenführung zweier Theorie-konzepte.

Der systemtheoretische Beitrag zur Transformationsforschung ist im wesentlichen einheuristischer: Die Theorie soll die Makroebene der Transformation beschreiben. DenModellen wird damit der Status von Deskription-, Struktur und Ordnungstheorien zuge-standen, die uns befähigen, die Auflösung ehemals stabiler Strukturen nachzuzeich-nen19. Die Grenze des systemtheoretischen Beitrags liegt aber nicht nur in diesem zu-

19 Hondrich (1990) schlägt vor, mit Hilfe seiner systemtheoretisch inspirierten Theorie sozialerDifferenzierung Hypothesen zur Veränderung sozialistischer Gesellschaften entlang derdiskriminierenden Variablen, die sich aus dem unterschiedlichen Differenzierungsgradgegenübergestellter Gesellschaftstypen ergeben, empirisch zu prüfen. Mit seinem Vorschlag weist ergleichzeitig auf eine Problematik hin, die von anderen systemtheoretisch orientierten Autorenunberücksichtigt gelassen wird: Daß das differenziertere System problemlösungsfähiger bzw. überlegenerist, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Ein höherer Differenzierungsgrad birgt prinzipielKonfliktpotenziale durch mangelnde Integration. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, Gesellschaften nicht-unterdrückter Differenzierung nicht per se als überlegenes System anzunehmen, sondern mit Hondrichnach den Bedingungen zu fragen, unter denen stärker differenzierte Systeme Probleme besser lösen.

Page 75: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 70

rückgenommenen theoretischen Anspruch, der sich konsequenterweise in dem zurück-genommenen Universalisierungsanspruch der Autoren (Sandschneider 1994) manife-stiert. Auf sie stößt man auch bei den konkreten Dynamiken und verschiedenen Optio-nen des Wandels. Brie, der sich um eine vergleichsweise konkrete Darstellung bemüht,muß für die Beschreibung der Transformation der Sowjetunion (und z.T. der DDR)schon über die reine Evolutionslogik hinausgehen. Die Evolution beschreibt nur dieProzesse, die zur Entstehung des „Transformationsfensters“ führen. Auf der Grundlageder strukturellen Merkmale staatssozialistischer Systeme können systemtheoretischzwar Paradoxien bzw. Widersprüche mit evolutionären Mechanismen nachgewiesenwerden, die nach Bewegung bzw. Auflösung der Statik verlangen. Die Richtung derBewegung ist aus dieser Perspektive allerdings keineswegs eindeutig. Denn die verhin-derte funktionale Differenzierung mit ihren Folgeerscheinungen allein kann noch nichtden Zusammenbruch des System beschreiben (vgl. auch Merkel 1994)20. Aus diesemGrunde entsteht aus der evolutionär entstandenen Situation auch ein Handlungsvakuumfür die relevanten und betroffenen Akteure. Der Verlauf und die Lösung der Krise sindaus systemtheoretischer Perspektive kontingent. „Lösungen“ wie in China sind ebensomöglich wie die Lösungen, die in Osteuropa angestrebt wurden.Aber nicht nur die Systemtheorie, sondern grundsätzlich alle makrotheoretischen An-sätze der Transformationsanalyse haben ein Defizit auf der Akteursebene. Auf der Mi-kroebene verlieren sie an analytischer Schärfe (vgl. Müller 1991). Sie zeigen zwarStrukturdefizite auf, vor deren Hintergrund sich innergesellschaftliche Konflikte entfes-seln. Der Verlauf solcher Konflikte aber kann von den in diesem Kapitel vorgestelltenArgumenten nur in den Makrodimensionen struktureller Änderungen (bspw. ökonomi-scher Konjunkturen, Legitimationskampagnen) nachgezeichnet werden. Die Rolle dergesellschaftlichen Akteure scheint sich selbst in der konkreteren strukturtheoretischenPerspektive auf ein passives Reagieren auf veränderte Makrovariablen zu reduzieren.Der Vergleich verschiedener, historischer „Charaktertypen“ (vgl. Mänicke-Gyöngyösi1993) und der Verweis auf die Bedeutung individueller Dispositionen für die struktu-rellen Änderungen (vgl. Tatur 1991) läßt die Prozesse aktiver, d.h. intentionaler Politik-

20 Als Gegenbeispiel soll an dieser Stelle auf Pollack verwiesen werden (1990). In seinensystemtheoretischen Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR reagieren die Akteurenur auf system- und strukturimmanente Prozesse, d.h. systeminterne und -externe Faktoren, die zumUmbruch führen. Die zentrale Ursache für den Umbruch liegt seiner Auffassung nach in der„explosionartigen Austragung“ der Probleme der ineffizienten - weil undifferenzierten - DDR durch denAufbruch der Geschlossenheit der Systemgrenzen mit der Öffnung der ungarischen Grenze zum Westen1989. Mit dem Zusammenbruch des Systems entstehen aber auch Optionen für Verhaltensänderungenund für die Neugestaltung von Institutionen. Pollack kann diese Art der Gestaltung und Veränderung derDDR nicht konsistent in den selben Kategorien fassen wie den evolutionären Zusammenbruch; die Logikseiner Erklärung bricht, da er den Prozeß nach dem Zusammenbruch in Handlungs- undStrategiekategorien beschreibt. Deswegen bemerkt Sandschneider zurecht: „Pollack bekommt mit seinemAnsatz eine, aber eben nur eine wesentliche Ursache für den Zusammenbruch der DDR analytisch gut inden Griff.“ (Sandschneider 1990: 38). Dies ist die Ursache, die sich systemtheoretisch erfassen läßt: diefunktionalen Defizite der Entdifferenzierung durch Universalisierung einer Leitdifferenz.

Page 76: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 71

gestaltung weitgehend unberücksichtigt. Die internen Dynamiken bleiben aus derstrukturtheoretischen Perspektive weitgehend undurchsichtig.Somit kann auch keine makrotheoretische Untersuchung beanspruchen, die Frage nachden letztendlichen Ursachen beantwortet zu haben. Der in den geopolitischen Analysenunterstellte Determinismus greift nicht, weil es sich bei der Transformation um Prozessehandelt, die hochgradig kontingent sind! Der Determinismus scheitert bei der Erklärungvon Abwärts- und Krisenbewegungen, die von Erholungsphasen eingeholt wurden, under scheitert auch an der Erklärung der Unterschiede in den Entwicklungen der einzelnenosteuropäischen Länder. Die sehr unterschiedlich und überraschend verlaufenden Trans-formationen widersprechen der Annahme, die Handlungen folgten immer nur den Ma-kroprozessen der Geopolitik. Der unterstellte Allgemeinheitsgrad des Wirkungsmodellsbringt bei zwei entscheidenden Fragestellungen eine Unschärfe mit sich: Wie Innereli-tenkonflikt und öffentliche Reaktion auf die Belastungen im internationalen Konfliktverlaufen und welche Option der „Lösung“ des Staatszusammenbruchs sich durchsetztbzw. gewählt wird (Revolution, Erholung oder territoriale Desintegration), kann nichterklärt werden.Die Modernisierungstheorie thematisiert Transformationsprozesse über langfristige Pe-rioden, aber hinterfragt dabei das Konzept der funktionalen Differenzierung auch aufseine motivationalen Grundlagen. Insofern ist der modernisierungstheoretische Ansatz„... eine angewandte Theorie, die Theoriestücke aus verschiedenen Paradigmen in raum-zeitlichen Zusammenhang bringt, um z.B. den Übergang von traditionellen zu sich ent-wickelnden Gesellschaften aus notwendigen strukturellen Voraussetzungen und hinrei-chenden take-off Innovationen (z.B. getragen von siegreichen Eliten) zu begreifen.“(Zapf 1996: 172). Unklar bleibt aber auch hier, wie sich die funktionalen Erfordernisseder Makroebene in die entsprechenden Handlungsstrategien der beteiligten Akteureumsetzten. Damit bleiben relevante Interessen und Herrschaftsverhältnisse unberück-sichtigt (vgl. Müller 1991). Kurzfristige Prozesse können nicht mit dem Instrumenta-rium der Modernisierungstheorie erklärt werden. Die Ansatzhöhe der Beiträge zurTransformationsanalyse in diesem Kapitel liegt auf der längerfristigen Ebene der Jah-reszahlen.

Die durch die strukturtheoretischen Ansätze erfolgte Konkretisierung systemtheoreti-scher Krisen- und Zusammenbruchsevolution hat - wie die Systemtheorie - Grenzen beider Erklärung des Transformationsprozesses. Die historischen und strukturellen Voraus-setzungen für die über eine Revolution oder den institutionellen Wandel erfolgendeTransformation sind zwar geklärt, aber warum z.B. die Bevölkerung auf die Legitimi-tätskrisen in einer bestimmten Weise reagiert, wird nur angedeutet.Bei den Modernisierungstheorien läßt sich allerdings oft eine gewisse theoretische Be-scheidenheit beobachten. Bei der inhaltlichen Diskussion der Transformationsprozesse

Page 77: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 72

wird an vielen Stellen auf Defizite oder Ungenauigkeiten hingewiesen. Grenzen derErklärung werden aufgedeckt. Die Ansätze öffnen sich theoretisch in zwei Richtungen.Einmal öffnen sie sich nach oben, d.h. zur Ebene der allgemeineren Variablen: An die-ser Stelle können die Systemtheorie - mit dem Nachweis der allgemeinen Differenzie-rungsproblematik in kommunistischen Gesellschaften - und die Geopolitische Theorie -mit der Bestimmung der Makrovariablen auf der zwischenstaatlichen Ebene - analyti-sche Erkenntnisse vorlegen. Zum zweiten öffnen sich die Modernisierungstheorien nachunten: Akteurs- und institutionentheoretische Ansätze können mit spezifischeren Analy-sen bezüglich der internen Entwicklung anschließen.Einige der strukturtheoretischen Ansätze verweisen explizit auf die Schnittstellen zuTheoriekonzepten, die die für die Liberalisierung und den darauf folgenden politischenWandel relevanten Interaktionen thematisieren. Bei Pye (1990) z.B. ist die vom Cha-rakter der politischen Kultur geprägte Beziehung zwischen „Subjekten“ und Herrschernausschlaggebend für das Ergebnis des Zusammenstoßes der unterschiedlichen Kulturen.Kulturell geprägte Psychodynamiken entscheiden über die Art der Reaktion auf politi-sche Repression und Terror. Sie tragen so zum Wandel des Systems bei. Auch Weedes(1992) geopolitische Ausführungen machen deutlich, daß auf Akteure und deren Ge-staltung - für eine vollständige Erklärung des Transformationsprozesses - nicht ver-zichtet werden kann. Weede selbst verweist auf die Handlungstheorie Kurans (vgl.1989; 1995), um die Beziehung zwischen den Prozessen in der Sowjetunion und denProzessen in den anderen osteuropäischen Staaten zu klären. So läßt sich eher verste-hen, warum die Prozesse in diesen Staaten anders verliefen und wesentlich von derEntwicklung in der ehemaligen UdSSR beeinflußt wurden21. Aber auch die Änderunginstitutioneller Strukturen, die dem Bestreben folgt, eine neue Legitimationsgrundlagezu schaffen - wie mit den Analysen Holmes‘ beschrieben -, ist ein Akt, der nach Ent-scheidung von Eliten verlangt. Selbstredend spielen hier strategische oder vielleichtauch andere individuelle Motive eine Rolle: Akteure reagieren auf institutionelle Ände-rungen und entscheiden so mit über den Erfolg bzw. Mißerfolg von Reformen22.Prozesse auf der institutionellen Ebene mit ihren spezifischen Kombinationen von Ak-teuren und Strategien werden von Ansätzen, die die Transformation auf der Mesoebeneuntersuchen - wie der „Neuen Institutionellen Theorie“ - thematisiert. Sie tragen zurKlärung der Beziehung zwischen den strukturellen Variablen und dem Handeln derAkteure bei. 21 Weede bezeichnet die Entwicklung in der UdSSR als „Trigger“ für den freieren Ausdruckoppositioneller Präferenzen in den anderen osteuropäischen Staaten (1992). Eine ähnliche Argumentationverfolgt Huntington. Um zu erklären, warum Demokratisierungen in „Wellen“ auftreten, führt er dasKonzept des „Snowballing“ ein (1993: 33): „Knowledge of significant political events is increasinglytransmitted almost instaneously around the world. Hence event x in one country is increasingly capable oftriggering a compareable event almost simultaneously in a different country.“.22 Auch Zapf teilt die Ansicht, daß mit dem Verweis auf die dramatischen Umbrüche Ansätze andererParadigmen – nämlich akteurstheoretische, strategische und elitentheoretische Ansätze derPolitikwissenschaft – zur Analyse der Transformation herangezogen werden müssen (1996: 176).

Page 78: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 73

2. Mesotheoretische Ansätze

Der Beitrag der Mesotheorien läßt sich am besten einschätzen, wenn man sieht, worinsich die theoretischen Konzepte, auf die diese Bezeichnung paßt, von den makrotheore-tischen einerseits und den mikrotheoretischen Ansätzen andererseits unterscheiden. EineGrenzziehung ist allerdings nicht unproblematisch. Institutionentheoretische Ansätzeversuchen nämlich, die in einem solchen Vergleich angelegte Gegenüberstellung unddamit die traditionellen Grenzen zwischen theoretischen Paradigmen zu überwinden.Sie versuchen sowohl Mikroelemente als auch Makroelemente für die Erklärung bzw.für das Verstehen sozialer Phänomen miteinander zu verbinden. Allerdings läßt sichallein mit der Berücksichtigung von Institutionen noch nicht eine Überwindung desDualismus von Struktur und Handlung reklamieren. Die Operationalisierung des Insti-tutionenbegriffs kann durchaus in Übereinstimmung mit der traditionellen Logik derMikro- bzw. Makroansätze erfolgen. In diesen Fällen ist eine Abgrenzung zu struk-turtheoretischen und akteurtheoretischen Ansätzen kaum möglich; die alte Dichotomiebleibt bestehen. Erst die neueren Konzepte, die den Institutionenbegriff mit einer Kor-rektur der traditionellen theoretischen Prämissen einführen, liefern einen Erkenntnisge-winn, der sich von den Einsichten der Makro- und Mikrotheorien deutlich unterscheidet.Die Leistung der Mesotheorien läßt sich besonders gut im Vergleich der Prämissen derälteren institutionentheoretischen Ansätze mit den Prämissen der neueren Ansätze ver-anschaulichen. Die Prämissen liegen bei den anthropologisch-psychologischen Begrün-dungen der den Theorien zugrunde gelegten Menschenbilder. Entsprechend dieser theo-retischen Fundamente führen die älteren Ansätze Institutionen entweder in kulturalisti-scher oder in kalkulatorischer Terminologie ein (vgl. Göhler / Kühn 1999). Neuere An-sätze verbinden beide Aspekte und heben sich dadurch prinzipiell auch von den Ansät-zen des vorangegangenen Kapitels („Makrotheoretische Analysen“) und des nachfol-genden Kapitels („Mikrotheoretische Analysen“) ab, ohne dabei ihre Anschlußfähigkeitzu verlieren.Der Fokus dieses Neuen Institutionalismus liegt auf einer genuin anderen Ebene als derstrukturtheoretischer oder akteurstheoretischer Ansätze. Dies ist die Ebene der Institu-tionen. Mit der Erklärung der Ursachen für die Dynamiken auf der Ebene der Institutio-nen (Entstehung, Bestehen und Zerfall von Institutionen) weitet sich die Perspektiveund greift zurück auf Variablen der übergeordneten Ebene, der Strukturen, oder der un-tergeordneten Ebene, der Akteure. Dieser Rückgriff erfolgt allerdings nicht in einer Lo-gik, die Institutionen reduktionistisch entweder rational-kalkulatorisch oder in Kulturauflöst, also jeweils als abhängige Variable betrachtet. Vielmehr sind Institutionen un-abhängige Variablen, die unter speziell anzugebenden Bedingungen zu abhängigen Va-riablen werden können.

Page 79: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 74

Von der eigenständigen Perspektive des Neuen Institutionalismus können wir neueEinblicke in die Dynamiken der Transformation erwarten und bei den institutionentheo-retischen Ansätzen zum Zusammenbruch der kommunistischen Regime Osteuropasversuchen nachzuvollziehen. Dabei ist es unerheblich, in welche Richtung der Blick vonder Ebene der Institutionen gelenkt wird - auf die sozialer bzw. kultureller Strukturenoder auf die der Akteure -, solange deutlich bleibt, mit welchen Prämissen der Institu-tionenbegriff eingeführt wurde. Die Variationen, die es hier gibt, sollen im folgendenerörtert werden.

2.1 Exkurs: Institutionentheorien

Im Kontext des vorliegenden Themas liegt es nahe, die Vielfalt der institutionentheore-tischen Ansätze entlang theoretischer Grundkategorien wie Mikro- bzw. Makroprimatoder rational-kalkulatorische Begründung von Institutionen versus Überindividualitätvon Institutionen einzuteilen. Allerdings folgt diese Einteilung der bereits erwähntendichotomisierenden Logik, die zwar für einen Teil der Ansätze eine zutreffende Katego-risierung sein mag, aber den hier interessierenden speziellen Beitrag der Ansätze margi-nalisieren würde. Institutionentheoretische Ansätze wollen die Reduktion auf entwederHandlung oder Struktur vermeiden, weil die Inkonsistenzen zwischen der beobachtetenWelt und den reduktionistischen, theoretischen Konzepten allzu offensichtlich sind undsomit nach einer Veränderung der Perspektive verlangen (vgl. March / Olsen 1989: 1).In dieser neuen Perspektive muß man nach dem speziellen Beitrag der institutionentheo-retischen Ansätze suchen, wenn Redundanz mit den struktur- oder handlungstheoreti-schen Ansätzen vermieden werden soll.Um die Methode der Zusammenführung traditionell sich widersprechender Perspekti-ven nachzuvollziehen, und um zu verstehen, ob mit diesem Schritt eine Realitätsanglei-chung der theoretischen Konzepte erfolgen kann, empfiehlt sich ein Blick auf die Ge-nese der institutionentheoretischen Ansätze entlang ihrer Konzeptionalisierung in denunterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. So wie die Disziplinen dazuübergehen, Erkenntnisse benachbarter Disziplinen für ihre theoretischen Konzepte zunutzen, steht die parallele Zusammenführung der älteren Konzepte in den neueren, ak-tuellen Ansätzen für eine profitable Theorieerweiterung.Ausgangspunkt für die neuere Konzeptionalisierung des Institutionenverständnissesbildeten die sich gegenüberstehenden Perspektiven der Institutionenökonomie einerseitsund des soziologischen Institutionenverständnisses andererseits. In der ökonomischenDisziplin wurden Institutionen als Randbedingungen – Constraints – rational-kalkulato-rischen Handelns operationalisiert. Diese Perspektive forcierte ein „exogenisiertes“Verständnis von Institutionen. Die soziologische Perspektive wurde durch Parsons In-

Page 80: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 75

stitutionenverständnis geprägt, bei dem die Internalisierung von institutionalisiertenHandlungsmustern, Normen und Werten im Vordergrund steht. InstitutionalisierteHandlungsmuster werden in Parsons Verständnis Bestandteil der Bedürfnisdispositiondes Persönlichkeitssystems. Somit liegt dieser Perspektive, wie Edeling (1999) es aus-drückt, eine „Endogenisierung von Institutionen“ zugrunde. Beide Perspektiven reprä-sentieren ein reduktionistisches Verständnis von Institutionen; Entweder wird rationali-stisch argumentiert oder kulturalistisch.Erst der Neue Institutionalismus der Soziologie überwindet den Reduktionismus (vgl.Powell / DiMaggio 1991). Die impliziten akteurstheoretischen Prämissen der Institutio-nenökonomie und des soziologischen Institutionenkonzepts wurden überprüft und aufder Grundlage neuerer kognitionspsychologischer, lerntheoretischer und attributions-theoretischer Erkenntnisse korrigiert.Die Politikwissenschaft, zumindest in der angloamerikanischen Tradition, formulierteihre institutionentheoretischen Modelle nah an der Logik der Institutionenökonomie,d.h. auf der Basis von im Wettbewerb stehenden, rational kalkulierenden Individuen.Aber auch hier setzte eine Wende ein, die in dieselbe Richtung zeigt wie der Neue In-stitutionalismus in der Soziologie. Die in den älteren Ansätzen erfolgte anthropologi-sche Begründung von Institutionen in Anlehnung an A. Gehlen wird in den neuerenAnsätzen mit der sogenannten kognitiven Wende in den Sozialwissenschaften verbun-den (vgl. Göhler / Kühn 1999; March / Olsen 1989).Die neueren Ansätze in der Politikwissenschaft und der Soziologie versuchen mit ihremInstitutionenkonzept einen Makrodeterminismus zu überwinden, ohne auf die rationa-listische Konzeption der Institutionenökonomie oder älterer politikwissenschaftlicherAnsätze zurückzufallen.

Für eine präzise Positionsbestimmung der Mesotheorien und ihrer theoretischen Synthe-seleistung müssen die Unterschiede in den verschiedenen Konzepten ein wenig genauerbetrachtet werden:Die Institutionenökonomie definiert Institutionen als Kontext für strategisches Handeln.Die Institutionen bilden Regeln, die die Anzahl der Alternativen beschränken und denHandlungsspielraum der Akteure eingrenzen, indem sie die relevanten Spieler definie-ren, Ergebnisse und Alternativen vorgeben und bestimmte Präferenzen für Alternativennahelegen (Göhler / Kühn 1999). Institutionen entwickeln sich und können bestehen –so die „Economic Theory of Institutions“ (North 1986; 1993) -, wenn ihr Nutzen dieTransaktionskosten, die in den Interaktionen anfallen, übersteigt. Transaktionskostenbilden den Fokus der Analyse. Sie entstehen in sozialen Situationen bei Opportunitäts-problemen, bei unvollkommener und asymmetrischer Information sowie bei Bedarfnach kostenverursachender Überwachung. Besonders in einer spezialisierten, komple-xen Welt müssen Verträge von Dritten abgesichert werden. Die Akteure entwickeln

Page 81: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 76

deshalb eine Nachfrage nach politischen Institutionen, die bspw. Eigentumsrechte undMachtfragen klären. Die Institutionen reflektieren die Präferenzen individueller undkollektiver Akteure (vgl. Powell / DiMaggio 1991), nämlich die Präferenz, Unsicherheitkostengünstig zu reduzieren. Auch bei sich ständig ändernden Vertragspartnern mußnicht jede soziale Situation vertraglich neu geregelt werden (vgl. Göhler / Kühn 1999),wenn institutionalisierte Handlungsregelungen vorliegen. Institutionen stellen sich alsein effizientes Resultat rational-kalkulatorischen Handelns dar. Sie bilden somit einintentional begründetes Ergebnis individueller Präferenzen und Handlungen.In politikwissenschaftlichen Ansätzen findet sich eine an die ökonomische Argumenta-tion angelehnte Konzeptionalisierung von Institutionen. Politische Ereignisse und Phä-nomene werden als Konsequenzen kalkulatorischer Entscheidungen erklärt (March /Olsen 1989: 6): Politische Entscheidungsprozesse finden im Wettbewerb strategischerAkteure statt. Sie lassen sich z.B. mit dem Principal-Agent-Modell (vgl. Colemann1990), in dem die unterschiedlichen Machtverhältnisse einerseits und die Informati-onsasymmetrie andererseits Transaktionskosten verursachen, operationalisieren. DieAgenten können nicht auf die Vertrauenswürdigkeit ihrer strategischen Partner bauen.Besonders für den Fall, daß sich die Interessen von Agent und Principal widersprechen,gibt es unzählige Beispiele für Vertrauensbruch der Agenten (Opportunitätskosten)durch Bestechlichkeit. Auch in dem politikwissenschaftlichen Konzept bilden Institu-tionen, die Vertrauen fördern und Loyalität forcieren, ein effizientes Ergebnis rational-kalkulatorischen Handelns.Die ältere soziologische Institutionentheorie wendete sich gegen diese Modelle rational-kalkulierender Akteure (vgl. Selznick 1949). Institutionen reflektieren nicht nur Präfe-renzen und Macht der sie konstruierenden Akteure. Vielmehr wurde davon ausgegan-gen, daß die Institutionen eben diese Präferenzen und Machtverhältnisse formen(Powell / DiMaggio 1991). Institutionen sind unabhängige Variable und damit nichtErgebnis von Prozessen der Interessenaggregation - bspw. zur Reduzierung von Trans-aktionskosten. Daher kann auch nicht unterstellt werden, daß Institutionen ein optimalesErgebnis individueller Wahlhandlungen sind. Soziale Ordnung stellt sich nicht überEffektivitätserwartungen und Optimalitätskriterien ein; die Basis des gesellschaftlichenZusammenhalts bildet das individuelle Commitment, das im Sozialisationsprozeß, derWerte, Normen und Einstellungen transportiert, internalisiert wird. Mit der Internalisie-rung gewinnt die Kultur eine Vormachtstellung vor kalkulatorischen Motiven. Die theo-retische Begründung für die Vormachtstellung von Kultur liefert die HandlungstheorieParsons‘ (1969a; 1972):Parsons konnte die Institutionalisierung als völlige Übereinstimmung individueller Mo-tive mit den kulturellen Mustern konzeptionalisieren, weil sich über die Prozesse derInternalisierung eine Integration der allgemeinen Wertemuster in die Bedürfnisstruktur

Page 82: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 77

des Persönlichkeitssystems vollzog. Kultur wird zu einem Element der Persönlichkeit.Über diesen Weg bestimmt sie die individuellen Handlungsorientierungen.In dem älteren soziologischen Institutionenverständnis herrschte die Vorstellung, daßInstitutionen die Akteure „konstruieren“ und sie einschränken. Auch die institutio-nentheoretischen Ansätze, die auf der Basis eines rational-kalkulatorischen Menschen-bildes argumentieren, konzeptionalisieren Institutionen als Constraints (Rahmenbedin-gungen), die Akteure einschränken. Nur findet über den Prozeß der Internalisierung inden soziologischen Ansätzen ein „Shift“ von der Fremdkontrolle zur Selbstkontrollestatt; nicht Strafe oder suboptimale Ergebnisse garantieren die Befolgung institutionali-sierter Handlungsweisen, sondern eine auf eben diese Handlungsweisen abgestimmteBedürfnisstruktur.Die beiden sich gegenüberstehenden institutionentheoretischen Richtungen begründenihre prinzipielle Unterschiedlichkeit mit der Mikrofundierung des Institutionenmodells.Während in der Institutionenökonomie und den älteren politikwissenschaftlichen Ansät-zen ein rational-kalkulatorisches Handlungsmodell unterstellt wird, argumentieren dieälteren soziologischen Ansätze mit einem zwar begründeten, aber durch die neuerenEntwicklungen in der Psychologie und Sozialpsychologie überholten kulturalistischenModell der Institutionen (Göhler / Kühn 1999). Genauso wenig wie von einem Deter-minismus ausgegangen werden kann, nach dem die internalisierten Normen und Wertedirekt handlungsbestimmend wirken, kann noch ernsthaft ein rein rationalistisches Ak-teurmodell unterstellt werden. Nicht nur die mangelnde Übereinstimmung der theoreti-schen Konzepte mit beobachteten Phänomenen der politischen Realität (March / Olsen1989) legt Zweifel nahe. Auch die theoretischen Arbeiten Simons (1954) und Machs(1978) zum Optimalitätsverlust aufgrund der realistischeren „bounded rationality“ undKahneman und Tverskys Untersuchungen (1974) zu den vielfältigen Brüchen im ratio-nalen Handeln bilden überzeugende Korrekturen des rationales Akteurkonzepts.Die Korrekturen ermöglichen eine Annäherung der Konzepte (Göhler / Kühn 1999):Einerseits müssen Akteure Entscheidungen treffen, andererseits benötigen sie für ihreWahl einen kulturell vermittelten Erfahrungshintergrund; kultureller und historischerHintergrund wirken schon auf der Ebene der Präferenzen. Gewählt wird aus einem Poolmöglicher Reaktionsmuster (Schemata, Skripts und Habits). Die Schemata, auf die zu-rückgegriffen wird, helfen Unsicherheit zu überwinden, die rational nicht bewältigtwerden kann23.Mit diesem Handlungsmodell gewinnt der soziologische Neo-Institutionalismus an Fle-xibilität, weil den Akteuren mehr Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden kann. DieSozialisationstheorie mit ihrer Vorstellung von Identifikation und Internalisierung der

23 Anders verhält es sich bei Risiko. Hier können den möglichen Ergebnissen Wahrscheinlichkeitenzugeordnet werden. Gewählt wird dann rational nach der Maßgabe des gewichteten erwarteten Nutzens(„expected utility“). Unsicherheitssituationen sind dadurch definiert, daß den Ergebnissen keineWahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können.

Page 83: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 78

institutionalisierten Handlungsvorgaben wird zugunsten eines kognitions- und lerntheo-retischen sowie attributionstheoretischen Instrumentariums zurückgewiesen (Powell /DiMaggio 1991):Von den Kognitionstheorien wird die Einsicht übernommen, daß Akteure in unsicheren,neuen Situationen weniger nach zusätzlicher Information suchen. Sie nutzen eher dieMöglichkeit, auf Routinen, Schemata und Skripte zurückzugreifen. Die Lerntheorienliefern die Einsicht, daß Individuen Informationen in sozialen Kategorien organisieren.Und eine wesentliche Einsicht der Attributionstheorien ist, daß nicht nur Intentionen dasHandeln motivieren, sondern daß Akteure oft in umgekehrter Logik vom Handeln aufihre Motive schließen. Mit der Integration dieser Einsichten in die soziologische Theo-rie vollzog sich ein „kognitive turn“ auch in der Soziologie der Institutionen. Der Neo-Institutionalismus wechselte von dem normativen zu einem kognitiven Handlungsan-satz.Die Kognitionen laufen großenteils nebenbewußt. Sie folgen Routinen und Konventio-nen. Die gesellschaftlichen Normen sind nicht mehr unmittelbar im Persönlichkeits-system verankert, sondern werden von Akteuren flexibel gehandhabt. Die Handlungs-theorie des Neo-Institutionalismus ist eine Theorie der Praxis, bei der einerseits die ko-gnitve Handlungsdimension stärker betont wird als bei Parsons und andererseits derkalkulierende Aspekt von Kognitionen zugunsten vorbewußter Prozesse reduziert wird.Powell und DiMaggio fassen das Neue an diesen Ansätzen in zwei Punkten treffendzusammen (1991: 24):1. Der Neo-Institutionalismus etabliert die Zentralität von Kognitionen.2. Der Neo-Institutionalismus betont die praktische, halbautomatische und nicht-kal-

kulierbare Natur der praktischen Überlegungen.

In der Politikwissenschaft fand eine ganz ähnliche – wenn auch anders motivierte –Entwicklung statt (March / Olsen 1989):Im politikwissenschaftlichen Neo-Institutionalismus bzw. der Theorie politischer Insti-tutionen wurde das Modell des rationalen Wettbewerbs zwischen den Akteuren korri-giert. Auch im politischen Prozeß gibt es Handlungsregeln, die nicht ergebnisorientiertsind. Akteure orientieren sich an Routinen, Konventionen, Prozeduren und Rollen, diein einem Sozialisationsprozeß erlernt wurden. Diese Routinen sind in den politischenInstitutionen, wie dem Parlament, den Ministerien, den Gerichten, den administrativenEinheiten, verankert. Der politische Entscheidungsprozeß findet nach einem weitgehendstandardisierten Handlungsmuster statt und nicht primär instrumentell unter Nutzungvon Machtvorteilen. Die Akteure folgen den Anforderungen ihrer Positionen und derSituationen und handeln nach der Maßgabe ihrer Verpflichtung sowie unter Abschät-zung der Angemessenheit.

Page 84: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 79

Für die politischen Institutionen bedeutet das zweierlei: Erstens haben sie eine unab-hängige Position gegenüber den individuellen Motiven. Interessen und Präferenzenentwickeln sich innerhalb des Kontextes institutioneller Handlungen. Und zweitenskommt den politischen Institutionen eine symbolische Funktion zu: sie definieren Iden-titäten auf der individuellen, der Gruppen- und der sozialen Ebene24.Dennoch sind die Akteure in den politischen Prozessen nicht gefesselt. Politik entstehtaus der Verknüpfung von Institutionen, Individuen und der jeweiligen Situation (March/ Olsen 1989: 15):Die Informationen über die Konsequenzen von Alternativen werden in institutionali-sierten Netzwerken generiert und kommuniziert. Außerdem werden die Erwartungenüber zukünftige Präferenzen in Institutionen entwickelt, die wiederum Werte und Be-deutungen von Handlungen definieren. Damit stehen Institutionen für zwei gesell-schaftliche Funktionen: Entscheidungen werden durch sie verständlich und z.T. vorher-sehbar, und sie leisten mit ihrem symbolischen Gehalt, ihren Riten und Zeremonien,Wichtiges zur Integration der Gesellschaft25.

24 Als Institutionen werden also sowohl soziale Gebilde als auch sozial normierte Verhaltensmusterverstanden (vgl. Mayntz / Scharpf 1995a: 40). „Institutionen umfassen demnach die Strukturen politischerKoordination sowie die kollektiven Sinnwelten, die ihnen Stabilität und Legitimität verleihen.“ (Eisen /Wollmann 1996: 21).25 Eine anthropologische Begründung für diese Funktionen von Institutionen liefern Göhler und Kühn mitder Herleitung ihres Konzepts einer „Theorie politischer Institutionen“ (Gühler / Kühn 1999):Sie entwickeln ein Institutionenkonzept in Anlehnung an das Institutionenverständnis von A. Gehlen.Danach lassen sich Institutionen instrumentalistisch begründen. Sie stehen für Gewohnheiten, die dasMängelwesen Mensch von Unsicherheit und Kalkulation entlasten. Eine weitere Begründung vonInstitutionen liegt in ihrer gruppenbildenden Wirkung über die gemeinschaftliche Aktion des rituellenVerhaltens. Rituelles Verhalten ist aber zweckfrei und symbolisch. Institutionen müssen somit sowohlinstrumentell als auch zweckfrei begründet werden. Göhler und Kühns Neukonzeptionalisierung desInstitutionenansatzes besteht darin, daß sie die funktionale Bestimmung von Institutionen auf funktionaldifferenzierte Gesellschaften übertragen. Ausgangspunkt bildet die Funktionsbestimmung des politischenTeilsystems. Im politischen Prozeß geht es um die Formulierung und Durchsetzung kollektiverEntscheidungen. Als Medium für die Erfüllung dieser Funktionen fungiert Macht (Parsons 1972). Machtbildet daher den Schlüssel zum Verständnis politischer Institutionen. Ähnlich wie bei A. Gehlen legen dieAutoren zwei Dimensionen der Macht in ihrer institutionalisierten Form nahe. Sie gehen von einerinstrumentellen Machtbeziehung im Weberschen Sinne aus und betonen damit die Zweckgebundenheitpolitischer Institutionen. Darüber hinaus können sie aber auch in Anlehnung an Hanna Arendt eine nichtzweckgebundene Dimension der Machtinstitutionen ausfindig machen. Macht ist in diesem Verständnisdas menschliche Vermögen, miteinander zu reden, zu kooperieren und Handlungen aufeinanderabzustimmen. Macht verbindet Handlungs- und Kommunikationsbereiche (Göhler / Kühn 1999: 37). Indieser zweiten Dimension liegt die entscheidende Erweiterung. Über den nicht zweckgebundenenMachtaspekt wird Einheit gestiftet, Integration garantiert. Institutionen der Macht repräsentierensymbolisch gemeinsame Werte und fördern somit die „...Selbstvergewisserung der Mitglieder desGemeinwesens...“ (Göhler / Kühn 1999: 38).Die Zweidimensionalität der in den Institutionen repräsentierten Machtaspekte spiegelt sowohl die Ideeneiner öknomischen Institutionentheorie als auch die des soziologischen Neo-Institutionalismus wider;Institutionen repräsentieren einerseits die instrumentellen Machtbeziehungen (die bspw. zurDurchsetzung der Entscheidungen nötig sind) und die integrationsstiftende symbolische Repräsentationgesellschaftlicher Werte andererseits. Insofern hat sich in den politischen Institutionentheorien parallelzum soziologischen Neo-Institutionalismus eine Synthese kalkulatorischer und kultureller Prämissenvollzogen.

Page 85: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 80

Wie läßt sich diese theoretische Synthese gewinnbringend für die Institutionenanalyseund für die Transformationsanalyse umsetzen? Von einer Mesoanalyse muß man er-warten können, daß sie aufzeigt, über welche Prozesse sich Änderungen auf der Makro-ebene in Handlungsbedarf und –optionen auf der Mikroebene übertragen. Die Themati-sierung institutioneller Prozesse muß sich an der Schnittstelle von systemischen bzw.strukturellen Merkmalen und Dynamiken auf der Handlungs- bzw. Akteursebene bewe-gen. Die umfassende Fragestellung lautet dann: Auf welche Weise variieren Makro-merkmale den Spielraum von individuellen oder korporativen Akteuren, und wie setzensich Mikroprozesse kurz- und mittelfristig in routinierte, institutionalisierte Prozesseund langfristig in strukturelle und systemische Eigenschaften um?Birgitta Nedelmann (1995) hat eine Checkliste paarweise geordneter Institutionen-merkmale zusammengestellt, deren Ausprägungen über den Zustand und die Dynami-ken von Institutionen informieren. In diesem deskriptiven Schema kann sie Aspekte derMikro- und Makrofundierung von Institutionen integrieren, denn die Merkmale definie-ren Institutionen gerade in ihrer synthesestiftenden Eigenschaft – der Eigenschaft, so-wohl strukturelle Zustände zu repräsentieren als auch Ergebnis strategisch-kalkulatori-scher Motive sein zu können.Ein erstes Merkmal bezieht sich auf die Reproduktionsmechanismen von Institutionen.Habitualisierte Handlungsvollzüge – „enacting“ – deuten auf einen hohen Grad der In-stitutionalisierung. Hingegen kommt es zum „acting“ – strategischen Handeln –, wennAbweichungen vom institutionalisierten Handlungsvollzug sanktioniert werden müssen(Nedelmann 1995: 17).Das zweite Merkmalspaar bezieht sich auf den Begründungsbedarf von Institutionen.„Internalisierung“ steht für einen hohen Grad der Selbstverständlichkeit institutionali-sierter Handlungsvollzüge. „Externalisierung“ hingegen beschreibt die Schutzmaßnah-men, die zur Stützung der Institution und der mit ihr verbundenen Normen und Werteergriffen werden. Sichtbare politische Rituale repräsentieren eine externalisierte Institu-tionenbegründung. Bestimmt wird der Begründungsbedarf noch durch ein weiteresMerkmalspaar: Ist mit den institutionalisierten Handlungsroutinen ein intrinsischer Wertverbunden – „Eigenwert von Institutionen“ -, dann bedarf es im Vergleich zu einemZustand der „Instrumentalität“ von Institutionen weniger Begründungsanstrengungen(Nedelmann 1995: 18).Mit „enacting“, „Internalisierung“ und „Eigenwert“ beschreibt Nedelmann also hochin-stitutionalisierte Vorgänge, die routiniert und weitgehend unreflektiert ablaufen. SolcheVorgänge wirken auf der Makroebene strukturierend und strukturstabilisierend. Rückthingegen der Zweck – „Instrumentalität“ - der Institutionen ins Blickfeld, dann werdendie institutionalisierten Handlungen bewußt. Es kommt zu „acting“, und Begründungenin Form von „Externalisierung“ werden angestrengt. Auf der Mikroebene entscheidetsich, wie diese Prozesse umgesetzt werden.

Page 86: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 81

Zwei weitere Merkmalspaare ergänzen die Institutioneneigenschaften um die Bestim-mung des Handlungsspielraums und -bedarfs. Leisten die Institutionen eine „Entla-stung“ für die Akteure, dann läßt sich von einem hohen Grad der Institutionalisierungausgehen – hier ist der Handlungsbedarf eher niedrig. Ist die „Belastung“ der Akteurehoch, d.h. besteht Handlungsbedarf, dann muß der Grad der Institutionalisierung niedrigsein (Nedelmann 1995: 19). Die letzte Ausprägung beschreibt den Grad der „Überindi-vidualität“ von Institutionen, der die Vorhersehbarkeit und Selbstverständlichkeit derHandlungsroutinen – und somit auch den Handlungsspielraum – bestimmt. Dem stehtder Grad der „Mikrofundierung“ entgegen; müssen Einzelne zur Reproduktion derHandlungsmuster aktiv werden, dann ist der Grad der Institutionalisierung eher niedrig(Nedelmann 1995: 20).In dem durch diese Merkmale definierten Raum institutioneller Ausprägungen könnendurch Institutionen Handlungsräume eingegrenzt werden, aber auch Handlungsspiel-räume mit neuen Möglichkeiten26 geschaffen werden. Mit dem Verweis auf die Ausprä-gungen läßt sich nachvollziehen, aus welchen Grunde bei einer bestimmten Konstitutionder Institutionen institutionelle Änderungen nicht angestrebt werden. Ebenso kann an-gegeben werden, welche institutionellen Zustände offen sind für bewußte und gezielteÄnderungen durch Akteure. Mit den Merkmalen liefert Nedelmann die entscheidendenVariablen für eine positionbestimmende Charakterisierung, d.h. für eine Zustandsbe-schreibung, von Institutionen. Offen bleibt allerdings die Frage, wie es dazu kommt,daß sich neue Institutionen stabilisieren oder vormals etablierte Institutionen zur Dispo-sition stehen.Um die Dynamik institutioneller Änderungen beschreiben zu können, führt Nedelmanneine weitere Größe ein: das „Flexibilitätsmanagement“ (1995: 22f). Diese Größe be-stimmt die institutionelle Stabilität und entscheidet über Prozesse der Entinstitutionali-sierung sowie über Prozesse der Institutionalisierung:In einer sich verändernden Umwelt müssen auch bestehende Institutionen flexibel ge-managt werden, um vor Zerfall und Rigidität geschützt zu werden. Ent- und Überinsti-tutionalisierung müssen vermieden werden. Bei Prozessen der Entinstitutionalisierungwird von „enacting“ auf „acting“ umgestellt. Internalisierte Normen und Werte sindexplizit zu begründen, und das institutionalisierte Handeln wird auf Zwecke hin ausge-richtet. Bleibt den Akteuren keine Zeit, dem Prozeß entgegenzusteuern - das institutio-nelle Arrangement flexibel zu managen -, dann kann es zum institutionellen Zusam-menbruch kommen. Die Funktionselite der DDR lieferte ein gutes Beispiel für einensolchen Prozeß: institutionelle Handlungsroutinen konnten nicht flexibel gemanagtwerden, obwohl das Bewußtsein über die strukturellen Probleme vorhanden war(Nedelmann 1995: 28). 26 Klassisches Beispiel ist die Institution des Patentrechts; durch die Einschränkung der Verwendungpatentierter technischer Neuerungen wird technischer Fortschritt wie wir ihn heute kennen möglich. ErstPatente machen Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen lohnenswert und damit zur Handlungsoption.

Page 87: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 82

Bei der Dynamik institutioneller Änderungen wird die Nahtstelle von Makrovariablenund der Mikrofundierung besonders deutlich. Außerinstitutionelle Quellen – exogeneSchocks – oder sich widersprechende institutionelle Vorgaben können zwar institutio-nellen Wechsel von der Makro- oder Mesoebene aus initiieren. Der Begründungsdruck,die Zweifel sowie die Entwürfe neuer institutioneller Modelle verweisen aber auf dieMikroebene. Die Prozesse des institutionellen Umbaus werden von den zentralen Ak-teuren entlang strategischer Interessen gestaltet (Powell / DiMaggio 1991: 30). Für dieAkteure ist das Flexibilitätsmanagement eine „Rational Choice-Belastung“ (Nedelmann1995: 24). Die Mikrofundierung entscheidet über das Bestehen, den Zerfall und denNeuaufbau von Institutionen.Deutlich wird an dieser Stelle die Öffnung bzw. Anschlußfähigkeit der Mesotheoriennach unten in der Abstraktionsskala sozialwissenschaftlicher Theorieansätze. Im dyna-misierten Zustand des institutionellen Wandels kalkulieren die Akteure die Kosten undNutzen bestehender oder neu zu installierender Handlungsroutinen bzw. Institutionen.Nedelmann spricht sogar davon, daß institutionelle Reformen und Konstruktionen„incentive based“ sind (1995: 30). Die Frage nach den Anreizen stellt sich immer dann,wenn Routinen hinterfragt werden, sich die Internalisierung von Normen und Wertenlockert und Handeln sowohl nach außen als auch nach innen gerechtfertigt werden muß– Fragen also, die bei Prozessen der Entinstitutionalisierung auftauchen. Aber auch beider Konstruktion von Institutionen tauchen sie auf – sie müssen nur positiv gestellt wer-den: Wie lassen sich Routinen neu einspielen, Werte und Normen internalisieren, undwie kann den Handlungsroutinen ein Eigenwert zugemessen werden. Dennoch findendie Entscheidungsprozesse nicht unter der Bedingung des Naturzustandes statt. DieWahl der Alternativen - der Gestaltungsspielraum - bleibt durch strukturelle Dimensio-nen beschränkt und wird von stabilen institutionalisierten Routinen maßgeblich gelenkt.Sie kanalisieren Entscheidungsprozesse und bestimmen die relevanten Akteure. Hierwird deutlich, daß der Ausgangspunkt institutioneller Analysen bei den Makrovariablenstruktureller Defizite und institutioneller Widersprüche liegt. Von ihnen aus erfolgt derVerweis auf Ansätze, die in der theoretischen Skala oberhalb der Mesotheorien liegen.Indem die institutionentheoretischen Ansätze selbst auf strukturelle oder evtl. systemi-sche Zusammenhänge verweisen, dokumentieren sie ihre Anschlußfähigkeit an die ent-sprechenden theoretischen Perspektiven.

2.2 Defizite intermediärer Institutionen

Institutionen setzen nicht nur bestimmte Leitideen um und verhelfen gesellschaftlichenWertorientierungen zur Geltung, indem sie bestimmte Handlungskontexte regulierenund Wertorientierungen etablieren. Institutionen können auch intermediäre Eigenschaf-

Page 88: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 83

ten haben, d.h. zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Ebenen ver-mitteln. Dann leisten sie die vertikale Interessenvermittlung zwischen der Mikro- undMakroebene und regulieren die horizontale Interessenvermittlung zwischen gesell-schaftlichen Teilbereichen.Mit einem institutionentheoretischen Ansatz, der intermediäre Institutionen thematisiert,läßt sich konkretisieren, wie strukturelle Defizite institutionalisiert wurden und wie sieauf die Akteure - Eliten und Bevölkerung - wirkten. Mangelnde Intermediarität führteauf der einen Seite zur rigiden, innovationsfeindlichen Elitenloyalität gegenüber derFührungsspitze. Auf der anderen Seite unterdrückte sie wichtige Rückkoppelung, mitder sich die Eliten ein Bild über die Stimmung in der Bevölkerung hätte machen kön-nen. Darin liegen die Gründe dafür, daß die strukturelle Unterdrückung gesellschaftli-cher Interessenvermittlung und mangelhafte Rückkoppelungsmechanismen auf die Ge-sellschaften destabilisierend wirkten.Für die Transformationsforschung osteuropäischer Staaten sind Institutionen der hori-zontalen Interessenvermittlung von einem hervorgehobenen Interesse. Das liegt daran,daß mit der Frage nach den Funktionsbedingungen der untergegangenen Systeme zweiMerkmale ins Blickfeld geraten: die Planwirtschaft und die Parteiherrschaft. Fragt mandanach, ob es überhaupt möglich war - und wenn ja, dann wie -, daß unter den Bedin-gungen einer zentral gesteuerten Planwirtschaft wirtschaftliche Anforderungen erfülltund Leistungen erbracht werden, dann thematisiert man die Beziehung der zwei gesell-schaftlichen Teilbereiche Politik und Wirtschaft. Der Ansatz intermediärer Institutionenversucht, die Verflechtungen und Kanäle der Interessenvermittlung zwischen dem Wirt-schaftsbereich und dem politischen Bereich zu untersuchen.Intermediarität bildet auf zweierlei Weise die institutionelle Voraussetzung für die An-passungsfähigkeit des Gesamtsystems. Sie realisiert gesellschaftliche Integration, weilsie die Voraussetzung für die Partizipation von Interessengruppen bildet. Gleichzeitigsichert sie die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, indem sie den Grad derOrganisation und die Durchsetzungskraft von Interessen gesellschaftlicher Teilbereichefestlegt. Intermediäre Institutionen leisten die Interessenbündelung und -integrationnach innen sowie die Interessenvertretung nach außen (Weinert 1995a: 241).Allerdings sind die intermediären Institutionen an Voraussetzungen für die Erfüllungder Intergrationsfunktion und der Funktion der Sicherung gesellschaftlicher Differenzie-rung gebunden. Institutionen müssen ein Mindestmaß an Autonomie erreicht haben,damit sie vor Eingriffen übergeordneter Gewalten geschützt sind (Weinert 1995a: 239).Ausdifferenzierte Handlungsarenen der Gesellschaft mit festgelegten Zuständigkeitenund Kompetenzen sowie Akteuren, die nach teilbereichsspezifischen Rationalitätenhandeln, bilden die Basis für das Funktionieren intermediärer Institutionen. Gesell-schaftliche Teilbereiche können ihre Interessen nach außen nur vertreten, wenn die ent-sprechenden Instititutionen über Handlungs- und Entscheidungsspielräume verfügen.

Page 89: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 84

Mit diesen Voraussetzungen sind Kriterien benannt, die einen wesentlichen Unterschiedzwischen pluralistisch verfaßten und zentralistisch organisierten Gesellschaftssystemenoffenlegen: In realsozialistischen Gesellschaften sollten weder gesellschaftliche Teilbe-reiche Autonomie gegenüber dem politischen Bereich gewinnen, noch war die Bildungbereichsspezifischer Rationalitäten erwünscht. Daher konnte sich in den realsozialisti-schen Ländern keine Intermediarität entwickeln.Warum aber unterdrückten kommunistische Gesellschaften intermediäre Institutionen,wenn sie doch für die gesellschaftliche Stabilität unabdingbar sind? Für kommunisti-sche Systeme galt allgemein, daß die gesellschaftliche Einheit eine Legitimations-grundlage bildete. Im gesellschaftlichen Selbstentwurf verstand man sich in Abgren-zung zu den westlichen, kapitalistischen Konkurrenzdemokratien als eine „versöhnteGemeinschaft“ (Weinert 1995a: 243) - die endgültige Überwindung von Partikularin-teressen wurde proklamiert. Den einheitlichen gesellschaftlichen Willen repräsentiertedie Partei als exklusiv geltendes generalisiertes Medium. Für die Ausbildung interme-diärer Institutionen hatte das gravierende Folgen: Verbände, Parteien und Gewerk-schaften mit konkurrierenden Konzepten wurden nicht geduldet, weil Partikularinteres-sen die Einheitlichkeit bedrohten. Intermediarität wurde als Ausdruck devianter Parti-kularinteressen mit Strafandrohung (Fraktionsverbot) unterbunden (Weinert 1995a:245). Politische wie wirtschaftliche Innovationen und Gegenentwürfe gesellschaftlicherOrdnung ließen sich also nicht vermitteln. Die Partei beanspruchte die alleinige Ver-antwortung für gesellschaftliche Entscheidungen und deren Durchsetzung. Und selbstinnerhalb der bürokratischen Hierarchie konnten alternative Ideen nicht vermittelt wer-den, weil der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der nachgeordneten Entschei-dungsinstanzen stark eingeschränkt war. Strategische Entscheidungen wurden zu denübergeordneten Ebenen bis zur Parteispitze hin durchgereicht.Eine Vermittlung zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen muß horizontal überdie Eliten der Partei und Wirtschaft und die Agenten der Bürokratie und Wirtschafts-einheiten erfolgen. Nomenklatura und Wirtschaftsführer sind die potentiellen Träger derhorizontalen Interessenvermittlung zwischen den beiden Bereichen. Untersucht man dieInstitutionenordnung der osteuropäischen Staaten, dann bekommt man Hinweise auf dieStrukturierung der Handlungsarenen und die individuellen Verhaltensorientierungen.Das Verhältnis der leitenden Vertreter von Wirtschaft und Politik läßt sich aus Verfah-ren der Willensbildung und Entscheidungsfindung ableiten. In den Verfahren zeigt sich,nach welchen institutionalisierten Rationalitätskriterien wirtschaftspolitische Entschei-dungen getroffen werden.Am Beispiel der DDR läßt sich verdeutlichen, daß in den kommunistischen SystemenOsteuropas ökonomische Rationalitätskriterien dem Primat der politischen Rationalitätder Machtsicherung geopfert wurden. In einer gemeinsamen Studie untersuchen Pirkert,Lepsius, Weinert und Hertle (1995) solche Prozesse. Sie kommen zu dem Schluß, daß

Page 90: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 85

aufgrund der Wirtschaftsverfassungen einerseits und des ideologischen Hintergrundsandererseits die Konflikte zwischen den Rationalitätskriterien der Politik und der Wirt-schaft nicht vermittelt werden konnten. Versuche, die auf Reformen zur dringend not-wendigen Verbesserung der wirtschaftlichen Leistung zielten - wie in der DDR dasNÖS -, scheiterten und offenbarten damit den Wirtschaftsführern die Unbeweglichkeitdes Systems. Streckenweise konnten sie die Wirtschaften nur mit Hilfe von Improvisa-tionen und der Hilfe aus dem Westen aufrechterhalten. Die Studie zeigt, auf welcheWeise sich an den leitenden Stellen der SED Handlungsroutienen etablierten und Ent-scheidungsstrukturen institutionalisierten, die verhinderten, daß in den entscheidendenSituationen genügend Flexibilitätsmanagement vorhanden war, um den institutionellenZusammenbruch zu verhindern.Die Basis der Studie von Pirker, Lepsius, Weinert und Hertle (1995) bilden Interviewsmit Repräsentanten der Wirtschaftsführung der DDR. Sie zeigen stellvertretend für allerealsozialistischen Systeme einerseits die konfliktreiche Konstellation zwischen denWirtschaftsführern und den Mitgliedern der politischen Nomenklatura und andererseitsverdeutlichen sie, wie begrenzt der Einfluß ökonomischer Rationalitätskriterien war.Wie gestaltete sich der Handlungsraum der Wirtschaftsführer im „... Spannungsverhält-nis von wirtschaftlicher Rationalität und politischen Vorgaben durch die Parteiherr-schaft.“ (Pirker / Lepsius / Weinert / Hertle 1995: 8)?

Weinerts Beitrag zu der Studie (1995b) thematisiert die Muster der Kritik an den wirt-schaftlichen Reformen in der DDR. In ihnen zeigt sich, daß wirtschaftliche Rationali-tätskriterien politisch-ideologischen Kriterien widersprachen und diesen unterzuordnenwaren. Die wirtschaftlichen Reformen scheiterten im wesentlichen an ihrer Politisierungund Ideologisierung; zwei Entwicklungen, deren institutionelle Voraussetzung die„mono-organisationale Gesellschaftsstruktur“ (Weinert 1995b: 301) mit ihrer Personali-sierung der Parteiführung sowie die Unterinstitutionalisierung von Konflikten und derdamit einhergehenden Immunisierung gegen Kritik bildeten. Sozialistische Systemewaren grundsätzlich mit diesem Problem behaftet, nicht reformfähig zu sein (Weinert1995b):Entgegen den Anforderungen effizienten Wirtschaftens und ökonomischer Anpas-sungselastizität galt nur eine gesellschaftliche Gesamtrationalität. Sektorale Rationali-tätskriterien, die sich gegen das „Primat der Einheit der wiederversöhnten Gemein-schaft“ (Weinert 1995a; 1995b) hätten durchsetzen können, wurden unterdrückt. Dasholistische Gesellschaftskonzept führte zu einem prinzipiellen Konflikt zwischen derParteibürokratie und Autonomiebestrebungen gesellschaftlicher Teilbereiche, wie derWirtschaft. Dieser Konflikt betraf alle sozialistischen Gesellschaften, wenn sie auch mitunterschiedlichen Kompromissen bearbeitet wurden. In allen sozialistischen Gesell-schaften gab es institutionalisierte Normen und Werte, die die Vorherrschaft der politi-

Page 91: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 86

schen Rationalität sicherten. Dies waren einerseits die vorgegebene Interpretation desMarxismus und andererseits die dogmatische Ablehnung der Koalitionsbildung durchdas auf dem X. Parteitag der KPdSU beschlossene und exportierte Verbot der Frakti-onsbildung. Die „ideologische Basisnorm“ des Fraktionverbots war von den Funktionä-ren als Fraktionsangst internalisiert (Weinert 1995b: 289). Hier liegt eine wesentlicheUrsache für das Scheitern wirtschaftlicher Reformen bzw. allgemeiner für das Scheiternneuer gesellschaftlicher Interessen, wie es das Beispiel des NÖS und der damit verbun-dene Sturz Walter Ulbrichts zeigt (Weinert 1995b):Der stalinistisch geprägte Machtpolitiker Ulbricht erkannte, daß nur die ökonomischeÖffnung der DDR gegenüber dem Westen die dringend benötigte Verbesserung wirt-schaftlicher Leistung erbringen konnte. Mit dem NÖS wurde die Öffnung angestrebt,die aber auch eine Abkehr von dem sowjetischen Modell der Wirtschaftspolitik bedeu-tete; sie induzierte einen nationalökonomisch eigenständigen Weg. Die Befürworter desNÖS dachten in wirtschaftspolitischen Kategorien, während die Gegner für ein Primatder Außenpolitik standen (Weinert 1995b: 293). Eine eigenständige Legitimation nachinnen wollten die Gegner des NÖS nicht auf Kosten der Legitimation durch die engeBindung an die SU aufgeben. Widersprüche und Schwächen des Systems waren für siesekundär. Primat des politischen Handelns war die Zusammenarbeit mit Moskau undnicht eine die „bewährte“ Außenpolitik gefährdende Wirtschaftsreform.Dementsprechend fiel auch die Kritik aus. Die mangelnde Zusammenarbeit mit der SUund die zu enge Bindung an die BRD mit der Gefahr der Sozialdemokratisierung einer-seits und die unzureichende Beteiligung der Parteibürokratie an den Reformprogammenandererseits waren aus Sicht der Traditionalisten die negativen Implikationen der Re-form.Weinert schließt, daß der politischen Kritik am NÖS nicht standgehalten werdenkonnte, weil das wirtschaftspolitische Konzept die außenpolitischen Wirkungen nichtberücksichtigte (1995b: 297): Nicht wirtschaftliche Rationalitätskriterien entschiedenüber die Qualität und Zukunft des Reformvorhabens, sondern politisch-ideologischeKriterien. Das zeigte sich auch in der Fortführung des wirtschaftspolitischen Konzeptsin der Ära Honecker nach dem Sturz Ulbrichts. Die auf dem VIII. Parteitag 1971 be-schlossene „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ baute auf die Fiktion, daß hö-here Einkommen und Sozialleistungen die Motivation der Beschäftigten steigernkönnte. Das zentrale Motiv dieses Programms war aber ein politisches. Von dem zu-sätzlichen Einkommen erhoffte man sich eine Stützung der Loyalität in der Bevölke-rung. Wirtschaftspolitisch aber war das Programm unausgegoren und erfolglos.Mit der institutionellen Willensbildungs- und Entscheidungsstruktur läßt sich erklären,warum wirtschaftpolitische Reformen in der DDR nicht durchzusetzen waren, obwohldie Schwächen offensichtlich waren und auch von der Elite wahrgenommen wurden(Weinert 1995b: 300f):

Page 92: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 87

Die Entscheidungsstrukturen zeigten eine deutliche Personalisierung der Parteiführung.Nicht in den Abteilungen des Zentralkomitees wurden Programme entworfen und Ent-scheidungen getroffen, sondern in kleinen Kreisen – oft sogar nur unter vier Augen. DieSteuerungsmacht der Parteibürokratie löste sich in der „mono-organisationalen Gesell-schaftsstruktur“ auf. Einzelne Teilbereiche konnten sich nicht mehr artikulieren, unddamit wurde auch die wirtschaftpolitische Rationalität marginalisiert bzw. dem politi-schen Primat untergeordnet.Diese Entwicklung der Entinstitutionalisierung war für alle osteuropäischen Staatensymptomatisch. Sie alle litten mehr oder weniger an der fehlenden Institutionalisierungder Konfliktregelung und der überhöhten Funktion des Parteiführers - ein Ergebnis desInstitutionentransfers von der sowjetischen Besatzungsmacht nach dem zweiten Welt-krieg. Irreale Programme wie „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ konnten nichtin einer Form kritisiert werden, die der Kritik politische Geltung hätte verschaffen kön-nen.

Die Wirtschaftsführer agierten in komplizierten Beziehungsgeflechten. Ihre Handlungs-spielräume waren stark eingeschränkt, weil sie festen institutionalisierten Handlungs-mustern folgten. Diese Handlungsmuster waren bestimmt von der Entdifferenzierung inForm horizontaler, institutioneller Fusionsprozesse von Wirtschaft und Staat sowie vonStaat und Partei in der Ära Honecker. Wie gering der Einfluß der Eliten der Bürokratieund der Wirtschaftsführer bei der Formulierung politischer Entscheidungen war, zeigendie Entscheidungsmuster in den zentralen Institutionen der Macht (Lepsius 1995): DasPolitbüro des Zentralkomitees der SED war die wichtigste Steuerungsinstanz für Parteiund Staat. Das Mitglied Günter Mittag war für den Bereich der Wirtschaft zuständig.Bei ihm lag die Kompetenz für die Durchsetzung wirtschaftspolitischer Entscheidun-gen. Allerdings beruhte seine zentrale Stellung im wesentlichen auf dem persönlichenZugang zu Honecker. Mittag und Honecker entschieden in informellen Gespächen undumgingen so die Entscheidungsfindung im Politbüro. Dieses Entscheidungsmuster warso etabliert, daß die Mitglieder des Politbüros sich daran gewöhnt hatten, alle VorlagenHoneckers ohne Debatten zu beschließen. Ganz ähnlich erging es dem Sekretariat derZentralkomitees der SED. Hier hätten die Beschlüsse der Politbüros vorbereitet undumgesetzt werden sollen. Die Erfolgsaussichten bestimmter Vorhaben waren allerdingsvon den Zugangschancen zu den Mitgliedern des Politbüros abhängig. Eine Entschei-dungsfindung in den kollektiven Gremien des Sekretariats oder auch des Ministerrats(der immerhin formell die Regierung der DDR darstellte) gab es nicht mehr, weil Ver-haltensnormen der Verschwiegenheit zwischen den Büros, der Geheimhaltung und desFraktionsverbots den Handlungsraum der Akteure auf ein Minimum zusammen-schrumpfen ließen – Entscheidungen wurden auf die höheren Hierarchieebenen abge-schoben. Positive Sanktionen wurden innerhalb der Bürokratie nicht für Innovationen,

Page 93: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 88

sondern für „... Verhaltensweisen der Apathie, des Ritualismus und des Rückzugs“(Lepsius 1995: 252) verliehen. Generell waren die staatlichen Agenturen gegenüber derPartei und ihren Organen institutionell durch die Personalisierung der politischen undwirtschaftlichen Entscheidungen geschwächt. Ganz ähnlich erging es den wirtschaftli-chen Bereichen. Sie folgten den Vorgaben der staatlichen Instanzen. Die staatliche Pla-nungskommission beschloß die zu erfüllenden Planvorgaben. Die Wirtschaftsführerhatten sich den Vorgaben unterzuordnen und waren vornehmlich damit beschäftigt, diePlanerfüllung nachzuweisen und die Plangrößen im Nachhinein an die tatsächlichenWirtschaftsgrößen anzupassen. Das stratgische Grundproblem für sie bildete nicht dieFrage nach Innovationen, sondern das beständige Krisenmanagement (z.B. über dieBeschaffung von West-Devisen). Dabei liefen die Wirtschaftsfunktionäre ständig Ge-fahr, mit ihren ökonomischen Argumenten gegen politische Ansichten zu verstoßen. Indieser Atmosphäre mußte sich ein innovationsfeindliches Handlungsmuster der Kon-formität etablieren – widersprechende Äußerungen entbehrten jeder Legitimitätsgrund-lage. Ökonomische Rationalitätskriterien konnten sich nicht durchsetzen, weil das wirt-schaftliche Handeln direkt von der politischen Steuerung kontrolliert wurde. PolitischeWerte standen bei den wirtschaftlichen Entscheidungen Pate. Rentabilitätsentscheidun-gen hingegen waren sekundär. Lepsius faßt daher zusammen, daß die Eliten der DDRzwar loyal waren, aber dafür auch kollektiv handlungsunfähig und ökonomisch refle-xionsgehemmt (1995: 362).

Institutionalisierte Normen und Werte unterstützten das Primat der Politik. Pirkert zeigt,daß die Akzeptanz einer „Subjektivierung der Macht“ durch den Transfer des Gesell-schaftsmodells der SU in die osteuropäischen Staaten gestützt wurde (1995):Die institutionelle Ausgestaltung der osteuropäischen Staaten folgte dem dominantensowjetischen Einfluß und dem sowjetischen Modell, das nach dem zweiten Weltkriegmit der Besatzung exportiert wurde. Das sowjetische Modell stand für einen Marxis-mus-Leninismus, der die fehlende Institutionalisierung parteiinterner Konflikte indu-zierte. Darüber hinaus haftete der von Stalin geprägte Despotismus an dem Modell, derdie Personalisierung von Willensbildung und Entscheidungen ermöglichte. Auf dieserBasis entwickelte sich in allen osteuropäischen Staaten der grundlegende Konflikt zwi-schen Politik und Wirtschaftskadern.Der Marxismus sollte sich in der Überwindung des Kapitalismus bewähren und warinsofern ein fremdreferentielles Gesellschaftsprojekt. Der Leninismus fügte die Diszi-plinierung zu dem richtigen Bewußtsein hinzu. Es sollte anders als im Kapitalismus miteiner Stimme gesprochen werden und nicht die interne Konfliktaustragung das politi-sche Tagesgeschäft bestimmen. Bewegungen, die von der Hauptlinie abwichen, wurdennicht zugelassen und mit dem 1921 beschlossenen Fraktionsverbot systematisch unter-drückt. Hinzu kam mit dem Stalinismus das Streben nach der Alleinherrschaft des des-

Page 94: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 89

potischen Führers. Stalin institutionalisierte die Unfehlbarkeit seiner Generallinie alsParteiführer mit dem von ihm gesetzten Unfehlbarkeitsprinzip (Pirkert 1995: 367). Erstrukturierte die KPdSU zu einer „Partei neuen Typs“ um, der die institutionellenStrukturen für die horizontale und vertikale Vermittlung von gesellschaftlichen Interes-sen genommen wurden.Während sich das System Stalin unter Zuhilfenahme des Militärs und Geheimdienstesdurch Gewalt und Liquidationen legitimierte, sollte sich die Führung der DDR durchLeistung legitimieren. Hier lag die Ursache für die Widersprüche, die sich aus einer imGeiste Stalins geschulten Parteibürokratie mit der Personalisierung bzw. „Subjektivie-rung der Macht“ einerseits und den Anforderungen eines durch Leistung legitimiertenWirtschaftssystems andererseits ergaben. Der nationalökonomisch eigenständige Wegdes NÖS strebte eine Reform nach wirtschaftlichen Rationalitätskriterien an, mußte abergleichzeitig an zwei Fronten – der Breshnew-Doktrin und dem Primat politischer Werte- standhalten können. Von den Wirtschaftsführern wurde die parteipolitische Zäsur in-ternalisiert (Pirker 1995: 374). Die Eliten, mit ihrer verinnerlichten Angst vor der Insti-tution des Fraktionsverbots und vor der Macht Moskaus, stützten die Personenfixiertheitauch in Systemen, in denen sich die Führer nicht über einen Personenkult wie denStalins legitimieren konnten. Die Bildung einer rational arbeitenden Bürokratie war vordiesem Hintergrunde unmöglich.

Mit den Ansätzen intermediärer Institutionen wird deutlich, wie sich die fehlende, hori-zontale Vermittlungsleistung zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen auswirkte. Siezeigen, welche Dynamiken auf der Ebene der Eliten aus dem Differenzierungsdefizitentstanden. Über die Differenzierungsproblematik gesellschaftlicher Teilbereichsratio-nalitäten hinaus läßt sich mit dem Problem der Intermediarität aber auch das Defizit aufder vertikalen Ebene und den damit verbundenen Integrationsproblemen aufzeigen. DieUnterdrückung der Intermediarität steht nicht nur für die Entdifferenzierung gesell-schaftlicher Teilbereiche. Mit der mangelnden vertikalen Vermittlungsleistung gesell-schaftlicher Interessen wurde auch die Funktion von Institutionen für die gesellschaftli-che Integration untergraben, was auf die ökonomische Anpassungsfähigkeit zurück-wirkt. Am Beispiel des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) zeigt Weinert,auf welche Weise Institutionen bei der vertikalen Interessenvermittlung zwischen derBevölkerung und den Entscheidungseliten eingeschränkt wurden (1995a: 246f):Auf der organisatorischen Ebene zeigte sich, daß diese Gewerkschaft per se keine Ge-genentwürfe zu Politikkonzepten der Partei entwickeln konnte. Die führenden Mitglie-der des FDGB waren kraft ihres Amtes auch Mitglieder der SED-Parteileitung. Die Ka-der der SED kontrollierten die Gewerkschaftsaktivitäten. Diese Organisationsformführte für die Gewerkschaft zu zwei Problemen. Erstens mußte sie sich als Gegenent-wurf zu den bürgerlichen, westlichen Gewerkschaften profilieren. Das hatte zur Folge,

Page 95: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 90

daß der Ausdruck partikularer Interessen unterdrückt wurde, um den Schein der reprä-sentierten Einheitlichkeit aufrecht zu erhalten. Das zweite Problem entstand bei demUmgang mit der „abweichenden Bewußtseinslage“ der Arbeiter. Das Klassenbewußt-sein der Arbeiter war nicht stark genug verankert, was sich immer wieder an Problemenmit der Kategorie des Kollektiveigentums ausdrückte. Faktisch wurde das Konzept desKollektiveigentums nicht akzeptiert. Die Wirtschaftsreform unter Ulbricht (NÖS) ver-suchte, mit einer flexibleren Fassung des Eigentums darauf zu reagieren, konnte sichaber nicht langfristig etablieren. Die Reformen scheiterten an der zentralistischen Wirt-schaftsstruktur (Weinert 1995: 248). Die Gewerkschaft erkannte nicht, daß es ihre Auf-gabe hätte sein können, die Probleme, die sich aus dem Konzept des Kollektiveigen-tums ergaben, zu vermitteln. Probleme wurden auf falsche Bewußtseinslagen zurückge-führt, und widersprechende Stimmen verstummten. Die Interessenlage der Arbeiterwurde in dieser Praxis zu einer Frage der Disziplin stilisiert, obwohl es einer Interes-senvermittlung bedurfte. Anstatt dieser Aufgabe gerecht zu werden, reduzierte sich derFDGB in seiner Aufgabenerfüllung auf die Verteilung sozialstaatlicher Leistungen fürdiejenigen, die sich politisch-ideologisch konform verhielten.Mit dem Beispiel wird deutlich, daß die mangelnde Vermittlungsleistung der Gewerk-schaft auf der vertikalen Ebene besonders gravierend war. Partikularinteressen wurdenweder gebündelt noch zum Ausdruck gebracht. Damit wurde die integrationsstiftendeKraft, die durch eine institutionalisierte Partizipation geleistet werden kann, aufgege-ben.Wie aber kann sich die unterdrückte Partizipation in eine unzureichende ökonomischeAnpassungselastizität umsetzen?Die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung hängt eng mit ihrer Einstellung gegenübergesellschaftlichen Normen und Werten zusammen. Die Internalisierung der vermitteltenIdeologie und der mit ihr verbundenen Werte und Normen war gering. Das zeigte dasBeispiel der Gewerkschaft in der DDR. Die nicht-zweckgebundene, integrationsstif-tende, symbolische Dimension dieser ansonsten wichtigen Vermittlungsinstitutionenverlor zunehmend an Bedeutung. Sie konnte sich z.T. auch erst gar nicht entwickeln,weil die integrationsstiftende Zusammenfassung gemeinsamer Interessen von vornher-ein unterbunden wurde. Zentrale Werte wie Kollektiveigentum wurden nicht akzeptiert.Das Verhältnis gegenüber Gewerkschaft und der von ihr repräsentierten Politik entwic-kelte folgerichtig einen instrumentellen Charakter. Und dies von beiden Seiten: DieGewerkschaft konzentrierte sich auf die Verteilung sozialstaatlicher Leistungen (bspw.attraktive Ferienaufenthalte), und für die Mitglieder der Gewerkschaft waren diese Gü-ter ersehnte Highlights ihres Arbeitslebens. Die nicht-zweckgebundenen Leistungenverloren an Bedeutung, deshalb konzentrierte man sich auf der Ebene der Mikrofundie-rung der Institution FDGB auf Nutzenerwägungen.

Page 96: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 91

Um den ökonomischen Herausforderungen zu begegnen, konnte die Führung deshalbauch nur bedingt auf Mobilisierungsressourcen der Arbeiterschaft bauen. Zudem bildetedas institutionell unterdrückte Feedback Probleme für die ökonomische Anpassungsfä-higkeit, denn der Planung standen alternativ auch keine Rückmeldungen überMarktmechnismen wie die Preisbildung zur Verfügung. Daß die DDR gesamtgesell-schaftlich eine gewisse Flexibilität erhalten konnte, lag an der Leistung der Kirche, diepolitische Interessenartikulation abfing, und an den Aktivitäten der Kommerziellen Ko-ordination, die für den Nachschub ökonomischer Ressourcen sorgte (Weinert 1995b).Hier wird deutlich, wohin die normativ gewollte und institutionalisierte Unterdrückungvon Partikularinteressen - durch die verhinderte Entfaltung institutioneller Intermedia-rität - führen kann. Die personelle Organisationsstruktur der Gewerkschaft erlaubtekeine horizontale Interessenvermittlung, weil es den Führungsgremien an Autonomiefehlte. In ihren Entscheidungen folgten sie der Parteiraison und nicht den Problemenund Interessen, die sich im gesellschaftlichen Teilbereich der Wirtschaft entwickelten.Besonders deutlich werden an dem Beispiel aber die Auswirkungen unzureichendervertikaler Interessenvermittlung: Arbeiterschaft und Gewerkschaftsmitglieder fandenim FDGB kein Partizipationsmedium, das ihre Interessen vertrat, was sich unmittelbarauf die gesellschaftliche Integration und ökonomische Anpassungselastizität auswirkte.

Die Untersuchungen der intermediären Institutionen bzw, ihres Defizits in den osteuro-päischen Staaten setzen an einem frühen Zeitpunkt des Transformationsprozesses an.Sie übersetzen die strukturellen Voraussetzungen der Transformation in deren institu-tionelles Pendant und konkretisieren damit die Ausgangsbedingungen, an denen diespäteren, dynamisierten Prozesse der strategischen Institutionenänderungen ansetzten.Die Beiträge zeigen, warum in kommunistischen Gesellschaften ein Eigenwert institu-tionalisierter Normen und Werte nicht realisiert werden konnte und warum die nicht-zweckorientierte, integrationsstiftende, symbolische Dimension von Institutionen anBedeutung verlor bzw. unterentwickelt blieb. Institutionalisieren konnten sich hingegeninnovationsfeindliche Loyalität in den Reihen der Eliten und mangelndes Feedback ausder Bevölkerung, was zur politischen und ökonomischen Reflexionshemmung führte.Von den Eliten wurden die etablierten Handlungsroutinen zum Teil in langen Sozialisa-tionsprozessen internalisiert. Der hohe Grad der Institutionalisierung stand allerdingseinem Flexibilitätsmanagement im Wege; die institutionell repräsentierten Werte undNormen sowie die Handlungsmuster der Eliten waren extrem rigide. Die institutionelleRigidität in der DDR (vgl. Nedelmann 1995) zeigte sich an den folgenden Merkmalen:Die Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung waren in starren Routinenfestgelegt und bestimmten Personen zugeordnet – habitualisierte Handlungsvollzüge(enacting) bestimmten das Tagesgeschäft. Ängste vor deviantem Verhalten (Frakti-onsangst) und die Parteidisziplin standen für einen hohen Grad der Internalisierung

Page 97: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 92

(bspw. des Unfehlbarkeitsprinzips). Wegen der ideologischen Disziplinierung in denErziehungsdiktaturen (vgl. Pirkert 1995: 366) und der unhinterfragten Anlehnung anden starken Bruder Sowjetunion ging der Begründungsbedarf der Institutionen gegenNull - der Eigenwert institutionalisierter Vorgänge wurde überhaupt nicht angezweifelt.Rigidität verhinderte ein flexibles Reagieren auf neue Anforderungen, was sich an derUnmöglichkeit wirkungsvoller wirtschaftlicher Reformen in der DDR, aber auch ande-ren osteuropäischen Staaten zeigte. Vor diesem Hintergrund mußten die Systeme an denneuen - besonders ökonomischen - Anforderungen scheitern. Es war eine Frage derZeit, wann die institutionellen Fehlkonstrukte nicht mehr als selbstverständlich akzep-tiert wurden und auf ihre Zwecke und gratifikatorischen Gehalt hin überprüft wurden.Diese tiefgreifenden Zweifel an den Institutionen dynamisierten den institutionellenZusammenbruch. Von „enacting“ wurde auf „acting“ umgestellt (Nedelmann 1995),d.h. die Mikrofundierung und damit die strategische Orientierung von Akteuren gewannan Bedeutung.Die Beschreibung der institutionalisierten Handlungsroutinen, die die Rigidität hervor-brachten, behandelt Institutionen als unabhängige Variablen. Erst wenn ein Zeitpunkteintritt, zu dem sich zeigt, daß es einer deutlichen Änderung bedarf, werden Institutio-nen zur abhängigen Variable. Wenn alte Institutionen reformiert oder abgeschafft wer-den, dann bestimmen Akteure über die Neugestaltung der entsprechenden Handlungs-zusammenhänge. Sie haben über die Reformen entschieden auch dann, wenn sich uner-wartete Ergebnisse aus den Änderungen ergeben.

2.3 Effekte strategischer Institutionenänderungen

Mit der Untersuchung institutioneller Änderungen können kalkulatorisch argumentie-rende Institutionenansätze unter der Prämisse des fortgeschrittenen institutionellen Um-bruchs bzw. Zusammenbruchs - ohne Verlust der nicht-zweckgebundenen Dimensionvon Institutionen - in eine umfassende Institutionenanalyse der Transformation Osteu-ropas integriert werden. Institutionen werden von Akteuren (um)gestaltet. Dennochentwickeln sie eine eigene Dynamik, die auch unbeabsichtigte Wirkungen hervor-bringen kann, so wie die abnehmende Zustimmung zur Linie der Partei und die Verfol-gung opportunistischer Interessen.An den Entwicklungen in der SU kann man besonders gut veranschaulichen, welcheunerwünschten Effekte eine Institutionenreform hin zur stärkeren Liberalisierung habenkann. Die SU stand unter besonders hohem Leistungsdruck im internationalen Wettbe-werb, was ihre wirtschaftliche Situation extrem anspannte und somit Druck auf die po-litischen Entscheidungsträger ausübte27. Gleichzeitig spielten die Reformen in der SU 27 Vgl. die Ausführungen zu den geopolitischen Herausforderungen im Teil II, Kapitel 1.2.

Page 98: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 93

eine Schlüsselrolle für die Entwicklung in den anderen kommunistischen Staaten. In-stitutionelle Änderungen konnten ihnen entweder Beispiel für Reformen sein oder indi-rekt über eine zurückgenommene Einflußnahme der SU auf sie wirken.Dieser von den Strukturtheorien beschriebene Zustand der Interstate-Competition bildetden Ausgangspunkt für die Untersuchungen der „New Institutionalist Theory“ (Nee /Lian 1994): Aus dem Konkurrenzdruck im internationalen Staatenraum bilden sich dieConstraints für die Machthaber. Ändert sich die relative Stärke der Staaten, können dieMachthaber darauf mit institutionellen Änderungen reagieren. Eine wichtige Variablefür die nationale Machposition war im internationalen Kontext des kalten Krieges diewirtschaftliche Performance. Das fortschreitende wirtschaftlich-technische Gefälle zwi-schen Staatssozialismus und Marktwirtschaft führte dazu, daß ökonomische Reformenvermehrt erwogen und letztlich auch über liberalisierende Maßnahmen eingeführt wur-den.Die Einführung von marktwirtschaftlichen, liberalisierenden Elementen kann unbeab-sichtigte destabilisierende Folgen haben. Die institutionellen Reformen können die ab-nehmende Zustimmung zur Linie der Partei in den Reihen der Eliten provozieren. Einersolchen abnehmenden Elitenkohärenz liegt ein „Dilemma of Reforms“ zugrunde (Nee /Lian 1994): Effektive ökonomische Reformen müssen den institutionellen Rahmen derEigentumsrechte und somit die institutionelle Grundlage der Wirtschaft neu definieren.In dieser Bewegung zum Markt entsteht für die zentralen Machthaber zunehmend Unsi-cherheit, die von den entstehenden „Kaderunternehmern“ ausgenutzt werden kann28.Die Kaderunternehmer setzen bei entsprechender Präferenz auf der lokalen Ebene ihrePositionsmacht in Marktvorteile um. Liegt die Präferenz bei einer primären Profitorien-tierung („rent-seeking“ oder „opportunism“), so stehen die Akteure in der institutionellumdefinierten Situation einer für sie erfreulichen neuen Situation gegenüber. Ihnenbietet sich mit der Möglichkeit der Ausnutzung der Marktvorteile die Gelegenheit, eineerhöhte Selbstbegünstigung zu realisieren. Die in dieser Situation entstehende Neube-wertung von Handlungsmöglichkeiten der Eliten läßt sich spieltheoretisch modellieren(Nee / Lian 1994): Die (aus strukturellen Gründen) notwendigen institutionellen Ände-rungen etablieren die Regeln des Spiels, weil sie die Parameter der Wahl bestimmenund (nur) insofern die Handlungen determinieren. In einem „Multi-Agent-Repeated-Game“ ergibt sich aus den neuen institutionellen Situationen für die Kader eine binäreWahl. Entweder sie bleiben bei ihrer Zustimmung zur Partei, oder sie weichen durchopportunistisches Handeln von der Linie der Partei ab. Die Wahl zwischen diesen bei-den Optionen richtet sich nach den individuellen Präferenzen und Kalkulationen einer-seits und dem Verhalten der Genossen andererseits. Nee und Lian konstruieren drei Di-mensionen der Präferenzstruktur der Eliten. Es gibt die „true-belivers“, „middle-of-the- 28 Wie sich dieser Zusammenhang erklärt, bleibt bei Nee und Lian weitgehend im Dunkeln, wird aber inbestätigender Weise von Walder ausgeführt (vgl. Walder 1994). Darauf wird im folgenden nocheinzugehen sein.

Page 99: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 94

roaders“ und die Opportunisten (reine Nutzenmaximierer). In dieser Reihenfolge reprä-sentieren die Präferenzstrukturen den abnehmenden Grad der Zustimmung zur Parteili-nie. Das Handeln orientiert sich aber nicht nur an den Neubewertungen der Kosten-Nut-zen-Erwägungen auf der Grundlage der institutionellen Neuerungen, sondern auch amHandeln der anderen. Die Handlungen anderer üben einen „Demonstrationseffekt“ aus.Mit der zunehmenden Tendenz zu abweichendem Handeln sinkt über den Demonstra-tionseffekt die Anzahl der Linientreuen. Auf diesem Wege büßt die ohnehin verunsi-cherte Partei weiter an Kontrollkapazität ein. Mit der abnehmenden Kontrollkapazitätsinken die Sanktionsmöglichkeiten, so daß die Bereitschaft, abweichend zu handeln,weiter steigt. In diesem Zusammenhang - dem „trade-off“ zwischen der Kontrollkapa-zität der Partei und dem abweichenden Handeln – liegt der Schlüsselmechanismus fürden Zusammenbruch der Elitenkohärenz. Der sich selbst verstärkende Prozeß wirkt sichin gravierender Weise auf die ökonomische Performance des Staates aus. Denn nebender ideologischen Orientierung der „true-belivers“ konnten nur effektive SanktionenOpportunisten bzw. „middle-of-the-roaders“ vom Free-Riding abhalten. Über bestra-fende Maßnahmen ließ sich der Verzicht auf persönliche Bereicherung durch opportuni-stisches Handeln auf Kosten der Partei und damit der zentralen Staatsführung durchset-zen; Steuereinnahmen wurden an den Fiskus abgeführt, und der Versuchung der Beste-chung wurde widerstanden. Durch die verschlechterte wirtschaftliche Situation fallenauch die positiven Sanktionsmöglichkeiten weg; die „market-temptation“ steigt.Es wird deutlich, daß sich in akzelerierender Weise die Kosten-Nutzen-Kalküle der lo-kalen Eliten zuungunsten der zentralen Organisation ändern können. Was den Prozeßfür das System so bedrohlich - vielleicht sogar fatal - macht, ist die Allgegenwärtigkeitdes Demonstrationseffekts; opportunistisches Handeln der höchsten Offiziellen kannaufgrund ihrer Machtstellung nur schlecht sanktioniert werden und wird es deshalb im-mer geben.Unter der Bedingung eines strukturell dringend erforderlichen institutionellen Wandelsergeben sich verschiedene Handlungsmöglichkeiten für die Eliten. In dieser Situationwirken Mechanismen, die für institutionalisierte Handlungsroutinen bedrohliche Präfe-renzen und Handlungen provozieren. In dem Prozeß der Liberalisierung, dessen Erfolgim Besonderen auf Loyalität der Eliten angewiesen ist, ergeben sich Chancen zurSelbstbereicherung und schwinden die Sanktionsmöglichkeiten. Dies sind systembe-drohliche Bedingungen in einer Situation, die wegen der Änderung bestehender Institu-tionen durch zunehmende Unsicherheit gekennzeichnet ist. Warum in dem beschriebe-nen Zustand die Treue zur Parteilinie keine selbstverständliche Institution mehr war, istdamit noch nicht geklärt.

Die Treue zur Parteilinie verliert dann an Selbstverständlichkeit, wenn sich unter denBedingungen liberalisierender institutioneller Reformen für die lokalen Eliten neue

Page 100: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 95

Möglichkeiten zur Selbstbereicherung ergeben. Positionsmacht kann in Marktmachtübertragen werden und sich somit gegen die Intention der Partei durchsetzen. Mit einerAnalyse der Principal-Agent-Beziehung29 läßt sich diese Dynamik, die durch die zu-nehmende Verletzlichkeit des Systems bzw. seinen Zusammenbruch gekennzeichnet ist,präzisieren. Der Zusammenhang von institutionellen Änderungen und ihren dezentrali-sierenden Wirkungen in der dynamischen Phase institutioneller Reformen wird deutlich(Walder 1994):Ausgangsfrage ist, auf welche Weise die Dynamiken institutioneller Änderungen die dieParteimacht definierenden Interaktions- und Machtbeziehungen beeinflussen. Einestarke Parteimacht baut auf ein institutionelles Setting, das erstens die Topführer in dieLage versetzt, bei ihren Agenten Compliance und Disziplin durchzusetzen, und daszweitens die Autorität über die Bürger ausübt. Daraus ergeben sich für die Parteimachtdrei wichtige Variablen: 1.) Agenten müssen in der Erfüllung ihrer Wünsche von denVorgesetzten abhängig sein. 2.) Sie müssen den Vorgesetzten Informationen über dieAktivität ihrer Untergeordneten zugänglich machen (genau das ist mit Kontrollkapazitätgemeint). 3.) Die Vorgesetzten müssen über die Möglichkeit verfügen, ihre Untergeord-neten zu belohnen oder zu bestrafen. Über den Charakter dieser Variablen bilden sichdie Muster der Abhängigkeit, des Monitorings und des Sanktionierens der Agenten (undder Bürger). Die Muster ändern sich mit den Möglichkeiten, die mit der Neudefinitioninstitutioneller Regelungen entstehen: Die Abweichung von zentraler Planung durchLiberalisierungsmaßnahmen bringt zunehmend ökonomische Alternativen mit sich.Über die notwendigen fiskalischen Reformen, d.h. der Änderung des Steuerflusses, ent-steht eine Struktur, die Gelegenheit für Unternehmensautonomie im öffentlichen Sektorschafft. Der fiskalische Einfluß höherer Regierungsebenen auf die niedrigeren Ebenenläßt nach, wenn mit der zunehmenden Bedeutung des lokalen Investments die Agentenvon dem Einkommen ihrer admistrativen Position unabhängiger werden. Darüber hin-aus eröffnen sich für die lokalen Führer neue Einkommensmöglichkeiten und Kar-rierechancen jenseits der Parteihierarchie durch die vereinfachten Korruptionsmöglich-keiten. Die lokale Parteikommune bekommt insgesamt durch die institutionellen Ände-rungen eine ganz neue Bedeutung. Lokale Autoritäten basieren zunehmend auf neuenRessourcen, die sich über Allianzen und bargaining-Prozesse realisieren. Es entsteht einlukrativer, separater, privater Sektor, der zur zunehmenden Autonomie der Offiziellenauf lokaler Ebene führt.

Reformen, die zur Stärkung des Systems angestrengt werden, können also zu einem be-schleunigten Verfall in der Zustimmung zur Parteilinie und damit des institutionellenMachtgefüges führen, weil Möglichkeiten für abweichende Handlungen und deviantePräferenzen entstehen. Dennoch läßt sich nicht schließen, daß nach der Logik des 29 Vgl. zum Principal-Agent-Modell auch (Coleman 1990).

Page 101: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 96

Principal-Agent-Ansatz ein zwingender Automatismus des institutionellen Zusammen-bruchs bei Liberalisierungsreformen folgt. Nicht in allen kommunistischen Ländernführten liberalisierende Reformen zum Zusammenbruch. Vielmehr müssen bestimmteBedingungen erfüllt sein. Der Principal-Agent-Ansatz läßt komparative Analysen zu, indenen das Ergebnis institutioneller Reformen offen ist – d.h. von Prozeßvariablen, diedie Bedingungen nennen, abhängt. Somit kann beispielsweise die sich aufdrängendeFrage geklärt werden, warum ähnliche Reformen der Dezentralisierung im Sowjet-system zum Kollaps und in China - bei konsequenteren Reformen - nicht zum Kollapsführten.Solnik (1996) hat ein solches komplexes Modell entwickelt. Es besteht aus zwei Kom-ponenten: Dem „two-actor principal-agent modell“ (mit simplen spieltheoretischen An-nahmen) und der Metapher des Bankenruns. Das Principal-Agent-Modell erklärt dieStruktur der Autorität und des Gehorsams. Asymmetrische Besitzrechte definieren dieAutorität - d.h. die Machtverhältnisse und Hierarchiestruktur - in der Beziehung zwi-schen dem Vorgesetzten (Principal) und dem Agenten. Die Autoritätsasymmetrie ent-steht dadurch, daß der Vorgesetzte die Befehle gibt, sie wird aber durch die Informati-onsasymmetrie, die den Agenten in eine bevorzugte Stellung bringt, in einem Gleich-gewichtszustand gehalten. Auf dieser Basis funktioniert die Hierarchie; sie gründet aufeiner konsensuellen Autoritätsbeziehung, deren Variationen - über institutionelle Ände-rungen - spieltheoretisch modellierbar sind. Reformen bilden wiederholte kurzfristigeHandlungsverträge. Entscheidungstheoretisch ergeben sich daraus wiederholte Spielemit kooperativen Strategiemöglichkeiten (parteikonformes Handeln) und defektivenStrategiemöglichkeiten (opportunistisches - in diesem Falle nicht parteikonformes -Handeln). Von Agentenseite wird unter zwei Bedingungen Kooperation gewählt: DieAutoritätsbeziehung hat kein absehbares Ende, d.h die Zukunft wird nicht unterbewer-tet30, und für die Agenten gibt es keine alternativen Einkommensquellen („outsidecredits“). (In diesem eigennutzorientierten Kalkül lassen sich die Opportunisten und„middel-of-the-roaders“ in dem Modell von Nee und Lian <1994> wiedererkennen.)Für die Vorgesetzten ergibt sich daraus für jede Spielrunde eine Situation, in der dieKosten der Beobachtung und Kontrolle abgewogen werden müssen gegen die Kosten,die durch das Ignorieren des Loyalitätsverlustes entstehen. Das läuft auf die Frage hin-aus, ob es sich für die Agenten lohnt, auf kurzfristige Interessen (wie z.B. die Nutzungvon Korruptionsmöglichkeiten) zu verzichten, um langfristige Interessen zu verwirkli-chen. Beispielsweise kann die Langfristorientierung mit der zunehmenden Bedeutungund Unabhängigkeit lokaler Politikkommunen abnehmen. Dann werden die Agentenauf lokaler Ebene wählbar und damit unabhängig von den Promotionen durch die Vor-gesetzten. In die Bewertungen der Autoritätsbeziehung greift ein Mechanismus, der den

30 Für die Plausibilität des Zusammenhangs von kurzfristiger bzw. langfristiger Orientierung unddefektiver bzw. kooperativer Strategie vgl. aufschlußreich Elster (1989: 42f) und Axelrod (1984).

Page 102: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 97

akzellerierenden Prozeß der zunehmenden Defektion erklärt. Mit der Metapher desBankenruns verdeutlicht Solnik die Logik dieses Mechanismus: Sinkt das Vertrauen indie Bank, dann werden ihr die Besitzrechte bzw. die Verfügungsrechte über den Besitzentzogen. Das läßt die Kurse sinken, was in beschleunigender Weise das Vertrauen indie Investmentstrategien der Banken weiter sinken läßt, usw. Analog gilt für die Bezie-hung zwischen Vorgesetzten und Agenten, daß sich bei zunehmend wahrgenommenerUnfähigkeit ministerialer Überwacher (die staatlichen Unternehmensmanager daran zuhindern, de facto Besitzrechte zu behaupten) die Dezentralisierung mit spontanen Pri-vatisierungen auf lokaler Ebene beschleunigt31. Als wichtige Komponenten in diesemSpiel stellen sich folgende Variablen heraus: die institutionalisierten Eigentumsrechteund Autoritäts- bzw. Machtstrukturen sowie - wie Solnik es formuliert - die Risikobe-reitschaft der Akteure32.Für die Sowjetunion führte ein dem „Bankenrun“ vergleichbarer Prozeß zu einer starkenDesintegration. Die vormals durchaus bestehende Integration wurde duch den hierarchi-schen Aufbau garantiert. Industrielle Hierarchien fielen dem Prozeß spontaner Privati-sierungen zum Opfer. Ehemalige Firmenmanager konnten kleine Unternehmen etablie-ren, und private Banken entstanden aus der Zentralbank. Staatliche Hierarchien unddamit die Institutionen der staatlichen Kontrolle wurden durch opportunistisches Han-deln innerhalb der politischen Strukturen Opfer des Bankenruns (mit der Zuweisungvon Budgetautonomie und dem Recht auf Steuererhebung verfügten die lokalen Agen-ten über lukrative Optionen für abweichendes Handeln). Nur so konnten beispielweiselokale Autoritäten Parteibesitz privatisieren. Die Vorgesetzten konnten keine Gegen-maßnahmen behaupten, was dazu führte, daß die Agenten die an sie delegierte (Posi-tions-)Macht so nutzten, als sei es ihre (Markt-)Macht.In China hingegen waren die Bedingungen anders. Hier konnte die innerparteiliche Dis-ziplin als zentripedaler Faktor aufrecht erhalten werden. Die Besitzrechte der lokalenParteisekretäre hängen trotz der Liberalisierung stark von ihrer Position in der staatli-chen Bürokratie ab und Tiananmen 1989 kann als eine Strategie der staatlichen Reputa-tion gesehen werden. Mit derartigen repressiven Maßnahmen können hierarchische Be-ziehungen zwischen Vorgesetztem und Agenten im Gleichgewicht gehalten werden.

31 Im Modell von Nee und Lian (1994) wird dieser Prozeß mit dem Demonstrationseffekt erklärt.32 In dieser Darstellung fällt der von Nee und Lian beschriebene „true beliver“ weg. Von der Parteilinieabweichendes Verhalten wird nur noch von Kosten-Nutzen-Kalkülen bestimmt. Die dennoch zubeobachtende Überwindung des von Nee und Lian hervorgehobenen „Freerider-Problems linientreuenHandelns“ (s.o.) erfolgt in Solniks Modell über den Zeithorizont. Weitsichtige Akteure verhalten sichparteikonform, wenn die langfristige Orientierung ein höheres Auskommen verspricht. Ob eine solcheeindimensionale Orientierung der Akteure bzw. identische Orientierung bei allen Akteuren unterstelltwerden kann, ist fraglich. Die Frage kann an dieser Stelle aber unberücksichtigt bleiben, weil für denbeschriebenen Zeitpunkt des Zusammenbruchs die Eigennutzorientierung unterstellt werden kann undsomit die von Solnik hervorgehobenen Mechanismen als Erklärungsbausteine angebracht sind.

Page 103: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 98

2.4 Zusammenfassung

Institutionentheoretische Ansätze, die die Auswirkungen der mangelnden Intermediari-tät thematisieren, erklären die Stabilität des institutionellen Defizits und die Schwierig-keit, systemstabilisierende Reformen durchzusetzen - sie erklären die Unbeweglichkeitder realsozialistischen Systeme. Um diese Rigidität und Selbstverständlichkeit einesunflexiblen Zustandes zu begründen, müssen Kategorien bemüht werden, die sich nichtmit strategischen Erwägungen fassen lassen. Rigidität wurde den eingestielten Hand-lungsroutinen über Sozialisationsmechanismen der „Erziehungsdiktatur“, mit der Inter-nalisierung ideologiekonformer Normen und Werte und den symbolischen Demonstra-tionen bestehender Machtverhältnisse verliehen. Erst wenn eine solche - künstlich auf-rechterhaltene - Stabilität an den realen Anforderungen zerbricht, werden unreflektierteHandlungsroutinen und Machtverhältnisse verstärkt hinterfragt. Strategische Erwägun-gen gewinnen an Bedeutung in einer Zeit, zu der über zwingend notwendige Reformennachgedacht wird, oder wenn der institutionelle Zusammenbruch nicht mehr aufzuhal-ten ist. Für die Analyse der in dieser dynamisierten Phase wirksamen Mechanismenbewähren sich dann die theoretischen Ansätze mit einem strategischen, kalkulatorischenHandlungskern.Hier liegt die Schnittstelle, an der Institutionen nicht mehr einfach die Handlungsmusterder Akteure bestimmen, also unabhängige Variable sind. Sie werden mit den Überle-gungen zur institutionellen Änderung zur abhängigen Variable. Akteure entwerfen neueKonzepte, versuchen sie zu implementieren und entscheiden mit ihrem Handeln überihre Wirkungen.An diesem Punkt setzen die institutionentheoretischen Ansätze an, deren Gegenstanddie durch Reformprozesse angestoßene Dynamik ist. Sie argumentieren weniger miteinzuhaltenden Handlungsroutinen als mit den Interessen von Akteuren und dem Wett-bewerb zwischen ihnen. Daher ist zunächst unklar, inwiefern sich die Argumentationdieser institutionentheoretischen Ansätze von der Argumentation reiner akteurstheoreti-scher Ansätze unterscheidet. Man muß nicht zu dem Schluß kommen, daß es sich umeine für die Transformationsanalyse unfruchtbare Reduktion des Institutionenverständ-nisses handelt. Nach wie vor bewegen sich die Akteure im Rahmen institutionalisierterHandlungsroutinen und Entscheidungsstrukturen sowie institutionell eingegrenzterHandlungsarenen. Jedoch setzen die Untersuchungen zu einem fortgeschrittenen Zeit-punkt der institutionellen Reformen bzw. des Zusammenbruchs an. Dieser Zeitpunktläßt sich mit den Kategorien „Instrumentalität“, „Externalität“ und „acting“ (vgl.Nedelmann 1995) beschreiben. In einer solchen Phase kommt der Mikrofundierung eineentscheidende Rolle zu, und zweckorientierte Kalküle verdrängen die Selbstverständ-lichkeit institutionalisierter Handlungsabläufe. Thematisiert wird, daß aus instrumen-tellen Kalkül bestimmten Reformstrategien der Vorrang eingeräumt wird und daß be-

Page 104: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 99

stehende Institutionen dem Prüfstand der instrumentellen Erwartungen nicht mehr ge-recht werden konnten, gerade weil der Eigenwert der institutionellen Arrangements an-gezweifelt wurde oder sogar zusammengebrochen war. Der Zweck von Institutionengelangt ins Blickfeld, Handlungsroutinen werden hinterfragt, und mit „Externalisie-rung“ werden Schutzmaßnahmen zur Stützung der Institution und ihrer Normen undWerte angestrengt – Prozesse also, die sich mit Ansätzen, die strategische Erwägungenberücksichtigen, theoretisch angemessen modellieren lassen.

Die beiden institutionentheoretischen Perspektiven ergänzen sich nicht nur theoretisch.Sie lassen sich auch auf der konkreten Ebene der Beschreibung des Phänomens „Trans-formation Osteuropas“ zusammenfügen:Es fällt auf, daß sich die Principal-Agent-Ansätze hauptsächlich auf die Entwicklungenin der SU beziehen. Sie thematisieren die Regulierungs- und Steuerungsproblematik aufder vertikalen Linie innerhalb der Bürokratie, weil in der SU die Vorgesetzten-Unterge-ben-Beziehung von einer systembedrohenden Loyalitätsproblematik geprägt war. Fürdie institutionentheoretische Analyse der anderen osteuropäischen Staaten - und hierinsbesondere für die DDR - steht dieser Aspekt nicht im Vordergrund. Dementspre-chend problematisieren die Ansätze intermediärer Institutionen nicht die Ausweitung derHandlungsoptionen auf den lokalen Ebenen, sondern die Einschränkung der Hand-lungsmöglichkeiten außerhalb der Spitze der Parteiführung und die Beschneidung vonKompetenzen.In den unterschiedlichen Perspektiven spiegelt sich der unterschiedliche Charakter derEntwicklungen in der SU einerseits und den ostmitteleuropäischen Staaten andererseitswider. Die unterschiedlichen Entwicklungen waren allerdings auch eng miteinanderverwoben: Der Zusammenbruch der SU, der durch die Initiativen des liberalisierendeninstitutionellen Umbaus eher noch verstärkt als verhindert wurde, wirkte mittelbar aufdie institutionellen Entwicklungen der anderen osteuropäischen Staaten: Die Selbstver-ständlichkeit, mit der sich ihre Machtverhältnisse und Entscheidungsverfahren etablie-ren konnten, bröckelte, weil mit dem Zusammenbruch der SU eine wichtige, nämlichdie externe Legitimitätsgrundlage der orthodoxen Regime wegfiel. Die Machtverhält-nisse und Entscheidungsstrukturen verloren ihre Selbstverständlichkeit; ein plötzlicher –offensichtlich nicht zu bewältigender Begründungsdruck beschleunigte die Krise undden institutionellen Zusammenbruch.

Die Mesoansätze zeigen, wie institutionelle Änderungen zu graduellen Veränderungenlangfristig entstandener und etablierter Strukturen führen können. Vor dem Hintergrundder Geschichte struktureller Entwicklung agieren und reagieren Akteure in einer Weise,die zur Veränderung vorhandener Strukturen über neu installierte institutionelle Arran-gements führt. Aus diesem Grunde schließt sich an die strukturtheoretische Transfor-

Page 105: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 100

mationsforschung die Analyse von institutionellen Eigenschaften der kommunistischenRegime an. Über sie wird unter anderem auf der politischen Ebene die Verteilung derMacht und auf der ökonomischen Ebene der Zugang zu den Ressourcen reguliert. In-stitutionelle Regelungen bilden die Grundlage der für die soziale Ordnung relevantenAbhängigkeiten, Überwachungsmöglichkeiten und Sanktionsmechanismen. Dennochläßt das nicht den Schluß zu, mit institutionellen Neuerungen verliefen sozialstrukturelleEntwicklungen vorhersehbar. Vielmehr werden durch das Zusammenwirken vieler indi-vidueller und korporativer Handlungen innerhalb des mit institutionellen Änderungenneu entstandenen Optionsraums überraschende Wirkungen auftreten; Wirkungen, dienicht beabsichtigt waren oder die es sogar zu vermeiden galt. Die von den institutio-nentheoretischen Beiträgen identifizierten Mechanismen können diesen Wirkungen z.T.auf den Grund gehen. Sie erklären, warum konkrete institutionelle Reformen nicht diebeabsichtigte Identitätswahrung des Systems bewirkten, sondern im Gegenteil zum Zu-sammenbruch kommunistischer Regime entscheidend beitrugen. Institutionelle Ände-rungen eröffnen Chancen, bergen aber auch Risiken. Werden in einer Krise Reformenanstelle repressiver Mittel gewählt, so ist die Erholung des Systems (Identitätswahrung)in keinem Falle garantiert. Nicht antizipierte bzw. schwer vermeidbare Folgen notwen-diger institutioneller Eingeständnisse (z.B. neuer Eigentumsrechte) können Prozesseanstoßen, die in subversiver Weise das Reformprogramm entgegen der Intention seiner„Architekten“ laufen lassen. Diese Prozesse müssen nicht als zufällige Erscheinungenunerklärbar bleiben. In jedem Falle werden sie durch aggregierte Individualhandlungenbestimmter Akteure verursacht.Die Analyse des Transformationsprozesses ist an der Stelle beschleunigend wirkenderMechanismen des institutionellen Umbaus noch nicht abgeschlossen. Der Prozeß gerätmit den institutionellen Änderungen vielmehr erst in seine „heiße Phase“; in eine Phase,in der sich die Machtverhältnisse mit Chancen für die Einflußnahme neuer Akteure undmit Risiken für bislang Mächtige verschieben. In diesem Stadium bleibt es nur in denseltensten Fällen bei der exklusiven Gestaltung der Transformation durch die Eliten.Spielten die Akteure aus untergeordneten sozialen Positionen für den Prozeß der durchLiberalisierung hervorgerufenen akzelerierende Krisendynamik bisher eine geringereRolle, so muß das nicht so bleiben. Politische Akteure können sich in den neuen Situa-tionen auch außerhalb der Eliten rekrutieren. Ihre Einflußmöglichkeiten mögen für diemit der Liberalisierung in Gang gesetzten Prozesse zu vernachlässigen sein, müssenaber bei den noch dynamischeren Bargainingprozessen der Demokratisierung bzw. derOrientierung aus der Krise heraus thematisiert werden.Transformationen werden auch durch die Bevölkerung mitgestaltet. Sie kann sich direktbei der politischen Umgestaltung beteiligen oder gewinnt als Machtressource der politi-schen Akteure einen wichtigen indirekten Einfluß. Hier öffnet sich eine Erklärungslückeder institutionellen Ansätze. Sie erklären graduelle Änderungen mit den strukturienden

Page 106: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 101

Einflüssen institutioneller Änderungen. Die Verläufe wichtiger strategischer Interaktio-nen hingegen werden nur angedeutet, denn dafür müssen über grobe Kategorien indivi-dueller Motivationen hinaus komplizierte Interessenabwägungen berücksichtigt werden.Institutionentheoretische Ansätze klären nicht, warum Reformen anstelle von Repres-sionen „gewählt“ wurden, und auch nicht warum sich die Forderungen bestimmter Ak-teure gegen konkurrierende Ideen bei der Gestaltung der Demokratisierung durchsetz-ten. Wir erfahren lediglich, welche Handlungs- und Entscheidungschancen für Akteureentstehen.Erst mit einer akteurtheoretischen Perspektive kann versucht werden, diese Erklä-rungslücke ein Stück weit zu schließen.

Page 107: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 102

3. Mikrotheoretische Ansätze

Verhinderte systemische Evolution und strukturelle Mängel schaffen die Ausgangsbe-dingungen für die konkrete Ausgestaltung der Transformation, die von politischen Ak-teuren vorgenommen werden muß. Institutionelle Änderungen beschreiben einen erstenSchritt auf dem Pfad in die neue Richtung der Umgestaltung. Einen Schritt, bei dempolitische Entscheidungen neue gesellschaftliche Realitäten schaffen, die dann dieneuen Möglichkeitsbedingungen für den weiteren Verlauf bilden:„When future historians examine the archievs, they may find that there are possibleworlds, close to ours, in which the GDR politburo orders the police to shoot on the de-monstrators in Leipzig. But they might also find that there are worlds in which the Chi-nese hard-liners give in to reformers. Whatever their conclusions, they will not affectthe general proposition that events change beliefs and beliefs cause events.“ (Elster1996: 19).Mit den Entscheidungen und Institutionalisierungen, die sich aus den aufeinanderfol-genden Interaktionsschritten ergeben, verschließen sich vormals gegebene und eröffnensich neue Möglichkeiten. Solche Prozesse hinterlassen Spuren und sind insofern unum-kehrbar. Soll ein Prozeß rückgängig gemacht werden - z.B. mit repressiven Maßnahmenwie in China 1989 -, so ist der neue Zustand doch ein anderer: Nicht nur internationalerDruck pflanzt sich innenpolitisch fort. Auch das für die innenpolitische Stabilität einesTages vielleicht ausschlaggebende Verhältnis von privater und öffentlicher Einstellungder Bevölkerung verschiebt sich, und auf diesem Wege können sich die Beziehungenvon Öffentlichkeit und politischer Elite und die Intraelitenprozesse zwischen Reformernund Hardlinern dramatisierten (vgl. Di Palma 1991).Die neuen Realitäten aggregieren sich aus Entscheidungen von Akteuren im Rahmenstruktureller und institutioneller Constraints. Da die Akteure vor dem Hintergrund des„Erbes der Vergangenheit“ handeln, ist der Gestaltungsspielraum bzw. sind die Wahl-möglichkeiten der Akteure nicht beliebig. Ihr Handlungsspielraum wird durch die Gren-zen einer „structured contingency“ (Karl / Schmitter 1991) bestimmt. Dennoch werdendie politischen Ergebnisse nicht von den objektiven Konditionen determiniert. Diestrukturellen und institutionellen Voraussetzungen entscheiden über die Problemlageund über den Verlauf zwar insofern, als sich vor ihrem Hintergrund die Besetzungenvon Machpositionen und die Machtausstattung des alten Regimes gestaltet. Es sind aberkollektive Entscheidungen und politische Interaktionen, die den Umbau in einem insti-tutionalisierten Rahmen gestalten - Akteure treffen Entscheidungen.Aus den Prämissen der Makroansätze lassen sich keine Aussagen über den Einfluß be-stimmter Akteure bzw. Akteurskonstellationen auf den Transformationsverlauf ableiten.Sie haben eine theoretische Unschärfe, die sich darin ausdrückt, daß die dynamischen

Page 108: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 103

Prozesse des Zusammenbruchs der alten Ordnung und des Entstehens einer neuen Ord-nung im Dunkeln bleiben. Von der Identifikation struktureller Makrovariablen alleinkann kein Aufschluß über den Zeitpunkt und den konkreten Verlauf der Transformationerwartet werden. Andernfalls hätte ein Verlaufsdeterminismus auf der Basis der Struk-turanalyse die Entwicklung vorhersehbar machen müssen, so daß die tatsächliche Über-raschung geringer ausgefallen wäre und über uns der Wandel nicht „Now out of Never“(Kuran 1991) eingebrochen wäre. Erst die Mesotheorien zeigen, auf welche Weisestrukturelle Defizite zu einem Aufbrechen des Zusammenhalts innerhalb der Elitenführten und wie diese zunehmende Destabilisierung parallel zur mangelnden Integrati-onsleistung der Institutionen zum weiteren Legitimitätsverfall beitrug. Solche Dynami-ken wirken sich auf die Machstrukturen in den Regimen aus. Damit entstehen neue Ent-scheidungsmöglichkeiten für Akteure. Hier liegt die Schnittstelle für die Mikroansätze.Sie schließen an die Dynamik der zunehmenden Schwächung der kommunistischenRegime an, indem sie 1. zeigen, wie die Strategien einer uneinheitlichen Führungseliteden Zusammenbruch beschleunigten und 2. thematisieren, wie der Zustand abnehmen-der Legitimität in eine Mobilisierung der Massen umgesetzt wurde und welche Rolledie Mobilisierung für die Dynamik des Zusammenbruchs spielte.In einem Punkt unterscheiden sich Mikrotheorien wesentlich von den Makro- und Me-sotheorien. Während der Zugang zu strukturellen und institutionellen Eigenschaften derosteuropäischen Systeme für den Beobachter nur z.T. verstellt ist - die Eigenschaftenwurden seit vielen Jahren beobachtet und diskutiert -, finden die Entscheidungsprozesseder politischen Akteure hinter verschlossenen Türen statt. Nur selten Fällen haben Be-obachter Zugang zu diesen Prozessen, und selbst dann stellen sich die beobachtetenPräferenzen oftmals mit einem strategischen bias dar. Deshalb beschränken sich dieMikrotheorien hauptsächlich darauf, Entscheidungssituationen so zu modellieren, daßsie zu den Ergebnissen führen, die sich beobachten lassen. Man kann nicht wissen, obdie in den Modellen getroffenen Entscheidungen und Präferenzen der Realität entspre-chen. Deshalb können die Modelle nur nach der Konsistenz ihrer Argumentation undnach der Plausibilität der aus ihnen folgenden Schlüsse beurteilt werden.

Die mikrotheoretischen Ansätze sind keineswegs einheitlich. Sie unterscheiden sichgravierend in ihren theoretischen Prämissen. Es gibt Ansätze, die ihre Modellen miteinem deduktiv-nomologischen Anspruch konstruieren, und es gibt Ansätze, die voneinem solchen Erklärungsanspruch zurücktreten. Letztere wollen lediglich verstehen,wie es zu den Transformationen in Osteuropa kommen konnte und warum sich die Um-brüche meist friedlich vollzogen.Die Autoren, die einem deduktiv-nomologischen Anspruch folgen, beanspruchen fürihre Modelle den Status kausaler Gesetzmäßigkeiten. Um diesem Anspruch zu genügen,

Page 109: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 104

müssen sie formal-logische Kriterien einhalten, die hier einleitend kurz zusammenge-faßt werden sollen:Theorien, die Makrophänomene mit dem Handeln von Akteuren, ihren Präferenzen undMotiven zu erklären beanspruchen, lassen sich der Metakategorie „MethodologischerIndividualismus“ zuordnen. Diese Kategorie verweist auf einen theoretischen Anspruch,den Coleman mit seinem Konzept einer sozialwissenschaftlichen Erklärung - „...internalanalysis of system behavior“ (1990: 2f) - formuliert hat. Coleman stellt ein dreiteiligesParadigma für die Erklärung von Makrolevel-Phänomenen auf: Eine Theorie muß 1.)die Makro-Mikro-Transition, 2.) absichtsvolles Handeln der Individuen und 3.) die Mi-kro-Makro-Transition beinhalten.Esser (1993) leitet aus diesem Paradigma eine konkrete Operationalisierungsvorschriftfür die sozialwissenschaftliche Praxis ab. In einem ersten Erklärungsschritt muß dieLogik der Situation geklärt werden, d.h. die situativen Entscheidungsmöglichkeiten und-einschränkungen für die Akteure sind aufzuzeigen. In einem zweiten Erklärungsschrittmuß deutlich werden, nach welcher Logik bzw. mit welcher Orientierung die Akteureeine Strategie wählen. In der Selektionslogik liegt der eigentliche Theoriekern, weil sieauf die immanente Handlungstheorie der Erklärung verweist und somit die Prämissenfestsetzt, aus denen sich das Phänomen unter Angabe der Antezedensbedingungen (er-ster Erklärungsschritt) ableitet. Die Logik der Selektion wird als eine rationale Wahlmodelliert. Im dritten Schritt muß gezeigt werden, wie sich aus der Vielzahl der indivi-duellen Handlungen kollektive Folgen zusammensetzen; also nach welcher Logik sichdas kollektive Explanandum aggregiert. Auch dieser Schritt ist theoretisch sehr an-spruchsvoll, weil hier die verwendeten Konstruktionen - zum Beispiel spieltheoretischeModelle - und Mechanismen in Übereinstimmung mit den Dimensionen der Handlungs-theorie formuliert werden müssen, um ad hoc-Erklärungen zu vermeiden.Entgegen dem deduktiv-nomologischen Anspruch versuchen einige Autoren erst garnicht, Modelle zu entwickeln, die Innerelitenprozesse und die Mobilisierung der Massenallgemeingültig als Folge bestimmter Gesetzmäßigkeiten und rationalen Handelns er-klären. In einem bescheideneren Ansatz versuchen sie, die Dynamiken des Zusammen-bruchs auf der Akteurebene lediglich plausibel nachzuzeichnen (vgl. Colomer 1991,1995; Offe 1993, 1994; Przeworski 1991)33. Zu viele verschiedene Motive und Varia-blen bestimmen in ihrem Verständnis, wie Randbedingungen und Entscheidungsmög-lichkeiten wahrgenommen werden, welche Handlungsmotive sie stimulieren und überwelche Mechanismen sie sich zu einem strukturellen Ergebnis aggregieren. Die Trans-formation ist in dieser Perspektive zwar auch Ergebnis intentionalen Handelns. Nebenrationalen Motiven spielen aber auch nicht-rationale Motive wie moralische Erwägun-gen oder auch irrationale Entscheidungen einer Rolle.

33 Diese Ansätze werden auch als „Rational Choice-Marxismus“ (v. Beyme 1994) bezeichnet.

Page 110: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 105

Für die Transformationstheorie ist diese Unterscheidung auf zweierlei Weise relevant.Erstens stellt sich die Frage, welche Ansätze plausibler und theoretisch konsistenter dieDynamiken auf der Akteurebene erklären bzw. nachzeichnen. Und zweitens muß ge-klärt werden, welcher akteurtheoretische Ansatz eher geeignet ist, an die Beiträge derMakro- und Mesotheorien anzuschließen. Vor diesem Hintergrund werden im Folgen-den die mikrotheoretischen Ansätze vorgestellt.

Im ersten Abschnitt werden die Ansätze vorgestellt, die versuchen, alle politischen Ak-teure zu berücksichtigen. Drei Themen beherrschen die „Spekulationen“ über die Pro-zesse auf der Mikroebene, die für den Verlauf der Transformation richtungsweisendwaren. Dies sind 1. die entscheidungsrelevanten Akteure, 2. die Dynamik der Entschei-dungssequenzen und 3. die Strategien und Motive der Akteure. Es läßt sich zeigen, daßbestimmte Akteurskonstellationen und Strategien den Charakter des Zusammenbruchsbeeinflussen. Außerdem kann über eine Modellierung der aufeinanderfolgenden Ent-scheidungssituationen versucht werden zu klären, wie sich die Dynamik des Zusam-menbruchs denken läßt. Mit der Analyse der Motive politischer Akteure - die mit ihrenEntscheidungen oftmals Ergebnisse erzielten, die ihrem eigenen Interesse diametralentgegengesetzt sein mußten, aber den Wandel angestoßen haben - klärt sich die Frage,warum bestimmte Entscheidungen getroffen wurden.Im zweiten Abschnitt werden die Ansätze vorgestellt, die sich primär mit einem Akteur,der protestierenden „Öffentlichkeit“, auseinandersetzen. Die Öffentlichkeit wird dannzu einem politischen Akteur, wenn sie sich organisiert und mobilisiert. Eine oppositio-nelle, politische Öffentlichkeit wurde in den kommunistischen Staaten nicht toleriert.Dementsprechend gering war ihr Organisationsgrad. Zu einem politischen Faktor wurdedie Öffentlichkeit erst, als sie sich mit Protesten Gehör zu schaffen suchte. Die Protestehaben sich in unserer Erinnerung als Symbol für den friedlichen Umbruch (mit derAusnahme Rumäniens) etabliert. Welche Motive die Bürger auf die Straße getriebenhaben, beschäftigt die Untersuchungen zur öffentlichen Mobilisierung: Waren es ratio-nale Kalküle, normative Motive oder das Bedürfnis nach einem integeren Selbstbild?

3.1 Interaktionen politischer Akteure

Die Transformationen Osteuropas verliefen nach sehr unterschiedlichen Mustern. Daslag nicht nur an den spezifischen, strukturellen und institutionellen Regimeeigenschaf-ten, sondern auch an den spezifischen Akteurskonstellationen, innerhalb derer überkonkrete Änderungen entschieden wurde. Daher kann versucht werden, den Charakterder Transformation über die jeweils spezifische Kombination der Akteure mit der vonihnen gewählten Strategie der Umgestaltung zu begründen (Karl / Schmitter 1991): Re-

Page 111: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 106

krutieren sich die Schlüsselakteure aus den Massen oder aus den Reihen der Eliten?Welche Strategie verfolgen sie; Kompromißorientierung oder Druck („Force“)? DieKombinationen der Merkmale dieser dichotomisierenden Fragestellungen führen zueiner Matrix mit vier Idealtypen von Transformationen. Die Transformationsform, dieaus einer Übereinkunft, bei der innerhalb der Eliten ein Kompromiß gefunden wird,resultieren, bezeichnen Karl und Schmitter als „Pakt“. Werden von Eliten Machtmittelim Hinblick auf den Transformationsverlauf effektiv, d.h. erfolgreich gegen den Wider-stand aus ihren eigenen Reihen, eingesetzt, dann handelt es sich um eine „Imposition“.Führt eine Mobilisierung der Öffentlichkeit zum gewaltlos erzwungenen Kompromiß,dann liegt eine „Reform“ vor. Der massenhafte Zugriff auf Waffen mit dem Ergebnisdes militärischen Sieges über die ehemaligen autoritären Herrscher wird als „Revolu-tion“ bezeichnet. Pakt und Imposition lassen sich als Transformationen von „oben“ cha-rakterisieren, während sich Reform und Revolution aus dem Druck von „unten“ ent-wickeln. Mit der Wahl der Strategie des Übergangs von autoritären zu demokratischenSystemen „produzieren“ die Akteure die Transformation. Die möglichen Strategien lie-gen auf dem Kontinuum zwischen den idealtypisch definierten Extrempunkten „Kom-promißorientierung“ und „Druck“. Zwischen ihnen liegen eine Vielzahl von Strategien.Es kann z.B. auf Drohungen und Einschüchterungs- oder Unterstützungsmaßnahmenzurückgegriffen werden. Das Zuordnungsmerkmal der Akteure liegt bei der institutio-nalisierten Position, die sie innehaben. Wird die Richtung der Transformation von untenbestimmt, heißt das, daß sich die relevanten Akteure aus sozial untergeordneten Positio-nen rekrutieren. Wird von oben über den Verlauf entschieden, dann sind diejenigen dierelevanten Akteure, die schon eine bestimmte institutionalisierte, soziale Machtpositionbekleiden.Die mit den Idealtypen suggerierte Dichotomie entspricht natürlich nicht der Realität.Es vermischen sich oft Eliten und Nicht-Eliten in ihrem Wettbewerb um Einfluß auf denTransformationsverlauf. Allerdings kann diese Typologie sinnvolle Unterscheidungs-kriterien liefern, die es erlauben, die Transformationsverläufe Süd- und Mittelamerikasin den 80er Jahren und Südeuropas in den 70er Jahren (Spanien, Portugal und Grie-chenland) von der Transformation in Osteuropa zu unterscheiden. Nach Karl undSchmitter (1991) lagen die Transformationen in Osteuropa 1989/90 meist zwischen Im-position und Reform, was bedeutet, daß die zentralen Schachzüge der institutionellenÄnderungen von oben initiiert wurden. Außerdem kann für die meisten osteuropäischenStaaten trotz der Verhandlungen an den Runden Tischen (RT) mit Ausnahme Ungarnsund Polens nicht von einer Transformation durch Pakt ausgegangen werden (vgl. auchTeil II, Kapitel 4). Die Transformationen Lateinamerikas und Südeuropas hingegenfallen zum Großteil unter die Kategorie Pakt (vgl. Karl / Schmitter 1991: 281;O’Donnel / Schmitter 1986).

Page 112: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 107

Die von Karl und Schmitter entwickelten Kategorien bewähren sich als deskriptiveMerkmale von Transformationen und für ihre grobe Charakterisierung, nicht aber alsursächliche Erklärungen bestimmter Transformationsoptionen. Offen bleibt die für dieTransformationen Osteuropas wichtige Frage, aus welchem Grunde es in dem meistenLändern zu einem friedlichen Übergang kam.

Sowohl Imposition als auch Reform und Pakt bilden friedliche Formen des Übergangs.Sie werden entweder mit der Opposition oder zwischen Fraktionen der Elite ausgehan-delt. Alle drei Formen lassen sich deshalb unter dem Begriff des „Transitions byAgreement“ subsumieren. Für diese Formen liefert Colomer ein spieltheoretisches Er-klärungsmodell (1991, 1995)34:Akteure lassen sich nach ihren strategischen Orientierungen, die sich aus einer hierar-chischen Präferenzordnung der drei möglichen politischen Entwicklungen zusammen-setzen, typisieren. Dies sind a) die Präferenz für eine Fortsetzung der autoritären Regie-rungsform (Continuity), b) die Präferenz für eine moderate Reform (moderate reform)und c) die Präferenz für einen revolutionären Umbruch (Rupture). Die unterschiedli-chen Präferenzordnungen ergeben sich als Desiderate der politischen Geschichte derAkteure und der sozialen Struktur, in der sie eingebunden sind. Aus den möglichenKombinationen der Präferenzen lassen sich sechs Akteurtypen konstruieren, die sichnach dem Grad der Radikalität ihrer Einstellungen – von „Maximalisten“ bis „Graduali-sten“ – unterscheiden. Dies sind „Revolutionaries“ (1), „Rupturists“ (2), „Reformists“(3), „Openists“ (4), „Continuists“ (5) und „Involutionists“ (6).In der formalen, spieltheoretischen Analyse der Interaktionen dieser Akteurtypen inter-essieren besonders die Situationen, in denen:a) die „Maximalisten“, also „Revolutionaries“ (1) und „Involutionists“ (6) herausfallen

undb) keine der beteiligten Gruppen dominiert.

34 Colomer vertritt einen Rational Choice-Ansatz mit deduktivem Anspruch und bedient sich derSpieltheorie zur Modellierung komplexer Entscheidungssituationen, wie Verhandlungen (1995). Bei derAusformulierung der theoretischen Prämissen - und damit seines Erklärungsanspruchs - verfährt erausgesprochen vorsichtig. Die Transformation Spaniens Mitte bis Ende der siebziger Jahre dient zwar alsallgemeines, idealtypisches Erklärungsmodell – „The Spanish Model“ – für ausgehandelteSystemwechsel, dennoch bleibt der Erklärungsanspruch stark eingeschränkt. Colomer beansprucht nur einFragment der politischen Realität, nämlich die Phase zwischen der Liberalisierung und den ersten freienWahlen, zu erklären. Hier liegen die Grenzen der Allgemeingültigkeit seines Modells; es erhebt keinenAnspruch auf Ausschließlichkeit. Auch die Akteurprämissen werden von Colomer nicht reduktionistischeingeführt. Ganz im Sinne seiner prinzipiellen Offenheit für andere Erklärungsansätze begründet erausführlich, warum man in der von ihm untersuchten dynamischen Phase ein Primat strategischerOrientierung annehmen und unterstellen kann: Die große Unsicherheit in Situationen des politischenSystemwandels – die institutionellen Regeln des „Spiels“ ändern sich ständig – veranlassen die Akteure,in besonderem Maße einer strategischen Orientieren zu folgen. Die Schwächen oder sogar der Mangelinstitutioneller Constraints bilden eine Möglichkeit für Manipulationen und strategische Erwägungen impolitischen Interaktionsprozeß.

Page 113: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 108

Nur in diesen Situationen sind nicht-revolutionäre, ausgehandelte Umbrüche möglich.Die Interaktionssituationen bzw. Spiele, die über die Kooperation zu einer ausgehan-delten Transformation führen, modelliert Colomer mit den drei Matrixen, die in Abb. 1dargestellt sind.

Abbildung 1: Games of Transition by Agreement

Reformists OpenistsContinuists

R r C r Cr

C R RContinuists Rupturists Rupturists

r r r

Darstellung nach Colomer (1991: 1290).

Die Zellen beinhalten die für die jeweilige Interaktionskonstellation spezifischen Präfe-renzordnungen35. Die Zellen rechts unten zeigen die Gleichgewichtslösungen. Alle dreiSituationen zeichnen sich durch ein defizitäres Gleichgewicht aus, das sich durch Ko-operation verbessern ließe, wenn man – wie Colomer – den Akteuren eine langfristigeOrientierung unterstellt36. Um bei den Mitspielern die notwendigen bindenden Zusagenfür ein paretooptimales Gleichgewicht zu erreichen, bedarf es allerdings der Fähigkeit,glaubhafte Drohungen („threads“) auszusprechen. In seinen neueren Beiträgen zurTransformationsforschung fügt Colomer (vgl. 1995) dieser Kooperationsbedingung einezusätzliche, wichtige Dimension hinzu. Nicht nur die angedrohten Sanktionen erreichenein Commitment, sondern auch Kommunikation kann zu einem kooperativen Gleich-gewicht führen. Colomer führt diesen Punkt – leider – nicht weiter aus37.Mit diesem Modell gelingt es Colomer, zwei wichtige Aspekte zu beleuchten:

35 Die Akteure entscheiden sich in dem Modell nicht für eine der drei Alternativen „Continuity“, „reform“und „Rupture“, sondern für alternative Präferenzpaare und somit für Situationen, die durch die eigeneWahl und die Wahl des „Mitspielers“ definiert sind (vgl. für eine Übersicht der Präferenzordnungen:Colomer 1991: 1288).36 Anstatt des Konzepts „Nash-Equilibrium“ (vgl. Nash 1951, 1953), bei dem den AkteurenKurzsichtigkeit (miopia) unterstellt wird, sie sich also nur an unmittelbaren Konsequenzen der Wahlorientieren, verwendet Colomer das anspruchsvollere Gleichgewichtskonzept nach Brams, bei dem denAkteuren vorausschauende Handlungsorientierung und die Antizipation der Handlungen andererunterstellt wird (Colomer 1995).37 Wie entscheidend Kommunikation für den Verhandlungsverlauf sein kann, wird in dem Kapitel zu denVerhandlungen an den Runden Tischen deutlich (vgl. Teil II, Kapitel 4.3).

2 3 4 1

1 2 3 4

2 3 4 1

1 2 3 4

2 2 4 1

1 4 3 35

3 4

2 2

5

Page 114: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 109

Erstens kann gezeigt werden, welche Akteurkonstellationen kooperationsfähig sind.Damit werden wichtige Bedingungen für eine „Transition by Agreement“ angeben: Ei-nerseits sind Maximalisten nicht kooperationsfähig. Andererseits müssen die Akteurestrategische Positionen vertreten, die relativ weit auseinander liegen. Nur unter dieserBedingung läßt sich ein ausreichendes Abschreckungs- und Drohungspotential auf-rechterhalten, das die Defektion unterbindet; es können Massen mobilisiert bzw. repres-sive Maßnahmen angedroht werden.Zweitens kann diese Modellierung der Entscheidungssituationen Aufschluß über dieunterschiedliche Dynamik der Transformationsprozesse in den verschiedenen Länderngeben. Zwei der Spielsituationen für eine ausgehandelte Transformation (zwischen„Continuists“ und „Reformists“ sowie zwischen „Rupturists“ und „Openists“) haben ein„single-force-vulnerable equilibrium“38 (vgl. die Zellen rechts unten in Abb. 1). Mitihnen lassen sich Transformationen in den Ländern modellieren, in denen eine kontrol-lierte Öffnung des Systems stattfand, der eine Liberalisierungsphase vorausging wie beider Transformation in Polen und Ungarn. Initiiert wurde die Öffnung durch je eineGruppe, den „Openists“, denen in Polen die Regierungsmitglieder unter der FührungGeneral Jaruzelskis entsprachen; sie suchten den Dialog zur wiedererstarkten Gewerk-schaft Solidarnosc – den „Rupturists“. In Ungarn entsprach die Gruppe um den Gene-ralsekretär Karoly Grosz dem Präferenztyp „Openists“. Sie isolierte die Hardliner undkündigte bereits 1987 den Dialog mit der Opposition an, der letztlich zur Einführungeines Runden Tisches führte.Bei dem dritten Spiel, dem von „Rupturists“ und „Continuists“, handelt es sich um einechtes Prisoners‘ Dilemma39. Weil hier beide Seiten einen Anreiz zur Defektion haben,bedarf es einer schwierigen Synchronisierung der kooperationskonsolidierenden Dro-hungen und Abschreckungen. Diese instabilere Situation soll nach Colomer typisch seinfür ein politisches Setting, das durch ein Machtvakuum und einen plötzlichen Kollapsdes Systems gekennzeichnet ist. Dieser zweiten Gruppe - Ländern, die einer Defektionauf beiden Seiten der relevanten strategischen Akteure vorbeugen müssen und sich da-her plötzlicher und überraschender transformieren - entsprechen die DDR, Tschecho-slowakei, Bulgarien und Rumänien. In der Tat verliefen die Transformationsprozesse indiesen Ländern in einem schnelleren Tempo:„... Poland needed 10 years to rid itself of authoritarian communism, Hungary did it in10 Month, East Germany needed but ten weeks and Czechoslovakia just 10 days. (Itcould be added that a little over 10 hours was enough time for Rumania.) The truth is

38 Damit wird ausgedrückt, daß die Gefahr für die Gleichgewichtslösung nur von einer Seite ausgeht.Dies sind die Parteien, für die die Auszahlung in der Zelle rechts oben profitabler ist.39 Das Prisoners‘ Dilemma ist ein Zwei-Akteur-Positiv-Summenspiel, das durch ein instabilesGleichgewicht gekennzeichnet ist. Das optimale Ergebnis kann in einer einmaligenEntscheidungssequenz nicht erreicht werden, wenn die Akteure rein strategisch orientiert sind. Mitdiesem spieltheoretischen Modell lassen sich interdependente Entscheidungssituationen nachzeichnenund Lösungswege aufzeichnen (vgl. Ullmann-Margalit 1977; Gibbons 1992; Scharpf 1997).

Page 115: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 110

that something close to a sudden collapse of the regime took place in the fall of 1989 inthe rest of the countries of Eastern Europe after Poland and Hungary.” (Colomer 1991:1298).Mit dem Verweis auf die Spielsituation können mit Colomers Modell die Länder zwarentsprechend der Dynamik des Wandels unterschieden werden. Die Dynamik selbst istdamit aber nicht erklärt. Im Gegenteil, die Ausprägung der abhängigen Variable –„faster pace“ – wird als Zuweisungskriterium verwendet, mit dem die Länder unter ei-nem Modelltyp zusammengefaßt werden. Damit kann die Dynamik selbst nicht mehrExplanandum sein. Der Grund für dieses Defizit liegt bei den Prämissen des Modells:Es geht von feststehenden Präferenzen der Akteure aus und läßt daher unberücksichtigt,daß die Individuen, die diese Akteurposition einnehmen, eventuell abgelöst werden oderihre Strategien ändern. Diese Volatilität ist charakteristisch für Systemtransformationen;Allianzen basieren damit auf einer unsicheren Grundlage, und Individuen ändern ihrePosition40, weil sich die Bedingungen, unter denen Verhandlungen stattfinden, ständigändern.Eine statische Charakterisierung der Transformation geht an der Realität vorbei. Trans-formationsverläufe werden nicht, wie das Modell Colomer suggeriert, in einer einmali-gen Spielsituation entschieden. Sie werden in einer Reihe von aufeinanderfolgendenEntscheidungssequenzen gestaltet. Bei jeder Sequenz können sich die relevanten politi-schen Akteure und dementsprechend der Charakter der Verhandlungen gravierend än-dern.

In einem dynamischeren Modell dürfen die strategischen Position der Akteure deshalbnicht fixiert sein. Sie müssen sich mit dem Auftreten und der Wahrnehmung bestimmter„Signale“ (vgl. Przeworski 1986, 1991) ändern können. Als Signale können außenpoli-tischer Druck, der plötzliche Tod eines Regimführers, ökonomische Krisen oder sicher-lich auch die Verkündung einer „Sinatra-Doktrin“41 wirken. Aber auch der plötzlicheLegitimitätsverlust oder öffentliche Proteste können ein solches Signal sein und somitmittelbar auf den Transformationsverlauf hinwirken. Solche, während der Verhandlun-gen auftretende, Bedingungen wirken sich auf die Machkonstellationen sowie auf diePräferenzen und Strategien der Akteure aus. Damit wird die Transformation zu einempfadabhängigen Prozeß. Ein angemessenes Modell für diesen Prozeß muß die sich än-dernden Bedingungen in aufeinanderfolgenden Entscheidungssequenzen berücksichti-gen können.Przeworski (1991) hat ein der Dynamik des Transformationsprozesses angemessenesModell entwickelt. Für die Modellierung des ersten Entscheidungsschritts muß die

40 Vgl. für eine ähnliche Argumentation: Przeworski (1986).41 Gorbatschow verkündete 1989 bei den Feierlichkeiten zu 40. Jahrestag der DDR, daß sich die UdSSRnicht in die Angelegenheiten der anderen osteuropäischen Staaten einmischen werde. Diese Aussage wirdin Anlehnung an Frank Sinatras Song „My Way“ Sinatra-Doktrin genannt.

Page 116: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 111

Frage geklärt werden, wodurch es bei den Verhandlungen überhaupt zur Initiierung derTransformation kommen konnte. Die ausgehandelten Kompromisse, mit denen die Be-dingungen des Übergangs von der alten zu der neuen Regierungsform und institutio-nelle Änderungen festgelegt werden, bringen gravierende Risiken für die politischenAkteure.Demokratisierung ist „Unsicherheitsinstitutionalisierung“ (Przeworski 1986, 1988,1991): Die Macht ist in einer Demokratie nicht mehr einer bestimmten Gruppe zugäng-lich, sondern wird einem Regelset übertragen. Interessen können ex ante nur über denvorausgegangen Wettbewerb realisiert werden. Dieser Zustand wird von den Teilneh-mern an der Verhandlung über institutionelle Reformen antizipiert42. Und zwar wird erschon zu dem Zeitpunkt antizipiert, an dem die Entscheidungen bezüglich einer Libera-lisierung des Systems fallen, weil die Demokratisierung, d.h. die eigentliche Transfor-mation, nichts anderes darstellt als die wegen der Unsicherheit z.T. ungewünschte Fort-setzung vorangegangener politischer und/oder wirtschaftlicher Liberalisierung. Die fürdie Machthaber negativen distributiven Folgen der institutionellen Neuerungen werdenvon ihnen gegen die Vorteile einer Öffnung des Systems abgewogen. Der den Demo-kratisierungsverhandlungen vorgelagerte Schritt der Liberalisierung wird damit zu ei-nem strategischen Problem43. Wenn in den Reihen der Eliten mit Machteinbußen undmateriellen Verlusten gerechnet werden muß, dann schließt sich die Frage an, warumsie einen Schritt in die Richtung zunehmender Unsicherheit akzeptieren.Aus den Akteurs- und Interaktionskonstellationen44 ergibt sich ein Entscheidungspfadvon der Liberalisierung bis zur eventuellen Transformation, der von Przeworski spiel-theoretisch rekonstruiert wird (1991): Sehen die Liberalisierer die Möglichkeit derSystemöffnung, so ergeben sich für sie zwei Wahlmöglichkeiten in einer ersten Ent-scheidungssituation. Entweder sie beharren auf ihrer Position, d.h. der Status Quo derDiktatur bleibt bestehen, oder sie tolerieren autonome Organisationen. Nur wenn die

42 Diese Antizipation der Ergebnisse aufeinanderfolgender Entscheidungssequenzen lassen sichspieltheoretisch als Problem der „backward-induction“ modellieren (Gibbons 1992). In der ex postPerspektive können die entstandenen Gleichgewichte (Nash-equilibrium) so auf ihreEntstehungsgeschichte untersucht werden. Dabei stößt man zwangsläufig auf die Diskussion derrelevanten Akteurprämissen. Zeigt sich nämlich, daß mit dem spieltheoretischen Standartmodell desrationalen Akteurs die Kosten-Nutzen-Dimensionen nicht so verteilt gewesen sein können, daß sie überdie Maximierungsentscheidungen zu den Gleichgewichten führten, dann müssen andere Prämisseneingeführt werden. Genau das ist - wie gezeigt wird - die Argumentationslinie Przeworskis.43 „The strategic problem of transition is to get to democracy without being either killed by those whohave arms or starved by those who controll productive resouces. As this very formulation suggests, thepath to democracy is mined. And the final destination depends on the path. In most countries wheredemocracy has been established, it has turned out to be fragile. And in some countries, transitions havegotten stuck.“ (Przeworski 1991: 51).44 In Anlehnung an O’Donnell und Schmitter (1986) wird über den Verlauf der Transformation u.a.innerhalb der Eliten mit dem Diskurs zwischen Hardlinern und Liberalisierern entschieden. Innerhalb derOpposition ergeben sich die Strategien aus der Interessenvermittlung zwischen Moderaten und Radikalen.Vor diesem Hintergrund zweier sensibler Machtgleichgewichte werden in der Phase der LiberalisierungSchritte der Öffnung bzw. Massenmobilisierung erwogen und in der Phase der Demokratisierung dieVerhandlungen geführt.

Page 117: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 112

zweite Wahl getroffen wird und sich die gesellschaftlichen Kräfte in der vom Regimegewünschten Weise organisieren, dann ist das Liberalisierungsziel erreicht; die autori-täre Struktur der Diktatur ist gelockert. Organisieren sich die verschiedenen Kräfte derGesellschaft aber weitreichender als von den Liberalisierern gewünscht, ergibt sich fürdie Liberalisierer eine erneute Wahl. In dieser zweiten Entscheidungssituation könnensie einen Schritt zurück gehen - beispielsweise mit erneuten Repressionen die drohendeTransformation zur Demokratie vermeiden. Ein derartiger Schritt ist nicht nur für dieOpposition, sondern auch aus der Sicht der Liberalisierer kritisch, da bei erfolgreicherRepression oft eine „engere“ Politik die Folge ist; dann werden auch die Liberalisiererder Gnade der Hardliner ausgeliefert sein. Oder die Situation mündet in den allgemeinunerwünschten Zustand der Aufstandes.Wie kann es trotz dieses Dilemmas dazu kommen, daß Schritte in Richtung einer zu-nehmenden Liberalisierung unternommen werden? Przeworski schlägt verschiedeneEntscheidungspfade vor (1991):Die Liberalisierer müssen damit rechnen, daß die Opposition bei einer Öffnung ihrebesseren Möglichkeiten zur autonomen Organisation ausnutzt. Sie müssen daher auf dieWirksamkeit repressiver Maßnahmen vertrauen können. Das wissen die Oppositions-gruppen in dem rationalen Modell auch. Die Folge ist, daß die Transformation nichtzustandekommt, es sei denn, die Entscheidungen werden auf der Grundlage falscherAnnahmen getroffen. Bei den Liberalisierern könnte es sich um versteckte Demokrati-sierer handeln. Diese ihre eigentliche Präferenz müssen sie vor den Hardlineren ver-heimlichen können. Die Hardliner müßten dann eine Chance für die Verwirklichungihrer Interessen in der Liberalisierung sehen. Sie könnten versuchen, der Bevölkerungglaubhaft zu machen, daß die Liberalisierer eigentlich Demokratisierer (also „Verfas-sungsfeinde“) sind und so repressive Maßnahmen gegen die Liberalisierer gerechtfertigtund legitimiert durchführen, um eine härtere Diktatur durchzusetzen. Die Liberalisierermüssen also ihre tatsächliche Präferenz verheimlichen, damit die Hardliner Zugeständ-nisse machen, und gleichzeitig ihre wahre Präferenz der Öffentlichkeit signalisieren,damit diese sich weiter als Oppositionskraft organisiert. Plausibler als dieses Doppel-spiel ist ein anderer Weg, mit dem Przeworski zeigen kann, daß auch falsche Annahmenzur Transformation führen können. Hier muß die Bevölkerung die Wahrscheinlichkeiteiner erfolgreichen Repression geringer einschätzen als die Liberalisierer, und sie mußdiese Einschätzung auch für die Einschätzung der Elite halten. Angesichts der sich über-raschend stark organisierenden Öffentlichkeit schraubt die Elite dann tatsächlich ihreeigene Erfolgseinschätzung bezüglich des Gelingens einer Repression herunter, so daßsie ein Transformationsergebnis dem Ergebnis eines Repressionsversuchs vorzieht; dieEffektivität des Einsatzes von Waffen wird nicht mehr gesehen.Ein weiteres Szenario ist denkbar (Przeworski 1991): Im Laufe der Liberalisierung tre-ten die oppositionellen Kräfte in Form ihrer Agenten als konkrete Personen in Erschei-

Page 118: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 113

nung. Persönliche Kontakte können zwischen Angehörigen der Eliten und diesen Perso-nen etabliert werden, die mit dem Fortschreiten der Verhandlungen zu Annäherungenführen können45. In einer solchen Verhandlungsatmosphähre wird in der Transforma-tion nicht mehr ein Abgrund gesehen, und Repressionen erscheinen als unzivilisiert. DieLiberalisierer vollziehen eine endogene Präferenzenänderung hin zur Transformation46.Also eine Präferenzenänderung, bei der moralisch-normative Motive nicht ausgeschlos-sen, ja sogar wahrscheinlich sind.Oder vielleicht verhielt es sich so, daß dem Regime aufgrund seiner wirtschaftlich-poli-tischen Situation nichts anderes übrig blieb als sich zu öffnen, obwohl die öffentlicheMobilisierung nicht zurückgehalten werden kann. Es ist durchaus denkbar, daß sich ineiner solchen Situation Liberalisierer selbst zu der Annahme überreden, die Liberalisie-rung werde im Sinne einer gelockerten Diktatur erfolgreich sein47.Aus diesen drei Szenarien, die das Rätsel um die Initiierung der Transformation auflö-sen können, müssen Schlüsse für die Prämissen der Modellierung gezogen werden:Geht man davon aus, daß die Akteure rational handeln, dann muß man annehmen, daßsie ihre Entscheidungen auf der Grundlage falscher Information und falscher Einschät-zung der politischen Situation („misperception“) getroffen haben. Mit dieser Korrekturfindet eine signifikante Einschränkung des rationalen Akteurmodells statt. Ein alternati-ver Schluß besteht darin, daß man den Akteuren neben dem rationalen Motiv weitereMotive - wie normative und moralische Handlungsorientierung - als Entscheidungs-grundlage einräumt.Neben den anfänglichen Erwägungen der beteiligten Akteure spielen auch Kräftever-hältnisse und Machbalancen eine entscheidende Rolle für den Verhandlungsverlauf. DieKräfteverhältnisse zwischen Opposition und Elite, aber auch innerhalb der Elite - zwi-schen Hardlinern und Moderaten -, werden wesentlich über die öffentliche Mobilisie-rung mitbestimmt. Streiks und Proteste können die Innerelitenkohärenz stören und diestrategische Position der Akteure verändern (Przeworski 1988, 1991): Einmal bestimmtdie Mobilisierung über Tempo und Rhythmus der Transformation, denn zeigen sichöffentliche Aktionen, so wird das Regime zu einer Reaktion gedrängt. Darüber hinaushat die öffentliche Mobilisierung auch einen direkten Einfluß auf das politische Kräfte-verhältnis. Sie signalisiert den Liberalisierern in der Phase der Liberalisierung wie auchden Demokratisierern in der Phase der Demokratisierung externe Allianzmöglichkeiten,und das kann eine Stärkung der liberalen bzw. demokratischen Position durch die Er-

45 Ein schönes Beispiel für die Realität solcher Orientierungen ist die Reaktion des tschechischenPremieministers Adamec auf die den Einigunsprozeß hemmenden strategischen Verflechtungen in dervierten Runde des Runden Tisches am 5. Dezember 1989: „Adamec seemed to be drifting off: as if in adream, he remarked that there were much more interesting things to do, like sitting in a pub over a glassof beer with Havel...“ (Calda, 1996: 148).46 Warum eine solche Präferenzenänderung nicht-rational ist, wird ausführlich unter dem Stichwortadaptive Präferenzen in Elster (1983) analysiert.47 Zur Abweichung vom Rationalitätsmodell durch wishful-thinking vergleiche Elster (1989).

Page 119: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 114

weiterung der sozialen Basis bedeuten. Wird die Transformation zu einem späterenZeitpunkt unvermeidlich, wie es die Eigendynamik und der instabile Charakter der Li-beralisierung suggeriert, dann wird auf der Basis des neuen Kräfteverhältnisse um dieGestaltung der Institutionen gerungen. Die Kräfteverhältnisse innerhalb des Macht-blocks verschieben sich während der Liberalisierung und der Demokratisierungsver-handlungen ständig. Die Brüche im Machtblock werden sichtbar und signalisieren somitder Opposition Handlungsraum für politische Aktionen.Die Veränderung des Legitimitätsgrades des Regimes bei der Bevölkerung steht also ineinem sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis zur Innerelitenkohärenz, d.h. derLoyalität einzelner Machthaber und Agenten zu den Führungseliten. Hierin liegt einHinweis, auf welche Art und Weise die Delegitimierung zur Transformation beiträgt -und sie nicht etwa verursacht. Aus dem Grad der Delegitimität lassen sich keine Wahr-scheinlichkeiten für Umbrüche ableiten. Ein solcher Schluß widerspricht auch der Tat-sache, daß in vielen westlichen Industriestaaten relativ stabile soziale Verhältnisse vor-liegen, obwohl auch dort die Frustration über die politischen und ökonomischen Ver-hältnisse hoch ist. Bedrohlich wird die Delegitimierung erst, wenn sie sich in organi-sierter Form, z.B. als autonome Organisation, in dem Streben nach alternativen Visio-nen Ausdruck verschafft (Przeworski 1991). Alternativen treten vornehmlich dann inErscheinung, wenn sich Fraktionen innerhalb der Eliten bilden, die sich für liberalisie-rende Reformen stark machen, d.h. alternativen Konzepten Raum verschaffen. Loyali-tätsverfall und Legitimitätsverfall sind zwei sich gegenseitg beinflussende und verstär-kende Prozesse.„Hence, public mobilization and splits in the regime feed on each other.“ (Przeworski1991: 56)48.Mit diesem Ergebnis löst sich das theoretische Dilemma der Debatte um die Charakteri-sierung der Transformation als eine Transformation von oben oder als eine Transforma-tion von unten. Der Erklärungsgehalt einer solchen Charakterisierung tendiert gegenNull. Sie besitzt höchstens einen Informationsgehalt bezüglich der analytischen Per-spektive bzw. Präferenz des Autors.

48 Und weiter unten heißt es: „Indeed, the top-down and bottom-up models often compete to explainliberalizations.The reason for this analytical difficulties is that the model that simply distinguishes the two directions istoo crude. Short of real revolution - a mass uprising that leads to the disintegration of the apparatus ofrepression - decisions to liberalize combine elements from above and from below. For even in those caseswhere divisions in the authorian regime became visible well before any popular mobilization, thequestion is why the regime cracked at a particular moment. And part of the answer is always that theLiberalizers in the regime saw the possibility of an alliance with some forces that up to then had remainedunorganized, which implies that there was some force in the civil society with which to ally. Conversely,in the cases in which mass mobilization antedated visible splits in the regime, the question remains whythe regime decided not to repress it by force. Again, part of the answer is that the regime was devidedbetween Liberalizers and Hardliners. Liberalization is a result of an interaction between splits in theauthoritarian regime and autonomous organization of civil society.“ (Przeworski 1991: 57).

Page 120: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 115

Ein besonders anschauliches Beispiel für das Zusammenspiel von Loyalitäts- und Legi-timitätsverlust in eine unvorhergesehene und unbeabsichtigte Richtung, bildet die Ent-wicklung in der DDR.Die Verallgemeinerung von friedlichen Transformationsprozessen, die in den allgemei-nen Modellen Przeworskies und Colomers angelegt ist, setzt die Transformation derDDR den Transformationen in den anderen osteuropäischen Staaten gleich49. Sie er-scheint dann als eine bewußt ausgehandelte Transformation. Bei der Transformation derDDR handelt es sich aber um einen Sonderfall, bei dem nicht davon ausgegangen wer-den kann, daß der Zusammenbruch durch eine Annäherung von Opposition und Mach-telite ausgelöst wurde. Die herrschenden Eliten konnten nicht – wie in den anderenStaaten - als Akteure auftreten, sondern wurden mit dem Beitritt der DDR zum Staats-gebiet der BRD zu Zuschauern degradiert (vgl. Offe 1994). Einflußreich waren die Ak-teure, die das sinkende Boot verließen und damit ungewollt den Zusammenbruch derDDR heraufbeschworen. Ab dem Zeitpunkt der zunehmenden Abwanderung und desFalls der Mauer spielten dann zunehmend externe Akteure aus der BRD eine wichtige,gestaltende Rolle.Ausgangsbedingung für den Zusammenbruch war auch für die DDR der institutionelleKonstruktionsmangel: die mangelnde Selbstbeobachtungsfähigkeit. Damit fehlte es aninstitutionalisierter Wissens- und Handlungsrationalität. Der Konstruktionsmangelstellte sich als ein moralisches Defizit mit ökonomischen Folgen dar. Die DDR war, wiedie anderen osteuropäischen Regime, darauf angewiesen, seine Bürger einzusperren unddie Wahrnehmung politischer Rechte zu unterdrücken. Dennoch gab es einen gravie-renden historisch-kulturellen Unterschied, der eine zentrale Voraussetzung für die be-sondere Entwicklung der DDR Transformation bildete (Offe 1993, 1994): Die DDRstellte weder eine Nation noch einen staatlichen Verbund von Nationen, sondern nureine „Teilnation“ (Offe 1993: 283), dar. Anstatt auf nationale Legitimationskräfte beriefsich das Regime auf die „Antithese zur Vergangenheit“; auf das „politisch-moralischeSubstrat ‚antifaschistischer Staat‘“ (Offe 1994: 252). Dieses moralische Konstrukt warzwar Stabilitätsgarant, verbrauchte sich aber in der Realität des Alltags und konnte des-halb den zunehmenden Migrationsdruck nicht aufhalten. Allein die Repressionen ga-rantierten den Erhalt des realsozialistischen Wirtschaftssytems; planwidriges gesell-schaftliches Interesse konnte unterdrückt werden und Korruption unterbunden werden(Offe 1993). Der funktionierende Repressionsapparat wurde durch die Geschehnisse imJahre 1989, die dem Migrationsdruck ein Ventil öffneten, überfordert. Ungarn öffneteseine Grenzen und schuf damit die Möglichkeit, Repressionen mit der Wahrnehmungder Exit-Option aus dem Weg zu gehen - die „Produktivkraft Repression“ stand derDDR nicht mehr zur Verfügung (Offe 1993, 1994: 36). Das galt insbesondere nach der

49 Vgl. beispielsweise Colomer (1991: 1298).

Page 121: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 116

Aufkündigung der Breshnew-Doktrin durch Gorbatschow50. Vor dem Hintergund dieseraußenpolitischen Ereignisse konnte eine Volksbewegung entstehen, die selbst als eineschwache Opposition die Stabilität des Regimes bedrohte. Der Repressionsapparat ver-lor seine Bedeutung nicht durch eine liberale Öffnung oder einen inneren Zerfall derDDR - wie es die Anwendung des Modells von Przeworski nahelegen würde.Die „Revolution“ in der DDR war vielmehr eine Exit-Revolution (Offe 1993, 1994):Die individuelle Abwanderung mit dem Wunsch nach wirtschaftlichem Wohlstand undnicht etwa der politische Kampf um eine neue Ordnung zerstörte die Basis des Regimes.Das zeigt sich einerseits an der Bedeutungslosigkeit des Runden Tisches51 und anderer-seits an der im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten schwachen Opposition inder ehemaligen DDR. Auf indirektem Wege, über das private Handeln der Akteure,wurde das Regime zur Änderung bewegt52. Der moralisch anspruchsloseren Exit-Optionkommt nach Offe für die Transformation in der DDR das Primat gegenüber der mora-lisch anspruchsvolleren Voice-Option zu. Die Wahl der Voice-Option war nachgeord-net, wie die Entwicklung und Bedeutung der Bürgerbewegung in der DDR zeigte. Siekonnte sich erst mit einer weit vorangeschrittenen Schwächung des Regimes entwickelnund bezeugte mit ihrem frühen Untergang ihre Bedeutungslosigkeit53.Ein nicht beabsichtigter Effekt der Abwanderung war, daß sie die DDR zu einer „Kon-kursmasse“ degradierte, für die es einer politischen Lösung bedurfte. Die Lösung be-stand darin, daß BRD-Eliten die entscheidenden Akteure nach der vertraglichen Selbst-auflösung der DDR wurden (Offe 1993: 287).

Was sich bei Przeworski mit dem Konzept des „misperception“ bereits andeutet, radi-kalisiert sich in der Analyse Offes. Die Entwicklungen liefen in der DDR nicht nacheiner rationalen Planung von Akteuren. Akteure trafen zwar Entscheidungen. Die Ge-staltung des Transformationsprozesses sowie die kollektiven Folgen der Entscheidun-gen gerieten den politischen Akteuren aber außer Kontrolle. Der Grund dafür lag nichtnur in der besonderen historischen Situation der DDR, sondern auch in den Motiven derBevölkerung. In den anderen osteuropäischen Ländern entsprang die Transformation zueinem marktwirtschaftlich-demokratischen System dem Wunsch nach Souveränitätsge-winn. Im Falle der DDR hingegen wurde Souveränität abgetreten; anderen wurde dieEntscheidung über Um- und Neugestaltung überlassen.

50 Ein weiteres Kriterium für die Zurückhaltung der Führung war nach Offe das Negativbeispiel vomMassaker in China (1993: 292, 1994: 32). Mit dieser Interpretation steht Offe allein da. Verbreiteter istdie Einschätzung, daß die Erinnerung an das Massaker wie ein Damoklesschwert über derosteuropäischen Oppositionsbewegung hing (vgl. exemplarisch Goldstone 1994; Opp 1994).51 Vgl. auch aufschlußreich Preuss (1996).52 Die Transformation als kollektives Explanandum ist in dieser Perspektive unbeabsichtigte Folgeabsichtsvollen individuellen Handelns.53 Eine alternative Erklärung der politischen Marginalisierung der Oppositionsbewegung inOstdeutschland, die auf veränderte Kontextbedingungen nach dem Zusammenbruch und das politisch-kulturelle Erbe des Staatssozialismus verweist, gibt Kamenitsa (1998).

Page 122: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 117

3.2 Öffentliche Mobilisierung

Die Montagsdemonstrationen in Leipzig bilden in unserer Erinnerung ein Symbol fürden friedlichen Umbruch der kommunistischen Regierungen in Osteuropa. Dennochsollte die Bedeutung der Demonstrationen für den Transformationsprozeß mit Vorsichtbeurteilt werden. Bei der Lektüre der Analysen zum öffentlichen Protest entsteht oft-mals der Eindruck, daß der Zusammenbruch durch die Demonstrationen hervorgebrachtwurde. Prosch und Abraham (1991) beispielsweise sehen in der öffentlichen Mobilisie-rung die Ursache für die Demokratisierung und bedienen sich dementsprechend auchdes starken Wortes Revolution, um dem Prozeß ein signifikantes Etikett zu verpassen.Diese Einschätzung bestätigt zwar einen verbreiteten und durch die Medien vermitteltenEindruck, läßt aber die für den Beobachter im Dunkeln verlaufenen Innerelitenprozesseunberücksichtigt und widerspiegelt unter Umständen auch nur ein unkritisches, ver-klärtes Bild des politischen Engagements in den osteuropäischen Gesellschaften undbesonders in der DDR. Nach Offe (1994) folgte die Mobilisierung in der ehemaligenDDR der mehr oder weniger zufälligen Schwächung des Regimes54; der Umbruch wardaher eher eine Folge individueller isolierter Entscheidungen, die das Regime empfind-lich berührten, als Folge eines bewußten, kollektiven politischen Engagements. Offewill damit wohl nicht sagen, daß die Proteste keine Rolle in der Entwicklung gespielthaben. Er hebt lediglich hervor, daß die Schwächung des Regimes erst sehr weit voran-geschritten sein mußte, damit eine vergleichsweise schwache öffentliche Mobilisierungseinen Bestand bedrohen konnte55. Eine Entscheidung in der Frage, welche Bedeutungdie öffentliche Mobilisierung für den Zusammenbruch hatte, muß auch die Innereliten-prozesse berücksichtigen, die Proteste ermöglichten. Da diese Prozesse für den Beob-achter aber weitgehend undurchsichtig bleiben, wird sich die Frage nach der Bedeutungnicht sicher beantworten lassen.Wenn Proteste auch nicht immer eine primäre Rolle für den Umbruch eingenommenhaben, so haben sie doch mindestens einen mittelbaren Einfluß auf die Entwicklung.Politische Akteure können versuchen, die Bürgerbewegung nach ihren Interessen zuinstrumentalisieren. Unabhängig davon, ob ihnen das gelingt, sind sie gezwungen, aufdie Proteste zu reagieren. Die Reaktionen können sehr unterschiedlich ausfallen; in derDDR ließ man die Protestierenden weitgehend gewähren, während die Machthaber inChina ein Massaker veranstalteten. Diese Varianz in den Reaktionen auf die Proteste

54 Dazu, wie Transformationsprozesse auf revolutionäre Bewegungen wirken können, vgl. auch dieaufschlußreiche Untersuchung von Ryan (1994) zu den Entwicklungen in Guatemala und Venezuela.55 Ekiert (1996) bspw. stützt diese Argumentation mit Bezug auf andere osteuropäische Staaten. Nachihm konnten soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Potentiale wie in Ungarn derTschechoslowakei und in Polen von den Machthabern vor 1989 erfolgreich unterdrückt werden und dasSystem in seiner Stabilität nicht bedrohen, weil der Fragmentierungsgrad innerhalb der Eliten und derOrganisationsgrad der oppositionellen Akteure gering waren.

Page 123: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 118

war ausschlaggebend für den unterschiedlichen Verlauf der Transformationen. Die de-monstrierenden Teile der Bevölkerung bildeten somit einen Akteur neben anderen imTransformationsprozeß, auch wenn ihr Beitrag zum Zusammenbruch eher indirekt undnicht aktiv gestaltend war. Ungeachtet der Bedeutung, die man öffentlichem Protest fürdie Transformation zuschreibt, bildet er ein erklärungsbedürftiges Phänomen.Das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989 spielte für dieEntwicklung des öffentlichen Protestes in Osteuropa und insbesondere der DDR einemaßgebende Rolle. Das DDR-Regime solidarisierte sich mit den Vorgängen in Chinaund signalisierte somit den Demonstrationswilligen im eigenen Land Repressionsbereit-schaft.Derartige Randbedingungen machen das Zustandekommen öffentlichen Protests alsErklärungsgegenstand zu einer Herausforderung56, die sich in drei Abschnitte untertei-len läßt:Erstens muß zu erklären versucht werden, warum sich Akteure - je nach Interpretationder Logik der Situation - unter mehr oder weniger riskanten Bedingungen dazu ent-schieden, öffentlich zu protestieren. Zweitens muß deutlich werden, warum sich ausge-rechnet zu einem bestimmten Zeitpunkt genügend Bürger zu einem öffentlichen Protestentschlossen haben (so daß gerechtfertigterweise von öffentlicher Mobilisierung dieRede sein kann). Die dritte Herausforderung besteht darin, daß die Erklärung einenHinweis enthalten muß, der zeigt, unter welchen Bedingungen die öffentliche Mobili-sierung von der Aggregationsproblematik der Logik der kollektiven Handelns - imSinne Olsons (1968) - unbeeindruckt bleibt: Die Erklärung muß Motive aufweisen kön-nen, die die Akteure veranlassen, die Kosten einer repressiven Reaktion der Machthaberund des eventuellen Mißerfolgs ihres Engagements zu einem bestimmten historischenPunkt zu vernachlässigen. Da die „öffentliche Mobilisierung“ ein Kollektivgut ist, mußaus der Erklärung auch ersichtlich werden, warum die Option des „Trittbrettfahren“ fürdie Akteure nicht in Frage kam57.

Die Rolle der öffentlichen Mobilisierung für Transformationen läßt sich am deutlichstenam Beispiel der DDR untersuchen. Den Protesten in Leipzig, Berlin und Dresden wirdnicht nur eine entscheidende Rolle für den Zusammenbruch des Regimes zugewiesen,sie bilden auch den Fokus der meisten Untersuchungen zur öffentlichen Mobilisierungin den Transformationen Osteuropas.Konnten sich die Akteure allein auf der Grundlage rationaler Erwägungen für eine Teil-nahme am Protest entscheiden? Tietzel, Weber, Bode (1991) versuchen ein solches Mo- 56 Dieses Problem wurde als derartig zentral für das Verständnis der Transformation Osteuropas erachtet,daß die Zeitschrift „Rationality and Society“ eine Extraausgabe unter dem Titel „Rationality, Revolution,and 1989 in Eastern Europe“ (Vol. 6, 1994) herausgab.57 Pappi sieht in dieser „Kollektivgutproblematik“ sogar das Hauptproblem der Erklärungsversuche von„...revolutionären Ereignissen wie die Montagsdemonstrationen in Leipzig...“ (1995: 237). Vgl. außerdemdie klassische Studie zu Revolutionen von Tullock (1971).

Page 124: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 119

dell zu konstruieren. Sie modellieren für eine „ökonomische Analyse“ der sanften Re-volution einen rationalen Revolutionär, dessen Handlungslogik die des homo oeconomi-cus sein soll58. Allgemein erlaubt das Modell für das politische Handeln der Akteurevier alternative Strategien: Sie können erstens abwandern, zweitens widersprechen,drittens mitmachen oder viertens dulden. Die strukturellen Rahmenbedingungen er-laubten in der DDR bis 1989 die beiden ersten Optionen nicht. Am vierzigsten Jahrestagder DDR gibt Gorbatschow den Hinweis auf die Nichteinmischung der UdSSR in dieAngelegenheiten der anderen osteuropäischen Staaten („Sinatra-Doctrine“). Darin sehendie Autoren ein entscheidendes Signal für die Akteure: Die Bevölkerung mußte nichtmehr mit derselben Wahrscheinlichkeit darauf gefaßt sein, daß öffentliches Engagementdurch staatliche Repression negativ sanktioniert wird. Die Kosten für das Engagementin dieser neuen Situation wurden von den Akteuren neu kalkuliert und bewertet. DieOption Widerspruch rückte näher. Dann öffnete Ungarn - wohl auf Druck des IWFs -seine Grenze nach Österreich, womit auf dem Hintergrund der andauernden wirtschaft-lichen Schwäche und der damit verbundenen Unzufriedenheit mit privaten und kollekti-ven Gütern die zweite Strategie (Abwanderung) wieder Bestandteil des individuellenKalküls wurde. Dennoch, und das gilt in besonderem Maße für das als durchaus rigideeingestufte System der DDR, zögerten die Kosten-Nutzen abwägenden Akteure mit deröffentlichen Mobilisierung. Die DDR-Regierung signalisierte Einverständnis mit demMassaker auf dem Platz des himmlischen Friedens und strengte auch schon die Mobili-sierung seiner eigenen Truppen an. Das Gespenst einer sowjetischen Intervention wie inUngarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 schien zwar gebannt, dafür schien nundie DDR-Regierung aber zum Durchgreifen entschlossen. Der eigennutzorientiertehomo oeconomicus der Autoren mußte also mit der Teilnahme und mit der Initiierungder öffentlichen Bewegung hohe Kosten assoziieren. Es gab nicht nur die Gefahr re-pressiver Maßnahmen. Die Öffnung der ungarischen Grenze eröffnete für die DDR-Bürger die Alternative der Abwanderung und belastete somit die Teilnahmen am Protestzusätzlich mit Opportunitätskosten. Die Autoren erkennen diese Problematik und versu-chen, das sich aus ihr ergebene Puzzle mit dem folgenden Argument zu ordnen: Dassich nach einer Netzwerklogik generierende Motiv der moralischen Selbstverpflichtungverbunden mit den sich im Netzwerk generierenden Konventionen macht die „Revolu-tion“ über die öffentliche Mobilisierung möglich. Aus dem moralischen Motiv entstehtdie Initialkraft für die Mobilisierung, die jegliche Kosten ignoriert. Und die normativeOrientierung an den in den persönlichen Netzwerken gültigen Konventionen hält dieAkteure vom Trittbrettfahren ab, d.h. überwindet die sich insbesondere für die Logikder Selektion eines homo oeconomicus stellende Kollektivgutproblematik. Ist der Pro-test erst einmal initiiert, dann kann nach Tietzel, Weber, Bode die Zunahme der Beteili-gung über einen Dominoeffekt erklärt werden. Der Mechanismus beschreibt die Wahr- 58 Vgl. auch Tietzel und Weber (1994).

Page 125: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 120

nehmung steigender Erfolgswahrscheinlichkeiten bei zunehmendem Umfang der Betei-ligten. Diese optimistische Einschätzung der Wirkung des Protests beeinflußt das indi-viduelle Kalkül zugunsten der Protestbeteiligung.Diese Entscheidungssequenz ist nachvollziehbar, widerspricht aber den Prämissen desModells. Die Kollektivgutproblematik wird über die Integration modellfremder Varia-blen, wie moralischer Orientierung und normorientierten Handelns, die durch die Gel-tung von netzwerkgenerierten Konventionen angeregt werden, gelöst. Die als Initial-kraft wirkende „moralische Selbstverpflichtung“ verweist auf eine intrinsische Motiva-tion, die das ergebnisorientierte Kalkül des homo oeconomicus in Richtung einer Pro-zeßorientierung verbiegt. Solche Motive können durchaus eine Rolle gespielt haben.Der Umstand, daß sie bei der Anwendung des Modells berücksichtigt werden, bei derFormulierung der Prämissen aber unberücksichtigt bleiben, wirkt sich auf Kosten dertheoretischen Konsistenz aus und führt damit auf Kosten der Erklärungskraft zu theore-tischen Interferenzen.Auch erweiterte, nutzentheoretische Modelle verfangen sich in diesem Widerspruch.Prosch, Abraham (1991) beispielsweise versuchen mit der „subjektiv expected utilitytheory“ (kurz SEU-Theorie) den Protest über subjektiven Erwartungen zu modellieren.Sie weisen den beiden Alternativen Inaktivität und Protest einen Erwartungswert (wahr-scheinlicher Nutzen) zu, der die Grundlage für eine Entscheidung bildet. Protest wirddann als subjektiv nützlich bewertet, wenn er - zumindest in der Wahrnehmung derAkteure - zur Mitwirkung an dem Sturz der Regierung führt. Denn mit dem Macht-wechsel wird eine Veränderung der Versorgungslage (und insofern Selbstbegünstigung)assoziiert. Formulierte man allerdings den Regierungssturz allein als Nutzen des Pro-tests, würde das auf eine exklusive Ergebnisorientierung der Akteure verweisen, die dieöffentliche Mobilisierung am Kollektivgutproblem scheitern ließe. Das erkennen dieAutoren. Sie führen aus diesem Grunde ein Handlungsmotiv ein, das in dem Akt derBekennung zur ehrlichen, nämlich abweichenden politischen Meinung einen individu-ellen Nutzen identifiziert.Über einen Verstärkungseffekt - ähnlich dem Dominoeffekt bei Tietzel, Weber undBode - erklären die Autoren die Aggregation der schlagartig zunehmenden Beteiligungam Protest. Bei diesem Mechanismus werden die subjektiven Einschätzungen direktvon der Anzahl der Demonstranten beeinflußt. Daß dies nicht auf eine kontinuierlicheWeise erfolgt sondern ruckartig geschehen kann, erklärt die Konstruktion einer kriti-schen Masse (Threshold-Modell), der es bedarf, um die Erwartungswerte der Akteurezugunsten des Protests zu kippen, d.h. einen Wechsel der Präferenzen in Abhängigkeitder sich ändernden Rahmenbedingungen möglich zu machen.Mit der Veränderung der Rahmenbedingungen verändert sich die Präferenzstruktur, diedurch das Verhältnis vom Erwartungswert der Handlungsoption Inaktivität zum Erwar-tungswert der Protestbeteiligung gekennzeichnet ist. Im August / September 1989

Page 126: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 121

kommt es über Ungarn, Prag und Warschau als Reaktion auf die ungarische Grenzöff-nung zu einer Massenausreise von DDR-Bürgern. Die Autoren gehen davon aus, daßwegen dieses zunehmenden politischen Drucks und wegen der mangelnden außenpoliti-schen Solidarität in Moskau in der Wahrnehmung der Akteure die Wahrscheinlichkeitdes Sturzes der Regierung steigt. Es läßt sich aber plausibel argumentieren, daß dieAkteure die Möglichkeitsbedingungen als stark eingeschränkt einschätzten, weil sichdie DDR-Regierung nach dem Massaker offiziell mit dem chinesischen Regime solida-risierte und außerdem ihr Polizeiaufgebot massiv verstärkte. Diese Überlegung zur Be-stimmung relevanter Rahmenbedingungen („Constraints“) bleibt bei den Autoren unbe-rücksichtigt.Problematischer als die ungeklärte Interpretation der Constraints ist für das Modell aberder folgende Umstand: Die Autoren nutzen die SEU-Theorie explizit in Anlehnung andas von Lindenberg entwickelte Handlungsmodell. Lindenbergs Modell folgt wiederumder von Gary Becker aufgestellten Präferenztypologie (vgl. Lindenberg 1990). In dieserTypologie werden universelle Präferenzen, die sich in den Bedürfnissen nach physi-schem Wohlbefinden (physical wellbeing) und sozialer Anerkennung (social approval)ausdrücken, als anthropologische Konstanten eingeführt. Alle anderen Präferenzenrichten sich auf die Erfüllung dieser Motive und sind insofern instrumentell. In Linden-bergs constraint-driven-Ansatz stellen sie die kontextspezifischen - also die den Rah-menbedingungen angepaßten - Mittel zur „Produktion“ des Ziels dar. In diesem Sinnewäre die von Prosch und Abraham hervorgehobene Bekenntnis zu einer abweichendenpolitischen Meinung vielleicht eine Variable in der Produktionsfunktion, die sich aufdie Verwirklichung des universellen Ziels der sozialen Anerkennung richtet. Soll aufdiese Weise argumentiert werden, dann liegt die Erklärungslast auf den Constraints; inihnen muß der Hinweis darauf liegen, warum Protest eine wichtige Präferenz der Ak-teure wird. Teilt man die Einschätzung der Autoren bezüglich der abgeschwächten Be-drohung durch repressive Maßnahmen, dann verbleibt immer noch im Dunkeln die Lö-sung der Frage, warum die demonstrierenden Menschen nicht abwanderten bzw. in wel-cher Form die durch diese Option entstehenden Opportunitätskosten die Entscheidungfür die Option Protest beeinflußten. Teilt man die Einschätzung bezüglich derRepressionswahrscheinlichkeit nicht, dann bleibt eine andere Frage in dem Modell derAutoren ungelöst, nämlich die, warum die Akteure dem Protest zuvor fernblieben.Gegen diese Argumentation ließe sich einwenden, daß die Logik der Aggregation mitder SEU-Modellierung eines Schwellenwertes konsistent geklärt werden kann. Esserunternimmt einen solchen Schritt (1993: 77f): Er argumentiert, daß die individuelleTeilnahme von der Anzahl der anderen Demonstranten abhängt. Die individuellenSchwellenwerte variieren und sind bei den „Pionieren einer sozialen Bewegung“ amniedrigsten; sie demonstrieren auch bei hohem Risiko und mit bescheidenen Erfolgs-erwartungen und initiieren somit den Aggregationsprozeß. Solche „moralisch gesonne-

Page 127: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 122

nen Menschen“ (Esser 1993: 80) haben nicht nur die Mobilisierung in Leipzig, sondernauch in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968 ausgelöst und koordiniert.Essers Erklärung bedarf also zweier unterschiedlicher Akteurstypen mit unterschiedli-chen „unmittelbaren“ Motiven: Einerseits einer moralischen Orientierung und anderer-seits der Eigennutz- oder ökonomischen Orientierung. Daß sich große Gruppen wie dieProtestbewegungen aus unterschiedlich motivierten Akteuren zusammensetzen, istplausibel. Ein theoretisches Problem bleibt trotzdem bestehen: Werden den einzelnenAkteuren auch nicht unbedingt verschiedene Motive unterstellt, so wird doch ein Ak-teurtyp entworfen, der einerseits eine Schlüsselstellung einnimmt, andererseits aber ausdem Modell fällt. Der moralisch gesonnene Mensch kommt in der SEU-Theorie nichtvor. Wir lernen vielleicht etwas über den Zuwachs an Demonstrierenden. Aus welchenMotiven heraus der Protest entstehen konnte, verbleibt aber weiterhin ungeklärt.

Die theoretische Inkonsistenz bestätigt sich auch in empirischen Untersuchungen. Opp,der einen ähnlichen theoretischen Standpunkt wie Prosch und Abraham sowie Esservertritt (SEU-Theorie), unterzieht die Hypothesen bzw. Variablen zur öffentlichen Mo-bilisierung einer empirischen Überprüfung (1990). Mit den Ergebnissen dieser Untersu-chung zeigt sich, welche Dimensionen und individuellen Motive für die Mobilisierungder Akteure eine wichtige Rolle gespielt haben und welche weniger ausschlaggebendwaren.In seinem Erklärungsmodell wird der Protest ebenfalls als Kollektivgutproblematik ope-rationalisiert (Opp 1990, 1991, 1993). Wie in dem SEU-Modell sind es die unvollstän-dig informierten Akteure, die ihre Ziele entsprechend ihrer Präferenzen und subjektivzugeordneten Wahrscheinlichkeiten unter den externen situativen Restriktionen bzw.Möglichkeiten zu maximieren suchen. Darüber hinaus werden bei Opp die Präferenzenauch von internalisierten Normen geprägt; die Normbefolgung stellt ein eigenständigesMotiv dar. Dieses Modell steht für eine weite Fassung des nutzenorientierten Handelns.Die Nutzenorientierung beschreibt nur die Folgerichtigkeit des Handelns und ist nichtauf einen Nutzentypus - wie den instrumentellen Nutzen des homo oeconomicus -fixiert.Aus den Handlungsmotiven leitet Opp vier Variablen für das Zustandekommen des po-litischen Protests ab: Erstens beeinflußt die politische Unzufriedenheit (gewichtet mitdem subjektiv wahrgenommenen Einfluß) die Entscheidung (1). Zweitens wird von derErwartung negativer staatlicher Sanktionen über die so entstehenden Risiken und Ko-sten ein Einfluß auf die Beteiligung erwartet (2). Drittens beeinflussen die internalisier-ten Normen verbunden mit der Erwartung der Bezugspersonen (3) und viertens eineintrinsische Motivation (4) das Handeln.Eine intrinsische Motivation verbucht die Kosten der Beteiligung (die bei einer Ergeb-nisoreintierung erwogen werden) über die Prozeßorientierung auf der Nutzenseite. Un-

Page 128: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 123

ter diesen Umständen verliert der politische Protest, formuliert als Kollektivgutproble-matik, seine Problematik59. Opp verfängt sich nicht in diesem Dilemma60, da er zwardie Logik des kollektiven Handelns als Aggregationsproblematik anerkennt, dabei aberbesonders die Wirkung selektiver Anreize hervorhebt. Selektive Anreize müssen nachOpp im Gegensatz zu Olsons Theorie des Kollektiven Handelns (1968) nicht nur externverteilt werden, sondern können auch als interne selektive Anreize wirken. Und zwarunter der Bedingung, daß ein entscheidender Einfluß der eigenen Handlung vermutetwird, wenn man die Erwartungen der Bezugspersonen erfüllt und wenn sich mit derHandlung selbst eine Befriedigung einstellt (die Variablen 1, 3 und 4 stimuliert wer-den).In Opps Vorstellung aggregieren sich die isoliert voneinander getroffenen Entscheidun-gen über ein „spontanes Koordinationsmodell“. Die Akteure entscheiden sich nach die-sem Modell für die gleiche Handlung, weil sie sich in der gleichen Situation befinden.Als ein weiterer wichtiger Kontext für die Mobilisierung der Bürger werden die Netz-werke genannt. In diesen Zirkeln erwächst die Erwartung, daß die Partizipation unter-stützt wird.Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, daß genau die Variablen, die aus dem Kerndes SEU-Erklärungsmodells nicht folgen, den größten Teil der Varianz erklären; diessind die mit der wahrgenommenen Einflußmöglichkeit gewichtete Unzufriedenheit unddie intrinsische Motivation. Die nutzentheoretisch unkomplizierte Variable der Erwar-tung negativer Sanktionen erklärt die Varianz so gut wie gar nicht. Das Netzwerkkon-zept kann nicht als logische Verlängerung des Rational Choice-Modells aufgefaßt wer-den. Die Normbewertung ist daher nicht als eigenständiges Motiv mit den Ausprägun-gen gutes und schlechtes Gewissen konsistent in das Erklärungsmodell integrierbar.

Für eine konsistente Darstellung der Proteste bedarf es also eines Modells, das über diereine Eigennutzenorientierung hinaus andere Motive integrieren kann. Ein solche Inte-gration leistet das Exit-, Voice- und Loyaltymodell von Hirschman (1972, 1993). Mitdem Exit- und Voice-Mechanismus beschreibt Hirschman folgende Logik: EmpfindenKonsumenten oder Mitglieder einer Organisation Enttäuschung bezüglich der Qualitätder Güter oder Dienstleistungen, dann bieten sich ihnen generell zwei Möglichkeiten,darauf zu reagieren. Entweder sie wählen die Option Exit, wandern ab, was auf indi-rektem Wege die Organisation zu Verbesserung drängen kann61. Oder sie wählen dieOption Voice, d.h. widersprechen oder protestieren - meist mit der Absicht einer direk-ten Qualitätsverbesserung. Die beiden Umgangsweisen mit der Unzufriedenheit unter-

59 Vgl. hierzu auch Hirschman (1988) und Jordan (1996).60 Um ein Dilemma handelt es sich natürlich nur in dem Fall, daß das Besondere der Proteste in derÜberwindung der Kollektivgutproblematik gesehen wird, also wenn man danach fragt, wie es möglichwar, daß strategisch kalkulierende Akteure sich an einer solchen scheinbar riskanten Aktion beteiligten.61 Nämlich als unbeabsichtigte Folge absichtsvollen Handelns.

Page 129: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 124

scheiden sich aber nicht nur in ihrer Wirkungsweise, sondern auch in ihrem Charakter.Voice ist kostenintensiver als Exit und verlangt, um etwas zu bewirken, oft nach kol-lektivem Handeln. Insofern handelt es sich bei den Entscheidungen für die OptionVoice um individuelle Beiträge zur Herstellung eines öffentlichen Gutes, mit all seinerProblematik (Olson 1968). Die Exit Option hingegen verfolgt ein individuelles Ziel undrichtet sich somit nur auf die Herstellung eines privaten Gutes.Neben diesen ergebnisorientierten Motiven wird das Handeln von einem weiteren Fak-tor bestimmt: der Loyalität. Ihr liegt ein Gefühl zugrunde, das in der Art eines Elastizi-tätsfaktors die rein mechanistische Umwandlung von Unzufriedenheit in Exit oderVoice irritiert. Das Gefühl der Verbundenheit mit der Organisation zögert Exit bzw.Voice bis zu einer bestimmten Schwelle hinaus. Ab diesem kritischen Punkt tendierendie loyalen Mitglieder dahin, ihrer Unzufriedenheit besonders kräftigen Ausdruck inVoice zu verschaffen, während die weniger loyalen eher Exit wählen.Die über das Loyalitätskonzept eingeführte Toleranz steht für die Dehnungs- und Stau-chungsfunktion des Hydraulikmodells, mit dem Hirschman die Plötzlichkeit und Hef-tigkeit von Exit und Voice Aktionen erklärt. Konstitutiert sich die Logik der Situationals eine Verschlechterung, kann das einen Unzufriedenheitsdruck verursachen, der inVoice oder Exit kanalisiert wird. Je mehr Druck dabei in Exit mündet, desto wenigerDruck ist für Voice verfügbar. Voice und Exit stehen in dem Modell also in einemdisproportionalen Austauschverhältnis, für das Hirschman die Metapher einer Wippe(seesaw-modell) wählt. Das Verhältnis kippt allerdings dann, wenn sich beobachtenläßt, daß die beiden Optionen miteinander kollaborieren, d.h. wenn sie sich - wie in derDDR 1989 - gegenseitig verstärken, also in eine positive Beziehung zueinander treten.Damit ist das Modell für einen ganz entscheidenden Erklärungsschritt geöffnet: EinMehr an Exit kann über die positive Verstärkungsbeziehung gelegentlich mehr Partizi-pation an Voice-Aktionen erklären. Und das Adjektiv „gelegentlich“ weist hier auf dieConstraints; ändern sich die Rahmenbedingungen, so daß beispielsweise mehr Exitmöglich wird, dann kann sich daraus eine Situation ergeben, in der sich die Akteureihrer neuen Wahl bewußt werden und evtl. das Bedürfnis verspüren, die ganze Breitedieser neuen Diskretion auszuschöpfen; Voice wird stärker.Für die konkreten Entwicklungen in Osteuropa gibt Hirschman mit diesem Modell ei-nen fruchtbaren Hinweis für die Erklärung des unterschiedlichen Charakters der Trans-formation in der DDR einerseits und der anderen osteuropäischen Staaten andererseits:Nach dem gewaltsamen Abbruch der Abwanderung durch den Mauerbau 1961 blieb dieHoffnung auf Exit erhalten und wurde auch - selbst wenn nur symbolisch - massenhaftüber das Westfernsehen vollzogen. Als die Bedingungen für die Exit-Option sich erneut1989 mit der Grenzöffnung in Ungarn änderten, wurde verstärkt mit Exit und Voice

Page 130: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 125

reagiert62. In der Durchführbarkeit der Exit-Option und den direkten Hindernissen derVoice-Option liegt Hirschmans Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung der DDRzu Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. In der Tat gab es in den drei letztgenann-ten Ländern nie eine Exit-Option, wie in der DDR. Weder tatsächlich, wie bis 1961 undnach der Grenzöffnung 1989, noch symbolisch63 konnte ein Leben in einem anderenpolitischen und ökonomischen System gewählt werden. Der aufgebaute Druck mußtesich dort also über andere Kanäle entladen: in Polen über die Streiks der DanzigerWerftarbeiter, die von der Gewerkschaft Solidarnosc organisiert wurden und bis zurAnerkennung der Gewerkschaft im August 1980 führten (Voice); in der Tschechoslo-wakei über die politischen Reformbemühungen bis zur sowjetischen Intervention imPrager Frühling 1968, und über die zunehmende Radikalisierung der Bürger auf denStraßen der Städte und der Streikbereitschaft der desintegrierenden Gewerkschaften1989; in Ungarn über den Versuch einer liberalen Erneuerung bis zur blutigen Nieder-schlagung des „Ungarnaufstandes“ 1956, und über die spektakulären Demonstrationenund Sit-Ins, die 1988 von oppositionellen Gruppen zur Erinnerung an die Geschehnisseund Opfer (Imre Nagy) der Niederschlagung organisiert wurden.Was in dem Modell Hirschmans ungeklärt bleibt, ist die Frage, wie sich das privateHandeln in öffentliche Aktionen verwandelt und wie sich die individuellen Beiträge zudem kollektiven Gut Protest aggregieren. Ein Ansatz für die Aggregationslogik liegt indem Hinweis, daß privates Handeln über die Medien öffentliche Berücksichtigung fin-det und somit Voice-Charakter gewinnt. Dieser Hinweis wird von Lohmann aufgegrif-fen und mit einer Extension des Modells ausgeführt.Lohmanns erweitertes Modell geht von der Interdependenz der Konsumentenentschei-dungen aus (1994): Individuelle Handlungen können unter ähnlichen Bedingungen ge-genseitig verstärkend wirken und zu einem kollektiven Phänomen aggregieren. Demon-strationen stellen in diesem Modell „Informationskaskaden“ dar, denen Lohmann eineSchlüsselrolle für den Kollaps eines Regimes zuweist (speziell gilt das für die DDR1989). Dahinter steckt folgende Idee: werden die Beschwerden (Voice) der Konsumen-ten öffentlich, so gewinnen sie für die anderen Konsumenten die Bedeutung einesStichworts oder Signals („informational cue“). Sie ziehen auf der Grundlage des Signalsweitere Schlußfolgerungen über die Qualität des Produktes, was über die Wahl zwi-schen den Handlungsoptionen Exit oder Voice mitentscheidet. Lohmann modelliert da-mit eine Aggregation in zwei Schritten: Zuerst wird in einem „signaling-game“ Infor- 62 Bei der Übertragung des Exit-, Voice- und Loyalitymodells auf die Transformation der DDR bleibt vonHirschman unberücksichtigt, daß die Exitoption durchaus mit hohen Kosten belastet ist. Anders als derVerzicht auf eine Dienstleistung, läßt sich der Verzicht auf das Leben im gewohnten Umfeld schlechtersetzen und ist daher oft schmerzhaft.63 Symbolisch wurde die Exit-Option in DDR zwischen 1961 und 1989 über das Westfernsehenwahrgenommen. Den Bürgern boten sich über dieses Medium Identifikationsmuster mit ihrenkapitalistischen Nachbarn an, deren oft beneidenswerte Lebenswelt tagtäglich präsentiert wurde. In einemUmfeld sich beschleunigender Veränderungen liegt es dann nahe, daß die Chance zur politischenInteressenartikulation vermehrt wahrgenommen wird.

Page 131: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 126

mation über den Zustand der Welt von Sendern den Empfängern übermittelt. Die Wahlzwischen den beiden Optionen Exit und Voice wird dann in einem zweiten Schritt miteinem „benefit-cost-approach“ erklärt. Das Kosten-Nutzen-Modell soll in diesem Zu-sammenhang nur darauf verweisen, daß die Akteure systematisch auf einen Wechsel derAnreizstrukturen reagieren. Die individuellen Entscheidungen bleiben sozial eingebettetund von persönlichen Netzwerken beeinflußt. Damit hängt der Nutzen - auf den derBegriff „benefit“ verweist - des Einzelnen nicht nur von den politischen Bedingungenund der individuellen Entscheidung, sondern auch von den Beziehungen zum Umfeldab.Mit dem Kaskade-Mechanismus kann die Umwandlung von Enttäuschung, also einerprivaten Disposition, in das öffentliche Gut Protest problemlos modelliert werden. DieDynamik der Informationskaskade generiert sich endogen durch die Mitteilung über dieÄnderungen des Beteiligungsumfangs am Protest. Das Kollektivgutproblem sieht Loh-mann mit den Implikationen der Interdependenz der Entscheidungen gelöst: Das ko-stenintensive politische Handeln wird von den Akteuren als Herstellung von Informa-tion interpretiert. Sie schätzen ihre Handlung als potentiell ausschlaggebend für dieHandlungen anderer ein. Somit geht der Beitrag der einzelnen Handlung auf dem Hin-tergrund der anderen Beiträge nicht ins Bedeutungslose, Nichtrationale über. JedeHandlung kann einen entscheidenden Einfluß auf die politische Entwicklung gewinnen,da jede Handlung das Potential hat, eine Informationskaskade auszulösen.Ein entscheidender Vorteil des Modells liegt darin, daß es die Interpretation des allge-meinen politischen Klimas (der Constraints) als bestimmt vom Repressionswillen derRegimes vermeidet. Denn es informiert darüber, daß ungeachtet einer solchen Einschät-zung die Festlegung des Grades der Repression durch das Status Quo Regime ambiva-lent ist. Von jeder Aktion kann ein Signal ausgehen, das - sowohl bei Durchsetzung alsauch beim Nachgeben der Regimes - die Assoziation des Legitimitätsverlustes und derUnsicherheit der Machthaber transportiert und so eine Informationskaskade auslöst.

In den Modellen von Hirschman und Lohmann ist für die Logik der Selektion, also fürdie individuelle Entscheidungsorientierung, neben der Eigennutzorientierung immerauch - mindestens gleichberechtigt - die individuelle Orientierung an einer kollektivenIdentität Einflußfaktor der Handlungsentscheidung. Hierin gehen sie eindeutig über dieeinfachen, eindimensionalen Akteurmodelle der ökonomischen Theorie hinaus. BeiLohmann sind die Entscheidungen explizit in sozialen Netzwerken eingebettet, und diesich auf diese Weise bildenden kollektive Identitäten und Gemeinschaftsgefühle drüc-ken sich bei Hirschman in dem Konzept der Loyalität aus64. Mit diesen Faktoren kön-nen die Modelle zusätzlich zu der Relevanz der Änderungen externer Variablen (unzu-friedenstellende ökonomische Situation, Entwicklungen in der Sowjetunion und China, 64 Vgl. für eine ähnliche Einschätzung auch Pfaff (1996).

Page 132: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 127

die Rolle der Medien u.a.m.) auf endogene Mechanismen der Handlungsorientierung(Interdependenz der individuellen Handlungen, auch derer, die außerhalb der unmittel-baren Erreichbarkeit in sozialen Netzwerken stehen) weisen. Das macht die Überra-schung über die Entwicklungen verständlich; externe Faktoren und politische Variablendeterminieren nicht den Gang der Geschichte in mechanistischer Weise, sondern wer-den intern nach einer schwer zu durchschauenden, weil multikausalen, Logik übersetzt.Das kann in der Perspektive, die mit der rationalen Orientierung der Akteure eindeutigequasi-kausale Wirkungsmachanismen aufstellen will, zu Paradoxien führen: VerschärfteRepressionen können die öffentliche Mobilisierung couragieren und somit die Opposi-tion stärken, obwohl sie ungünstig auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis wirken. Ein weite-rer Vorteil der Exit-, Voice- und Loyalitymodelle ist, daß sie einen Ansatz für die Erklä-rung der unterschiedlichen Entwicklung der DDR einerseits und der anderen osteuro-päischen Länder andererseits bieten; ein Schritt, den man bei anderen Beiträgen vermißtund der für die Robustheit des Modells steht.

Die Öffnung des Akteurmodells kann noch über den Verweis auf die aus inter-individu-ellen Variablen folgenden Handlungsorientierungen hinausgehen. Di Palma (1991) undKuran (1991) verorten die Dynamiken des Wandels in intra-personalen Dispositionen.Auf diesem Wege lassen sich Entwicklungen erklären, die in ihrer Spontaneität undHeftigkeit über das Maß, das sich mit inter-individueller Solidarität und Vertrauenser-wartung verstehen läßt, hinausgehen. Individuelles Engagement gewinnt auch jenseitsder Erwartungs- und Unterstützungshandlungen des sozialen Umfeldes an Bedeutung.Isolierte, die öffentliche Mobilisierung initiierende Handlungen werden so erklärbar65,d.h. es muß nicht auf wenig überzeugende, weil inhaltsleere, Hilfskonstruktionen wie„moralische Selbstverpflichtung“ und „Helden der Revolution“ (Tietzel / Weber / Bode1991; Esser 1993) zurückgegriffen werden.Di Palma stellt die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Erfahrungen mit den realsoziali-stischen Regimen als persönliche Wiederentdeckung der öffentlichen Würde und desöffentlichen Raumes dar (1991): Der Akt der Zurückweisung des Regimes bildet einenAkt der Katharsis bei dem das verlorene Selbstbewußtsein wiedergewonnen wird.Freeriding bildet insofern kein Problem für die Aggregation, als die Wiederentdeckungdes öffentlichen Selbsts einen klar definierten, intrinsischen Nutzen birgt. Krisen sindein willkommener Anlaß, die Verwirklichung dieses kognitiven Ziels mit der Auflösungder in kommunistischen Regimen impliziten Antagonismen wahrzunehmen.Die Verbindung von exogenen, strukturellen und institutionellen Einflüssen mit endo-genen bzw. individuellen Reaktionen stellt Di Palma über den Begriff der Legitimität

65 Dies ist ein vielleicht wichtiger Erklärungsschritt, der von Hirschman und Lohmann unberücksichtigtbleibt, aber auch von Kuran und Di Palma so nicht formuliert wird. Eine Erklärung der öffentlichenMobilisierung, die Vollständigkeit beansprucht, sollte aber auch die Handlungsmotive der „Anstifter“ zurErstellung des kollektiven Gutes integrieren (vgl. dazu ausführlich Elster 1989).

Page 133: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 128

her. In ihm liegt der Schlüssel für die Transformation. Nach Di Palma (1991) ist Legi-timität in kommunistischen Systemen axiomatisch. Das bedeutet, daß die Gesellschaftzur Wahrheit erzogen werden muß und daß das Konzept der Civil Society keine Be-deutung hat. Für die Legitimität ist damit die entscheidende Beziehung nicht die vonHerrscher und Beherrschten, sondern die Beziehung von Herrschern und ihrer Admini-stration (also eigentlich Loyalität). In Anlehnung an Weber66 argumentiert Di Palma,daß die Legitimität kraft Mythos mit der Routinierung abnimmt. Das führt dazu, daßsich Paternalismus durchsetzt und sich zeitgleich durch den Wettbewerb mit dem We-sten Antagonismen bilden. Mit der paternalistischen Erziehung zur Wahrheit angesichtsder sich dramatisierenden inneren und globalen Realitäten und der daraus entstehendenLeistungsanforderungen wird die Lüge als kognitiver Triumph des Totalitärs zu Wahr-heit. Die Bevölkerung mit ihren einzelnen, individuellen Bedürfnissen nach einem öf-fentlichen Selbst reagiert auf die Antagonismen mit der Bildung einer zweiten Gesell-schaft, in der die Wahrheit kommuniziert wird und aus der heraus Reaktionen auf Kri-sen geboren werden.Dieser im Zusammenhang mit der Transformation neue Hinweis auf die spannnungsrei-che Verbindung von Systemeigenschaften und individuellen kognitiven Dissonanzen istnicht nur vor dem Hintergrund des totalitären Charakters vieler ehemals kommunisti-scher Regime plausibel, sondern auch ausbaufähig. Kuran zeigt, daß mit einem solchenAnsatz eine gute - weil sparsame und präzise - Erklärung für das Zustandekommen öf-fentlicher Mobilisierung möglich ist, die gleichzeitig die Unmöglichkeit der Vorhersageeiner solchen Entwicklung veranschaulicht.Kuran (1991) modelliert für sein Erklärungsmodell, das dem Modell Di Palmas ähnlichist, einen Akteur mit privaten und öffentlichen Präferenzen: Private Präferenzen sind ineiner bestimmten historischen Situation fixiert, öffentliche Präferenzen hingegen stehenunter der Kontrolle des Akteurs. Das psychologische Wohlbefinden der Akteure ist indiesem Konzept abhängig von der Mischung und Übereinstimmung der beiden Präfe-renztypen. Unterscheiden sie sich, dann stellt sich eine „Preference-Falsification“ ein.Ein solcher dissonanter Zustand stellt einen Autonomieverlust dar, der mit psychologi-schen Kosten belastet ist. Stimmen die Präferenzen überein, ist die Integrität der Per-sönlichkeit hergestellt, und ein psychologischer Nutzen realisiert sich darin, zu sichselbst ehrlich zu sein. Die öffentlichen Präferenzen hängen von den privaten Präferen-zen ab, sind aber auch interdependent, d.h. - ganz im Sinne Lohmanns - abhängig vonder Größe der Opposition. Kuran konstruiert ein Schwellenmodell, in dem die Aggre-gation öffentlicher Präferenzen zu einer echten öffentlichen Mobilisierung über zweiWege erreicht werden kann: Entweder wächst die öffentliche Opposition bei fixen pri-vaten Präferenzen bis zu einem Punkt, an dem die externen Kosten der Beteiligung ander Opposition hinter die internen Kosten der „Preference Falsification“ fallen oder die 66 Vgl. Weber (1972: 142f).

Page 134: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 129

privaten Präferenzen variieren. Damit bekommen alle Faktoren, die die internen oderexternen Kosten bzw. Nutzen beeinflussen, einen Einfluß auf die jeweiligen individu-ellen revolutionären Schwellenwerte.Die Annahme der individuell variierenden Schwellen für die Beteiligung an der öffent-lichen Mobilisierungen führt zu einer schlüssigen (und auch weit rezipierten) Aggrega-tionslogik. Mit den individuellen Schwellensequenzen einer Gesellschaft entstehenGleichgewichte, die sowohl sehr unempfindlich als auch sehr empfindlich für geringeConstraint- und Präferenzänderungen (externe und interne Kosten-Nutzen-Verteilun-gen) sein können. Kuran zeigt mit simplen spieltheoretischen Mitteln, wie je nach Ver-teilung der revolutionären Schwellen („revolutionary thresholds“) über den Band-wagon-Mechanismus67 explosive Oppositionszuwächse entstehen oder auch nicht. Esläßt sich mit dem Mechanismus außerdem zeigen, daß eine verbreitete Unzufriedenheitnoch kein hinreichendes Kriterium für revolutionäres Engagement ist. Die beiden ent-scheidenden Variablen für das Zustandekommen der öffentlichen Mobilisierung sindvielmehr die vorab existierende Verteilung der Schwellen und die Veränderung dieserSchwellen. In ihnen sind Makro- und Mikrovariablen integriert, und insofern kannKuran beanspruchen, daß sein Konzept individualistische und strukturalistische Ansätzeintegriert; beide Perspektiven beschreiben die ausschlaggebenden Bedingungen dergleichen Geschichte.Kurans Modell führt - wie auch Di Palmas Modell - zu der Schlußfolgerung, daß kon-kret für kommunistische Regime unter den strukturellen Bedingungen a) der „Lüge“ („Iam Cain and I am Abel“), b) der katalysierenden Anstöße durch die Entwicklung in dersowjetischen Außenpolitik („Sinatra Doctrine“) und c) der Abweichungen im Esta-blishment die Last der Mobilisierung eines politischen Veränderungsprozesses bei demindividuellen Bedürfnis liegt, zu sich ehrlich zu sein bzw. den intra-personalen Konfliktzu lösen.

3.3 Zusammenfassung

Die Widersprüche, die sich aus den strukturellen Defiziten ergeben und zu einer Schwä-chung des Systems führen, können Zweifel an eingefahrenen Handlungsroutinen auf-kommen lassen. Dann geraten die starren Herrschaftsstrukturen in Bewegung. UnterUmständen wird über institutionelle Änderungen nachgedacht. In dieser neuen Dyna-mik weitet sich der Entscheidungsspielraum für die Akteure. Mit der zunehmendenDiskretion individueller Handlungen verlieren Strukturen und Institutionen an direktemEinfluß auf den Transformationsprozeß, etwa im Sinne einer Eigenlogik. Verlauf und 67 Der Bandwagon-Mechanismus beschreibt einen Mitläufereffekt, bei dem sich einzelne dem Handelnoder der Meinung einer Majorität anschließen, weil sie glauben, damit erfolgreicher zu sein (vgl. zudiesem Mechanismus auch Coleman 1990).

Page 135: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 130

Ausgang der Transformation folgen nicht mehr nur strukturellen Gesetzmäßigkeitenoder institutionellen Mechanismen. Sie werden vielmehr in z.T. komplizierten Abstim-mungsprozessen hinter verschlossenen Türen von Akteuren gestaltet.Mit Akteurtheorien kann dennoch versucht werden, die Ungewißheit des Verlaufs undAusgangs der Transformation in diesen dynamischen Prozessen mit einer Modellierungvon Entscheidungssequenzen der Akteure zu überwinden. Hier gibt es prinzipiell zweiunterschiedliche Möglichkeiten:1. Entweder geht man davon aus, daß mit der im Transformationsprozeß zunehmendöffentlich verlaufenden Kommunikation die Erfassung der Präferenzen und Ziele derpolitischen Akteure möglich wird. Unter dieser Voraussetzung - des abnehmenden In-formationsmangels - lassen sich die Motive der beteiligten Akteure spiel- und tauscht-heoretisch zu konkreten Verhandlungsergebnissen modellieren (Pappi 1995); dieHandlungen der Akteure sind nicht mehr unvorhersehbar.Gegen diesen erklärungstheoretischen Optimismus lassen sich allerdings starke Argu-mente anführen: Der Transformationsprozeß ist gerade dadurch gekennzeichnet, daßweitreichende Entscheidungen unter geringer Information getroffen werden (vgl. Bos1994). Es gibt immer externe unvorhersehbare Variablen, die die Entscheidungen beein-flussen, und oft ist nicht einmal ersichtlich, wer die Entscheidung für die Strategiewahltrifft, da die Innerelitenprozesse für den externen Beobachter weitgehend undurch-schaubar bleiben. Auch die Äußerungen, die in der öffentlichen Debatte fallen, könnennicht ohne weiteres als Grundlage für Annahmen über die tatsächlichen Präferenzen undZiele der Akteure gelten. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß Informationenoft mit strategischem bias vorgebracht werden:„If people behave strategically in pursuit in their interests, they also emit messages inthis way.“ (Przeworski, 1991: 17).2. Eine andere Möglichkeit besteht darin, auf der Grundlage von Akteursmodellen dieEntscheidungssequenzen theoretisch zu modellieren, so daß sich der Charakter und Pro-zeß des Zusammenbruchs plausibel nachvollziehen lassen. Diese Möglichkeit wird demUmstand gerecht, daß wir über die tatsächlichen Interessen bzw. Präferenzen der Ak-teure unter den undurchsichtigen Bedingungen strategischer Spiele nur spekulierenkönnen68. Einerseits kann mit dem Modell der Prozeß nachvollzogen werden, d.h. dieEntscheidungsschritte werden theoretisch begleitet. Andererseits kann die Frage nachden Möglichkeitsbedingungen einer Transformation zur Demokratie und dem Abbauder Autoritätsmacht beantwortet werden. Auf diesem Wege wird deutlich, welche Stra-tegien und Motive in kritischen Situationen entscheidend für die Bestandsgefährdungdes alten Regimes und für die Neugestaltung der Autoritätsstruktur sein können. Der 68 Pappi bezeichnet dieses Vorgehen als „Gedankenexperimente in der doppelten Form“, weil in solchenModellen 1. die Präferenzen und Interessen der Akteure und 2. die Akteurskonstelationen ohneempirischen Bezug gesetzt werden (1995: 238). Diese Setzung ist hier mit Spekulation gemeint.

Page 136: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 131

Prozeß der Transformation muß nicht als ein Verlauf willkürlicher Entscheidungen ge-sehen werden. Selbst dann nicht, wenn die Entscheidungsprozesse für den Beobachterundurchsichtig bleiben. Entscheidungssequenzen können nachgezeichnet werden:Schlüsselakteure lassen sich typisieren (vgl. O’Donnell / Schmitter 1986) und zentraleInteraktionen benennen (vgl. Huntington 1991-92). Theorien und Modelle des dynami-schen Systemwandels können auf der Mikoebene der Akteurstheorien entwickelt wer-den.Diese zweite Möglichkeit wird in der Regel von den Ansätzen gewählt, die sich mit denMikroprozessen der Transformation auseinandersetzen. Eine Ausnahme bilden die Un-tersuchungen zur öffentlichen Mobilisierung. Hier sind die Präferenzen und Strategienöffentlich und deshalb auch nicht strategisch verzerrt. Spekuliert wird dennoch: Dieindividuellen Motive und die Wahrnehmung der Situation sind für den Beobachterweitgehend undurchsichtig. Deshalb werden für die Klärung der wichtigen Frage, wiees zum öffentlichen Protest kommen konnte - ähnlich wie bei der Modellierung derVerhandlungsprozesse - Modelle verwendet, deren Beitrag zum Verständnis des Phä-nomens Protest primär nach Plausibilitätsgründen beurteilt werden muß.

Bei der Modellierung der Entscheidungen, die von den politischen Akteuren getroffenwerden, zeigt sich, daß sich die Art bzw. der Charakter des Zusammenbruchs nicht auseiner singulären Entscheidungssituation ergibt. Solche statischen Modelle, wie sie vonKarl und Schmitter sowie Colomer entwickelt wurden, werden der Dynamik der Um-bruchprozesse nicht gerecht. Vielmehr handelt es sich um sukzessive Entscheidungssi-tuationen. Nach jeder Sequenz können sich die Strategien der Akteure ändern, weil siesich an die neu geschaffene Situation anpassen müssen, in der sich Ausgangsbedingun-gen und Machtverhältnisse geändert haben können. Przeworskis dynamisches Modellzeigt, daß die Akteure oftmals nicht in der Lage sind, die Änderung der Ausgangsbe-dingungen korrekt zu antizipieren. Ungewollt verschieben sich die Machverhältnissederart, daß beispielsweise die Öffentlichkeit als wichtiger politischer Akteur auftritt undMachtressourcen für Teile der Eliten schwinden. Im Extremfall der DDR führt der sichgegenseitig verstärkende Prozeß von Loyalitätsverlust und Legitimitätsverlust sogar soweit, daß die eigenen Eliten und die Bevölkerung zu Zuschauern „degradiert“ wurden.Externe Eliten übernahmen die „Abwicklung“ des alten Regimes und dessen Umbau.Solche Ergebnisse zeigen, daß nicht nur rationale Motive und Entscheidungen zum Zu-sammenbruch führten. Eine verzerrte Wahrnehmung der reellen Möglichkeiten und un-begründete Hoffnungen veranlaßten Entscheidungen, die zu Ergebnissen führten, die sovon den politischen Akteuren nicht gewollt sein konnten.Mit der Modellierung der Entscheidungssequenzen läßt sich also nachzeichnen, wie eszu diesen unbeabsichtigten Folgen individueller Entscheidungen kommen konnte. Wennein Ergebnis der Modellierung aber ist, daß in den Entscheidungen nicht primär eine

Page 137: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 132

rationale Umsetzung der Möglichkeitsbedingungen gesehen werden kann, die Möglich-keiten vielmehr falsch wahrgenommen werden, dann werden mit diesen Modellen Vor-hersagen unmöglich. Wie soll der Erfolg strategischer Lügen und Mißverständnissevorhergesehen werden? Und ebensowenig sind ein endogener Präferenzenwandel undirrationale Anwandlungen - wie Wunschdenken - kalkulierbar69. Die Leistung der Mo-delle beschränkt sich deshalb darauf, zum Verständnis der Prozesse beizutragen, ein„retrospektives Erklärungsmodell“ (Colomer 1991) zu liefern. Przeworski (1986, 1991)akzeptiert diese Einschränkung. Er will mit seinem Modell explizit keine Vorhersagentreffen, sondern beansprucht, nur Entscheidungsschritte zu modellieren, die zur Libera-lisierung und zum Zusammenbruch führen können. Er zeigt, wie Korrekturen an demrationalen Handlungsmodell und die Einführung alternativer Handlungsorientierungendie Entscheidungsmotive bei den Verhandlungen erklärend begleiten70 können. SolcheKorrekturen durch die Integration realistischerer Annahmen über Handlungsmotive zei-gen dann auch, warum die Prozesse so wie sie verliefen weder vorhergesehen noch ge-plant waren.

Eine ähnliche Einschränkung des Erklärungsanspruchs findet sich bei den Analysen zuröffentlichen Mobilisierung.Die Beiträge zu den Protestbewegungen unterscheiden sich auf allen zentralen Erklä-rungsstufen voneinander: Es wird mit Handlungsdimensionen gearbeitet, die vom theo-retisch sparsam konstruierten, eindimensionalen Akteur bis zum mehrdimensionalenSelbst reichen. Die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen bzw. Varia-blen der individuellen Möglichkeitsbedingungen werden unterschiedlich bewertet71 unddie Aggregation der vielen individuellen Handlungen zu kollektiven Ergebnissen wirdunterschiedlich modelliert. Demnach unterscheiden sich die Beiträge nicht nur in derQualität ihrer Erklärungsmodelle, sondern auch in dem an sich selbst gestellten Erklä-rungsanspruch.Für die Diskussion, welche Motive für die Beteiligung am öffentlichen Protest aus-schlaggebend waren, bildet die Einschätzung der Gefahr repressiver Reaktionen einewichtige Rolle. Hier unterscheiden sich die Urteile der Autoren. Einige sehen in demMassaker am Platz des himmlischen Friedens in China und der öffentlichen Solidarisie-rung der DDR-Führung mit der Führung in Peking eine zunehmende Bedrohung, die dieDDR-Bevölkerung hat wahrnehmen müssen. Andere Autoren betrachten die Verkün- 69 Wenn Wünsche die Annahmen und die Informationsselektion der Wahrnehmung bestimmen, kannkeine Interessenabwägung auf dem Hintergrund der Möglichkeitsbedingungen nachvollzogen werden.70 „Bounded rationality“ (Simon 1954) ist eine solche Korrektur. Mit diesem Konzept läßt sichmisperception integrieren.71 Ganz besonders auffällig wird die Differenz, die sich auf die Einschätzung der Wahrscheinlichkeitrepressiver Reaktionen des DDR-Regimes auf die Montagsdemonstrationen in Leipzig bezieht. Zum Teilwird die Teilnahme an den Demonstrationen als eine Handlung unter extremem Risiko für daspersönliche Wohl gesehen. An anderer Stelle findet sich dem entgegen die Einschätzung, daß dieAbwesenheit eines solchen Risikos die Demonstrationsbereitschaft erklärt.

Page 138: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 133

dung der „Sinatra-Doctrin“ als ein Signal für die Bevölkerung, die historische Chancezum Regimewandel gefahrlos in die eigene Hand zu nehmen. Wie die Signale tatsäch-lich gedeutet wurden, läßt sich im Nachhinein schlecht klären. Festzuhalten bleibt aber,daß eine rationale Motivation, die mit dem Protest eine Verbesserung der politischenund ökonomischen Situation verband, nicht ausreicht, um das Ausmaß der öffentlichenMobilisierung zu klären, selbst dann, wenn öffentliches Engagement gefahrlos hättewahrgenommen werden können. Die Erklärung scheitert an der Kollektivgutproblema-tik. Realistischer scheint zudem die Einschätzung, daß von den Protestierenden mit Re-pressionen gerechnet wurde, was für ausschließlich eigennutzorientierte Akteure einweiterer Grund sein mußte, den Demonstrationen fern zu bleiben. Andere, nicht-ratio-nale Motive, wie die Orientierung an den sozialen Normen der persönlichen Netzwerkeoder das Bedürfnis nach einem integeren privaten und öffentlichen Selbstbild, müssenhier gewirkt haben72.Dies hat Auswirkungen auf den Erklärungsanspruch der Modelle zur öffentlichen Mo-bilisierung. Würde es sich bei der Teilnahme am Protest um eine rationale Reaktion aufbestimmte historisch-strukturelle Voraussetzungen handeln, dann ließe sich der Protestvoraussehen. Handeln die Akteure aber auf der Grundlage unterschiedlicher Motive,dann lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung schlecht einschätzen bzw. vorhersa-gen. Hirschmans und Lohmanns Modelle beispielsweise zeigen, daß bei einer be-stimmten Motivlage die verstärkte Erwartung von Repressionen gerade zur öffentlichenMobilisierung führen können, obwohl dies aus rationalen Erwägungen nicht plausibelist. Der „Preis“ für eine realitätsnähere Modellierung der Entscheidungen, die zu denProtesten führten und damit für ein besseres Verständnis, besteht also in diesem zurück-genommenen Erklärungsanspruch.

72 Allerdings muß der heroischen Vereitelung des Prozesses - und das gilt insbesondere für Analysen undKommentare zur Transformation in der DDR - mit Vorsicht begegnet werden. Ist ex post eineDemokratisierung zu beobachten, dann kann man ihr Zustandekommen zwar erklären, muß damit aberkeineswegs geklärt haben, ob die Demokratie ex ante überhaupt das primäre Ziel der Bevölkerung war.Paradoxerweise vermischen sich besonders bei den Erklärungsversuchen, die nahe an einemökonomischen Kosten-Nutzen-Konzept argumentieren (d.h. eigennutz- und ergebnisorientierteMotivation als grundlegende Motive unterstellen), die Unterschiede von einer Verbesserung derindividuellen Versorgungslage und einer Demokratisierung. Wurde nämlich das Kosten-Nutzen-Kalkülfür die Beteiligung am Protest von der antizipierten Verbesserung des individuellen Zugangs zumateriellen Gütern mitbestimmt, ist das nur nach konventionell-konstruierten Maßstäben eine Option fürDemokratie. Wie weit die Realität von diesem Maßstab abweichen kann, zeigen die rege Diskussion überdie Konsolidierungsschwierigkeiten der Demokratie, das unmittelbare Einschlafen derBürgerbewegungen nach 1989 und die z.T. zu beobachtende regressive Tendenz in postkommunistischenGesellschaften. Auf diesem Hintergrund läßt sich die Transformation nur schwer als eine Veränderungverstehen, die dadurch zustande kam, daß sich individuelle Unzufriedenheit über die Verteidigung undüber den Kampf für eine moralische Wahrheit (die sich etwa in der Demokratie verkörpert) löste. DieUnzufriedenheit scheint vielmehr immer auch eine materielle Unzufriedenheit gewesen zu sein, für diedie Herstellung des öffentlichen Gutes „Protest“ nur ein Zwischenstadium zur Erreichung einesmateriellen persönlichen Gutes darstellt, was naiv mit dem politischen Zustand Demokratie assoziiertwurde.

Page 139: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 134

Zusammenfassend gilt, daß sowohl bei der Modellierung der politischen Entschei-dungsituationen als auch bei den Modellen, die die öffentliche Mobilisierung zum Ge-genstand haben, ein deduktiv-nomologischer Anspruch nicht aufrechterhalten werdenkann. Das liegt daran, daß der Kern der Modelle, nämlich die Handlungstheorie, vonmulti-motivationalen Akteursprämissen ausgehen muß. Die Akteure treffen ihre Ent-scheidungen nicht nur nach Maßgabe rationaler, sondern auch nicht-rationaler und sogarirrationaler Motive. Welche Motive unter welchen Bedingungen für eine Entscheidungmaßgeblich sind, läßt sich nur schwer bestimmen73.Der Vorteil von Modellen, die von mehreren Akteurmotiven ausgehen, liegt nicht nur ineiner realitätsnäheren Modellierung der politischen Interaktionen und des öffentlichenProtests. Sie öffnen die Mikroansätze für einen Anschluß an Makro- und Mesotheorien.Strukturelle und institutionelle Bedingungen wirken nicht nur als Constraints auf dasAkteurshandeln, wie von den rationalistischen Konzepten unterstellt. Sie wirken auchüber ihre symbolische und kulturelle Dimensionen, die in Sozialisierungsprozessenvermittelt werden, auf die Präferenzenbildung der Akteure. Akteure folgen Handlungs-routinen demzufolge auch aus internalisierten, meist unreflektierten Motiven, d.h. ausMotiven, die nicht ergebnisorientiert sind - wie z.B. normative und moralische Orientie-rungen. Derartige nicht-rationale Motive gehören zum Handlungsrepertoire der Akteurein einem multi-motivationalen Ansatz. Die verschiedenen Handlungsmotive bilden ne-ben dem Verweis auf die Constraints eine weitere Schnittstelle für den Anschluß anMeso- und Makrotheorien.

73 Ließe sich angeben, daß unter bestimmten Bedingungen ein Motiv vorherrscht, dann könnte versuchtwerden, von einem einfachen Modell Vorhersagen zu deduzieren. Colomer (1991) versucht dies. DerVersuch scheitert jedoch, weil der öffentliche Protest ein Phänomen war, zu dessen Erscheinungverschiedene Motive beigetragen haben müssen.

Page 140: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 135

4. Die Verhandlungen an den Runden Tischen: Ein Modellentwurf

Die mikrotheoretischen Ansätze gehen davon aus, daß Akteure eine Chance hatten, aufdie Entwicklung im Transformationsprozeß einzuwirken. Konkrete Entscheidungenwurden gefällt zur Liberalisierung, Öffnung und zur Überführung der autoritären Re-gime in demokratische Regime. Die Relevanz von Entscheidungen einzelner oder kol-lektiver Akteure (vertreten durch Agenten) wird besonders in den Ländern deutlich, indenen zwischen Opposition und Machtelite der Übergang zur Demokratie und zumarktwirtschaftlichen Strukturen ausgehandelt wurde. In Ungarn, der DDR, Bulgarien,Polen und der Tschechoslowakei entschieden Verhandlungsführer an Runden Tischenüber die verfassungsmäßigen Fragen einer Neugestaltung der sozialen Ordnung. Wielassen sich diese Vorgänge in einer theoretischen Untersuchung der Transformations-prozesse berücksichtigen? Nach welcher Maßgabe entschieden und handelten die Ak-teure?Die Runden Tische wurden z.T. unter extremen Bedingungen eingerichtet. Es trafennicht nur die Interessen neuer oder alter, oft verbotener Oppositionsgruppen auf die In-teressen der Parteibosse und der Nomenklatura. Es standen sich - wie in Polen und derTschechoslowakei - sozusagen Peiniger und Gepeinigte gegenüber. Nach einer langenTradition der Unterdrückung und Kontrolle von kritischen Stimmen konnten diese Zu-sammentreffen keine unbelasteten Situationen mehr sein. Trotzdem kam es in den mei-sten Fällen zu Einigungen und kooperativen Arrangements, die über weitreichende Ver-änderungen zu einer friedlichen Transformation führten. Das bestätigt einerseits, daß inder Phase des institutionellen Umbaus die Entscheidungen individueller und kollektiverAkteure für den Verlauf und den Ausgang des Wandels bestimmend waren. Anderer-seits schließt sich die Frage an, welche Motive und Entscheidungen der Akteure einerfriedlichen Entwicklung unter den schwierigen Bedingungen Ende der 80er Jahre denWeg ebneten.In der Transformationsliteratur gibt es kaum Versuche, die Entscheidungsprozesse deram Umbau beteiligten Akteure theoretisch aufzuarbeiten74. Hier soll nun versucht wer-den, dem Verständnis der Entscheidungsprozesse und damit des Transformationspro-zesses theoretisch ein Stück näher zu kommen, indem anhand fünf ausführlicher undreichhaltiger Berichte über die Verläufe an den Runden Tischen die Verhandlungs-

74 Es lassen sich lediglich Versuche finden, die entweder über Korrelationen institutionelle Ergebnisse alsNachweis für gesetzte Akteursprämissen interpretieren (vgl. Geddes 1996; Welsh 1994) oder die weitabvon empirischen Beobachtungen „sterile“ Modelle aufgrund logischer Schlüsse entwickeln (vgl.Przeworski 1991). Korrelationen bilden zwar eine gute Prüfung für theoretische Hypothesen, klären abernicht die interaktiven Prozesse, die hinter den Ergebnissen stehen bzw. sie ermöglicht haben.Theoretische Modelle, die weitab von der Empirie entwickelt werden, können zwar nachweisen, daß nichtnur rationale Entscheidungen getroffen werden. Was jedoch fehlt, ist das Verständnis für die Motivlage,die hinter diesen Entscheidungen liegt.

Page 141: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 136

schritte theoretisch nachgezeichnet werden. Die Berichte liegen in einem von Jon Elsterveröffentlichtem Sammelband „The Roundtable Talks and the Breakdown ofCommunism“ (1996) vor. Sie alle thematisieren das Aushandeln von Institutionen undkonstitutionellen Arrangements an den Runden Tischen.Die Berichte sind im historisch-narrativen, also deskriptiven Stil verfaßt. Ihre Verfasserhalten sich mit Generalisierungen weitgehend zurück. Dennoch zeichnen sich z.T. Ähn-lichkeiten und gemeinsame Verlaufsmuster der Verhandlungen an den Runden Tischenab. Auf der Basis solcher Gemeinsamkeiten versuchen die Autoren, an der einen oderanderen Stelle Begründungen bzw. Mechanismen in Form von Ursache-Wirkung-Zu-sammenhängen anzugeben. Hierin liegt ein erster Schritt zu einem erklärenden Beitrag.Es gibt aber natürlich auch signifikante Unterschiede zwischen den Entwicklungen dereinzelnen Staaten. Der Grund dafür liegt nicht nur in den spezifischen historisch-struk-turellen Voraussetzungen, sondern ergibt sich auch aus den Motiven und Spielzügen deran den Verhandlungen beteiligten Akteure. Solche Unterschiede widersprechen pau-schalisierenden Einschätzungen, die versuchen, die gesamte osteuropäische Transfor-mation unter einer gemeinsamen Charakterisierung zu subsumieren - wie „Der Sieg derDemokratie und der Marktwirtschaft über den Kommunismus“. Gerade die jüngstenDiskussionen um die Osterweiterung transnationaler und supranationaler Organisatio-nen verweisen auf die Unterschiede der osteuropäischen Staaten. Ökonomische Perfor-mance und politische Konvergenz, an denen sich die als relevant erachteten Zutrittskri-terien orientieren, sind auch von den institutionellen Designs und ihrer Legitimationsba-sis, wie sie sich in der Zeit der Runden Tische als Verhandlungsergebnisse herausbil-deten, abhängig. Abweichungen und Unterschiede in der Entwicklung der einzelnenStaaten lassen sich in einer Erklärung als unterschiedliche Ausprägung abhängiger Va-riablen interpretieren. Dies ist dann möglich, wenn man allgemeine Faktoren (unab-hängige Variablen) erkennen kann, die in ihrem Mischungsverhältnis den Verlauf derVerhandlungen in die eine oder andere Richtung lenken.Eine solche vergleichende Analyse der Prozesse an den Runden Tischen der fünfStaaten soll die theoretische Reflexion der Berichte leisten. Darüber hinaus zeigt dieAuseinandersetzung mit dem Thema, daß ein reduktionistisches, eindimensionales Ak-teursmodell aus Plausibilitätsgründen zurückgewiesen werden muß. Der durch solcheModelle abgedeckte Bereich kann nur einen Teil der Erklärung des gesamten Phäno-mens umfassen. Für die blinden Flecke der Erklärung eignen sich andere Ansätze, dieüber eine multi-motivationale Perspektive in einer umfassenden Erklärung integriertwerden müssen.In der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie sich die Prozesse an den RundenTischen und die aus ihnen folgenden unterschiedlichen Entwicklungen theoretisch re-flektieren lassen, werden drei analytische Perspektiven kombiniert. Zuerst wird gezeigt,wie ein Ansatz, der vom erfolgsorientierten bzw. nutzenmaximierenden Handeln der

Page 142: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 137

Akteure ausgeht, zur Erklärung beitragen kann. In einem zweiten Schritt werden dannNormorientierung und im dritten Verständigungsorientierung als zusätzliche Akteurs-motive eingeführt.

4.1 Strategische Spiele

Die Verhandlungsführer an den Runden Tischen traten als Vertreter von Interessenver-bänden, Organisationen, sozialen Bewegungen oder Parteien in Erscheinung. AlsAgenten versuchten sie, in den Verhandlungen zu Ergebnissen zu kommen, die im In-teresse der durch sie vertretenen kollektiven oder korporativen Akteure lagen. Niemandwird deshalb bestreiten wollen, daß für die Verhandlungen strategisches, machtorien-tiertes Handeln der Akteure eine wichtige Rolle gespielt hat. Mit dieser Feststellungallerdings muß noch kein „Commitment“ für eine eindimensionale Modellierung derAkteursmotive erfolgt sein. Es kann sich bei der Handlungsorientierung Nutzenmaxi-mierung vielmehr um ein Motiv neben anderen handeln. Eine theoretische Analyse derTransformation muß daher für andere Dimensionen individueller Motivationen und füreine kritische Verwendung des Akteurbegriffs offen bleiben75; Normorientierung unddie Unterordnung strategischer Schritte unter einen gemeinsam geteilten Werthorizontmüssen möglich sein.Die Verhandlungsschritte dennoch in dem Vokabular und mit den Mechanismen derSpieltheorie zu beschreiben, muß keinen Widerspruch zu diesen Vorannahmen bilden.Eine mehrdimensionale Sicht der Akteursmotive bei gleichzeitiger Nutzung rationalisti-scher Theorien mit eindimensionalem Akteurskonzept ist durchaus möglich76. Auchwenn der Erklärungsbeitrag des Rational Choice-Ansatzes eingeschränkt ist, bleibt erdoch für einen bestimmten Bereich alternativlos (vgl. Elster 1989, 1989a, 1989b). Al-lerdings gilt dies nur für Ansätze, die Korrekturen und Ergänzungen einer orthodoxenspieltheoretischen Sicht - wie sie in den Arbeiten von Luce und Raiffa (1957) und Nash(1951, 1953) vorliegen – berücksichtigen und nicht simplifizierend mit dem überholtenModell des homo oeconomicus arbeiten. Die Ansätze sollten die wichtigsten Weiter-entwicklungen des rationalen Akteurmodells berücksichtigen77. Mit den Korrekturen

75 Vgl. zum Beispiel den integrativen Ansatz Przeworskis (1991).76 Ullmann-Margalit formuliert die wissenschaftstheoretische Grundlage für ein solches Vorgehen undliefert damit die Begründung für die Verwendung des spieltheoretischen Ansatzes neben anderenAnsätzen (1977): Sie versteht spieltheoretische Studien als rationale Rekonstruktionen im Sinne Carnaps.Mit den Rekonstruktionen lassen sich Szenarien aufbauen, die idealtypischen Charakter aufweisen(Ullmann-Margalit 1977: 2). Mit der spieltheoretischen Rekonstruktion lassen sich die „korrekten“ Zügeim wettbewerbsgewinnenden Sinne verstehen. Die idealtypischen Konstruktionen können als bench markdem Studium tatsächlichen Handelns dienen (Schelling 1963: 3).77 Dies sind vor allem Schellings Hervorhebung der „focal points“ (1963), Simons „bounded rationality“(1954, 1990) und Tverskys und Kahnemanns „prospect theory“ (die sich insbesondere auf dieBerücksichtigung von Frameingprozessen und „risk aversion“ konzentriert, vgl. 1979). Darüber hinaus

Page 143: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 138

des rationalen Akteurmodells erfolgt aber auch eine deutliche Einschränkung der Erklä-rungsleistung der Rational Choice-Ansätze: Werden den Akteuren nicht nur rationale,sondern auch nicht-rationale oder sogar irrationale Motive zugestanden, dann kann dieTheorie keine klaren Vorhersagen mehr treffen. Deduktive Schlüsse scheitern, weilWirkungsmodelle nicht mehr eindeutig sind und die ceteris paribus-Bedingungen derrationalistischen bzw. spieltheoretischen Modelle für die Realität kaum gelten. Der Er-klärungsanspruch tritt somit hinter die Deskription und Entwicklung heuristischer Mo-delle zurück.Diese Einschränkung gilt auch für den Versuch, die Verhandlungen an den Runden Ti-schen spieltheoretisch nachzuvollziehen.

Verhandlungen lassen sich als „Mixed-Motive Games“ charakterisieren (Schelling1963). Sie sind sowohl durch Konflikt, als auch durch ein gegenseitiges Aufeinanderan-gewiesensein gekennzeichnet. Daß die Verhandlungspartner auf einander angewiesensind, zeigt die Bereitschaft oder auch erkannte Notwendigkeit, an Verhandlungen teil-zunehmen; beide (bzw. alle) Seiten erhoffen einen Gewinn von der Zusammenarbeit.Der Konflikt entsteht bei der Ausgestaltung der distributiven Kompromißfindung, d.h.der Frage, wie der gemeinsam erzielte Gewinn aufgeteilt wird. Über den Erfolg und dasErgebnis der Verhandlungen entscheiden die Verhandlungsmacht, das strategische Ge-schick wie auch die Motive der Beteiligten. Diese Komponenten bestimmen den cha-rakterlichen Schwerpunkt der Verhandlung:- Überwiegt das Motiv des relativen Vorteils, dann kann die Konfliktorientierung so

weit die Verhandlung beherrschen, daß evtl. die Kooperationsvorteile für die Be-wertung der Situation keine Rolle mehr spielen (vgl. Scharpf 1988). Es handelt sichdann um ein Nullsummenspiel, bei dem der eigene Nutzen nur mit dem Nutzenver-lust des anderen zunimmt.

- Wird die Verhandlung hingegen als ein „Common-Interest Game“ verstanden, d.h.als ein Verfahren, das auf starke gemeinsame Interessen baut, dann kann die Koope-rationsorientierung das Spiel in ein Koordinationsspiel (Positivsummenspiel) trans-formieren.

Diese beiden Ausprägungen, Nullsummenspiel (Konflikt) und Koordinationsspiel (Ko-operation), bilden die Endpunkte auf einem Kontinuum (siehe Abb. 2). In der Realitätfinden sich meist Mischformen, eben „Mixed-Motive Games“. Auf der Basis der ge-mischten Motivlage der Akteure wird die Verteilung des Kooperationsgewinns verhan-delt. Dabei spielt die Verhandlungsstärke eine bedeutende Rolle. Sie ist eine wichtigeVoraussetzung für die Strategiewahl und Erfolgswahrscheinlichkeit der beteiligten Ak-teure. Es läßt sich leicht zeigen, welchen Einfluß diese Größe auf die Verteilung des

hat sich ganz wesentlich Jon Elster um die Korrektur des rationalen Modells bemüht (vgl. Elster 1987,1992).

Page 144: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 139

Ergebnisses der Kooperation hat (vgl. Elster 1989a zum Mathew-Effekt): Der wohlha-bendere Spieler kann bei dem ärmeren Spieler eine zu seinen Gunsten ungleiche Auf-teilung des gemeinsam erarbeiteten Gutes durchsetzen. Er wird dem Armen einfachanbieten: „take it or leave it“, da er den Verlust des Kooperationsgewinns riskieren kannund außerdem weiß, daß der arme Spieler lieber einen kleinen Anteil nehmen wird alsgar keinen. Denn auch ein kleiner Gewinn bringt eine Verbesserung der Situation desArmen. Die objektive Verhandlungsposition des Wohlhabenden ist stärker, und dieVerhandlungsposition des Armen ist schwächer; der distributive Anteil kann also pro-portional zur Asymmetrie der objektiven Bedingungen steigen oder schrumpfen.

Die Verhandlungsgegenstände an den Runden Tischen bildeten im weitesten SinneMachterhalt und Machtgewinn (dazu zählen auch Organisations- und Partizipations-rechte). Zu ihrer Realisierung wurde Verhandlungsmacht strategisch eingesetzt, die impolitischen Kontext durch unterschiedliche Ressourcen definiert ist.Die Ressource, über die die Opposition in den osteuropäischen Staaten verfügte, warLegitimität. Ihre Anliegen fanden starken Rückhalt in der Bevölkerung. Wer sich mitder Opposition verbündete, konnte deshalb auf einen Legitimitätsgewinn hoffen. DieMachteliten fanden sich zu Verhandlungen mit der Opposition bereit, weil sie zur Wie-derherstellung und Sicherung des sozialen Friedens einen Weg aus der Delegitimationfinden mußten. Als Gegenleistung boten sie Liberalisierung und Demokratisierungund/oder die Verwirklichung von Menschenrechten an. Diese Eingeständnisse bildetenihre wichtigste Verhandlungsressource. Weniger offensichtlich, aber keineswegs minderbedeutend für den Verhandlungsverlauf, wurden zwei weitere Ressourcen eingesetzt:Für die Opposition bildete die Drohung, Unruhen (Proteste oder Streiks) bei ungenü-genden Eingeständnissen der Regierung nicht zurückhalten zu können, eine Macht-quelle. Für die Regierung war der Verweis auf eine mögliche Intervention Rußlandsbzw. auf die Notwendigkeit, die eigene Armee gegen Protestierende einzusetzen, wennihre Interessen oder die der Sowjetunion nicht ausreichend berücksichtigt würden, eineDrohung mit starker Wirksamkeit.Insbesondere bei der Ausgestaltung konstitutioneller Designs spielte der Einsatz derRessourcen der Moraleliten (Opposition) im Verteilungskampf gegen die Ressourcender Machteliten eine entscheidende Rolle (vgl. Preuss 1996). Die Machteliten nutztendie Ressourcen, um konstitutionelle Institutionen durchzusetzen (bspw. Regierungsformund Wahlsystem), die bei der Institutionalisierung demokratischer Spielregeln den eige-nen Interessen gute Chancen garantieren sollten. Aber auch auf Seiten der Oppositionwar das wichtigste Argument für die Durchsetzung ihrer institutionellen Vorstellungender Verweis auf ihre Machtressource: Sie reklamierten für sich, die legitimen Interessender Bevölkerung zu artikulieren.

Page 145: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 140

Durch die Verteilung der Verhandlungsmacht und den Einsatz der entsprechenden Res-sourcen wurde der Verhandlungsverlauf an den Runden Tischen in Osteuropa entschei-dend geprägt:In Bulgarien ließ die relativ starke Position der Regierung die Konsensbildung zuun-gunsten der Opposition verlaufen (Kolarova / Dimitrov 1996): Die hohe Mitgliedschaftin der ehemaligen Kommunistischen Partei Bulgariens (BCP) zeigt, daß trotz der Kriseeine stabile Legitimationsbasis der herrschenden Eliten vorhanden war. Die Bereit-schaft, mit der Opposition zu verhandeln, entstand also zu einem bedeutenden Teil ausder extern aufgezwungenen Notwendigkeit und nicht aus einem echten Kooperations-bedürfnis. Die Sowjetunion unterstützte und inspirierte den Demokratisierungsprozeß,internationaler Druck und Isolation machten ihn notwendig. Aber auch intern gab esProbleme. Die starken Repressionen gegen Menschenrechtsbewegungen und ethnischeProbleme führten nicht nur zur Ausreise von 300.000 Türken, sondern auch zu Pro-testen der Bevölkerung. Daß die regierende Partei dennoch über Verhandlungsmachtverfügte und sie auch in den Verhandlungen einsetzen konnte, zeigte sich an den erfolg-reichen Manipulierungsversuchen, mit denen die Verhandlungen an den Runden Ti-schen strategisch gelenkt wurden. Die Position der Regierung war so stark, daß sie dieRunden Tische als vorwegnehmende Maßnahme instrumentalisieren konnte. Die Ände-rungen waren marginal, d.h. finanzielle und organisatorische Machtressourcen konntengehalten werden. Eine Strategie der Regierung bestand darin, die Agenda der RundenTische zu manipulieren. So gelang es ihr beispielsweise, daß der Parteibesitz nicht the-matisiert wurde. Die Runden Tische konnten in Bulgarien die regierende Kommu-nistische Partei (BCP) nicht dekonstruieren - lediglich ihr Name änderte sich: Sie avan-cierte ganz im Zeitgeist zur Sozialistischen Partei Bulgariens (BSP). Durch die Ver-handlungen mit der Opposition wurde die ohnehin dominante Position der Partei aufeine legitime prozedurale Basis gestellt. Zu einer solchen machtstrategischen Instru-mentalisierung der Runden Tische trug auch die Tatsache bei, daß Bulgarien keine Dis-sidenten- und Oppositionstradition hatte. Der Verhandlungspartner der Regierung for-mierte sich erst im Dezember 1989 als eine lose Union der demokratischen Kräfte(UDF), die schlecht strukturiert war und nur einige wenige Mitglieder aufweisenkonnte. Trotzdem schien sie während der Unruhen im Januar 1990 die einzige politischeKraft zu sein, die die Massenproteste kontrollieren konnte. Dies mag ein Grund für dieBCP gewesen sein, sich an die Runden Tische zu setzen. Aufgrund des geringen Orga-nisationsgrades aber konnte kein gemeinsames Programm der Oppositionskoalition indieser bereits hochdynamischen Phase des Umbaus vorgewiesen werden. Obwohl dieZeit drängte, war es für die UDF am wichtigsten, Zeit zu gewinnen, um ein Programmauszuarbeiten. Die organisatorische Verhandlungsschwäche der Opposition erlaubte esder Elite, die - wegen der angespannten politischen und ökonomischen Lage - notwen-digen Reformen als vorbeugende Maßnahmen ohne Kompromißbereitschaft gegenüber

Page 146: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 141

der UDF, d.h. ohne Berücksichtigung oppositioneller Interessen, durchzuführen. DieBeteiligung der Opposition hatte also mehr eine symbolische Funktion, und dies warwohl auch das bedeutendste Motiv für die Bereitschaft, mit der Opposition zu verhan-deln. Die Regierung drängte beständig auf schnelle, ihr gefällige Lösungen. Jedochstellte sich diese Strategie als kritisch heraus. Die UDF an den Gesprächen zu beteili-gen, reichte nicht aus. Die Bevölkerung fühlte sich betrogen und reagierte dementspre-chend auf die Ergebnisse nach der ersten Wahl mit Protest. Erst dann schien die BCPdie Runden Tische über ihren symbolischen Gehalt hinaus ein wenig ernster zu nehmen.In Polen waren die Voraussetzungen, unter denen die Gespräche stattfanden, ganz an-ders als in Bulgarien. Das Land befand sich 1989 in einer starken ökonomischen, sozial-politischen sowie moralischen Krise (Osiatynski 1996). Einen Ausweg aus dem mit derKrise einhergehenden Legitimitätsdefizit sah man nur in der Kooperation mit der Ge-werkschaft Solidarnosc. Sie fungierte als Legitimitätsgarant. Auch die Solidarnosc warbereit zu kooperieren. Sie hatte auf dem Hintergrund der Erfahrungen unter dem Kriegs-recht und mit dem Verbot oppositioneller Bewegungen seit 1981 ihre Alles-Oder-Nichts-Strategie aufgegeben. Beide Seiten setzten sich mit der Einstellung an die Run-den Tische, daß nur ausgehandelte Kompromisse eine funktionierende und deshalb er-strebenswerte Lösung sind. Die Beteiligten schienen ausnahmslos auf eine vernünftigeLösung hohen Wert zu legen. Das zeigten die Bestrebungen, öffentlich zu debattierenund die Vergangenheit nicht zu thematisieren, so daß Drohungen, Streitigkeiten undEmotionen keine strategische bzw. blockierende Rolle bei den Verhandlungen spielenkonnten.Die Verhandlungsmacht der Regierung war nicht nur wegen der Krise und wegen deszunehmenden internationalen Drucks geschwächt. Mit dem Verlauf der Runden Tischebrach die Machtelite auf. Die Verhandlungsführer der Machtelite verband eine infor-melle Solidarität mit der Opposition, so daß nach und nach die konservativen Köpfe derNomenklatura, die sich nicht kompromißbereit zeigten, als „die Anderen“ isoliert wur-den.Dennoch überraschte alle das Ergebnis der auf die Runden Tische folgenden Wahlen78.Es zeigte, wie falsch das Bild der Regierung und der Opposition von dem Rückhalt, d.h.der Legitimität, der Regierung bei der Bevölkerung war. Hätten die Akteure ein reali-stischeres Bild über die Kräfteverhältnisse gehabt - wäre die schwache, objektive Ver-handlungsposition der Regierung bekannt gewesen -, dann wären wahrscheinlich andereVerhandlungsstrategien verfolgt worden. Die Opposition hätte versuchen können, dieInteressen der Regierung bei den Verhandlungen um die konstitutionelle Gestaltungweiter zurückzudrängen und die angestrebte Institutionalisierung eines ökonomischen

78 Ein Ergebnis der Verhandlungen am Runden Tisch in Polen war, daß nur 35 % der Parlamentssitze(Sejm) frei gewählt werden konnten (65 % wurden von der Partei besetzt). Die Solidarität erzielte einenvon beiden Seiten unerwartet hohen Triumph (beinahe 80 % der Stimmen) bei den frei zu wählendenSitzen (vgl. Linz / Stepan 1996: 255f; Geddes 1996).

Page 147: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 142

Wandels weiter voranzutreiben. Die Regierung hätte wohl versucht, sich gegen einenderartig starken Machtverlust abzusichern, denn ihr Bestreben war es ja, die Kontrolleüber die Entwicklung Polens zu behalten. In ihrer Vorstellung sollte sich die verhan-delte Demokratieidee auf eine Demokratie beschränken, in der die alte Machtelite nichtverlieren konnte (vgl. Osiatynski 1996).

Der Fall Bulgarien zeigt, wie wichtig die Information bezüglich der Verhandlungsmachtist. Trotz des wahrgenommenen hohen „public supports“ der Regierungspartei zeigendie Unruhen, daß falsche Wahrnehmung und mangelnde Information bezüglich derMachtressourcen (hier Legitimität) zu gefährlichen Zügen im Strategiespiel führen kön-nen. Auch in Polen führte unvollständige Information zu einer Verzerrung der Ver-handlungsmacht. Die Machteliten erhielten mehr Zugeständnisse, als ihnen bei voll-ständiger Information hätte zugestanden werden müssen. Hätte die Regierung gewußt,wie schlecht es um ihren Rückhalt in der Bevölkerung tatsächlich stand, dann wäre eswohl kaum zu derartig weitreichenden Reformen gekommen. Die Transformation hätteso nicht stattgefunden. Osiatynski (1996) kommt sogar zu dem Schluß, daß nur wegender falschen Einschätzung des Machtgleichgewichts der Prozeß der Transformation mitder Einrichtung der Runden Tische initialisiert wurde und sich verselbständigen konnte.Verhandlungsparteien können ihre Verhandlungsmacht mit strategischen Zügen stärken,wenn es ihnen gelingt, die ihnen nützlichen Ergebnisse als unbedeutend darzustellen.Genau das geschieht, wenn sie wie in Polen ihre Position als relativ stark darstellenkönnen. Die verhandelnde Partei wird aber auch relativ stärker, wenn sie geringeRisikoabneigung zeigt und dem Verhandlungspartner suggerieren kann, ihr Zeitdiskon-tierungsfaktor sei niedrig, d.h. wenn sie vorgibt, daß sie sich nicht kurzfristig orientierenmuß (vgl. Elster 1989a; Axelrod 1984). Die UDF in Bulgarien hatte für alle offensicht-lich einen niedrigen Zeitdiskontierungsfaktor. Sie vereinte Koalitionspartner mit sehrunterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Programmen. Das führte zu der An-nahme, ihre Einheit könne nicht über die Wahlen hinaus bestehen. Langfristige Strate-gien waren aus diesem Grunde für sie zwar irrelevant, Zeitgewinn aber von höchsterBedeutung (Kolarova / Dimitrov 1996). Für die Regierung hingegen war es wichtig,schnelle Ergebnisse zu erzielen. Dies bot für die Opposition die Chance, ihre Schwächein Stärke zu konvertieren. Und in der Tat lag hier der wichtigste bargaining-chip derUDF. Sie glaubte, daß ihre Wahlchancen durch eine Verspätung der Wahlen ansteigenwürden. Sie konnte deshalb glaubwürdig damit drohen, die Verhandlungen abzubre-chen; durch eine Verspätung hatte sie nichts zu verlieren. Die BCP hingegen wollteschnell zur Durchführung von Wahlen kommen, sie war also gegenüber Verspätungverletzlich. Ihre Strategie bestand darin, nur so viel Änderungen wie nötig schnellst-möglich durchzusetzen - „the quicker the less“ (Kolarova / Dimitrov 1996: 194). Da dieOpposition aber keine weiteren Ressourcen hatte, um ihren Interessen Nachdruck zu

Page 148: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 143

verleihen, und die Verhandlungsmacht der Regierung zu stark war, konnte sich die Re-gierung mit ihrer Strategie durchsetzen.In dem strategischen Umgang mit der kommunizierten Information liegt keine andereAbsicht, als die Wahrnehmung des Gegenübers bezüglich der eigenen Verhandlungspo-sition zu beeinflussen. Das Ergebnis von Verhandlungen ist von der Antizipation derVerhandlungmacht und der Verhandlungsstrategien der anderen Partei abhängig. Fürden Einsatz der Verhandlungsstrategien ist es deshalb entscheidend, den Verlauf derNutzenkurve den anderen zu verheimlichen (vgl. Schelling 1963). In Polen hätten kom-promißlosere Forderungen der Opposition durchgesetzt werden können, wenn die Re-gierung nicht glaubhaft eine niedrigere Nutzenkurve - als es der Realität entsprach -hätte kommunizieren können. In Bulgarien hingegen baute die von der Regierung si-gnalisierte Risikoabneigung nicht auf objektive Bedingungen. Dem Verhandlungspart-ner wurde niedrige Risikoabneigung glaubhaft gemacht, was aus ihrer Sicht zwar wün-schenswerte Ergebnisse hervorbrachte, sich aber als riskantes Spiel herausstellte.Es fällt auf, daß die eindeutige Bestimmung der Verhandlungspositionen der Parteienschwierig ist. Das liegt neben dem gegenseitigen Informationsdefizit auch an derSchwierigkeit die Akteure eindeutig zu definieren. In Bulgarien stand der Akteur Oppo-sition für ein uneinheitliches Konglomerat verschiedener Interessen. In Polen zersplit-terte die Machtelite hauptsächlich entlang der Trennungslinie von Partei und Regierung,aber auch innerhalb der Partei. Ehemalige Kontrahenten verbündeten sich gegen einenneu definierten Dritten. Die gesamte Situation transformierte von einem „Mixed-MotiveGame“ zum „cooperative problem solving“ (Osiatynski 1996), d.h. einem „Common-Interest Game“, in dem das Motiv des relativen Vorteils zweitrangig ist (vgl. Schelling1963).

Für die Tschechoslowakei lassen sich ähnliche Mechanismen beschreiben (vgl. Calda1996). Auch hier spielte die falsche Wahrnehmung der Position des Verhandlungspart-ners eine wichtige Rolle. Der Opposition war nicht bekannt, wie schlecht die Verhand-lungsposition der Regierung war. Es gab keine Information - z.B. durch Überläufer -darüber, wie schwach es um das Establishment stand. Eine weitere Stärkung ihrer Ver-handlungsposition gewann die Regierung mit der Angst der Opposition, die Armeekönnte eingesetzt werden. Nur so gelang es ihr, sich Zeitaufschübe einzurichten, für diedie Opposition im Nachhinein bezahlen mußte. Die Regierung nutzte den Zeitgewinnzur Zerstörung von Polizeiakten, was es heute unmöglich macht, mittlere und niedrigeNomenklatura-Vertreter zur Verantwortung zu ziehen.Die Opposition in der Tschechoslowakei fand bei der Bevölkerung eine breite Unter-stützung, konnte aber andererseits die schwache Verhandlungsposition der Regierungnicht erkennen. Dementsprechend reflektieren die ausgehandelten Kompromisse - wieauch in Polen - nicht die tatsächlichen Verhandlungspositionen von Regierung und Op-

Page 149: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 144

position, sondern lediglich wahrgenommene Verhandlungsstärke bzw. unterstellte Ab-sichten. Aufgrund des Informationsdefizits gewannen die Strategien des „politicalgamble“ eine bedeutende Rolle. In einem derart ungewissen Setting kann es für die Op-position vorteilhaft sein, mangelnde Integrität zu kommunizieren. Ihre Verhandlungs-führer sind nicht einfach Agenten kollektiver Akteure. Vielmehr stellen sie sich als Mo-deratoren oder Vermittler zwischen den „radikalen“ Massen und der Machtelite dar.Auf diesem Wege kann die interne Schwäche paradoxerweise ihre Verhandlungsmachtstärken. Denn eine schwache Position liefert die Glaubwürdigkeit für die Behauptung,bei mangelnden Eingeständnissen der Regierung könnten Unruhen nicht vermiedenwerden. Mangelnde Integrität impliziert nämlich nicht weniger Opposition.In der Tschechoslowakei konnte die Opposition diese Strategien nutzen, weil sie einehohe Unterstützung in den Straßen Prags und anderer größerer Städte genoß. Sie argu-mentierte, daß die Zeit knapp werde, weil die Bevölkerung wegen der ausbleibendenVerhandlungsfortschritte ungeduldig würde. Als Vermittler befürchte sie außerdem, zuweit reichende Kompromisse würden als fadenscheinig und faul zurückgewiesen. Sieselbst hätten bei solchen ungefälligen Lösungen mit dem Legitimitätsentzug durch dieMassen zu rechnen79. Mit dieser Drohung definierte sich die Opposition als unverzicht-barer und wertvoller Verbündeter der Regierung.Für die Verhandlungsführer der Regierungen ist diese Strategie weniger sinnvoll. Man-gelnde Integrität zu kommunizieren, würde hier primär ein Aufbrechen der Loyalitätund damit einhergehend Diffusion von Macht signalisieren. Sie kann dafür aber dieDelegation des eigenen Interesses als strategischen Schritt einsetzen (vgl. Schelling1963). Kolarova und Dimitrov vermuten eine solche Strategie hinter der Verhand-lungstaktik der BCP-Führung in Bulgarien (1996). Diese tauschte nach dem 6. Februar1990 die relativ unbedeutende Person Pirinskis für den ehemaligen VerhandlungsführerLukanov ein, als dieser zum Premier gewählt wurde. Mit dieser Ablösung einer relativbedeutenden durch eine relativ unbedeutende Person versuchte die BCP, Zeit für dieLösung interner Konflikte zu gewinnen bzw. interne Reorganisationen durchzuführen.Es läßt sich deshalb davon ausgehen, daß Pirinski mit dem Auftrag handelte, die De-batte zu verzögern, bis ein echter Verhandlungsführer wieder gebraucht wurde, oder daßdie BCP-Führung ohnehin keine echten Verhandlungen in den Plenumssitzungenwünschte und deshalb Pirinski mit der Gesprächsführung beauftragte.Die Strategie der Delegation stellt einen Schritt zur Einrichtung einseitiger Kommuni-kation dar. Der Verhandlungspartner steht für den betreffenden Zeitabschnitt vor voll-endeten Tatsachen bzw. eingeschränkten Möglichkeiten. Ganz ähnlich wirkt das Argu-

79 In Polen wurde ähnlich argumentiert: „’If we agree to such a compromise, it will be useless for you,’said Bujak at one point of the negotiations, ‘for if society does not accept the deal, you would sign acontract with a partner that has ceased to exist’.“ (Osiatynski 1996: 49). Dies war ein besonders starkesArgument auf dem Hintergrund der Betonung der Notwendigkeit, öffentlich zu verhandeln. Denn dieseTradition gab der Drohung die Glaubwürdigkeit.

Page 150: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 145

ment, Vorschläge müßten erst einmal mit dem Gesetz abgestimmt80 bzw. mit höherenAutoritäten wie der Hegemonialmacht Rußland abgesprochen werden. In diesem Fallwird mit zeitlichem Verzug gedroht. In Polen und der Tschechoslowakei haben die re-gierenden Eliten zu Beginn der Verhandlungen ihre Position durchaus vor dem Hinter-grund einer möglichen russischen Invasion ausbauen können. Der tschechoslowakischePremier und mehrfache Verhandlungsführer von Runden Tischen Ladislav Adamec hatsich bei Gorbatschow nicht nur grünes Licht für Reformen im Stile der sowjetischenPerestroika geholt81. Er betonte außerdem immer wieder die Notwendigkeit, die Re-formen mit sowjetischen Interessen abzustimmen. Die Kommunisten nutzten in derDiskussion um die zukünftige Gestaltung des Verteidigungsministeriums und des Mini-steriums für Inneres wiederholt eine derartige Strategie. Sie bestand aus dem Verhand-lungsargument, der Warschauer Pakt - d.h. die Sowjetunion – würde niemals eine nicht-militärische bzw. nicht-kommunistische Person für einen solchen wichtigen Posten ak-zeptieren. Sie verwiesen dabei auf die Situation in Polen.

In Ungarn und der DDR gestalteten sich die Verhandlungen an den Runden Tischenetwas anders. Auch wenn in diesen Staaten Legitimitätsmangel der Regierungen einprimäres Motiv für die Einrichtung von Runden Tischen war, so können die Verhand-lungen trotzdem nicht als Kampf um die Verteilung von Machtressourcen interpretiertwerden.In Ungarn führten außenpolitischer Druck und die internen wirtschaftlichen und politi-schen Schwierigkeiten dazu, daß die Regierungspartei die Kooperation mit den unein-heitlich organisierten Oppositionsparteien suchte (vgl. Sajo 1996): Die Regierungspartei(HSWP) selbst war in zwei Lager gespalten. Sie bildeten sich aus den konservativenKräften und den Reformkommunisten. Die Oppositionsparteien verfügten zwar über diesymbolische Ressource, die „Helden“ der 56er Revolution zu repräsentieren und nichtfür das ökonomische und moralische Desaster der Nation verantwortlich zu sein. Siebeanspruchten aber, besonders aber auf Grund ihrer Uneinheitlichkeit, keine Legitimitätdurch die Bevölkerung. Die Regierungspartei fühlte sich ebenso wenig als Repräsentantder Bevölkerung, hatte aber die Kontrolle über Information und administrative Vor-gänge. Sie hatte außerdem die für Reformen nötige Expertise. Wohl aufgrund des man-gelnden Rückhalts bei der Bevölkerung hatte keiner der Verhandlungspartner ein Inter-esse daran, das Risiko der Festlegung eines zukünftigen Gesetzgebungsverfahrens ein-zugehen. Deshalb gab es bei den Runden Tischen auch keine echte Agenda für legisla-tive Änderungen. Den Verhandlungspartnern ging es lediglich um eine friedliche Trans- 80 „Kucera asked for time and emphasized that all the demands must be dealt with in accordance with thelaw.“ (Calda 1996: 137).81 „The dramatic round took place almost immediately after Adamec`s return from Moscow, where hehad gone for consultations and presumably met with Gorbachev . (...) The Soviets had allegedly givenAdamec the green light for reforms provided they were modeled on the Soviet perestroica.“ (Calda 1996:145-147).

Page 151: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 146

formation zu einer Gesellschaft mit demokratischen Wahlen. In der Verhandlung solltennur Mittel und Wege der Wahl zwischen Gesetzgebungsverfahren - Parlament bzw.Referendum - festgelegt werden.Auch in der DDR lag das primäre Interesse der Machteliten darin, Macht in eine legi-time Ressource der Politik zu transformieren (vgl. Preuss 1996). Wenn die Regierungauch nicht - wie in Ungarn - eine demokratische Umwälzung plante, so hat sie doch auseiner Position heraus verhandelt, die durch ein tiefes Gefühl der Unfähigkeit zu herr-schen bestimmt war. Die Vermeidung von Chaos wurde angestrebt mit dem Versuch,das Machtvakuum mit Hilfe der Opposition auszufüllen. Zur Charakterisierung derRunden Tische in der DDR findet sich ein entscheidender Hinweis bei Preuss (1996). Erhebt hervor, daß die wichtigste Entscheidungsregel bei den Verhandlungen die Mehr-heitsregel war. Deshalb können diese Runden Tische nicht als „typische“ Verhand-lungssysteme gelten. Die Verhandelnden verstanden sich, wenn auch nicht als legitime,so doch als korporatistische Vertreter, die kollektive Entscheidungen treffen mußten -trotz ihres unklaren konstitutionellen Status.

Faßt man den spieltheoretisch inspirierten Blick auf die Verhandlungen an den RundenTischen in den fünf osteuropäischen Staaten zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:In Ungarn und der DDR führten die Verhandlungsgegenstände der Runden Tische eherzu einer kooperativen Haltung als zu einer Konfliktorientierung. Die Verhandlungen indiesen Ländern lassen sich daher kaum als „Mixed-Motive-Spiele“ im Sinne Schellings(vgl. 1963) bezeichnen. Die Beziehung zwischen den Spielern in Ungarn und der DDRwar hier bedeutend stärker als in den anderen Ländern durch das gemeinsame Interessegeprägt. In einem solchen Koordinationsspiel kommt es daher auch nicht wie bei „ech-ten“ Verhandlungen zum taktischen Umgang mit Information. Ebenso wenig kommt eszum Einsatz von Strategien, mit denen die Aufteilung des kollektiven Gutes in sich-selbst-favorisierender Weise manipuliert wird. Das Motiv des gemeinsamen Interessesüberwiegt.Für Polen und die Tschechoslowakei zeichnete sich im Verlaufe der Runden Tischeeine Transformation der Mischungsverhältnisse des „Mixed-Motive Games“ zugunstender Kooperation und zuungunsten des Konflikts ab. Besonders in Polen wurde auf stra-tegische Manöver, die partikulare Interessen begünstigten, demonstrativ verzichtet. Dieszeigte sich in dem gemeinsamen Interesse, die Verhandlungen in der Öffentlichkeit zuführen.In Bulgarien hingegen verhielt es sich ganz anders. Die Verhandlungsschwäche der Op-position erlaubte der Regierung eine unkooperative Haltung. Sie brauchte keinen größe-ren Konflikt zu fürchten bzw. einen Verlust des Kooperationsgewinns, da die Opposi-tion nicht in der Lage war, ein einheitliches Interesse zu formulieren. Die Regierunghatte lediglich mit der Mißbilligung durch die Bevölkerung zu rechnen. Dementspre-

Page 152: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 147

chend war ihre Strategie von dem Ziel bestimmt, Unruhen zu vermeiden. Die RundenTische stellten ein Mittel zur Erreichung dieses Ziels dar. Die Verhandlungen mit derOpposition hatten einen oberflächlichen, symbolischen Charakter. Sie wurden dazu ge-nutzt, Entscheidungen schnell und unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchzusetzen, sodaß oppositionelle Interessen nicht berücksichtigt werden mußten. Die Verhandlungs-situation in Bulgarien läßt sich somit als asymmetrisches Nullsummenspiel kennzeich-nen. Die Machtverhältnisse waren ungleich verteilt, und beim stärkeren Partner, derRegierung, dominierte das Motiv des relativen Vorteils.In einem Verhandlungsspiel hat das Mischungsverhältnis zweier beteiligter Motive einezentrale Bedeutung - Kooperation und Konflikt. Will man den Charakter der Verhand-lungen an den Runden Tischen in den fünf hier diskutierten Ländern bestimmen undvergleichen, kann man das anhand der Ausprägung der beiden Motive versuchen. Jestärker die Konfliktorientierung ausgeprägt ist und je mehr sie sich aufgrund der asym-metrischen Machtgleichgewichte durchsetzen kann, desto eher waren die Verhandlun-gen durch die Eigenschaften eines Nullsummenspiels gekennzeichnet. Je mehr das Mo-tiv des gemeinsamen Interesses überwog, desto eher handelte es sich bei den Verhand-lungen um ein Koordinationsspiel (oder Positivsummenspiel). Daraus ergibt sich fol-gende Übersicht:

Abbildung 2: Charakteristik der „RT-Spiele“ in Osteuropa

Koordinationsspiel Nullsummensspiel

Tschechoslowakei Bulgarien

PolenUngarn

DDR

Page 153: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 148

4.2 Normativer Rahmen

Die Zuordnung der Länder auf der Achse (Abb. 2) folgte bisher dem Grad der Interes-senkonvergenz der Verhandlungspartner und ihrer Verhandlungsmacht bzw. des takti-schen Einsatzes der sie definierenden Ressourcen. Der Begriff der Verhandlungsmachtbeschreibt die normfreien, rein strategischen Determinanten des Ergebnisses einer Ver-handlung. Die Entfaltung dieser Determinanten wurde durch bestimmte Kontextbe-dingungen ermöglicht. Sie definieren die „Logik der Situation“ (vgl. Esser 1993) undkönnen deshalb auch nach einer anderen Orientierung als der strategischen verlangen;die normfreie Orientierung muß keineswegs das alleinige Motiv der Akteure an denRunden Tischen sein.In Verhandlungssituationen kann das Motiv Normorientierung eine wichtige Rollespielen. Es kann helfen, Probleme zu lösen. Es kann aber auch, wenn die Normen zustark divergieren, neue Probleme schaffen (Elster 1989a: 215). Wird die Normorientie-rung geteilt, dann gibt sie für Verhandlungen einen Kontext vor, in dessen Rahmenstrategische Züge zwar eingeschränkt, aber durchaus möglich sind. Diese Rahmenbe-dingungen für strategisches Handeln können selbst Ergebnis normativer Übereinstim-mungen sein. Einigen sich die „Spieler“ in (Vor-)Verhandlungen explizit oder auch nurstillschweigend auf normative Prinzipien für die Verhandlungen, dann müssen diese beider Erklärung von Prozessen und Ergebnissen der Runden Tische berücksichtigt wer-den. Dabei gilt, daß die Normorientierung ebensowenig ein exklusives Motiv der Ak-teure ist wie die strategische Orientierung. Sie steht vielmehr in einer Wechselbezie-hung zum Selbstinteresse der Verhandlungspartner (vgl. Elster 1989a).Das in Abbildung 2 zusammengefaßte Ergebnis der Untersuchung strategischer Aspekteder Verhandlungen gibt zwar ihren Charakter wieder, löst aber nicht die Frage, auf wel-cher Grundlage verhandelt wurde. Hierzu kann die Untersuchung der Rolle normativerOrientierungen an den Runden Tischen dienen. Verhandlungen kommen zustande,wenn eine Möglichkeit gesehen wird, Konfliktlinien zu überwinden. Eine solche Mög-lichkeit kann mittels Orientierung an Gerechtigkeitsnormen und durch die Konvergenzdieser Normen geschaffen werden (Zartman 1997).In Verhandlungssituationen kann nicht auf existierende Institutionen zurückgegriffenwerden, die die Entscheidungsregeln und Autoritätshierarchien festlegen. Jede beteiligtePartei hat ein natürliches Veto82, das ihr erlaubt, ungebunden an den Verhandlungenteilzunehmen und sie somit jederzeit abbrechen zu können. Aus diesem Grunde ist derModus der Entscheidungsregel Einstimmigkeit. Damit sich die Parteien bei konfligie-renden Interessen einigen können und sich nicht blockieren, muß es in Verhandlungen 82 Hier wird auf formalem Wege deutlich, warum es sich bei den Verhandlungen in der DDR im strengenSinne (nach der Definition Schellings) nicht um Verhandlungen handelte. Es wurde per Mehrheitsregelentschieden.

Page 154: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 149

zur Übereinstimmung bezüglich der Entscheidungsgrundlagen kommen. Bei Verhand-lungen geht es um Verteilungsfragen. Deshalb wird die Entscheidungsgrundlage in ei-nem zustimmungsfähigen Gerechtigkeitsprinzip gesucht. Gerechtigkeitsvorstellungenals Vorbedingung der Konsensfindung setzen entweder einen gemeinsamen Wertehori-zont der beteiligten Akteure als Entscheidungsregel für die Verhandlungen voraus, odersie fordern von den Akteuren die Einigung auf einen normativen Kontext für ihre Zu-sammenarbeit. Nur eine solche Übereinstimmung kann nach Zartman den Konfliktlö-sungsmechanismus in Verhandlungen kontrollieren. Die Kooperationsgewinne könnentrotz Konflikt erreicht werden, weil der Kontext zustimmungsfähiger Entscheidungsre-geln die Logik der Situation definiert; individuelles Kalkül und strategische Orientie-rung werden deutlich eingeschränkt. Gibt es die Übereinstimmung nicht, dann wird esin den Verhandlungen keine Lösung geben. Die Pluralität von Normen bei Verhandlun-gen kann ein neues Problem kreieren: Divergierende Gerechtigkeitsbegriffe lassen sichin den Verhandlungssituationen als substantielles Veto einsetzen und können auf die-sem Wege gegen Einigungen wirken. Aus diesem Grunde müssen in (Vor-)Verhand-lungen die Gerechtigkeitsanschauungen so koordiniert werden, daß sie von allen akzep-tiert werden können. Diese Übereinkünfte sind „konstitutionelle“ Übereinkünfte, die dieterms of trade der Verhandlungen etablieren und sich nicht mit dem Rückgriff aufMachtressourcen, Machtpositionen oder dem strategischen Geschick der Akteure treffenlassen (vgl. Zartman 1997). Die Gerechtigkeitsbegriffe und der Prozeß der Einigung aufgeteilte Gerechtigkeitsprinzipien werden zwar auch im strategischen bias formuliert,aber diese Strategie allein erklärt weder die von den Akteuren vertretenen Gerechtig-keitsprinzipien noch die gemeinsamen Prozesse der Einigung über die normative Ent-scheidungsregel oder die geteilte Akzeptanz der Prinzipien.Die Gerechtigkeitskonzepte, an denen sich Akteure orientieren, können drei Kategorienvon Gerechtigkeitsprinzipien zugeordnet werden (Zartman 1997: 124): Diese sind Prio-rität („priority principle“), Gleichheit („equality“) und Ungleichheit (im von Sinne Ge-rechtigkeit als begründeter Ungleichheit „equity“). Alle Variationen der Übereinkunftbzw. Nichtübereinkunft lassen sich auf diese drei Typen reduzieren, und dementspre-chend kann jedes Ergebnis mit einem Prinzip oder der Kombination von Prinzipienklassifiziert werden.Wenn interessenbasierte Positionen in absoluter Priorität wurzeln, oder wenn die Ge-rechtigkeitsprinzipien der einen Partei unvergleichbar mit denen der anderen Partei sind,dann wird Konflikt vorherrschen. Einigungen müssen durch die Überwindung der Un-vergleichbarkeit von Gerechtigkeitsprinzipien erreicht werden. Die Konfliktregelungbasiert damit auf der beiderseitigen Akzeptanz eines Prioritätsprinzips oder auf der ge-meinsamen Festlegung eines Prinzips für Gleichheit bzw. begründeter Ungleichheit(„equity“) und deren Bezugspunkte, d.h. des Bereichs, auf den die Gerechtigkeitsregelnangewendet werden sollen.

Page 155: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 150

Die Einigung auf normative Prinzipien war nicht in allen fünf Ländern konstitutivesMerkmal der Verhandlungen an den Runden Tischen. Im folgenden wird daher darge-legt, unter welchen Bedingungen solche Prinzipien eingeführt werden mußten und wiediese den Verhandlungsverlauf bestimmten, d.h. welche Kontextbedingungen für strate-gisches Handeln mit den normativen Prinzipien gesetzt wurden.Ausgangsbedingung für die Verhandlungen in Bulgarien war, daß die Regierung nichtwirklich delegitimiert war - schon gar nicht im Vergleich zu den anderen osteuropäi-schen Staaten. Sie bedurfte aber zur politischen Überwindung der ökonomischen Rezes-sion und des mit der internationalen Isolierung einhergehenden politischen Drucks einesliberaleren Erscheinungsbildes. Die Regierung konnte mit ihrer Überlegenheit gegen-über der Opposition nach außen Zusammenarbeit signalisieren, ohne wirklich mit ihr zukooperieren. Erst als sie sich verkalkulierte, es zu Demonstrationen kam, mußte sie dieInteressen der Opposition ein wenig mehr berücksichtigen (deswegen der kleine Rucknach links auf dem Kontinuum in Abb. 2). Im großen und ganzen konnte die Regierungdie Transformation aber nach ihren Vorstellungen gestalten. Es gab nahezu keine echtenVerhandlungen. Was an Verhandlungscharakter übrig blieb, läßt sich befriedigend inden Kategorien der Verhandlungsmacht und des strategischen Kalküls erklären. Undauch das Ergebnis entspricht einer solchen Charakterisierung. Von der Regierung wurdeganz nach dem Grundsatz: „... to increase their distributive shares, bargainers engage intactics that either decrease the probability of reaching an agreement or decrease the sizeof the total to be shared“ (Elster 1989a: 82) vorgegangen:Sie konnte aufgrund ihrer Position und wegen der Unfähigkeit der Opposition, klarePräferenzen zu formulieren, kontrollieren, ob Einigungen getroffen wurden oder nicht.Aber auch die zweite Strategie schien von der Regierung Bulgariens eingesetzt zu wer-den. Definiert man als Kooperationsgewinn die Beruhigung der Situation, dann fand inder Tat die strategische Manipulationen der Regierung an den Runden Tischen auf Kos-ten des Kooperationsgewinns, des gemeinsam zu erstellenden öffentlichen Guts, statt.Die Bevölkerung reagierte auf die ersten Verhandlungsergebnisse mit vehementen Pro-testen.Die starke Verhandlungsposition der Regierung zeigt, daß sie sich die Haltung „take itor leave it“ erlauben konnte und daher keine normative Grundlage für die Verhand-lungen anzustreben brauchte.

In Ungarn war man sich einig darüber, daß mit den Runden Tischen die friedlicheTransformation zu einer Gesellschaft mit demokratischen Wahlen vorbereitet werdensollte (vgl. Sajo 1996). Wegen der allgemeinen Unsicherheit der Situation, zeigten dieAkteure keine Bereitschaft, mit einer Verfassungsbildung Verantwortung zu überneh-men. Sie verstanden ihre Rolle als Kurzzeitmandate ohne weitreichende Verantwortung.

Page 156: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 151

Über die zukünftige Gesetzgebung sollte die Bevölkerung mittelbar mit der Wahl zwi-schen Gesetzgebungsverfahren - durch Parlament oder Referendum - entscheiden. Sajo(1996) kennzeichnet die Akteure an den Runden Tischen daher allgemein als interes-senlos. Das erklärt das Fehlen gravierenden Konfliktlinien bei den Verhandlungen. DerGegenstand, um den verhandelt wurde, barg kein Konfliktpotential. Der Konflikt lagalso nicht zwischen den Parteien, sondern wurde von den Runden Tischen weg in dieReihen der Machtelite verlagert. Der Kooperationsgewinn war ein öffentliches Gut, umdessen Verteilung nicht gestritten werden mußte und konnte. Die Kooperationsergeb-nisse in Ungarn müssen deshalb nicht mit Hilfe strategischer Machtorientierung derAkteure erklärt werden. Auch gab es keine Pluralität der kooperativen Arrangements.Man einigte sich zügig über die Ergebnisse, und dementsprechend spielten Normen fürdie Erklärung der Ergebnisse ebensowenig eine Rolle.

In der DDR trafen an den Runden Tischen zwar unterschiedliche Interessen aufeinan-der: Die Regierung wollte ihre Legitimität und damit ihre Machtgrundlage wiederge-winnen. Die Opposition kämpfte für die Realisierung der Menschenrechte. Ganz ähn-lich wie in Ungarn standen sich die Interessen aber nicht konfligierend gegenüber. DieOpposition hatte kein Machtinteresse, und die Regierung fühlte sich unfähig zu herr-schen, d.h. sie wollte Situationen vermeiden, in denen sie handeln mußte. Ein gemein-sames Interesse beherrschte die Verhandlungen: das Interesse an einer neuen Verfas-sung. Diese Orientierung war derartig stark, daß eine Mehrheitsregel als Entschei-dungsgrundlage von allen akzeptiert wurde, was nur möglich ist, wenn das Interesse,das die Parteien an den Runden Tisch führte, nicht divergiert. Was an Pluralität der ko-operativen Arrangements übrig blieb, wurde über diese Regel gelöst, bedarf zur Erklä-rung also keines weiteren Verweises auf Normen. In der DDR wurde um die Verteilungvon Kooperationsgewinnen auch nicht strategisch-manipulativ verhandelt. Vielmehrerbrachten die Verhandlungsführer auch eine hier Koordinationsleistung zur Erstellungeines öffentlichen Gutes - die neue Verfassung.

Die Orientierung der Akteure folgte in dem situativen Rahmen der DDR und Ungarnseinem geteilten Interesse. Deshalb ging es an den Runden Tischen im Wesentlichendarum, Kooperation bestmöglich zu koordinieren. Das institutional engineering waralso lediglich eine technische und keine strategische Herausforderung. Die Logik derSituation in Bulgarien hingegen gestattete es der Machtelite, die Interessen der Opposi-tion weitgehend unberücksichtigt zu lassen. Eine Orientierung an Normen, die ein Ver-handlungsergebnis ermöglichen, war in diesen drei Ländern deshalb nicht nötig, weil esentweder keine echten Konfliktlinien zwischen den Parteien gab (DDR und Ungarn),oder weil es keine echten Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition gab(Bulgarien). Das typische Situationsmerkmal von Verhandlungen, der ambivalente Cha-

Page 157: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 152

rakter der Situation, trifft auf die Situation in diesen Ländern nicht zu; es handelte sichnicht um „Mixed-Motive Games“. Kooperation und Konflikt konkurrierten nicht unddeshalb lösten sich die Probleme ohne gemeinsam ausgehandelte normative Rahmenbe-dingungen für die Verhandlungen.

Die Verhandlungen in Polen und der Tschechoslowakei hingegen erfüllten die Kriterienvon „Mixed-Motive Games“. Bei ihnen stellt sich die Frage, welche Motive die Koope-ration bei den Verhandlungen trotz unterschiedlicher Reformvorstellungen und Macht-interessen ermöglichten. In Polen standen sich Parteien gegenüber, die eine gemein-same, von Feindschaft geprägte Vergangenheit hatten, und darüber hinaus divergiertendie Ambitionen der Parteien gravierend, so daß die Konfliktlinien deutlich hervortraten.Die Vorstellung weitreichender politischer und ökonomischer Reformen stand hier deranfänglichen Vorstellung der Regierung gegenüber, die Opposition nur symbolisch undnicht inhaltlich zu berücksichtigen.In der Tschechoslowakei waren die Konflikte zwischen der Machtelite und der Opposi-tion nicht so offensichtlich Von allen Beteiligten antizipiert, daß die Verhandlungen zuweitreichenden Reformen führen würden. Dementsprechend trat ein Konflikt auch we-niger um die fundamentale Frage auf, wie weit die Reformen zu gehen hätten. Die In-teressen divergierten vielmehr bei der Frage, wie der Übergang zu einer demokratischenRegierung zu gestalten sei.Für Polen und die Tschechoslowakei läßt sich zeigen, daß die Orientierung an normati-ven Prinzipien zur Ermöglichung von Kooperation trotz deutlicher Konfliktlinien bei-getragen hat. Betrachtet man die Ausgangsbedingungen für die Einrichtung der RundenTische in diesen Ländern, dann wird deutlich, welche Gerechtigkeitsprinzipien denRahmen für die Verhandlungen setzten.Die Runden Tische in Polen haben eine lange Vorgeschichte mit den unterschiedlich-sten, meist über kirchliche Repräsentanten vermittelten, Versöhnungsversuchen (vgl.Osiatynski 1996; Tatur 1996). Die eigentlichen Vorverhandlungen begannen schonEnde 1987. Die Untergrundgewerkschaft Solidarnosc bot über ihren inoffiziellen Ver-mittler Gemerek einen Antikrisenpakt an. Dieser sollte zu einem Vertrag über die Im-plementierung eines dringend notwendigen wirtschaftlichen Reformpakets führen. AlsGegenleistung für die angebotene Zusammenarbeit wurde die Anerkennung der Ge-werkschaft Solidarnosc gefordert. Andere explizite politische Reformen waren nichtBestandteil des Verhandlungsvorschlages. Mit Osiatynski läßt sich aber annehmen, daßdie Solidarnosc davon ausging, ihre Anerkennung könne nicht ohne gravierende struk-turelle Reformen erfolgen; die Einführung einer legalisierten oppositionellen Arbeiter-bewegung in einem autoritären System wie dem polnischen war undenkbar. Die Regie-rung stellte sich deshalb die Zusammenarbeit eher in Form einer vagen Koalition - alsonicht in Form eines Pakts - vor. Die Opposition sollte an einer „breiten Koalition für

Page 158: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 153

Reformen“ partizipieren dürfen. Damit wurde der Opposition keine echte Beteiligungangeboten. Die Regierung wollte sie vielmehr als Legitimitätszulieferer für nur kosme-tische wirtschaftliche Reformen nutzen. Die Idee der politischen Reformen wurde gene-rell mit der Ablehnung, die Existenz einer Opposition offiziell anzuerkennen, zurück-gewiesen.Die Forderungen der beiden Lager basierten auf ihren Vorstellungen von einer ange-messenen, d.h. gerechten, Berücksichtigung ihrer Interessen in Verhandlungen. Diese„priority justice positions“ waren für die andere Seite unbefriedigend, und deswegenverwundert es nicht, daß die Verhandlungen nicht zustande kamen. Erst mit der Drama-tisierung der politischen Situation und einer zunehmenden Spaltung des Zentralkomi-tees der kommunistischen Partei (PUWP) kam es zur erneuten Tuchfühlung. Nachdemsich Lech Walesa als inoffizieller Oppositioneller zu Gesprächen bereit erklärte, schlugim August 1988 General Jaruzelski einen Runden Tisch vor. Die Parteien formuliertenihre Interessen wieder in einer Weise, die keine Einigung über die Vorbedingungen derVerhandlung zustande kommen ließ. Die Relegalisierung der Solidarnosc wurde vonder Opposition erneut als Vorbedingung gestellt, und die Regierung blockierte die An-erkennung von höchster Stelle. Erst in privaten Konsultationen fand eine Annäherungder Prinzipien der Parteien statt. Jede Seite anerkannte einen Teil der Forderungen deranderen Seite und nahm ihre eigenen Forderungen zum Teil zurück. Die Solidarnoscakzeptierte, daß die Legalisierung ein Resultat der Runden Tische sein sollte und nichteine Vorbedingung. Auch würde nicht Walesa, sondern Masowiecki die Verhandlungenführen. Die Regierung akzeptierte hingegen die Vereinbarung freier Wahlen in einemSetting, das weiterhin die Mehrzahl der Parlamentssitze der kommunistischen Koalitiongarantieren sollte. Bei der Auswahl ihrer Verhandlungsführer sah sie davon ab,Hardliner vorauszuschicken; Ciosek verhandelte. Im Januar 1989 gab es dann einzweites Treffen, bei dem die Regeln für die Runden Tische festgesetzt wurden und derVerhandlungswille bestätigt wurde. Als Gerechtigkeitsprinzip setzte sich „equality“durch. Equality liegt das Prinzip der Reziprozität, also des ausgewogenen Austauschesund der ausgewogenen Zugeständnisse, zugrunde, welches das gemeinsam determi-nierte Ergebnis der Vorverhandlungen bildete. Es wurden nicht etwa Zugeständnisserelativ zum Beitrag vereinbart - wie bei der Einigung auf ein „equity“-Prinzip.Auch die Verhandlungsgegenstände für die Anwendung des stillschweigend vereinbar-ten Prinzips wurden in Vorverhandlungen festgelegt: Gewerkschaftspluralismus sowiepolitische und ökonomische Reformen sollten verhandelt werden. Die Geschehnisse derVergangenheit blieben unberücksichtigt, womit besonders deutlich wird, daß es sich umeine normative Vereinbarung handelte. Gemeinsam wurde davon ausgegangen, daßdiese stillschweigend getroffene Übereinkunft83 die Verhandlungen erleichtern würde84.

83 Vgl. Schelling zu „tacit agreements“ (1963).84 Vgl. Holmes zu „tying your tounges about sensitive questions“ (1988: 19f).

Page 159: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 154

Die Entwicklung in Polen bestätigt, daß erst die Einigung über die normativen Grundla-gen der Verhandlung kooperative Lösungen ermöglichten. Sie verhinderte den strategi-schen Einsatz aller möglichen Machtfaktoren (wie bspw. Schuldzuweisungen durch die„Moralelite“). Die Einigungen in Verhandlungen können also durch die Überwindungder Unvergleichbarkeit von Gerechtigkeitsprinzipien erreicht werden.

Die Verhandlungen in der Tschechoslowakei gestalteten sich etwas anders als in Polen.Es war von Beginn an klar, daß die politischen Reformen nach tiefgreifenden Änderun-gen verlangen konnten. Den Kommunisten glitt - für jeden ersichtlich - die Macht ausder Hand. Sie mußten somit eine Teilung der Verantwortung anstreben, die früher oderspäter mit einer Änderung der Verfassung von 1960/68 einhergehen würde. Caldaschätzt die Situation nicht so ein, als hätten die Gespräche die Machtkämpfe entschei-den können (1996). Die Gespräche hatten aus seiner Sicht mehr eine regulative Funk-tion. Dennoch kann man davon ausgehen, daß auf der Basis eines gemeinsamen Interes-ses der Parteien an der Transformation zur Demokratie Kompromisse bezüglich zu-künftiger Machtchancen ausgehandelt wurden. Bei Verfassungsbildungen geht es umDistributionsfragen. Auch wenn die wahrscheinlichen Ergebnisse antizipiert werden,lassen sie sich aber nicht nur auf eine strategische Orientierung zurückführen (vgl.Elster 1988b). Dem Gerechtigkeitsbegriff der Verhandlungspartner kann eine entschei-dende Rolle zufallen.Die anfänglichen Forderungen der Opposition beinhalteten gravierende politische Än-derungen: Präsident Husak sollte neben anderen wichtigen Führern abdanken, die Ver-fassung geändert werden, und die parlamentarische Versammlung sollte rekonstruiertwerden. Außerdem verlangte die Opposition eine Untersuchung der Geschehnisse derStudentenunruhen vom 17. November 1989, die Amnestie politischer Gefangener sowiePresse- und Informationsfreiheit (Calda 1996).Die Regierung bestand hauptsächlich auf der Einhaltung der Gesetze bei den Verhand-lungen. Damit konnte die Abdankung des Präsidenten nicht in den Verhandlungen oderdurch die Regierung bestimmt werden. Nur das Parlament konnte eine solche Entschei-dung treffen. Die Machtelite forderte, die Präsidentschaft zu respektieren und eine„Normalisierung des Lebens“ durchzusetzen.Man wurde sich schnell über die gemeinsame Aufgabe, die angespannte Situation imLande zu beruhigen, Streiks und Demonstrationen zu verhindern, einig. Die Oppositionlehnte lediglich den Begriff der Normalisierung für diese Anstrengungen ab. In der Prä-sidentenfrage kam es zu keiner Einigung. Havel, der in den Verhandlungen die Opposi-tion vertrat, versuchte, die Abdankung des Präsidenten Husak ultimativ durchzusetzen.Er verwies dazu auf die Bevölkerung, die es zu beruhigen gelte, wenn es zu keinenneuen Demonstrationen kommen sollte. Adamec akzeptierte ein solches Ultimatumnicht, sondern bot alternativ die Beteiligung der Opposition an einer neuen Regierung

Page 160: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 155

an; die Opposition sollte sich als politische Partei registrieren und ihre Kandidaten fürvakante Ministerposten aufstellen. Für die Opposition wäre mit einer solchen Regie-rungsbeteiligung eine Verantwortungsübernahme verbunden gewesen, auf die sie zudiesem Zeitpunkt nicht vorbereitet war und gegen die sie sich deshalb wehrte.Somit steckten die Verhandlungen in einer Sackgasse. Zwar verlangsamte sich dadurchder Transformationsprozeß. Eine langsame Annäherung konnte aber dennoch stattfin-den, weil sich die Akteure auf Bereiche konzentrierten, in denen Einigungen möglicherschienen. Die Basis für diese Verhandlungen bildete das gemeinsame Ziel, politischeÄnderungen gesetzeskonform abzuwickeln. Weil politische Änderungen unumgänglichschienen, waren weitgehende Gesetzesreformen nötig. Dafür mußten Prozeduren ver-handelt werden, die Regeln für die Absetzung der Mitglieder des Parlaments und derNational Versammlungen Tschechiens und der Slowakei festlegten. An den RundenTischen wurde daher vermehrt verhandelt, wie die Umformung der legislativen Gre-mien zu gestalten sei. Die Verschiebung auf diesen Verhandlungsgegenstand machteKompromisse möglich. Hier konnten nach einem gemeinsam geteilten Gleichheitsprin-zip Fortschritte erzielt werden. Die Zusammensetzung des Parlament als gesetz- undverfassungsgebende Versammlung sollte in einem angemessenen Rahmen die opposi-tionellen Kräfte berücksichtigen. Auch wenn die Verteilung der 350 Sitze weitgehendarbiträr war, so wurden sie doch wahrscheinlich nach einem Gerechtigkeitsprinzip ver-teilt, das nicht nach dem Gleichheitsprinzip vorgeht, sondern die Ungleichheit derKräfte (gemessen an ihrem geschätzten Rückhalt in der Bevölkerung) berücksichtigt.Die Einverständnisse setzten somit ein geteiltes „equity“-Prinzip voraus, das diesen„Beitrag“ der Parteien berücksichtigte. Von dieser Vereinbarung profitierte nicht nur dieOpposition. Sie erreichte zwar die angestrebten Änderungen der politischen Strukturen.Mit dem Kompromiß gelang es aber auch der Machtelite, sich eine Vetoposition bezüg-lich konstitutioneller Reformen zu sichern. Da es zur Änderung der Verfassung einerZweidrittelmehrheit bedurfte, besetzte die kommunistische Partei trotz ihrer Minder-heitenposition eine Schlüsselposition. Dieser Zustand lag in keiner Weise im Interesseder Opposition. Havel mußte in seiner Amtszeit als Präsident dann auch erleben, wie dieTschechoslowakei auseinanderbrach, weil man sich auf eine Verfassungsreform nichteinigen konnte. Die 1960/68er Verfassung ist für ein totalitäres Regime konstruiertworden und bot keine angemessenen Lösungsmechanismen, die den Konflikt vonTschechien und der Slowakei hätten abfangen können. Insofern kann die Teilung derTschechoslowakei als ein Ergebnis der Kompromisse an den Runden Tischen interpre-tiert werden (vgl. Calda 1996). Die Ursache für diese Entwicklung ist darin zu sehen,daß für die Verfassungsänderung keine Einigung bezüglich der Gerechtigkeitsprinzipienerlangt wurden, nach denen hätte verfahren werden können. Lediglich die schrittweiseBeteiligung oppositioneller Kräfte fand eine zustimmungsfähige Entscheidungsgrund-

Page 161: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 156

lage85. Die Verfassungsfrage war ein wichtiger Gegenstand der Verhandlungen in derTschechoslowakei, der nicht bewältigt wurde. Das zeigt, Konflikte können nicht überKompromisse gelöst werden, wenn interessenbasierte Positionen in absoluter Prioritätwurzeln (vgl. Zartman 1997).Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß eine unter den Verhandelnden geteilteNormorientierung die Konsensfindung bei bestehenden Konfliktlinien begünstigt undmitbestimmt. Die Einigung auf einen normativen Rahmen für einen festgelegten Be-reich erklärt den veränderten Charakter der Verhandlungen zu Beginn und zum Endeder Runden Tische in Polen und der Tschechoslowakei (daher die Positionsverschie-bung der beiden Länder nach links auf dem Kontinuum in Abb. 2).

Mit dem Verweis auf die normative Orientierung an Gerechtigkeitskonzeptionen wer-den der Verhandlungscharakter und das Ergebnis der Runden Tische verständlicher; dieEinigung auf normative Prinzipien erklärt, auf welche Weise Kooperation trotz Konfliktmöglich war. Dennoch gibt es einen blinden Fleck in der Erklärung: Unklar bleibt derProzeß, mit dem die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien gesteuert wurde und die Ak-zeptanz und Festlegung gemeinsamer Positionen erfolgte (Zartman 1997: 135). Wiekommt es, daß sich ehemals verfeindete Kontrahenten in Polen und der Tschechoslo-wakei auf eine gemeinsame normative Grundlage für Verhandlungen einigen konnten?

4. 3 Verständigung

Bei der Diskussion der Normorientierung in den Verhandlungssituationen der RundenTische wurde die Frage, ob diese Orientierung tatsächlich ein eigenständiges Motiv ne-ben strategischer Orientierung ist oder nicht, außen vorgelassen. Die „priorityprinciples“ können durchaus einem self-serving bias folgen, was eher Anstoß für eineutilitaristische Begründung der Normorientierung gibt. Damit ließe sich der Verhand-lungsprozeß wieder einer singulären Akteursorientierung - dem Maximierungsprinzip -unterordnen. Insbesondere der Umstand, daß die Normen erst in den aktuellen Situatio-nen von den Akteuren geschaffen werden, legt die Rückführung einer Orientierung anGerechtigkeitsprinzipien auf ein strategisches Motiv (bspw. Opportunismus) nahe. Esgibt einflußreiche Arbeiten, die auf der Grundlage dieser Orientierung die Entstehungvon Normen thematisieren (vgl. Ullmann-Margalit 1977; Coleman 1990).Läßt sich aber zeigen, daß die normative Orientierung einer genuin anderen Handlungs-orientierung als der strategischen Orientierung entspringt, dann kann ein solcher Re-duktionismus nicht mehr aufrecht erhalten werden.

85 Aus diesem Grunde befindet sich die Tschechoslowakei auf dem Kontinuum in Abbildung 2 auchrechts von Polen.

Page 162: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 157

Die Prozesse der Akzeptanz und Festlegung gemeinsamer normativer Positionen kön-nen mit Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns erklärt werden (vgl. Müller199486). Mit ihr wird der strategischen- und der Normorientierung die Verständigungs-orientierung, die sich in Kommunikationssituationen herausbilden kann, zur Seite ge-stellt. Die Einführung dieser weiteren Orientierung, als ein Motiv für das Handeln derAkteure an den Runden Tischen, bildet den zentralen Schritt zu einem „Multiple-Self-Modell“ als Analyseschema für „Mixed-Motive Games“. Verständigung - nachHabermas - kann nicht mit strategischem bias erfolgen.

Verständigungsorientierung setzt bei der Erklärungslücke an, die nach der Untersu-chung der Verhandlungen entlang strategischer Motive und geteilter Gerechtig-keitsprinzipien verbleibt: Die Motivation, sich an die Runden Tische zu setzen, um dortzu verhandeln, war aus nutzentheoretischer Sicht plausibel. Die tatsächliche Zusam-menarbeit in Polen und der Tschechoslowakei trotz divergierender Interessen als Er-gebnis geteilter und ausgehandelter Gerechtigkeitsvorstellungen für bestimmte Ver-handlungsgegenstände war ebenso plausibel. Wie es zur Einrichtung dieser konstitutio-nellen Vorbedingungen der Verhandlungen kommen konnte, ist allerdings noch unge-klärt. Die für diesen Schritt wichtigen Faktoren, die Annäherungsprozesse bezüglich derGerechtigkeitsvorstellungen sowie Vertrauen und Lernen durch Verhandeln, lassen sichmit Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns theoretisch fassen.Verständigungsorientierte Kommunikation ist durch die Einigung bezüglich aller Gel-tungsansprüche, die mit der Sprechakthandlung implizit verbunden sind, gekennzeichnet(Habermas 1981): Die Akteure beziehen sich in Kommunikation auf drei Referenzen.Teleologische und strategische Aspekte der Kommunikation verweisen auf die Sachre-ferenz der objektiven Welt im Popperschen Sinne. Mit dieser Referenz verbindet sichder implizite Geltungsanspruch nach Wahrheit und Wirksamkeit. Der normative Aspektder Kommunikation beinhaltet darüber hinaus die Fremdreferenz zur sozialen Welt.Hier liegt der Geltungsanspruch in der objektiven Beurteilungsmöglichkeit der Richtig-keit, d.h. der Frage nach dem normkonformen Handeln und der Legitimität der Normen.In der dritten Referenz schließlich wird der Akteur selbst als eine Welt vorausgesetzt. Indem Ausdruck von Erlebnissen verweist seine Selbstreferenz auf die subjektive Welt.Sie impliziert den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit bzw. Authentizität in dem Ge-

86 Müller wendet einen solchen multi-motivationalen Ansatz an (1994). Er identifiziert fürVerhandlungen in der internationalen Politik eine Erklärungslücke als den Bereich zwischen einerplausiblen Motivation zur Zusammenarbeit und der tatsächlichen Zusammenarbeit. Sie wird von ihm mitVerständigungsorientierung gefüllt. Die Bedingungen, unter denen transnationale Verhandlungenstattfinden, sind ähnlich den Bedingungen, unter denen die Verhandlungen an den Runden Tischenstattfinden. In der internationalen Politik stellt sich das Problem der Kooperation in einem weitgehendunregulierten Feld. Verhandlungen um Verfassungsänderungen an Runden Tischen sind ebensounreguliert wie die internationale Zusammenarbeit; Constitution-building findet im gesetzesfreien Raumstatt.

Page 163: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 158

sagten. Die drei Geltungsansprüche („Rationalitätsimplikationen“) Wahrheit, Richtig-keit und Wahrhaftigkeit kommen bei der Verständigungsorientierung zur Geltung.Der Hinweis, daß die Geltungsansprüche in der Kommunikation implizit erhoben wer-den, schließt keineswegs strategische Handlungsorientierung aus87. Nicht jede Kommu-nikation ist automatisch verständigungsorientierte Kommunikation. Machtverzerrungenund Informationsasymmetrien, also Abweichungen von einer „idealen Sprechsituation“,heben den einen oder anderen Begründungsdruck auf, so daß die entsprechenden Gel-tungsansprüche umgangen werden können. Dennoch bestehen die Geltungsansprücheund ermöglichen somit prinzipiell die Verständigungsorientierung. Empirisch wird eine„ideale Sprechsituation“ ohne Machtverzerrung und Informationsasymmetrien in Ver-handlungen kaum zu finden sein. Vielmehr muß man von Mischungen unterschiedlicherOrientierungen ausgehen, in der eine von strategischen Kalkülen beherrschte Kommu-nikation durchaus möglich ist - wie das Beispiel der Runden Tische in Bulgarien deut-lich zeigt88. Situationen, die strategisches Kalkül verlangen, schließen Verständigungs-orientierung aber auch nicht aus. Sie bildet nicht nur einen Koordinations- und Integra-tionsmechanismus für lebensweltliche Bezüge. Selbst Situationen, die von Erfolgsori-entierung dominiert sind, werden von lebensweltlichen Bezügen mit Verständi-gungsaspekten berührt (vgl. Habermas 1992). Verständigungsorientierung ist immermöglich, wenn Interaktionen eine starke Bedeutung haben.In den Interaktionen der Verhandlungen spielen Sprechhandlungen eine zentrale Rolle.Durch die häufigen Treffen können lebensweltliche Bezüge an Bedeutung gewinnen.Das schafft die Voraussetzungen für einen Diskurs, in dem die rationale Prüfung derimpliziten Geltungsanspüche durch Argumente erfolgen kann.Ein solcher Meta-Diskurs wird dann geführt, wenn sich die Geltungsansprüche nicht aufunhinterfragte Regeln des Sozialen beziehen und somit ein Begründungsdruck für sieentsteht. Bei den Runden Tischen impliziert die Möglichkeit unterschiedlicher „priorityprinciples“ alternative Begründungsmöglichkeiten der mit diesen Prinzipien verbunde-nen Geltungsansprüche. Sie können in einem rationalen Diskurs thematisiert werden.Ein solcher Diskurs ist an die Voraussetzung gebunden, daß ohne den Einsatz vonMacht miteinander kommuniziert wird. Diese Voraussetzung wird natürlich in keinerVerhandlungssituation, die in der Typologie Schellings einem „Mixed-Motive Game“entspricht, erfüllt. Der gleichberechtigte Zugang zum Diskurs ist durch den ungleichenZugang zur Macht und Information verzerrt. Die Verhandlungsteilnehmer bemühen sichaber um eine institutionalisierte Korrektur der machtverzerrten Sprechsituation. Einesolche Korrektur läßt sich an dem Bestreben erkennen, die Verhandlungen öffentlich zu

87 In diesem Falle ließe sich der Ansatz verständigungsorientierten Handelns auch nicht mit strategischemund normativen Handeln kombinieren.88 Die überwältigende Verhandlungsmacht der Regierung und die Ohnmacht der Opposition ließen für dieStrategien der Regierung keinen Begründungsdruck entstehen - die Opposition hatte keine andere Wahlals sich den Entscheidungen, die aus der Regierungsriege kamen, zu beugen.

Page 164: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 159

führen und geheime Absprachen zu unterlassen89. In Polen wurden zum Beispiel Kom-promisse erst auf der Grundlage der von Mazowiecki formulierten Vorbedingung „...nosecret deals, that is, the negotiations had to remain open to social review...“ (Osiatynski1996: 55) möglich. Außerdem wurde die letzte Sitzung der Runden Tische über die na-tionalen Fernsehsender ausgestrahlt.Eine wahrscheinlich aber wesentlich wichtigere Voraussetzung, die in Polen und derTschechoslowakei erfüllt wurde, war das Zustandekommen einer gemeinsamen Le-benswelt, in der sich eine Kompetenz zur Empathie entfalten konnte, die die Konver-genz unterschiedlicher Gerechtigkeitskonzepte begünstigte. Die gemeinsame Lebens-welt entstand mit den vielen intensiven Interaktionen der Verhandelnden. Mit der Zeitwurden in Polen und der Tschechoslowakei die Verhandlungen an den Runden Tischendurch eine Atmosphäre gegenseitiger Sympathie getragen. In Polen entwickelte sich anden Runden Tischen nahezu eine Freundschaftsbeziehung zwischen - wie Osiatynski esformuliert (1996) - ehemaligen Gefangenen und ihren Wärtern. Und auch in der Tsche-choslowakei schien die lebensweltliche Orientierung zeitweise die Erfolgsorientierungzu überlagern; Adamec ließ sich im Eifer der Verhandlungen zu der Aussage hinreißen,mit Havel lieber gemeinsam ein Bier trinken gehen zu wollen, als zu verhandeln (Calda1996: 148). Eine solche Äußerung steht für die wechselseitige Anerkennung, die alseine wichtige Voraussetzung des rationalen Diskurses gegeben sein sollte.

In der Verständigungsorientierung kann der Schlüssel für die Akzeptanz und die Festle-gung gemeinsamer Gerechtigkeitspositionen liegen. Mit ihr lassen sich die Entstehens-und Entwicklungsprozesse eines durch die Beteiligten gesetzten normativen Rahmensfür die Verhandlungen erklären. Des Rahmens, der den Aktionshorizont für die strategi-schen Kalküle definierte.Wenn die Entstehung der Kontextbedingungen für strategisches Handeln an den Run-den Tischen kommunikationstheoretisch abgeleitet wird, konvertiert die Situationslogikzur abhängigen Variable (vgl. auch Müller 1994). Der Verhandlungskontext wird in derKommunikation, die zur Einigung auf ein geteiltes Gerechtigkeitsprinzip führt, durchdie Reflexion der Akteure bezüglich der Richtigkeit umgestaltet. Als unabhängige Va-riable setzt die neu definierte Situationslogik dem strategischen Verhandeln um dieDistribution der Kooperationsgewinne (in den „Mixed-Motive Games“) Grenzen. DieVerständigung bezieht sich damit auf die Festlegung des verallgemeinerbaren Rahmens,in dem sich das Austragen partikularer Interessen einfügen läßt (vgl. Müller 1994). So-mit widersprechen die Distributionspräferenzen, die in den Interessen der Verhand-lungspartner zum Ausdruck gebracht werden, nicht dem Hinweis auf Verständigungs-orientierung. 89 Öffentlichkeit hat den Effekt, daß sich die Akteure auf allgemein anerkannte und akzeptierte Prinzipienund Argumente beziehen müssen und nicht allein nach Maßgabe ihres Selbstinteresses handeln können(vgl. Elster 1994; Elster / Offe / Preuss 1998).

Page 165: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 160

Für Polen und die Tschechoslowakei kann die Verständigungsorientierung die gravie-rende Veränderung der Verhandlungsatmosphäre und -bedingungen erklären.

4.4 Zusammenfassung

Bei der Entwicklung des Modells für verhandelte Transformationen wechselt die analy-tische Perspektive: Das Modell der Handlungen und Entscheidungen unter bestimmtenKontextbedingungen wurde durch ein Modell, das die Gestaltung der Kontextbedingun-gen erklären kann, ergänzt.Die spieltheoretische Auseinandersetzung ermöglicht eine vergleichende Charakterisie-rung der Verhandlungen an den Runden Tischen der fünf Ländern. Mit der Untersu-chung der strategischen Komponenten erschließen sich Dimensionen, anhand derer einsolcher Vergleich erfolgen kann. Die Dimensionen definieren sich aus Faktoren, z.B.dem taktischen Einsatz strategischer Mittel, die Aussagen über den unterschiedlichenCharakter der Länder ermöglichen. So ergibt sich für die Verhandlungen in dem jewei-ligen Land ein Mischungsverhältnis von Kooperations- bzw. Konfliktorientierung derbeteiligten Akteure, entlang dessen sich ein sinnvoller Vergleich durchführen läßt:An den Runden Tischen der DDR und Ungarn überwog das gemeinsame Interesse, sodaß es weniger um eine konfliktträchtige Verteilung von Machtchancen ging als um dieKoordination einer von Opposition und Machtelite gemeinsam getragenen Politik(„Common-Interest Games“). In Polen und in der Tschechoslowakei verschoben sichdie charakterlichen Schwerpunkte der Verhandlungen in Richtung zunehmender Koope-ration. Dennoch blieben Konfliktlinien vorhanden, die eine Kompromißfindung nötigmachten und entlang derer sich die Parteien gemäß ihrem Interesse strategisch enga-gierten („Mixed-Motive Games“). Die Verhandlungssituation in Bulgarien hingegen istprimär durch die Orientierung der Machtelite bestimmt gewesen. Die asymmetrischeMachtverteilung erlaubte es ihr, die Interessen der Opposition weitgehend unberück-sichtigt zu lassen, d.h. eine extrem unkooperative Haltung einzunehmen und nichtwirklich zu verhandeln (eine solche Spielsituation ließe sich als „Take-It-Or-Leave-ItGame“ oder „Pure-Conflict Game“90 bezeichnen).War das situative Setting der Runden Tische durch ein gemeinsames Kooperationsinter-esse bei vorhandenen Konfliktlinien zwischen Opposition und der Machtelite gekenn-zeichnet, dann wurde die Kooperation erst in einem Kontext gemeinsam geteilter Ge-rechtigkeitskonzepte möglich. Genau das läßt sich für die Tschechoslowakei und Polenbeobachten.Die günstigen Kontextbedingungen für erfolgsorientiertes Handeln der Kompromißfin-dung in Distributionsfragen selbst kann von den Akteuren gestaltet werden. Die stati-

90 Vgl. Scharpf zu archetypischen Spielkonstellationen (1997: 72f).

Page 166: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Zusammenbruch der alten Ordnung 161

sche Sicht, nach der die Akteure mit fixen Präferenzen im Rahmen einer bestimmtenSituationslogik handeln, muß deshalb ergänzt werden. In dem Wandel der Logik derSituation wird der Kontext - in der spieltheoretischen Modellierung noch unabhängigeVariable - zur abhängigen Variable. Die Rahmenbedingungen für die Kompromißfin-dung erhielten ihre Dynamik nicht etwa primär durch historisch strukturelle Verände-rungen, sondern durch Annäherung der Gerechtigkeitsvorstellungen der an den Ver-handlungen beteiligten Akteure.Die Annäherungen bezüglich einer normativen Rahmensetzung für die Verhandlungensetzt einen Diskurs über die Geltung der Normen voraus. Die Verständigungsorientie-rung der Akteure kann hier zu der Annäherung und Festlegung von Gerechtigkeitskon-zepten beigetragen haben. Mit ihr läßt sich die Dynamisierung der kontextuellen Bedin-gungen, die sich in der Tschechoslowakei und Polen beobachten ließ, erklären.

Mit einem Akteurmodell, das von einem multi-motivationalen Ansatz ausgeht, kann dieDynamik eines kleinen aber bedeutenden Abschnitts der Transformation in einer Mi-kroperspektive analysiert werden. Die durch historische Prozesse geschaffenen Mög-lichkeitsräume für die institutionelle Mitgestaltung der Transformation waren nicht soeng, daß die Akteure nur nach einer festen Logik der Situation handeln konnten. In derhochdynamisierten Phase der Runden Tische blieb Raum für die Gestaltung der Hand-lungskontexte. Die Bedingungen, unter denen die Verhandlungen stattfanden, konntendurch die Akteure mitgestaltet bzw. umdefiniert werden. Die Akteure hatten z.T. dieMöglichkeit, ihr zukünftiges, für die inhaltliche Entscheidungsfindung relevantesHandlungsrepertoire mit normativen Prinzipien zu binden. So wurde die Realisierungkollektiv rationaler Ergebnisse (Kooperation und Kompromißfindung) trotz Konfliktmöglich. Dieser Prozeß, in dem Handlungen und Entscheidungen Kontexte für weitereHandlungen und Entscheidungen schaffen, ist in Situationen, in denen Interessenkon-flikte aufeinandertreffen und berücksichtigt werden müssen, auf einen multi-motivatio-nalen Ansatz angewiesen. In dieser Perspektive können die ineinander verschränktenProzesse von Selektionslogik - die Wahl einer bestimmten Handlungsalternative - (vgl.Esser 1993) und der Logik der Situation - die Bedingungen für diese Wahl - heuristischnachvollzogen und theoretisch aufgearbeitet werden.

Page 167: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 162

III. DIE KONSOLIDIERUNG DER NEUEN POLITISCHEN ORDNUNG

Page 168: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 163

1. Vorbemerkung

Das Erreichen des Ziels hängt nicht nur von den Mitteln und dem Prozeß ab. Es hängtauch von der Definition des Ziels ab. Das Ziel politischer Konsolidierung ist in derTransformationsforschung aber keineswegs eindeutig definiert1. Die Kriterien für De-mokratie weichen stark voneinander ab, und gleiches gilt für die Interpretation dessen,welche politischen Systeme aufgrund welcher Eigenschaften als stabilisiert – demokra-tisch konsolidiert – gelten können. Anstatt in den unterschiedlichen Definitionen Wider-sprüche aufzuspüren, d.h. die Entscheidung für das bessere Konzept treffen zu wollen,kann mit den vielfältigen Definitionen und Kategorien die Komplexität und Wechsel-wirkungen der Problemkreise einer demokratischen Konsolidierung nachgezeichnetwerden. Nicht die Entscheidung darüber, welche Kriterien uns im Falle ihrer Erfüllungüber die erfolgreiche Konsolidierung informieren, sondern das Aufspüren von relevan-ten Gefahren und Risiken für eine erfolgreiche Etablierung neuer demokratischer Syste-me folgt aus der Komplexität der Transformationsdiskussion.

1.1 Demokratie

Definitorische Schwierigkeiten ergeben sich bereits bei dem Begriff der Demokratie.Hier stehen sich in der Transformationsforschung formale, auf Verfahren (daher auch„prozedurale Demokratiekonzepte“ genannt) und Institutionen rekurierende, und nor-mative, auf inhaltliche Zielbestimmungen der Demokratien weisende, Konzepte gegen-über. Erstere beziehen sich in ihren Demokratiedefinitionen auf einen klar umrissenenKatalog formaler Kriterien, der die Verfahren und Orte (Institutionen) gesellschaftlicherKonfliktregulierung benennt. Nicht zuletzt die Eindeutigkeit liberaler Demokratietheo-rien hat zu ihrer Etablierung als Mainstream der Transformationsforschung (vgl. Merkel1995; Offe 1994) beigetragen. Den formalen Konzepten stellen normative Demokratie-definitionen eine komplexere Kriterienliste zur Seite. Formale Verfahrensregeln könnennicht unabhängig von den Wechselwirkungen in den Netzwerken, in denen die konkretePolitik gestaltet wird, das bestimmende Kriterium demokratischer Strukturen sein. Derkonkrete Fall der Demokratisierung Osteuropas zeigt, daß die alleinige Definition überVerfahren die konkreten Ergebnisse außer acht läßt, obwohl diese ausschlaggebend fürdie Legitimität sein können.Den sparsamsten Versuch einer prozeduralen Demokratiedefinition liefert wohl Prze-worski, indem er Demokratie im wesentlichen als System organisierter Unsicherheit

1 Schedler beschreibt die gegenwärtige Konsolidierungsforschung als „...Babilonian chorus of voicessinging songs of democratic consolidation.“ (1998: 103).

Page 169: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 164

charakterisiert (1991: 13). Diese Definition ist aber nicht anspuchslos, nur weil sie aufeine schlichte Formel gebracht ist (vgl. dagegen Merkel 1995), vielmehr liegt mit ihrdas liberal-prozedurale Demokratiekonzept in semantisch geronnener Form vor. MitUnsicherheit verweist Prezeworski auf den Umstand, daß die Ergebnisse der politischenKonflikte den wettbewerbenden Kräften ex ante unbekannt sind. In diesem Merkmalliegt ein wesentlicher Unterschied zu autoritären Systemen, in denen die Ergebnisse expost an die Erwartungen ex ante angepaßt werden können. In Demokratien hingegenkönnen sich die Akteure strategisch an Erwartungen, nicht aber an Ergebnissen orientie-ren, weil diese auch von den schwer zu antizipierenden Handlungen anderer abhängen –sie sind determiniert vom Wettbewerb konkurrierender politischer Kräfte. Die Ergeb-nisse sind allerdings nicht vollkommen kontingent, so daß den Akteuren jede Grundlagefür rationales Handeln fehlen würde2. Przeworskis Konzept der Unsicherheit ist wenigerradikal als es die Formulierung suggeriert. Unsicherheit bezieht sich lediglich auf daskonkrete Ergebnis. Die politischen Akteure haben aber durchaus eine Vorstellung vonden Wahrscheinlichkeiten, die sie den Konsequenzen ihrer Handlungen zuweisen kön-nen. Auf dieser Grundlage bilden sie Erwartungen und kalkulieren ihre Strategien. Inso-fern sind die Ergebnisse zwar nicht vorbestimmt, aber ebensowenig vollkommen unbe-stimmt.Die politischen Kräfte ringen im Wettbewerb um die Gelegenheit, ihre Interessen vor-zubringen. Sie ringen aber in einem institutionellen Rahmen, der die Regeln des Wett-bewerbs und die Regeln für Sanktionen defektiven Handelns festsetzt. Darauf verweistPrzeworski mit der Spezifizierung der Unsicherheit als organisierte Unsicherheit. Ineiner Demokratie wird der Wettbewerb über Wahlen reguliert. Über sie werden politi-sche Programme ratifiziert bzw. die Zuständigkeit derjenigen, die die Programme ent-wickeln, bestätigt. Darüber hinaus stehen in einer Demokratie nicht frei agierende Indi-viduen miteinander im Wettbewerb, sondern kollektive Organisationen, die in der Lagesind, Zwang auf diejenigen auszuüben, deren Interesse sie vertreten. Dieser institutio-nalisierte Handlungsrahmen hält Individuen davon ab, ihr persönliches Interesse defek-tiv, d.h. auf Kosten der kollektiven Ziele, durchzusetzen. Die Wahrscheinlichkeit be-stimmter Ergebnisse im Wettbewerb wird somit vom institutionellen Rahmen3 und denRessourcen der politischen Kräfte bestimmt.Mit dem Attribut „organisiert“ und der Kategorie „Unsicherheit“ definiert PrzeworskiDemokratie über prozedurale Verfahren, die das System der Konfliktbearbeitung festle-gen. Von den Akteuren muß in diesem Verständnis kein Commitment gegenüber be-stimmten Normen und Werten gefordert werden, sondern lediglich Commitment zu den 2 Eine enge Auslegung des Begriffs der Unsicherheit würde keine Erwartungsbildung erlauben, womitrationales bzw. strategisch-politisches Handeln unmöglich würde. Der Unsicherheitsbegriff beiPrzeworski entspricht insofern eher dem Risikobegriff, der die Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten zumöglichen Ergebnissen erlaubt.3 Institutionen haben distributive Effekte. Beispielsweise wirken sich unterschiedliche Wahlsysteme aufdie Verteilung politischer Macht aus.

Page 170: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 165

Verfahren eines abstrakten Regelwerks. Damit distanziert sich Przeworski von normati-ven Demokratieansätzen, die Demokratien über die Verfahren hinaus auch über die Er-gebnisse der Verfahren bewerten. Bei prozeduralen Demokratiekonzepten stimmen dieex-ante-Bwertungen und ex-post-Bewertungen der Ergebnisse überein. Die Verfahrenund damit jedwedes Ergebnis werden gleichsam als legitim gewertet. Dagegen sind imnormativen Demokratieverständnis nur bestimmte Ergebnisse legitim, insofern modifi-zieren die ex post Bewertungen der Ergebnisse die ex-ante-Commitments gegenüberden Verfahren, was die gewünschte Regelbefolgung gefährden kann (Przeworski 1991:14).Przeworskis Konzept der organisierten Unsicherheit verweist auf eine Demokratiedefi-nition, die primär durch Wettbewerb und Partizipation gekennzeichnet ist. Diese Defi-nition schließt an Dahls (1971) Demokratiekonzept an. Während Przeworski aber pri-mär für das prozedurale Demokratieverständnis argumentiert und die institutionelleAusgestaltung der organisierten Unsicherheit offen läßt, findet man bei Dahl eine kon-kretere Darstellung. Bei ihm werden die beiden Demokratiedimensionen „öffentlicherWettbewerb“ (public contestation) und „politische Partizipation“ (right to participate)auf ihre institutionellen Voraussetzungen zurückgeführt: Die politischen Institutionenmüssen garantieren, daß die Partizipationsrechte möglichst viele Bürger einbeziehen(„highly inclusive“) und daß diese Bürger die uneingeschränkte Möglichkeit haben, 1.ihre Präferenzen zu bilden, 2. diese gegenüber den anderen Bürgern und den politischenEliten hervorzubringen und 3. bei der Regierung eine Berücksichtigung und Gewich-tung ihrer Präferenzen ohne Diskriminierung (wegen Inhalts oder Quelle der Präferen-zen) zu erfahren (Dahl 1971: 2). Für die demokratischen Institutionen ergeben sich dar-aus die folgenden acht prozeduralen Minima (Dahl 1971: 3):1. Assoziationsfreiheit, 2. Meinungsfreiheit, 3. aktives Wahlrecht, 4. passives Wahl-recht, 5. eine pluralistische Struktur der Informationsquellen, 6. offener Zugang zu öf-fentlichen Ämtern, 7. freie und faire Wahlen sowie 8. Institutionen, die sicherstellen,daß die Regierungspolitik von Wählerstimmen und anderen Ausdrucksformen der Bür-gerpräferenzen abhängen.Dahls Demokratiekonzept bildet auch heute noch die Grundlage für einen bedeutendenTeil der Transformationstheorien. Die Theorien unterscheiden sich lediglich in Nuan-cen, die dadurch entstehen, daß einzelne institutionelle Dimensionen unterschiedlichgewichtet oder ergänzt werden. In solchen Korrekturen drücken sich die empirischenErfahrungen mit den Transformationen in den letzten dreißig Jahren aus. Grundlage derDemokratiekonzepte aktueller Transformationstheorien bildet Schumpeters4 Definition

4 Bei Schumpeter heißt es. „...die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zurErreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittelsKonkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes erwerben.“ (1980: 428). Mit dieser Demokratiedefinitionstellt Schumpeter die Verfahren – und nicht etwa Ziele – der Demokratie in den Vordergrund; erformuliert den modus procedendi demokratischer Ordnungen.

Page 171: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 166

repräsentativer Demokratie, und in der institutionellen Ausgestaltung den prozeduralenMinima wird den Kategorien Dahls gefolgt.Während Di Palma (1990: 16) das Konzept Dahls noch unverändert übernimmt, setzenKraus sowie Linz und Stepan bzw. Linz, Stepan und Gunther eigene Akzente. Für Linzund Stepan (1996) bzw. Linz, Stepan und Gunther (1995) spielt die Unabhängigkeit,d.h. die ungeteilte Macht, der demokratisch gewählten Regierung eine entscheidendeRolle. Sie definieren deshalb als zusätzliches Demokratiekriterium, daß die Regierungnicht von Machtzentren beeinflußt werden darf, die sich nicht demokratisch legitimierenmüssen. Mit dieser Hervorhebung wollen die Autoren die „electoral fallacy“ (Linz /Stepan 1996: 4) vermeiden - den Trugschluß, daß freie Wahlen allein auch hinreichendeBedingungen einer souveränen, demokratisch legitimierten Regierung sein können. DieErfahrung mit den Transformationen in Mittel- und Südamerika hat nämlich gezeigt,daß das Militär als eine nicht demokratisch legitimierte Macht (bspw. in Guatemalawährend der 80er Jahre) eine demokratisch gewählte Regierung signifikant einschrän-ken kann, so daß sie in ihren politischen Entscheidungen nicht mehr souverän ist.Darüber hinaus kann das Kriterium der Unabhängigkeit der demokratisch gewähltenRegierung von einem weiteren Argument abgeleitet werden (Kraus 1990): Demokratieläßt sich in Abgrenzung zu autoritären Regimen als ein Verfahren verstehen, das primärder Bearbeitung und Kanalisierung gesellschaftlicher Konflikte dient. Das demokrati-sche Merkmal der Konfliktbearbeitung ist - ganz ähnlich wie bei Przeworskis „organi-sierter Unsicherheit“ - die „relative Ungewißheit“ der Resultate politischer Willensbil-dung. Politikinhalte dürfen nicht fixiert werden, sondern müssen sich aus dem politi-schen Wettbewerb ergeben. Die Institutionen müssen den ungewissen Charakter despolitischen Wettbewerbs garantieren, indem sie der Intervention politischer Kräfte, diedas Resultat gemäß ihrem Interesse ändern wollen, vorbeugen (Kraus 1990: 196f).Linz und Stepan bzw. Linz, Stepan und Gunther sowie Kraus entwickelten ihr Demo-kratiekonzept entlang der Erfahrungen, die in Mittel- und Südamerika und in Südeuropamit der Einführung demokratischer Institutionen gemacht wurden. Ihre Demokratiedefi-nition richtet sich primär gegen die Einmischung demokratisch nicht legitimierter Veto-kräfte. Gleichzeitig schließt die geforderte Ungewißheit der Resultate des politischenWettbewerbs bzw. Konflikts aber Zieldefinitionen der Demokratie und damit eine nor-mative Demokratiekonzeption aus.So wie diese Autoren vor dem empirischen Hintergrund der Transformation zusätzlicheKriterien zur Ergänzung der theoretischen, prozeduralen Demokratiekonzeption finden,so formuliert auch Offe mit Blick auf die Besonderheit der osteuropäischen Transfor-mation zusätzliche Demokratiekriterien. Seine Version widerspricht allerdings den pro-zeduralen Konzepten. Er weist auf die Notwendigkeit der Flankierung des demokrati-schen Prozesses durch die Formulierung von Politikinhalten bzw. -ergebnissen (vgl.Offe 1994: 92). Dieses normative Demokratiekonzept steht im Widerspruch zu der von

Page 172: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 167

Przeworski oder auch Kraus geforderten institutionalisierten Unsicherheit bzw. Unge-wißheit der Ergebnisse politischer Willensbildungsprozesse. Offe argumentiert, daß dieUngewißheit Ergebnisse entstehen lassen könnte, die die Legitimität des demokrati-schen Regimes untergraben: Entstehen - ungeachtet, ob gewollt oder ungewollt als Ne-benfolge - Ergebnisse, die systematisch bestimmte gesellschaftliche Gruppen benach-teiligen, dann kann ein Punkt erreicht werden, an dem die Toleranzgrenze dieser Grup-pen überschritten ist. Besonders die tiefgreifenden politischen und ökonomischen Ände-rungen in Osteuropa verlangen zur Stabilisierung des politischen Systems nach einersozialpolitischen Flankierung, die den Verlust ökonomischer Ressourcen über Siche-rungs- und Umverteilungsmechanismen abfedern. Offe mißt der Sozialpolitik für dieTransformation der osteuropäischen Gesellschaften eine konstitutive Bedeutung zu: Siehat einen politischen Wert, weil die Legitimität der demokratischen und rechtsstaatli-chen Institutionen nur gewährt ist, wenn sozialpolitisch garantiert wird, daß die Bevöl-kerung sich nicht von ökonomischen Verlusten oder den Ergebnissen der demokrati-schen Willensbildung existentiell bedroht fühlen muß (Offe 1994: 94). Auf dieserGrundlage kann Offe für die demokratische Konsolidierung in Osteuropa den Wohl-fahrtstaat nicht als Folge, sondern als notwendige Voraussetzung definieren.

In der Kontroverse um die Demokratiedefinitionen in der Transformationsforschungzeigt sich die Komplexität der Problematik. Die Transformationen in Mittel- und Süd-amerika und in Südeuropa forderten die Regime mit neuen Problemen heraus, die zuNachbesserungen der Theorie führten. Die Besonderheiten der Transformation Osteuro-pas stellen die Demokratiekategorien der Transformationsforschung erneut in Frage. Inder Schwierigkeit, eine von Raum, Zeit und Kultur unabhängige Theorie zu formulie-ren, drückt sich die Vielzahl der zu bedenkenden Variablen und Zusammenhänge aus.Diese Vielfalt wirkt sich auch auf die unterschiedlichen Einschätzungen der Konsolidie-rungsbedingungen aus.

1.2 Konsolidierung

Mit der Frage nach der Konsolidierung werden die Kriterien der Demokratie unter Hin-zunahme einer weiteren Dimension thematisiert. Diese ist der angesetzte Zeitraum füreine Konsolidierung, dessen Umfang von den Anspüchen abhängt, die an Institutionen,Entwicklungspfade sowie die Einstellungen und Verhaltensstile der Akteure gerichtetwerden. Der Anspruch steigt darüber hinaus mit der Hinzunahme externer Variablen,zum Beispiel Position und Rolle des neuen politischen Systems im internationalenSystem, und interner Variablen, die sich auf andere gesellschaftliche Teilbereiche be-ziehen, zum Beispiel ökonomischer Erfolg politischer Entscheidungen und politische

Page 173: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 168

Kulturmuster der Bevölkerung. Je anspruchsvoller und komplexer die Konzepte einerkrisenresistenten, demokratischen Struktur, desto weiter verschiebt sich der Zeithorizontfür eine erfolgreiche Konsolidierung auf eine längerfristige Perspektive. KurzfristigePerspektiven hingegen grenzen die relevanten Variablen ein. Sie bezieht sich meist nurauf das Verhalten entscheidungsrelevanter politischer Eliten.In der Debatte um die relevanten Konsolidierungskriterien stehen sich die anspruchs-vollen maximalistischen Konzepte und die weniger anspruchsvollen minimalistischenKonzepte gegenüber. Huntingtons (1991) Beitrag steht für die maximalistische Kon-zeption, während Di Palma eine minimalistische Perspektive vertritt (vgl. Gunther /Diamandouros / Puhle 1995: 7; Merkel 1995). Für Huntington steht die Entwicklungeiner demokratisch-politischen Kultur im Zentrum der Konsolidierung (1991: 258f).Damit setzt er die Entwicklung demokratischer Werte bei den Eliten und bei der Bevöl-kerung als Voraussetzung für eine demokratische Stabilisierung. Daß neben den Ein-stellungen und dem Verhalten von Eliten auch politische Werthaltungen der Bevölke-rung relevant sind, erklärt sich bei Huntington aus der Bedeutung, die er der Legitimitätbeimißt: Demokratien können in seiner Perspektive nur effektiv sein, wenn sie Legiti-mität entwickeln. Da junge Demokratien an mangelnder Legitimität leiden, sind sie oftnicht effektiv. An diesem Widerspruch müssen sie aber nicht zerbrechen. Das wirddeutlich, wenn man den Legitimitätsbegriff differenzierter betrachtet. Legitimität gene-riert sich nicht nur aus der Leistung (Effektivität) des politischen Systems. Neben dieser„Performance-Legitimität“ gibt es auch eine prozedurale Legitimität, die sich auf dieWerte einer demokratisch-politischen Kultur stützt. Und hier liegt die Herausforderung,aber auch die Hoffnung für junge Demokratien. Kann eine politische Kultur etabliertwerden, in der die Verfahren der Demokratie Legitimität (prozedurale Legitimität) ge-nießen, dann spielt die Leistung des Systems (Performance) eine nachgeordnete Rolle.Mit der Rolle, die der Legitimität in der Transformationstheorie zugewiesen wird, las-sen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konsolidierungskonzepte verdeutli-chen. In der Einschätzung der Bedeutung der Legitimität durch Leistung unterscheidetsich das minimalistische Konzept eigentlich nicht von dem maximalistischen Anspruch.Sowohl Huntington als auch Di Palma argumentieren, daß die Performance-Legitimitätin demokratischen Regimen nicht die Bedeutung hat, die sie in autoritären Regimen hat.Der Grund ist, daß es aktuell keine attraktive Regimealternative zum demokratischenSystem gibt. Der Leistungswettbewerb, in dem sich die autoritären Regime gegenüberden demokratischen Regimen befanden, existiert für die demokratischen Regime nichtmehr. Mit dem Verschwinden von Alternativen ändert sich die Erwartung bezüglich derLeistung von Demokratien. Schlechte Leistungen hindern nicht mehr unbedingt die de-mokratische Unterstützung, wie dies oftmals für autoritäre Regime galt; die Frage des„system blame“ (Linz / Stepan 1996), die für die Legitimität nicht-demokratischerSysteme bedeutend war, stellt sich für demokratische Systeme nicht mehr. Die Enttäu-

Page 174: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 169

schungen der Bevölkerung richten sich unter der Abwesenheit einer Regimealternativenicht gegen das Regime selbst. Ganz im Gegenteil. Sie können Bestandteil des demo-kratischen Systems sein. Das gilt dann, wenn die Bevölkerung fähig ist, zwischen Re-gime und Regierung bzw. Regierenden zu unterscheiden (Huntington 1991: 260). DieLegitimität des Regimes hängt von dieser Unterscheidungsfähigkeit ab. Auch wenn dieRegierenden nicht unterstützt werden, kann das politische System noch Unterstützungerfahren. Wird die Regierung abgewählt, kann das einer Bestätigung des institutionali-sierten Weges eines demokratischen Regierungswechsels gleichkommen, wenn sich inder Wahl kein Votum gegen das Regime ausdrückt5. Das kann sogar für den Fall gelten,daß reformierte kommunistische Parteien die Macht wiedererlangen, so geschehen inLitauen 1992, in Polen 1993 und in Ungarn 1994. In diesen Fällen handelte es sich nichtum Regierungswechsel, die eine Bewegung weg von Demokratie darstellten6. Diekommunistischen Parteien waren in allen drei Fällen vielmehr darum besorgt, ein de-mokratisches Image aufrechtzuerhalten. In diesem Bestreben übertrafen sie sogar oft-mals die demokratischen Standards ihrer Vorgänger, von denen noch z.T. zivile Frei-heiten im Namen ihrer nationalistischen und anti-kommunistischen „Mandate“ verletztwurden (Linz / Stepan 1996: 454f). Der Unterscheidungsleistung geht nach Huntingtonein wichtiger Lernprozeß voraus. Die Bevölkerung muß in einem Sozialisationsprozeßeine Werthaltung verinnerlichen, die Demokratie nicht nur aus der Perspektive der Pro-blemlösung sieht, sondern sie primär als ein System versteht, in dem die Herrschendenausgewechselt werden können.Hinsichtlich der Bedeutung, die der aus kulturellen Werten gespeisten prozeduralenLegitimität beigemessen wird, unterscheiden sich die beiden Konsolidierungskonzepteallerdings gravierend. Di Palma weist die Notwendigkeit einer demokratischen Wert-haltung als Voraussetzung für eine demokratische Stabilisierung entschieden zurück.Zur Begründung führt er die unbedeutende Rolle an, die er der prozeduralen Legitimitätbeimißt; bei Di Palma heißt es: „Legitimacy Is Not Neccessary“ (1990: 144). Entschei-dend für die Stabilität sind nach ihm ausschließlich das Elitenhandeln und die Bedin-gungen, die im „Democratic Agreement“, der Institutionalisierungsphase der Demokra-tie, ausgehandelt wurden. „Convent“, „Compliance“ und „Support“ (Di Palma 1990:145) der Eliten reichen für die Implementation demokratischer Institutionen aus undstellen sich im Prozeß des „Demokratic Agreements“ implizit ein - der Übereinkunftfolgen quasi-automatisch psychologische und strategisch-organisatorische Commit-

5 Auch Lawson sieht hierin einen entscheidenden Indikator für demokratische Regime: „A Regime canincorporate any number of the features of democratic politics, including constitutional provision forelections, but these are fairly meaningless unless an opposition is able to succeed legitimatly togovernment in open contest. [...] Opposition will then be directed at other contestants for governmentpower, and not normally at the regime itself.“ (1993: 200).6 Segert (1995a) führt aus, daß die primäre Gefahr der Rückkehr zu autoritären Strukturen nicht von denNachfolgeparteien ausgeht. Ihr gelegentlicher Aufstieg verweist vielmehr auf die Chance einerKonsolidierung der Demokratie.

Page 175: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 170

ments. Die Übereinkunft selbst genügt, um das Überleben der Demokratie zu sichern.Ausschlaggebend sind nämlich nicht die politischen Werte der Eliten, sondern ihre Vor-stellungen davon, wie man auf Krisen reagieren soll. Diese Argumentation ist plausibel,wenn man bedenkt, daß externer und interner Druck sich bereits in der Übergangsphaseals hinreichender Anlaß für die „Konvertierung“ kommunistischer Eliten zu liberalisie-renden und demokratischen Politikern erwiesen hat und nicht etwa ein Wertewandelvorausgesetzt werden mußte.Di Palma weist mit seinem Demokratisierungskonzept Huntingtons Konzept der demo-kratisch-politischen Kultur als Voraussetzung für die demokratische Konsolidierungbegründet zurück. Die Konsolidierung wird von ihm mit seinem minimalistischen Kon-zept ihrer psychologischen und kulturellen Implikationen entledigt. Deshalb müssenkeine theoretisch unsicheren und damit z.T. willkürlichen institutionellen Konsolidie-rungskriterien festgelegt werden. Dieser konzeptionelle Vorteil wird allerdings mit ei-nem bedeutenden theoretischen Nachteil „erkauft“: In Di Palmas Konzept wird dieKonsolidierung auf die demokratischen Übereinkünfte und somit auf die Phase desUmbaus reduziert. Es läßt sich nicht angeben, wann die Konsolidierung abgeschlossenist.Bei einem maximalistischen Konzept – wie dem Huntingtons – verhält sich das anders.Da die Legitimität des demokratischen Prozesses hervorgehoben ist und somit dieWerthaltung in den Blickpunkt rückt, ergibt sich ein abstraktes „Ziel“ bzw. die Vor-stellung von einer konsolidierten Demokratie. Eine demokratisch-politische Kultur läßtsich aber nicht direkt beobachten. Deshalb müssen anspruchsvolle Konsolidierungskon-zepte Kriterien entwickeln, die als valide Merkmale einer stabilen Demokratie geltenkönnen. Huntington versucht, Kriterien von seiner zentralen Annahme über den Cha-rakter einer stabilisierten Demokratie abzuleiten (1991: 266): Demokratien sind in demMaße konsolidiert, in dem die systemkonformen Reaktionen institutionalisiert sind. Dasbedeutet, daß die demokratischen Prozesse eine gewisse Selbstverständlichkeit erreichthaben müssen, in der sich die demokratische Werthaltung der Eliten und der Bevölke-rung reflektiert. Ein valides Kriterium für die Etablierung einer solchen demokratisch-politischen Kultur ist das Bestehen des „two-turnover tests“. Die zweimalige Regierun-gablösung kann zwei Dinge zeigen: erstens, daß es mindestens zwei bedeutende politi-sche Parteien gibt, die sich zur Demokratie bekennen, und zweitens, daß sowohl dieEliten als auch die Bevölkerung im Rahmen des demokratischen Systems handeln(Huntington 1991: 267). Huntington räumt ein, daß dies ein harter Test ist. Und hierinliegt ein ganz gravierender Nachteil maximalistischer Konsolidierungskonzepte. Be-deutende Demokratien, die zum Teil als Musterbeispiel stabiler Systeme gelten – wiebspw. Italien, Japan und Deutschland – können durch die konsequente Anwendung sol-cher Tests aus dem „Club“ konsolidierter Demokratien ausgeschlossen werden. Institu-tionelle Konsolidierungstests, die sich auf Wiederholung und Kumulation beziehen,

Page 176: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 171

sind also mit einer prinzipiellen Unschärfe ausgestattet. Das liegt an ihrem unklarentheoretischen Unterbau (vgl. Di Palma 1990: 142). Sie müssen Listen maximalistischerForderungen bilden, um alle möglichen Ursachen für das Mißlingen der Konsolidierungberücksichtigt zu haben. Die Kriterien sind aufgrund historischer Transformationserfah-rungen durchaus berechtigt. Im Falle ihrer Erfüllung kann nämlich gesichert von einerkonsolidierten Demokratie ausgegangen werden, und darin liegt die Stärke maximalisti-scher Konzepte. Sie können Konditionen einer stabilen Demokratie angeben. In ihrerAnwendung auf konkrete Konsolidierungsprozesse sind die Kriterien allerdings nahezuwillkürlich, so daß auch mit den maximalistischen Konzepten der Zeitpunkt einer abge-schlossenen Konsolidierung nicht verläßlich angegeben bzw. theoretisch begründetwerden kann.

Die Differenz zwischen einem maximalistischen und einem minimalistischen Konsoli-dierungskonzept basiert auf den unterschiedlichen Anforderungen an den Institutionali-sierungsstand der Demokratie und der Entscheidung, wessen Verhalten - Elitenund/oder Bevölkerung - für die Stabilisierung relevant ist. Über diese Variablen ver-mittelt sich der gravierende Unterschied in der Zeitperspektive der Konsolidierung – imminimalistischen Konzept tendiert die Stabilisierungsphase gegen Null, im maximalisti-schen Konzept hingegen gegen unendlich.Eine Positionen zwischen diesen Konzepten beziehen Schmitter (1995) sowie Gunther,Diamandouros und Puhle (1995). Schmitter weist anspruchsvolle Konzepte wie dasHuntingtons zurück, indem er den Interaktionsmustern zwischen den relevanten politi-schen Gruppen, die eine „zufällige Zustimmung“ zur Demokratie fördern, mehr Be-deutung zumißt als einer demokratisch-politischen Kultur in Form normativer Com-mitments und persönlicher Bekenntnisse zur Demokratie. Andererseits stellt er die Sta-bilisierung demokratischer Verhaltensmuster und die Bestätigung der institutionalisier-ten demokratischen Verfahren in Abhängigkeit zu einer Liste potentiell entscheidenderFaktoren, die in Di Palmas Verständnis als willkürlich gewählte Kriterien disqualifiziertwürden. Dies sind sowohl exogene Faktoren, wie die Position der jungen Demokratieim internationalen Umfeld, als auch endogene Faktoren wie die nationale Geschichteund der Verlauf der Demokratisierung. Damit gewinnt die Einbindung in internationalenicht-staatliche und staatliche Organisationen, die politische Situation der Nachbarlän-der sowie vorautoritäre Demokratieerfahrungen, Handlungsstrategien der Eliten und dasVerhalten der Bevölkerung an Bedeutung.Allerdings formuliert Schmitter die Kriterien mit einem theoretisch zurückgenommenenAnspruch. Zwar haben die genannten Faktoren einen Einfluß auf die Konsolidierung,dennoch verbleibt der kausale Zusammenhang – besonders der endogenen Faktoren –im Unklaren. Schmitter selbst stellt fest, daß die Faktoren nicht den Status notwendigerVoraussetzungen einnehmen (1995: 50f): Es gibt Länder, die den Zustand stabiler De-

Page 177: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 172

mokratien erreichen konnten ohne umfassende Beteiligung der Bevölkerung, ohne einefortgeschrittene wirtschaftliche Entwicklung oder auch ohne die kulturelle Vorausset-zung einer staatsbürgerlichen Tradition. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig fürsämtliche Faktoren weiterführen. Einzige, prinzipielle Voraussetzung bleibt die Her-stellung einer nationalen Identität und territorialer Grenzen, weil sich auf demokrati-schem Wege nicht entscheiden läßt, welche politische Einheit zugrunde gelegt werdensoll bzw. kann (Schmitter 1995: 49). Dennoch verweist Schmitter auf die Relevanzwirtschaftlicher Faktoren, kultureller Prozesse der politischen Sozialisation und ethi-scher Einschätzungen (1995: 48). Das zeigt, daß sein Konsolidierungskonzept zwischeneiner minimalistischen und einer maximalistischen Version angesiedelt ist. Schmittersinstitutionalistische Kriterien beanspruchen einen mittelfristigen Zeitrahmen für dieKonsolidierung.Auch Gunther, Diamandouros und Puhle (1995) verweisen auf einen mittleren Zeithori-zont bei ihrer Kriterienwahl für eine konsolidierte Demokratie. Sie definieren ein de-mokratisches Regime als konsolidiert, wenn alle politisch signifikanten Gruppen diezentralen politischen Institutionen als einzig legitimen Rahmen des politischen Wettbe-werbs anerkennen und den demokratischen Spielregeln folgen (Gunther / Diamandouros/ Puhle 1995: 7). Mit dieser Definition rücken sie Einstellungsmuster und das Verhaltender Eliten in den Vordergrund. Sie bilden die signifikanten Gruppen, die die politischenInstitutionen akzeptieren und demokratische Verhaltensnormen befolgen müssen.Gunther, Diamandouros und Puhle wenden sich damit gegen Konsolidierungskonzepte,die den Einstellungsmustern und Verhaltensnormen der Bevölkerung eine zentrale Be-deutung für die Stabilisierung zumessen. Abweichende Tendenzen und anti-demokrati-sche Dissidenten wird es wohl immer - und das heißt auch in konsolidierten Demokra-tien - geben. Daher kann man nicht umfangreiche Bedingungen an eine Konsolidierungstellen, die eine etablierte demokratisch-politische Kultur voraussetzen. Ausschlagge-bend ist, daß die Eliten demokratische Prozeduren respektieren und somit der Opposi-tion im demokratischen Wettbewerb eine Chance geben. Darüber hinaus müssen dieEliten Normen befolgen, die Gewalt und Einschüchterung zurückweisen. Denn nur sokann den Verlierern im politischen Konflikt garantiert werden, daß sie die Austragungdes Konflikts überleben und auch nach verlorener Wahl eine Chance zur Wiederwahlhaben.Wird also die Legitimität der demokratischen Institutionen akzeptiert, dann steigt dieWahrscheinlichkeit, daß gesellschaftliche Konflikte und Interessengegensätze kanali-siert werden, d.h. über demokratisch repräsentative Institutionen vermittelt werden(Gunther / Diamandouros / Puhle 1995). Mit einer solchen Institutionalisierung gesell-schaftlicher Konflikte wird eine gewalttätige außerparlamentarische Konfliktaustra-gung, die eine Stabilisierung der Demokratie gefährden könnte, unterbunden. Einstel-lung und Verhalten der Eliten werden von Gunther, Diamandouros und Puhle als die

Page 178: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 173

zentrale Stütze für einen demokratischen Umgang mit politischen bzw. gesellschaftli-chen Konflikten verstanden. Sie entscheiden über die Chancen einer Konsolidierung,weil sie die Institutionen der Interessenvermittlung - d.h. auch der Konfliktaustragung -ermöglichen und tragen.Dennoch läßt sich in Anschluß an diese Argumentation plausibel erklären, daß für dasVerhalten der Eliten der Rückhalt in der Bevölkerung entscheidend ist. Linz, Stepanund Gunther (1995) zeigen, daß institutionelle Kriterien und vor allem Kriterien, die dasVerhalten der Eliten betreffen, eng mit den Einstellungen in der Bevölkerung verwobensind und damit gemeinsam über den Konsolidierungsgrad entscheiden können: Die in-stitutionellen Kriterien legen fest, daß keine Machtreserven und -zentren außerhalb derinstitutionalisierten demokratischen Verfahren die Politik bestimmen dürfen, und daß esbei den Eliten keine Bestrebungen geben darf, die die demokratischen Institutionen her-ausfordern. Hinzu kommt nun, daß es zur Konsolidierung auch noch einer demokrati-schen Einstellung in der Mehrheit der Bevölkerung bedarf. Linz, Stepan und Gunther(1995) legen mit diesem Kriterium zwar nicht - wie Huntington - die langfristige Per-spektive eines kulturellen Wandels einer Konsolidierung zugrunde. Sie formulieren aberein anspruchsvolleres Konzept als Di Palma, Schmitter oder auch Gunther,Diamandouros und Puhle. Die Bevölkerung muß in ihrem Konzept nicht nur die demo-kratischen Verfahren und Institutionen als legitim und angemessen anerkennen, sonderndarf sich darüber hinaus auch nicht für anti-demokratische Alternativen engagieren.Das Einbeziehen der Einstellung der Bevölkerung liegt nahe, wenn man das Verhaltender Eliten thematisiert, weil anti-demokratische Alternativen natürlich nicht nur von denEliten vorgegeben sein müssen, um eine Bedrohung für die Stabilität der demokrati-schen Verfahren darzustellen. Sie können auch als machtpolitische Reaktionen aufStimmungslagen, Einstellungen und vorhandene cleavages (Konfliktlinien) in der Be-völkerung entstehen.

Was bleibt bei der allgemeinen theoretischen Bescheidenheit und den z.T. widersprüch-lichen Konzepten der Konsolidierung für die Transformationsforschung? Alle Konzeptebenennen Kriterien einer konsolidierten Demokratie. Zum einen weisen die„Democratic Agreements“ im minimalistischen Konzept auf die Bedeutung und Wir-kung strategischer Commitments der Eliten hin. Zum anderen tangiert der „two-turnover test“ der maximalistischen Konzeption Problemkreise und Risiken, die sichüber die Eliten hinaus auf die Bevölkerung beziehen, institutionelle Dimensionen aus-führlich problematisieren und Wechselwirkungen zwischen den Bereichen Kultur undPolitik aufgreifen. Dazwischen liegen Konzepte wie das von Schmitter, Gunther,Diamandouros und Puhle oder von Linz, Stepan und Gunther. Sie legen Kriterien füreine stabile Demokratie zugrunde, die sie entlang der Erfahrungen aus der Geschichteder demokratischen Regimewechsel gewonnen haben. Mit dem Verweis auf historische

Page 179: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 174

Erfahrung begründen sie die Relevanz der Kriterien. Allerdings läßt sich nur schwerentscheiden, welche Bedeutung den Kriterien beizumessen ist, und noch viel schwieri-ger ist der Versuch, sie in eine Rangfolge einzuordnen: Die vielen Kriterien, „... sindweder für die Transformation noch für die Konsolidierung notwendig – und mit Sicher-heit reichen sie dafür auch nicht aus.“ (Schmitter 1995: 52). Mit dieser Ambivalenzbringt Schmitter das Dilemma für die Bildung einer von Raum, Zeit und Kultur unab-hängigen Transformationstheorie auf den Punkt. Die Entwicklungspfade junger Demo-kratien vom Autoritarismus oder Totalitarismus über Liberalisierung zur Demokratiesind vielfältig. Deshalb lassen sich problemlos Beispiele finden, die bewährte Krite-rienlisten als unzureichend disqualifizieren, und genauso lassen sich historische Bei-spiele finden, deren demokratische Stabilisierung offensichtlich ist, obwohl bislang alsunerläßlich geltende Konsolidierungskriterien7 nicht erfüllt wurden.Besteht das Erkenntnisinteresse der Transformationsforschung allerdings darin, Pro-blemkreise und Risiken der Konsolidierung aufzudecken, dann ist mit einem umfang-reichen Katalog relevanter Kriterien viel geleistet. Man kann mit einem zurückgenom-menen Anspruch auf eine allgemeine Theorie der Konsolidierung verzichten, womitman dem Entwicklungsstand der Konsolidierungstheorie keinen Abbruch tut. Sie isteine Wissenschaft, die noch am Anfang ihrer Entwicklung steht (Schmitter 1995: 52)8.Für den Beobachter der Transformation bedeutet dies, daß die spezifischen Prozesseund Hindernisse der Konsolidierung, die jede Demokratie durchläuft, im Vordergrundstehen. Damit gibt man der Diskussion einzelner spezifischer Problemkreise Raum undkann über ihre Bedeutung und Dringlichkeit entscheiden, ohne sie anderen Kriterienunterordnen zu müssen.

Dem aktuellen Stand der Transformationstheorie wird Rechnung getragen, wenn imfolgenden nicht versucht wird, die relevanten Kriterien und den Zeitpunkt festzulegen,die bestimmen, warum und wann sinnvoll von einer krisenresistenten, demokratischenKonsolidierung ausgegangen werden kann. Die kontroversen Diskussionen bieten viel-mehr Anlaß, sich mit den Argumenten und Studien zu den angeschnittenen Problem-kreisen ausführlicher auseinanderzusetzen, um zu sehen, wie vielfältig und verwobender Prozeß demokratischer Stabilisierung ist.In die Vielfalt der Variablen läßt sich eine Systematik bringen: Ursachen für Erfolgeund Mißerfolge demokratischer Konsoldierung werden auf verschiedenen analytischen

7 Für eine Liste solcher Kriterien, die traditionell in der Transformationssforschung als wichtig für dasGelingen einer demokratischen Konsolidierung galten, vergleiche Schmitter (1995: 51f).8 Diese Einschätzung gilt in besonderem Maße für die Transformationsforschung Osteuropas. In einemÜberblick über die aktuelle Demokratisierungsliteratur resümieren Kopecky und Mudde: „EasternEuropean ‚transitology‘ and ‚considology‘ are today still in their embryonic phase, particularly in termsof theory-builing. [...] Consequently an enormous confusion exists within the academic community overwhat democratic transition and consolidation exactly mean and the wide variety of definitions currently inuse ...“ (2000: 519).

Page 180: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 175

Ebenen und unter Berücksichtigung verschiedener Phasenabschnitte identifiziert. DieEinteilung gestattet es, klar umrissene, bereichsspezifische Entwicklungen zu untersu-chen. Die analytische Ebene differenziert sich in drei Bereiche: Auf der Makroebeneläßt sich nach den Strukturen fragen, die den Ausgangspunkt und die damit die Bedin-gungen für den demokratischen Wandel bestimmen. Auf der Mesoebene interessierendie Institutionalisierungsprozesse der Demokratie und die Rolle intermediärer Institu-tionen für die Konsolidierung. Und auf der Mikroebene kann das Thema der Kompati-blität der Einstellungen, Motive und des Verhaltens von Eliten und Bevölkerung mitden demokratischen Institutionen aufgegriffen werden. Mit dieser analytischen Diffe-renzierung können Konsolidierungsprobleme spezifiziert werden. Die Bedingungen derVergangenheit, die Prozesse der Gegenwart und die Erwartungen für die Zukunft lassensich für die einzelnen Länder so miteinander in Beziehung setzen, daß rückwirkendProzesse verstanden werden können und aktuelle Chancen und Risiken für eine ge-wünschte Entwicklung eingeschätzt werden können.

Page 181: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 176

2. Das Erbe der kommunistischen Regime

Die Bedeutung des Erbes der Vergangenheit wird in der Transformationsforschung un-terschiedlich eingeschätzt. Für manche Autoren ist es wichtig zu betonen, daß die Kon-solidierung nicht durch das institutionelle Erbe determiniert wird:„...I can think at least two reasons why the new democracies should be more alike thanthe conditions that brought them about.First, timing matters. The fact that recent transitions to democracy occured as a wavealso means that they happened under the same ideological and political conditions in theworld. Moreover, contagion plays a role. Co-temporarlity induces homogeneity: Thenew democracies learn from the established ones and from another.Second, our cultural repertoire of political institutions is limited. In spite of minutevariations, the institutional models of democracy are very few.“ (Przeworski 1991: 98-99)9.Dem steht die Einschätzung gegenüber, daß die politische Ordnung des alten Regimesden Demokratisierungsprozeß prägt (vgl. Glaeßner 1994: 15f; Huntington 1991; Baylis1998). Es wird argumentiert, daß Erblasten der Vergangenheit als Restriktionen wirken,die die Möglichkeiten der liberalisierenden Maßnahmen, wie die Gewährung bürgerli-cher Freiheiten und Rechte, sowie die Inklusionsdimension, die sich auf die Ausweitungpartizipatorischer Rechte bezieht, gravierend einschränken (Kraus 1990)10.Dieser Dissens läßt sich auflösen, wenn man erstens klären kann, was mit dem BegriffErbe in bezug auf die Konsolidierung gemeint ist, und wenn zweitens davon Abstandgenommen wird, kausale Zusammenhänge zwischen Strukturen, Institutionen und Ak-teuren einerseits und einem bestimmten Stabilisierungsgrad andererseits aufdecken zuwollen. Spricht man im Kontext der Transformationsforschung das politische Erbe derpost-kommunistischen Gesellschaften an, dann verweist man auf die Besonderheitender Aufgabenstellung für einen langfristigen demokratischen Umbau. Die alten politi-schen Strukturen bilden den Ausgangspunkt für die neuen Systeme. Sie bestimmen dasAusmaß des Umbaus, den je nach dem, in welchem Maße zivilgesellschaftliche Ansätzeeingeschränkt waren, freie und umfassende Wahlen nicht stattfanden, rechtsstaatlicheGarantien vorenthalten wurden und rational-legale Normen der Bürokratie unbekanntwaren, ergeben sich Gestaltungsaufgaben für die Konstrukteure des demokratischenUmbaus. Über diese Makrovariablen hinaus, die Minimalanforderungen einer erfolgrei-chen demokratischen Konsolidierung darstellen (vgl. Linz / Stepan 1996), kann mit demVerweis auf institutionalisierte Handlungsroutinen sowie bestimmte Eliten und ihreeventuelle Kontinuität danach gefragt werden, inwiefern Meso- und Makrodimensionen

9 Vgl. für eine übereinstimmende Einschätzung auch die von Crawford und Lijphard herausgegebeneStudie zum Thema Demokratisierung (1997).10 Auch die Chancen und verschiedenen Wege ökonomischer Reformprogramme werden auf Merkmalezurückgeführt, die die kommunistischen Regime unterscheiden (vgl. Stark / Bruszt 1998).

Page 182: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 177

als Ressourcen der Etablierung einer stabilen Demokratie dienen bzw. für sie ein Hin-dernis oder sogar eine Bedrohung darstellen11.Die sich mit dem Verweis auf die unterschiedlichen Analyseebenen andeutende Vielfaltder Variablen induziert einen vorsichtigen Gebrauch deterministischer Aussagen. DieDiskussion des Erbes der post-kommunistischen Gesellschaften kann allerdings eineSystematik der spezifischen Problemkreise für die Konsolidierung dieser Gesellschaftenaufzeigen. Die Systematik liegt dabei in den Gemeinsamkeiten, die sich für die Ent-wicklungspfade und die Aufgaben der Transformation in Rußland und in den ostmittel-europäischen Staaten aufgrund ihrer ähnlichen Vergangenheit aufzeigen lassen; Ge-meinsamkeiten, die besonders in Abgrenzung zu anderen politischen Transformationenin Lateinamerika und Südeuropa deutlich werden.

2.1 Strukturelles Vermächtnis

Bezüglich der Makrovariablen politischer Herrschaftsstrukturen wiesen die osteuropäi-schen Staaten weitgehende Gemeinsamkeiten auf. Der überwiegende Teil der osteuro-päischen Staaten (DDR, Bulgarien, Tschechoslowakei, UdSSR) besaß Herrschafts-strukturen, die sich in vielen bedeutenden Dimensionen ähnlich waren. Ausnahmenbilden Polen und Rumänien.Traditionell hat man in der Transformationsforschung versucht, mit drei Begriffen dieexistierenden, unterschiedlichen Regimetypen nach ihrer Form der Herrschaftsausübungzu klassifizieren. Neben der Demokratie existierten autoritäre und totalitäre Regime12.Typologien, mit denen man Regime charakterisieren will, müssen sich als analytischsinnvoll erweisen. Dieser Anspruch hat Bewegung in die Demokratieforschung ge-bracht. Mitte der 80er Jahre wurde erkannt, daß die drei Kategorien nicht mehr der He-terogenität in den Formen der Herrschaftsausübung gerecht wurden – zu viele verschie-dene, nicht-demokratische Regime hätten der Kategorie „Autoritäres Regime“ unterge-ordnet werden müssen13. Mit der traditionellen Einteilung würden Unterschiede unter

11 Zu den Defiziten der rein akteurtheoretischen Konsolidierungsforschung bemerken Haggard undKaufmann: „They fail to address the factors that shape actors‘ preferences and capabilities in the firstplace and the conditions under which they might change over time.“ (1997: 265).12 Mit diesen Begriffen werden in Anlehnung an Weber (1972: 122f) die politischen Ordnungsformenbzw. Herrschaftsformen bezeichnet, die sich anhand ihrer Legitimität unterscheiden lassen.13 O’Donnell beispielsweise erweiterte die Kategorien um Variationen des Autoritarismustypus (1986:4f). Dem bürokratischen Autoritarismus stellt er traditionellen und populistischen Autoritarismus, eineVerbindung aus diesen beiden Typen , einen Autoritarismustypus, der auf institutionalisierter Revolutionbasiert, sowie Sultanismus (als einen Hybrid all dieser Typen) zur Seite. Damit ist das Spektrumautoritärer Systeme aber noch nicht abgedeckt. O’Donnell nimmt explizit wenig stratifikatorischausdifferenzierte Systeme, wie in Kuba und Nicaragua, heraus. Aus dem spezifischen Charakter derHerrschaftstypen versucht O’Donnell Aussagen über mögliche bzw. wahrscheinliche Wege zurDemokratie abzuleiten. Die Vielfalt der Typen verhindert allerdings generalisierende Aussagen, so daßO’Donnell abschließend bemerken muß: „...that there is not nor is there likely to be in the foreseeablefuture, a vìa revolutionaria open for countries that have reached some minimal degree of stateness and

Page 183: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 178

den Tisch fallen, und die Beobachter könnten nicht mehr die Variabilität der Verände-rungen und Entwicklungen der Regime verstehen.Linz und Stepan haben deshalb zwei weitere Typen dem Schema hinzugefügt – post-totalitäres Regime und Sultanismus (1996: 38f). Mit diesen neuen Typen lassen sichwichtige strukturelle Charakteristiken hervorheben, die besonders für die Forschung derosteuropäischen Transformation von Bedeutung sind, weil sich aus ihren Charakteristi-ken die speziellen Entwicklungspfade und –aufgaben in Abgrenzung zu den Transfor-mationen in Lateinamerika und Südeuropa begründen. Moderne Regimetypen unter-scheiden sich in der Klassifizierung nach Linz und Stepans entlang vier konstitutionellerCharakteristiken der Herrschaftsausübung (1996: 44-45)14:„Pluralism“ beschreibt die Toleranz gegenüber Interessen neben den von den staatlichenInstitutionen bearbeiteten Themen oder sogar konträr zu ihnen und bezieht sich außer-dem auf die Autonomie und Bedeutung organisierter Interessen bzw. alternativer Le-bensstile. „Ideology“ gibt Aufschluß über die legitimierende oder/und politikdetermi-nierende Rolle einer Ideologie in den Regimen. „Mobilization“ beschreibt die Rolle, dieder aktiven Unterstützung der Regierungspolitik oder eines Gesellschaftsauftragesdurch mobilisierte Teile der Bevölkerung beigemessen wird. Und das letzte Kriterium,„Leadership“, thematisiert den Ort, die Verfahren und die Legitimierung der Herr-schaftsausübung.Mit diesen vier Charakteristiken lassen sich die Staaten Osteuropas den nicht-demokra-tischen Regimetypen zuordnen. Da die Charakteristiken auch strukturelle Eigenschaftendemokratischer Regime berücksichtigen, deuten sich in der Ausprägung der Charakteri-stiken bereits die Demokratiedefizite der osteuropäischen Staaten auf der Makroebenean.In autoritären Regimen gibt es wenig politischen Pluralismus, was sich vor allem an dermangelnden Mitgestaltungsmöglichkeit des politischen Geschehens zeigt. Allerdingsgibt es in autoritären Regimen oft mehr oder weniger eingeschänkten sozialen und öko-nomischen Pluralismus. Das politische System kommt in der Regel ohne eine ausfor-mulierte und richtungsweisende Ideologie aus, und genauso wenig greift es auf die Un-terstützung durch mobilisierte Bevölkerungsteile zurück. Ein Führer oder eine kleineElitengruppe bildet den Souverän im Rahmen von Normen, die zwar formal nicht aus-formuliert werden, aber gut vorhersehbar sind. Für die osteuropäischen Staaten trifftdiese Beschreibung teilweise auf Polen zu. Ein totalitäres System konnte dort nie voll-ständig installiert werden (Linz / Stepan 1996: 255). Zwar wurden oppositionelle Par-

social complexity of capitalist social relations.“ (1986: 10). Das heißt, daß die durch dieHerrschaftsstrukturen ermöglichten Transformationspfade nur Möglichkeiten aufweisen, nicht aber überwahrscheinliche Entwicklungspfade informieren.14 Zu dieser Art der Typenbildung läßt sich kritisch anmerken: „While clearly nuanced and promising,this line of explanatory work has nevertheless suffered from a lack of synthesis, and a general tendency tocreate as many categories of previous regimes as there are countries studied.“ (Kopecky / Mudde 2000:527).

Page 184: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 179

teien weder toleriert noch zugelassen, dennoch konnte die katholische Kirche einenRaum relativer Autonomie behaupten, der es Teilen der Gesellschaft ermöglichte, derIdeologie des Regimes zu widerstehen - die Kirche stand für eine ideologische Alterna-tive zum kommunistischen Regime und konnte somit ein Zentrum des Widerstandesbilden (vgl. Micha 1997: 72f). Die Führung wußte um den starken Rückhalt der Kirchein der Gesellschaft, was für sie Grund war, mit der Kirche zu verhandeln und ihr Zuge-ständnisse einzuräumen. Zu diesem eingeschränkten politischen Pluralismus kam einzum Teil ausgeprägter ökonomischer Pluralismus. Weite Teile der polnischen Land-wirtschaft widersetzten sich der Verstaatlichung, wurden kooperativ betrieben oder ver-blieben in Privatbesitz, und in den achtziger Jahren erlebten private Firmen - die„zweite Ökonomie“ - einen bedeutenden Aufschwung (vgl. Tatur 1995: 96f). DieseElemente des limitierten Pluralismus verhinderten die vollständige Penetration durchden Staat wie sie die anderen osteuropäischen Staaten in ihrer totalitären Phase erfuh-ren.Im Totalitarismus gibt es weder ökonomischen noch sozialen oder politischen Pluralis-mus - es gibt neben der Parteienherrschaft und -doktrin keinen Raum für eine paralleleWirtschaft oder Gesellschaft (Linz / Stepan 1996: 40f): Die Ideologie spielt eine tra-gende Rolle im Herrschaftssystem. Die Eliten und Gruppen der Gesellschaft gewinnenaus ihr Legitimität sowie Mission und treffen vor ihrem Hintergrund Entscheidungen.Die Mobilisierung ist umfassend, d.h. große Teile der Bevölkerung sind in staatlichenOrganisationen obligatorisch Mitglied. Die totalitäre Führung begründet sich oft cha-rismatisch, herrscht in nicht definierten Grenzen und ist sowohl für Mitglieder als auchfür Nicht-Mitglieder in ihren Entscheidungen unberechenbar. Die Rekrutierung zu Füh-rungspositionen hängt von dem Erfolg und dem Engagement in der Parteiorganisationab. Alle ostmitteleuropäischen Staaten mit Ausnahme Polens haben in der stalinisti-schen Phase Totalitarismus erfahren, den sie erst nach Stalins Tod überwinden konnten.Im post-totalitären Regime hat eine Bewegung weg vom Stalinismus bzw. ein Prozeßinterner Wandlungsprozesse weg vom Totalitarismus eingesetzt (vgl. Linz / Stepan1996). Die schlimmsten Repressionsformen wurden eingestellt, auch wenn Kontrollme-chanismen wie die Staatsicherheit der DDR aufrecht erhalten blieben. Politischer Plura-lismus wird zwar weiterhin unterdrückt, eine zweite Wirtschaft und parallele Kulturalternativer Lebensstile können sich allerdings durchaus entwickeln. Obwohl die füh-rende Ideologie der früheren totalitären Phase noch gilt, haben das Bekenntnis zu ihrerutopischen Perspektive bzw. der Glaube an ihre Realisierung nachgelassen. In der pa-rallelen Gesellschaft oder zweiten Kultur wird die offiziell verkündete Ideologie alsLebenslüge verstanden. Im Vordergrund steht jetzt die programmatische Übereinstim-mung. Das Interesse der Führung in die Mobilisierung der Bevölkerung läßt nach, undparallel dazu lassen auch Konformität und Übereinstimmung in der Bevölkerung mitden Organisationszielen nach. Zunehmend bestimmen Karrierestreben und Opportu-

Page 185: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 180

nismus das öffentliche Handeln, während die Privatisierung von Werten ein allgemeinakzeptierter Zustand wird15. Die Führung legitimiert sich nicht mehr über ihr Charismaund sieht sich sogar mit einer parteiinternen, ansatzweise demokratischen Prüfung kon-frontiert. Rekrutiert wird nicht mehr nur aus den eigenen Reihen. Da Sachverstand undLeistung die Ideologie als primäre Legitimitätsgrundlage weitgehend abgelöst haben,können sich die führenden Eliten auch aus den Technokraten des Staatsapparates zu-sammensetzen16.Linz und Stepan haben diesen Regimetyp eingeführt, weil die osteuropäischen Systemein der Phase nach Stalins Tod (1953) sich wandelten und nicht mehr sinnvoll in denKategorien des Totalitarismus beschreiben ließen, aber mit der Ausnahme Polens auf-grund des mangelnden Pluralismus genauso wenig als autoritäre Regime qualifiziertwerden konnten. Pluralismus bleibt auch in post-totalitären Regimen signifikant limi-tiert; die offizielle Partei hat immer noch die alleinige Entscheidungskompetenz.Weil die Änderungen in den Bereichen „Pluralism“, „Ideology“, „Mobilzation“ und„Leadership“ in einem Prozeß – d.h. nicht auf einen Schlag – erfolgen, muß man unter-schiedliche Ausprägungen des post-totalitären Typus unterscheiden17. Die Abkehr vontotalitaristischer Herrschaft äußert sich primär in der Einschränkung bzw. Prüfung derFührung und der Zulassung zivilgesellschaftlicher Kritik des Regimes. Der Prozeß derAbkehr vom Totalitarismus bleibt an diesem Punkt stehen, wenn alle Kontrollmecha-nismen des Parteienstaats beibehalten werden wie in der Tschechoslowakei nach 1968und der DDR nach Ulbricht. Der Prozeß kann aber auch weitergeführt werden, wie inUngarn, wo ab 1982 tiefgreifende ökonomische Änderungen erfolgten, mit der diestaatliche Regulierung eingeschränkt und Privatbesitz nicht nur zugelassen wurde, son-dern auch rechtliche Absicherung erfuhr (vgl. Mänicke-Gyöngyösi 1991). Auch im po-litischen Bereich ging die Abkehr vom Totalitarismus in Ungarn recht weit. Zwar wur-den bis 1987 keine oppositionellen Bewegungen oder Parteien zugelassen, auch gab eskeine bedeutenden, organisierten Interessengruppen. Innerparteilich wurden allerdingszunehmend Konflikte - auch mit Rückgriff auf gesellschaftliche Unterstützung – ausge-tragen (vgl. Mänicke-Gyöngyösi 1991; Tökés 1997).Eine weitere Regimeform ist der Sultanismus (Linz / Stepan 1996: 51f): In ihm bleibtder ökonomische und soziale Pluralismus erhalten, ist aber vor Interventionen des Des-poten ungeschützt18. Kein Bereich ist durch Gesetze geschützt. Es gibt zwar keine füh-

15 An dieser Stelle setzt Hirschman den Exit-Voice-Loyality-Mechanismus zur Erklärung desSystemzusammenbruchs an (1993).16 Vergl. hierzu Holmes Analysen der wechselnden Legitimitätsgrundlagen (1993).17 Nach Linz und Stepan sind dies 1. „early post-totaltarianism“, 2. „frozen post-totaltarianism“ und 3.„mature post-totaltarianism“ (1996: 46).18 Linz und Stepan entwickeln den Typus Sultanismus in Anlehnung an Webers Ausführungen zumPatrimonialismus. Bei Weber heißt es: „Mit dem Entstehen eines rein persönlichen Verwaltungs- (und:Militär-) Stabes des Herren neigt jede traditionelle Herrschaft zum Patrimonialismus und im Höchstmaßder Herrengewalt: zum Sultanismus:

Page 186: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 181

rende Ideologie, mit der Entscheidungen gerechtfertigt werden. Dennoch wird der Füh-rer glorifiziert und mit willkürlich gewählten Symbolen und einer Pseudoideologie, derweder intern Glaube noch extern Berechtigung zugesprochen wird, gestützt. Die allge-mein niedrige Mobilisierung der Bevölkerung erfolgt durch Zwang, d.h. ohne dauer-hafte Organisation. Mobilisiert wird lediglich die Gewalt gegen Oppositionsbestrebun-gen. Die Führung ist stark auf die Person des Sultans konzentriert und ihre Legitimationist willkürlich. Es gibt keine gesicherten Karrierepfade. Das Personal rekrutiert sich ausdem Familien- oder Freundeskreis sowie aus Verbündeten, die sich in der Unterstützungdes Regimes – i.d.R. mit Gewalt - bewährt haben. Die Unterordnung qualifiziert füreine Position, und sie erfolgt aus Angst und auf der Basis von Belohnung.Der Typus Sultanismus trifft teilweise auf Rumänien vor 1989 zu19. Ceausescu war seitseinem Führungsantritt 1965 damit beschäftigt, seine Machtbefugnisse auszubauen. BisMitte der 70er Jahre konnte er einen hochgradig personalisierten, uneingeschränktenund willkürlichen Führungsstil etablieren. Familienmitglieder besetzten Machpositio-nen, keiner war vor persönlichen Übergriffen geschützt, und Kritik wurde so brutal un-terdrückt, wie in keinem anderen osteuropäischen Land. Eine zweite Kultur konnte sichwegen der umfassenden Kontrolle nicht bilden. Im Gegensatz zu den meisten anderenStaaten Osteuropas wurden in Rumänien keine liberalisierenden Reformen angestrengt.Ansätze der Reformpolitik, wie sie sich in Polen, Ungarn, aber vor allem auch der SUmit Gorbatschows Perestrojka und Glasnost beobachten ließen, wurden ebenso wie dieUnterordnung unter den Hegemon SU abgeblockt (vgl. Gabanyi / Henya 1994). Deshalbwar auch die Anzahl unabhängiger sozialer Bewegungen in keinem Land so niedrig wiein Rumänien (vgl. Linz / Stepan 1996: 352). Zwar nahm die Ideologie des Marxismus-Leninismus eine führende Rolle ein, dennoch wurde ihre Auslegung durch Ceausescuzunehmend widersprüchlich und opportunistisch bzw. dem vorherrschenden Nationa-lismus untergeordnet, was für ein sultanistisches Regime typisch ist. In der Dimension die „Genossen“ werden nun erst recht zu „Untertanen“, das bis dahin als präeminentes Genossenrechtgedeutete Recht des Herren zu seinem Eigenrecht, ihm in (prinzipiell) gleicher Art appropriiert wieirgendein Besitzobjekt beliebigen Charakters, verwertbar (verkäuflich, verpfändbar, erbteilbar) prinzipiellwie irgendeine wirtschaftliche Chance. Äußerlich stützt sich die patrimoniale Herrengewalt auf (oft:gebrandmarkte) Sklaven- oder Kolonnen- oder gepreßte Untertanen- oder - um dieInteressengemeinschaft gegenüber den letzteren möglichst unlößlich zu machen – Sold- Leibwachen und–Heere (patrimoniale Heere). Kraft dieser Gewalt erweiterte der Herr das Ausmaß der traditionsfreienWillkür, Gunst und Gnade auf Kosten der patriachalen und gerontokratischen Traditionsgebundenheit.Patrimoniale Herrschaft soll jede primär traditional orientierte, aber kraft vollen Eigenrechts ausgeübte,sultanistische eine in der Art ihrer Verwaltung sich primär in der Sphäre traditionsungebundener Willkürbewegende Patrimonialherrschaft heißen“ (1972:133-134).Zwang und willkürliche Legitimation (nicht einmal traditionsgebunden) der Führung sind hier diezentralen Charakteristiken, die Linz und Stepan übernommen haben. Eine solche Beschreibung kann aberkeineswegs beanspruchen, die primären Merkmale aller osteuropäischen, kommunistischenGesellschaften benannt zu haben – wie beispielsweise bei Glaeßner (1994: 23f) unterstellt wird. Die post-stalinistischen Gesellschaften legitimierten sich über ihre Ideologie, und die Person des Führers verlorsowohl an Macht als auch an Bedeutung. Beim Sultanismus handelt es sich vielmehr um einenSpezialfall, der nur auf die extremen Bedingungen in Rumänien vor 1989 paßt.19 Das rumänische Regime wird von Linz und Stepan als „Totalitarianism-cum-Sultanism“ typisiert(1996: 344f).

Page 187: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 182

der Mobilisierung entsprach das Regime eher dem totalitären Typus, weil bis zuletztumfangreiche Mobilisierungen von allen möglichen Organisationen, die das Regime zufeiern hatten, eingefordert wurden (vgl. Linz / Stepan 1996).

Mit den vier konstitutionellen Charakteristiken der Regimetypen – „Pluralism“, „Ideo-logy“, „Leadership“ und „Mobilization“ – läßt sich auf institutionelle Merkmale ver-weisen, die direkt den Charakter der politischen Machtausübung und indirekt (meist)die Ordnung in den anderen gesellschaftlichen Teilbereichen bestimmen. Man kann dieHerausforderungen, die aus spezifischen Herrschaftsstrukturen erwachsen, nur verste-hen, wenn ihre institutionellen Auswirkungen deutlich werden. Deshalb muß man nachden institutionellen Handlungsroutinen fragen, mit denen strukturelle Merkmale durch-gesetzt und etabliert wurden. Um die Bedeutung des strukturellen Erbes zu verstehen,müssen derartige Implikationen der Makrostukturen auf der Mesoebene erläutert wer-den. Erst die institutionellen Spezifika struktureller Kennzeichnungen verdeutlichen,welche Last der Vergangenheit, aber auch welche Besonderheiten der einzelnen Länderdie Entwicklung hin zu einer konsolidierten Demokratie mitbestimmen. Die institutio-nellen Spezifika in einer strukturellen Bestimmung bilden das Fundament der Ma-krostrukturen der Regime. Sie beschreiben den Charakter der Macht- und Herrschafts-beziehungen in dem Regime, weil sie die mit dem Charakter des Regimes verbundenenHandlungsroutinen kennzeichnen; (intermediäre) Institutionen reflektieren und regulie-ren den Grad des zugelassenen Pluralismus, über (Bildungs-)Institutionen wird dieIdeologie und deren Bedeutung vermittelt, Institutionen bestimmen den Zugang zu so-wie Umfang bzw. Beschränkung von Führungspositionen, und der Grad der Mobilisie-rung spiegelt einen wichtigen Aspekt der institutionalisierten Beziehung zwischen derFührung und der Bevölkerung wider. Anhand der Institutionen läßt sich die für die De-mokratisierung maßgebliche regimespezifische Differenz zu demokratischen Strukturenverdeutlichen. Es sind die etablierten Handlungsroutinen und -regulierungen, die ineiner Demokratisierung durch Prozesse des institutionellen Umbaus bzw. Aufbausüberwunden werden müssen. Die institutionellen Charakteristika büßen ihre Selbstver-ständlichkeit ein, die die strukturelle Stabilität der Macht- und Herrschaftsbeziehungensicherte; die alten Beziehungsmuster und Handlungsroutinen werden in dem strukturel-len Wandel in Frage gestellt, abgeschafft oder umgebaut (vgl. Nedelmann 1995).Im Streben nach einer konsolidierten Demokratie werden alle Regime institutionelleMindeststandards anvisieren, die 1.) zivilgesellschaftliche Strukturen tolerieren undunterstützen, 2.) freien und umfassenden Wettbewerb in politischen Wahlen erlauben,3.) rechtsstaatliche Sicherheiten garantieren, 4.) die Bürokratie rational-legalen Normenunterwerfen und die 5.) ein gesetzliches Regelwerk bereitstellen, das den Markt recht-lich absichert.

Page 188: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 183

Auch wenn man Polen und Rumänien teilweise ausnehmen muß, so läßt sich doch mitLinz und Stepan entlang ihrer Regimetypen argumentieren, daß die meisten kommuni-stischen Länder den Totalitarismus in der letzten Dekade vor dem Zusammenbruchüberwunden hatten und damit dem post-totalitären Typus zuzuordnen sind (1996: 244f).Mit Rückgriff auf die Regimecharakteristika ist daher ein in den vier Dimensionen ge-meinsamer Katalog der strukturellen Problemstellung post-kommunistischer Staaten beider Demokratisierung aufgestellt.

Dieser Katalog erweitert sich mit einem zusätzlichen strukturellen Vermächtnis, dasbesonders die multinationalen bzw. multiethnischen Staaten Osteuropas bewältigenmüssen. Das Erbe des österreich-ungarischen und sowjetischen Imperiums sowie derExpansionismus Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion haben zu einer vielfachenNeuzeichnung von Staatsgrenzen in Osteuropa geführt. Dieses Erbe wird erst mit derDemokratisierung zu einem Problem. Unter den nicht-demokratischen Regimen wurdenden Minderheiten keine Teilnahmerechte am politischen Prozeß eingeräumt, was nichtsBesonderes war, da die gesamte Bevölkerung auf politische Rechte verzichten mußte. Ineinem demokratischen Regime hingegen muß sich die staatliche Autorität legitimieren,um kollektive Ziele bindend durchsetzen zu können. Die Interessen aller von denStaatsgrenzen umfaßten Bürger müssen berücksichtigt werden, weil ein moderner de-mokratischer Staat auf der Partizipation seiner Bürger beruht. Die Politik muß inklusivsein, d.h. darf nicht systematisch bestimmte Gruppen ausschließen oder benachteiligen.Mit der kollektiven Identität, die sich auf ethnisch-nationale Traditionen stützte, lagenalternative Symbole im Widerstand gegen die Unterdrücker bereit. Die ethnische Sym-bolik bot eine „saubere Identität“, mit der die Distanz zum alten Regime hervorgehobenwerden konnte (Offe 1994: 155). Aus dieser Tendenz des östlichen Nationalismus kön-nen Probleme für Demokratien in Transformationsprozessen entstehen. Der Begriff derNation verweist auf gemeinsame Werte, die eine einheitsstiftende Solidarität derGruppe garantieren. Die Staatsgrenzen Osteuropas sind nun aber so gezogen, daß sieoftmals nicht den nationalen Grenzen entsprechen. Der Grad der nationalstaatlichenHomogenität war besonders in den Föderationen (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ju-goslawien) gering20. Hier sind ethnische Konflikte vorgezeichnet, oder es bietet sichzumindest die Möglichkeit für lokale Eliten, Konflikte für ihr politisches Interesse zuinstrumentalisieren. Unterschiedlichste und zum Teil auch in Konflikt miteinander ste-hende Werte verbinden verschiedene Gruppen innerhalb eines durch Staatsgrenzen um-faßten Territoriums oder Gruppen, die sich über Staatsgrenzen hinweg traditionell mit-einander verbunden fühlen (vgl. Foster 1995). Diese Staaten haben ein „Stateness-Pro-blem“ (Linz / Stepan 1996: 16): Territorialität und politische Community fallen ausein-

20 Aus diesem Umstand wird z.T. auch versucht, die unterschiedlichen Ergebnisse der TransformationOsteuropas zu erklären (vgl. Vachdová / Suyder 1997).

Page 189: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 184

ander, oder es bestehen Differenzen darüber, wem bürgerliche Rechte in dem Staatsge-biet zugestanden werden, weil es Differenzen bezüglich der territorialen Grenzen desStaates gibt, oder weil sich nicht konfliktfrei bestimmen läßt, wer Bürger in dem Staatist.Die Sowjetunion bzw. Rußland geben ein besonders anschauliches Beispiel für das„Stateness-Problem“. Der sowjetische Föderalismus bildete ein prinzipiell kon-fliktträchtiges, strukturelles Erbe (Linz / Stepan 1996: 368): Das Staatsterritorium um-faßte eine Vielzahl von Territorien mit nationalstaatlichen Identitäten. Der sowjetischeFöderalismus förderte aber keineswegs die Integration des multinationalen Staates.Vielmehr schuf er die Basis für eine Politisierung von Ethnizität21. In der Föderationkonnten die Republiken der SU zwar kulturelle Eigenarten bewahren und nationale In-teressen vorantreiben. Von den Schlüsselstellen der Macht im zentralen Parteienregimeaber, wo die wichtigen Entscheidungen gefällt wurden, waren die meisten nicht-russi-schen Nationalitäten ausgeschlossen – womit Rußland seine „imperialen Vorstellungen“(Glaeßner 1994: 59) zu verwirklichen suchte. Die Zentrale gab die Ideologie vor undmanagte die wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten der Republiken. Als sich danndas sowjetische Föderationssystem aus der Elite heraus entlegitimierte und damit derParteienstaat seine Kontrolle über die Föderation zu verlieren begann, gab es aufgrundder Erfahrungen mit der Zentrale genug Anreize und die Möglichkeit, Ressourcen zumobilisieren, um Ethnizität zu einem politischen Thema zu erheben, was letztendlich zudem Zerfall der SU führte.Der Prozeß des Zerfalls ist mit der Abspaltung der baltischen und zentralasiatischenStaaten nicht abgeschlossen. Weiterhin wird die staatliche Integrität Rußlands bedrohtbzw. wird die Demokratisierung der Nachfolgestaaten der SU von ethnischen Konflik-ten und ethno-strategischer Politik der Führung aufgehalten. Das gleiche gilt natürlichfür die Nachfolgestaaten des föderalen Jugoslawiens Titos.

Das Stateness-Problem besonders der osteuropäischen Föderationen spezifiziert dieProblemlage für die Demokratisierung entlang der Heterogenität bzw. Homogenität derStaaten. Eine weitere Spezifizierung erfolgt mit der differenzierten Betrachtung der Artdes Regimewechsels in den osteuropäischen Staaten.Für den Beobachter der Konsolidierung bildet zum Zeitpunkt des Regimeumbaus dieArt, in der sich der Regimewandel vollzog, Teil der Bestandsaufnahme der strukturellenAusgangsbedingungen (vgl. Huntington 1991)22. Ihn interessiert, auf welchem Wege

21 Die Politisierung von Ethnizität setzt voraus, daß singuläre ethnische Identitäten nicht gegeben sind,sondern konstruiert werden. Prinzipiell sind multiple Identitäten, die vor einer Polarisierung schützen,möglich.22 Diese Betrachtungsweise muß nicht der These der vorliegenden Arbeit widersprechen, daß für dieAnalyse des Zusammenbruchs (als Teil des Wandels) eine Mehrebenenanalyse geeignet ist. Ist die Artdes Zusammenbruchs auch nicht nur auf Strukturen zurückzuführen, sondern ebenso von den

Page 190: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 185

sich die Ablösung des nicht-demokratischen Regimes vollzog; beispielsweise läßt sichfragen, ob das kommunistische Regime in einem Prozeß langsamer Änderungen und aufdem Verhandlungswege überwunden wurde, oder ob das kommunistische Regime ein-fach in sich zusammenbrach. Zu diesen Vorgängen, die in der Literatur als Erosion bzw.Implosion oder Kollaps bezeichnet werden, kommt noch eine weitere Möglichkeit, beider der Systemwechsel unter der Führung der alten Kader aus der zweiten Reihe erfolgt(v. Beyme 1994: 94f).Das Merkmal, anhand dessen sich die unterschiedlichen Formen des Regimewandelsunterscheiden lassen, ist die Zusammensetzung der am Transformationsprozeß betei-ligten Akteure23. Die Zusammensetzung entschied, welche Strategien bei dem Übergangberücksichtigt wurden. Je nach Grad der Beteiligung unterschiedlicher Akteure gewinntder Regimewechsel eine spezifische Struktur. Als Akteure kommen Mitglieder oderGruppierungen sowohl der Regierung als auch der Opposition in Frage. Die Akteure desRegimewechsels können sich dementsprechend entweder nur aus der Elite zusammen-setzen, nämlich dann, wenn die Regierung der Opposition überlegen ist. Dies war derFall in Ungarn, der SU und zeitweise auch in Bulgarien. Oder die Akteure des Regime-wechsels rekrutieren sich primär aus der Opposition, die die Führung übernimmt, näm-lich dann, wenn die Opposition der Regierung überlegen ist. So geschehen in Rumänienund der DDR. Als weitere Möglichkeit könnte der Regimewechsel durch eine gemein-same Aktion (Pakt) von Regierung und Oppositon bewerkstelligt werden. Dies war vorallem der Fall in Polen und der Tschechoslowakei. Huntington bezeichnet diese dreimöglichen Regimewechsel („transitions“) in der oben vorgestellten Reihenfolge als„transformation“, „replacement“ und „transplacement“ (1991: 109f).Wie es zu diesen drei unterschiedlichen Formen der „transition“ kommen konnte, istzwar eine Kernfrage für das Verständnis des Zusammenbruchs, für den Erfolg der Kon-solidierung ist diese Frage aber unerheblich. Lediglich die Zusammensetzung der betei-ligten Akteure ist für den Prozeß der Demokratisierung entscheidend – sie bildet eineAusgangsbedingung für die Konstruktion demokratischer Institutionen24. Darüber, wiesich der Zusammenhang von der Art des Regimewechsels und einer erfolgreichen de-

Interaktionen der beteiligten Akteure abhängig, so hinterläßt sie doch Strukturen, an die in der Phase desUmbaus angeknüpft werden muß.23 Die Akteure konnten im Prozeß des Zusammenbruchs durchaus wechseln. Dennoch widerspricht dieBedeutung, die der „Art des Regimewechsels“ hier zugewiesen wird, nicht der Dynamik wechselnderpolitischen Akteure im Transformationsprozeß. Es wird nicht etwa ein statisches Konzept derCharakterisierung des Zusammenbruchs impliziert (wie beispielsweise bei Karl und Schmitter 1991), beidem vereinfachend bestimmten Akteuren oder einer bestimmten Gruppe von Akteuren die Regie desZusammenbruchs und Wechsel zugeschrieben wird. Vielmehr geht es darum zu verstehen, daß esdurchaus Unterschiede in der Dynamik des Wechsels gab, die ein unterschiedliches Set anentscheidungsrelevanten Akteuren hinterlassen haben, das die Akteurskonstellation bestimmt, von der ausdie Konstruktion demokratischer Institutionen startet.24 Welsch argumentiert, daß nicht die Art des Regimewechsels, sondern die Bereitschaft zu verhandeln,Kompromisse einzugehen einen entscheidenden Einfluß auf die Stabilisierungschancen der neuenDemokratie hat (1994): Verhandlungen und Kompromisse bilden fruchtbare Mittel der Konfliktlösungbei der Einführung neuer Institutionen.

Page 191: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 186

mokratischen Konsolidierung gestaltet, bestehen allerdings unterschiedliche Meinun-gen. O’Donnell und Schmitter (1986) glaubten, auf dem Hintergrund der Erfahrungenmit den südamerikanischen und südeuropäischen Regimewechseln die institutionellenErgebnisse als Resultat der Akteursstrategien identifizieren zu können. Damit sahen sieeinen starken, deterministischen Zusammenhang zwischen den Eigenschaften des Über-gangs und des neuen Regimes. Das zeigte sich besonders bei der „ruptura pactada“ -dem verhandelten Übergang - in Abgrenzung zum Kollaps eines Systems. ErfolgreicheRegimewechsel und Demokratisierungen waren Ergebnis von Pakten bzw. Verhand-lungen. Politisch bedeutete dies, daß die prodemokratischen Kräfte vorsichtig zu taktie-ren hatten. Sie mußten sich auf Konzessionen im Tausch für Demokratie einlassen. Sowar vorgezeichnet, daß die institutionellen Ergebnisse eines verhandelten Regimewech-sels tendenziell konservativ sind. Dem entgegen argumentiert Przeworski (1991: 67f),daß Übereinkünfte, wie sie in Pakten getroffen werden, inhärent instabil sind: Werdenbeispielsweise „konservierende“ Garantien als Konzessionen eingeräumt, wie in Polenab Juni 1989, wo 65% der Sitze im Sejm den Kommunisten garantiert wurden, so sinddiese keineswegs vor Änderungen in dem demokratischen Regime geschützt. Das Bei-spiel Polens zeigt, daß die Modalitäten des Regimeübergangs zwar Spuren hinterlassenkönnen. Es zeigt aber auch, diese Spuren werden mit der Zeit in dem Prozeß der Insti-tutionalisierung der Demokratie verwischt.Daher kann die Art des Regimewechsels nicht darüber informieren, welche demokrati-schen Institutionen aus ihren spezifischen Akteurskonstellationen folgten. Allerdingsinformiert die Zusammensetzung der Akteure über die Ausgangsbedingung für den in-stitutionellen Umbau. Mit ihr sind neben den Variablen „Regimetyp“ und „NationaleIdentität“ (bzw. „Stateness“) die Constraints für die ersten Schritte einer demokrati-schen Konsolidierung gesetzt. Die Art des Regimewandels kann über Partizipation undOrganisationsgrad von Opposition und Bürgern Auskunft geben, sie kann darüber in-formieren, ob es einen Einfluß des alten Regimes gibt, oder sie kann Einsicht geben, obdas demokratische Regime sich mit Kräften auseinander setzen muß, die sich eine Kon-tinuität der Herrschaft wünschen.

2.2 Institutionelle Defizite

Für die Einrichtung demokratischer Institutionen ergab sich insbesondere aus den politi-schen Herrschaftsstrukturen eine Herausforderung. Mit den Charakteristiken des jewei-ligen Regimetyps manifestierten sich in Osteuropa Institutionen und institutionelle De-fizite, die besondere Schwierigkeiten für die Institutionalisierung der Demokratie bil-deten:

Page 192: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 187

Erstens wurden in post-totalitären Regimen zivilgesellschaftliche Strukturen - vomStaat unabhängige Organisationen und Gruppen - kaum zugelassen. Ganz im Gegenteil.Interessengruppen wie Gewerkschaften, Kollektive und Vereine wurden oftmals in dertotalitären Phase aufgebaut und auch in der post-totalitären Phase weiterhin von derPartei kontrolliert (vgl. v. Beyme 2000; Croissant / Merkel 2000; Mänicke-Gyöngyösi1996). In der UdSSR, aber auch der DDR, Tschechoslowakei sowie in Rumänien undBulgarien ging die Kontrolle sogar so weit, daß die Interessengruppen unter der Beob-achtung der Geheimdienste standen, womit eine aktive Rolle ihrer Führer in der Trans-formation unmöglich wurde. Aus der Integration der Interessengruppen in den Staatsap-parat folgt eine ganz besondere Schwierigkeit bei der Etablierung demokratischerStrukturen (Linz / Stepan 1996: 245): Die Integration von Kollektiven und Gewerk-schaften einerseits und der politischen Zentrale andererseits hatte auch eine materielleDimension. Die Partei veranlaßte Subventionierungen und Prämien, die letztendlich denArbeitern, Bauern und Bürokraten zugute kamen. Akteure, die von solchen Vorteilenprofitierten, sträubten sich oftmals gegen zunehmende Autonomie – ihre Sorge war esnämlich, ihre materielle Sicherheit gegen eine vage Alternative in der neuen marktori-entierten Demokratie einzutauschen.Zweitens findet die Installation des freien Wettbewerbs in politischen Wahlen in denpost-kommunistischen Gesellschaften seine besondere Herausforderung darin, daß diePolitiker nicht wie in anderen modernen demokratischen Gesellschaften unabhängigeGruppen repräsentieren (Linz / Stepan 1996: 245): Unabhängige Unternehmergruppenoder Gewerkschaften gilt es erst noch gegen die zuvor genannten Schwierigkeiten zuetablieren. Außerdem müssen sich politische Parteien gegen die negativen Konnotatio-nen und Assoziationen durchsetzen, die sie von der Führungspartei der kommunisti-schen Gesellschaft geerbt haben und die mit dem Begriff Partei verbunden werden (vgl.Elster / Offe / Preuss 1998: 132f; Segert 1997)25. Bezeichnenderweise gehörten Führerwie Walesa, Havel und Jelzin auch keiner Partei an.Zu dem Mangel an Parteien und anderen staatsunabhängigen Interessengruppen kommtder Mangel an ausformulierten, konkurrierenden politischen Programmen, die für eineWettbewerbsdemokratie essentiell sind, wenn sie nicht Gefahr laufen soll, daß sekun-däre Themen wie Ethnizität und Religion aus Machtgesichtspunkten instrumentalisiertwerden. Parteien müssen die zentralen sozialen cleavages politisch übersetzen, damitein stabiles Parteiensystem entstehen kann. Stabile Parteiensysteme können allerdingseine marktwirtschaftliche Demokratie nur stabilisieren, wenn sie nicht ethnische Kon-fliktlinien oder cleavages zwischen Gewinnern und Verlieren der Transformation reprä-sentieren, sondern eine regulierte Arbeit-Kapital-Konfliktlinie widerspiegeln (vgl.

25 Auffällig ist, daß sich kaum eine der bedeutenden Bewegungen Osteuropas Partei nennt. Bevorzugtwerden Begriffe wie Forum, Front oder Kraft (vgl. für eine Übersicht über die Parteienlandschaft in denostmitteleuropäischen Staaten: Segert 1997).

Page 193: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 188

Merkel 1997: 347f)26. Die Vertretung der Arbeiterinteressen kann für die „sozialver-trägliche Gestaltung“ des Übergangs ausgesprochen wichtig sein (vgl. v. Beyme 1997),während ethnische Konfliktlinien beispielsweise die nationalstaatliche Integrität bedro-hen können, die eine institutionelle Vorbedingung demokratischer Konsolidierung dar-stellt. Das strukturelle Erbe staatssozialistischer Modernisierung besteht aber zumüberwiegenden Teil gerade darin, daß die Konfliktlinie Arbeit-Kapital systematischdurch die des Privateigentums verdrängt wurde (vgl. Segert 1997: 73), daher bestandvorerst kein Bedarf einer solchen Interessenvertretung.Drittens war die Führung totalitärer Regime dem demokratischen Rechtsstaat funda-mental entgegengesetzt, weil sie Macht in undefinierten Grenzen ausübte. Mechanismender Selbstbindung, wie sie moderne Verfassungen darstellten (vgl. Elster 1988b; Rüb1995), wurden der Ideologieauslegung und Parteiinterpretation geopfert. Auch im Post-Totalitarismus gab es keine Rechtssicherheit für die Bürger. Lediglich Prozeduren zurEinschränkung der Führung und zur Beschneidung der Kontrolle anderer Parteielitenwurden ausgebaut (vgl. Linz / Stepan 1996: 249). Im Gegensatz zu vielen autoritärenGesellschaften kann in den osteuropäischen Staaten daher nicht auf Rudimente einerVerfassungskultur mit selbstbindendem Charakter zurückgegriffen werden27. Sie gilt eserst noch aufzubauen.Viertens kann das Erbe des bürokratischen Apparats post-kommunistischer Gesell-schaften für die Bürokratisierung ein besonderes Problem darstellen (vgl. v. Beyme1994: 175f.). Einerseits sind die Bürokraten nach politischen Kriterien des alten Regi-mes rekrutiert worden. Das kann die Effektivität der Politik einschränken, wenn dieUmsetzung politischer Entscheidungen des neuen Regimes durch eine den Wechselüberdauernde Bürokratie blockiert wird. Außerdem verlangt die Tendenz totalitärerbzw. post-totalitärer Regime, ihre Bürger auszuspionieren, aus Legitimitätsgründen ineinem gewissen Rahmen nach Säuberungsprozessen. Besonders problematisch ist dabei,daß nicht etwa Geheimdienste, die mit dem neuen Regime abgeschafft wurden, dieBürger ausspionierten – wie in den meisten autoritären Regimen -, sondern in einemweiten Umfang die Bürger selbst. Aufklärung und Säuberungen der Vergangenheitkönnen daher umfassende gesellschaftliche Konflikte provozieren (vgl. Offe 1994; v.Beyme 1994: 185f). Andererseits kann auch die Entlassung loyaler Bürokraten die Ef-fektivität bedrohen – wer soll die administrativen Vorgänge sonst bewerkstelligen? Je

26 Lipset und Rokkan (1967) führen in ihrer Theorie sozialer Konfliktstrukturen aus, wie sich entlang viersozialer Konfliktlinien (Zentrum / Peripherie; Kirche / Staat; Stadt / Land; Arbeit / Kapital) in denwestlichen Gesellschaften Koalition großer Gruppen, Eliten und Parteien gebildet haben. Konfliktlinienbilden also die Basis für die Ausdifferenzierung parteipolitischer Positionen.27 Eine Ausnahme bildet evtl. Polen. Michta (1997) argumentiert, daß die Erfahrungen Polens mit einemfunktionierenden demokratischen System in der Zwischenkriegszeit (1918-39) auch während und nachder Phase des kommunistischen Regimes mit dem Ideal eines souveränen, politischen Staates verbundenwurde – ein Ideal politischer Partizipation, des Parlamentarismus und der Parteienpolitik, das an dieNachkriegsgenerationen weitergegeben wurde.

Page 194: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 189

mehr Staat und Partei eine Einheit bilden, desto stärker ist die Funktionsfähigkeit derBürokratie vom Zusammenbruch der Partei betroffen (Linz / Stepan 1996: 250f).Fünftens ergeben sich aus dem Erbe Problemstellungen für die Einführung einer recht-lich abgesicherten Marktwirtschaft: Das Erbe der totalitären und auch der post-totalitä-ren Regime ist besonders problematisch, weil nahezu das gesamte Regelwerk einerfreien Marktwirtschaft neu installiert werden muß (vgl. Clague / Rausser 1992; Clague1992). Wie konfliktgeladen solche Prozesse sein können, zeigt sich an der Diskussion,die sich um die Einführung von Eigentumsrechten entbrannt hat (vgl. Bönker / Offe1994)28: Welcher Zeitpunkt gilt als legitime Referenz für die Zuteilung von Besitz - dievorkommunistische oder vielleicht die Zeit vor dem 2. Weltkrieg? Oder, wie lassen sichkonfligierende Kriterien bezüglich der Gerechtigkeit und Effizienz bei der Wiederher-stellung von Eigentum lösen?

Neben diesem Katalog allgemeiner institutioneller Herausforderungen post-kommuni-stischer Regime für die Demokratisierung, der sich aus den institutionellen Dimensio-nen der politischen Herrschaftsausübung ableiten läßt, führen institutionelle Spezifikaeinzelner Länder zu Variationen, die sich auf die Spezifika des Regimetypus zurückfüh-renlassen. Das gilt insbesondere für Polen und Rumänien:Für Polen bedeutete der zwar stark limitierte, aber dennoch vorhandene Pluralismus zurZeit des kommunistischen Regimes eine Begrenzung der Macht von Führung und Parteiin Wirtschaft und Politik. Der Pluralismus ermöglichte im ökonomischen Bereich einrasche und erfolgreiche Privatisierung und im politischen Bereich die ausgehandelteTransformation (Pakt) zwischen Opposition und Führung. Letzteres muß für die politi-sche Konsolidierung nicht unbedingt als Vorteil verstanden werden. Ein verhandelterÜbergang verlangt nach Eingeständnissen und Garantien, die den radikalen Bruch mitder Vergangenheit verhindern – die kommunistische Führung kann sich Machtressour-cen und damit Einflußchancen sichern (Huntington 1991; O’Donnell / Schmitter 1986;Przeworski 1991: 78). Ein weiteres systematisches Problem für die Entwicklung einer„Political Society“ (dem regulierten gesellschaftlichen Konflikt in demokratisch legiti-mierten institutionellen Bahnen) war in dem Charakter der Opposition angelegt. DieOpposition gegen den Parteienstaat wurde als „moralischer Diskurs der Wahrheit“ (vgl.Tatur 1991) geführt. Das Erbe dieses Oppositionscharakters ist eine antipolitische Ein-stellung zugunsten einer ethischen Zivilgesellschaft, die demokratischen Werten wider-spricht und sich in einer Parteienlandschaft widerspiegelt, die u.a. durch religiösecleavages (vgl. Merkel 1997; v. Beyme 1997) geprägt ist. Der demokratische Wettbe-werb verlangt nach der Repräsentation konkurrierender Interessen und nicht nach einemethischen Diskurs. Selbst die bedeutendste Oppositionskraft, die Gewerkschaft

28 Zur Problematik der Restitution von Eigentum vgl. Mansfeldová (1996) zu Tschechien und Jarosz undWeber (1996) zu Polen.

Page 195: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 190

Solidarnosc, formulierte kein interessenbasiertes Programm und war darüber hinaus wiedie gesamte Interessenlandschaft Polens stark fragmentiert (Mitcha 1997)29.In Rumäniens totalitärem Sultanismus gab es nicht wie in Polen einen limitierten politi-schen Pluralismus (vgl. Gabanyi / Hunya 1991). Für einen ausgehandelten Übergangzur Demokratie fehlten deshalb auch die relevanten Akteure – weder gab es friedlichedemokratische Gruppen einer Zivilgesellschaft oder demokratische Oppositionsgrup-pen, noch gab es innerhalb der Führung die Möglichkeit, Reforminteressen zu vertreten.Die Abrechnung mit dem alten Regime fiel heftig aus. Das Regime hinterließ eine voll-kommen abgeflachte politische und soziale Landschaft (Linz / Stepan 1996: 344f). Zö-gerliche oppositionelle Ansätze brachten keine programmatische Kampagne zustande,die in der Lage gewesen wäre, die kommunistischen Kader an der Führung abzulösen.Rumänien bildet eine gutes Beispiel dafür, wie ethnische cleavages die demokratischeKonsolidierung verhindern bzw. verzögern können, wenn sie politisch mobilisiert wer-den (Merkel 1997: 349). Nationalstaatliche, chauvinistische Themen sind weiterhin be-stimmende Politikinhalte. Die demokratische Opposition wurde durch die Übertreibungder Bedrohung der nationalen Identität – wie sie auch schon unter Ceausescu üblich war– aufgespalten (vgl. Gabanyi / Hunya 1994: 80f): Die Bedrohung sollte nämlich beson-ders von der ungarischen Minderheit ausgehen, deren Partei - die Ungarische Demokra-tische Allianz - zuvor eine wichtige Kraft in der Demokratisierungsbewegung darstellte.Selbst bei den zweiten Wahlen 1995 konnte noch kein politischer Führer, der nicht inder kommunistischen Partei Karriere gemacht hätte, Macht gewinnen30.Rumänien war das osteuropäische Land, das mit Blick auf die Mindeststandards einerkonsolidierten Demokratie am weitesten von der Demokratie entfernt war31 (Linz / Ste-pan 1996: 344f): Die Zivilgesellschaft bleibt schwach, politischen Wettbewerb mit ei-ner echten Regierungsalternative gibt es nicht, der Rechtsstaat hat gravierende Mängelbesonders im Minderheitenschutz, eine Reform der Staatsbürokratie gab es nicht, undmarktwirtschaftliche Strukturen gilt es erst noch aufzubauen.

Bevor aber marktwirtschaftliche und demokratische Institutionen etabliert werden kön-nen, muß das „Stateness-Problem“ gelöst werden. Die Konsolidierung nationaler Gren-zen ist eine Vorbedingung für die erfolgreiche Einführung demokratischer Institutionen(vgl. Dahl 1989; v. Beyme 1994: 144f, 1997: 25f; Schmitter 1995a, 1995: 49; Linz /Stepan 1996: 16f). Dieser Aufgabe, der Schaffung einer national-staatlichen Integrität,

29 Von Beyme bezeichnet das Parteiensystem von Regimen im Systemwechsel zutreffend als geprägt von„Taxi-Parteien um einzelne Führer, deren Mitglieder in einem Taxi Platz hatten“ (1997: 37).30 Zur Kontinuität alter Parteien des gewandelten Regimes – und insbesondere für den Fall Rumänien -vergleiche von Beyme (1997: 50).31 Trotz dieser Rückschrittlichkeit wird das gegenwärtige Regime von der Bevölkerung als einesubstantielle Verbesserung gegenüber dem Regime unter Causescu empfunden. Linz und Stepan führendiesen Widerspruch auf die allgegenwärtige Angst vor Interventionen im privaten und öffentlichenLeben, die im totalitär-sultanistischen Regime verherrschte, zurück (1996: 364f).

Page 196: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 191

müssen sich alle multiethnischen Staaten stellen. Nationalismus bietet eine Lösung. Erdefiniert die Bevölkerung, die von einem bestimmten Staatsgebiet eingeschlossen seinsoll. In Osteuropa kommt den ethnischen Faktoren bei der Bildung von Nation oftmalseine besondere Bedeutung zu.Der geringe Grad an national-staatlicher Homogenität veranlaßt die Konstrukteure derneuen demokratischen Staaten in den osteuropäischen Staaten zu einer zweigleisigenStrategie (Linz / Stepan 1996: 24f): Einerseits wird im Staatenbildungsprozeß eine Po-litik verfolgt, die auf eine kulturelle Homogenität zielt. Die dominante Sprache wird zuroffiziellen Sprache und die kulturellen Symbole der dominanten Gruppe werden zuStaatssymbolen erhoben. Andererseits wird von der Elite erkannt, daß die demokrati-sche Politik ein breites, inklusives Konzept der „Citizenship“ fördern muß. Diese beidenStrategien haben nur dann gute Chancen, nicht in Konflikt zu geraten, wenn 1. keinesignifikante Irredenta außerhalb der Staatsgrenzen existiert, 2. nur eine Nation im Staatexistiert und wenn 3. die kulturelle Diversifizierung gering ist.Eine solche Kongruenz von Nationalstaatsbildung und Demokratisierung stellt in Osteu-ropa einen Ausnahmefall dar. Daher muß versucht werden, Legitimitätsprobleme, dieaus Abweichungen von den unter 1. bis 3. genannten Punkten entstehen, über den Wegvon Verhandlungen zu lösen. Ansonsten können Eliten kulturelle, religiöse oder ethni-sche Differenzierung aus machtstrategischen Erwägungen politisieren, was demokratie-gefährdende Auswirkungen hat (Offe 1994): Werden politische und ökonomische Inter-essen in ethnische Kategorien übersetzt, dann besteht die Gefahr, daß sich die national-staatlichen Wirtschaftsräume verkleinern, daß die neuen Regime die ethnischen Kon-flikte politisch nicht bewältigen können und daß Bürgerkriege und internationale Kriegeprovoziert werden32.Besonders in den Bürgerkriegsgebieten (Rußland und Jugoslawien) sind die Bedingun-gen für die Demokratisierung schlecht (v. Beyme 1997: 25f). Aber auch unter wenigerextremen Bedingungen wirkt die ethnische Identität als kollektive Ressource demokra-tiegefährdend (Offe 1994: 163f): Ihre Instrumentalisierung für institutionelle Zuge-ständnisse und den Zuspruch über materielle Ressourcen benachteiligt systematischandere Gruppen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß andere assoziative Strukturenim Bereich der intermediären Interessenvermittlung in der Bedeutungslosigkeit versin-ken.Mit dem „Stateness-Problem“ hinterlassen die osteuropäischen, kommunistischen Re-gime den jungen Demokratien ein Erbe, das den Demokratisierungsprozeß in vielfacherWeise bedroht und besondere Herausforderungen an die Verfassungskonstrukteurestellt. Ein föderales Erbe ist nicht prinzipiell fragil. Problematisch wird das Zusammen-leben in einem multinationalen Staat erst, wenn das Regime mit seiner Politik bzw. sei- 32 Auch v. Beyme hebt hervor, daß für Transformationsgesellschaften die Daumenregel derDemokratietheorie nicht gilt, wonach es wenig wahrscheinlich ist, daß Demokratien keinen Kriegmiteinander führen (1997: 26).

Page 197: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 192

nen politischen Institutionen die ethnische Polarisierung vorantreiben. Keine der dreiFöderationen UdSSR, Jugoslawien und Tschechoslowakei überlebten den Zusammen-bruch des Kommunismus. Auch wenn sich mit der Abspaltung ethische Konflikte zumTeil lösten, bildet das Erbe der kommunistischen Regime – die Ungleichbehandlungund Unterdrückung von Minderheiten, aber auch die ohne Rücksicht auf kulturelleGrenzen gezogenen territorialen Staatsgrenzen – weiterhin einen Nährboden für dieMobilisierung ethnischer, pluralisierender Symbole, die der Institutionalisierung derDemokratisierung entgegenlaufen.

3.3 Elitenkontinuität

Es ist das institutionelle Erbe, das den regimespezifischen Ausgangspunkt für die De-mokratisierung bildet. Mit der Infragestellung der Macht- und Herrschaftsbeziehungensowie der entsprechenden Handlungsroutinen – widerspiegelt durch die politischen In-stitutionen – beginnt die Änderung bzw. Auflösung alter Strukturen. So wie sich mitdem Wandel der Institutionen der langfristigere Strukturwandel verdeutlicht, so muß fürdas Verständnis des institutionellen Wandels ein Blick auf die Ebene der Akteure ge-worfen werden. Das Erbe auf der Mikroebene bestimmt, wer sich am Umbau beteiligenkönnen wird. Es ist es für den institutionellen Umbau hochgradig relevant, welche Ak-teure die Änderungen vornehmen bzw. welche Akteure von diesem Prozeß ausgeschlos-sen sind. Außerdem prägt der institutionelle Kontext die Entscheidungen der Akteure –auch wenn Institutionen zerfallen oder neu aufgebaut werden, spielen sie als Ausgangs-punkt für die Reformen oder den Umbau eine wichtige Rolle.

Die Chance der Eliten, über die Änderungen hinaus im Amt zu verbleiben bzw. weiter-hin Macht- und Schlüsselpositionen zu bekleiden, hängt im wesentlichen mit der Artdes Regimewechsels (vgl. v.Beyme 1994: 182f; Ágh 1995) und außerdem dem Cha-rakter des vorangegangenen Regimes zusammen. Es macht einen Unterschied, ob dasneue Regime den Bruch mit dem alten Regime nur über formale institutionelle Ände-rungen vollziehen will oder ob es auch alte Netzwerke und Machtverteilungen mit weit-reichenden Säuberungen der Eliten abschaffen will (damit alte Netzwerke aufgebrochenund moralische Ansprüche der Bevölkerung befriedigt werden). Aber selbst die Ent-scheidung, welchen Weg das neue Regime einschlägt, hängt von der Art des Regime-wechsels ab. In einem ausgehandelten Übergang (Pakt) haben die alten Eliten viel mehrMöglichkeiten, ihre zukünftige Position mitzubestimmen, d.h. sich Machtressourcen zusichern (vgl. Teil II, Kapitel 4), als bei einem revolutionären Sturz des alten Regimeswie in Rumänien. Die Art des Übergangs hängt natürlich mit dem Charakter des Regi-mes zusammen. Je nachdem, wie weit politischer Pluralismus zugelassen wurde, oder

Page 198: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 193

ob sich zivilgesellschaftliche Ansätze bilden konnten, waren die Möglichkeiten vorhan-den, mit einer oppositionellen Bewegung innerhalb oder außerhalb der Eliten denÜbergang zur Demokratie auszuhandeln bzw. zuvor liberalisierende Maßnahmendurchzusetzen.Bildete eine zivile Elite den Kern des Regimes (außer in Polen beanspruchte das Militärin den kommunistischen Gesellschaften keine politische Souveränität), dann geltenVoraussetzungen, die einem Regimewandel zwar zugute kommen können, die aber füreine Konsolidierung Probleme aufwerfen: Zum einen sind zivile Führer oft motivierter,einen Regimewechsel einzuleiten, als militärische Eliten (Linz / Stepan 1996: 66f). Dasliegt daran, daß sie sich selber als Gewinner in einem zukünftigen, demokratischen Re-gime sehen können. Militärs hingegen müssen sich in einem demokratischen Regimezivilen Machthabern unterordnen. Die zivilen Eliten sitzen außerdem nicht nur an denSchlüsselstellen, von denen aus der Wandel initiiert wird. Sie haben in der Regel aucheine engere Beziehung zur Gesellschaft – die in einem demokratischen Regime essenti-ell ist - als Militärs. Bei der Transformation in Osteuropa blieb das Militär relativ neu-tral, weil es den zivilen politischen Eliten untergeordnet war. Zum anderen aber bildetendie zivilen Eliten eine wichtige Ressource für den Wandel nicht nur, weil sie ihn initi-ierten, sondern auch weil sie ihn managten. Für eine Ablösung autoritärer Militärregimehingegen ist es typisch, daß sich das Militär aus allen zivilen Verantwortungen heraus-zieht. Damit ist aber gleichzeitig die Gefahr angesprochen, die mit einer Elitenkonti-nuität verbunden ist. Sind Eliten an dem Umbau beteiligt, ergibt sich für diese Akteuredie Chance, sich einen privilegierten Zugang zu den Machtressourcen zu sichern.Machtgarantien und -reserven können beim institutionellen Umbau Ergebnis der Ver-handlungen sein.Verhandelte Regimewechsel hinterlassen zwar institutionelle Spuren, die ein uner-wünschtes Erbe alter Eliten weiterreichen können. In Polen beispielsweise konnte sichdas kommunistische Regime wichtige Machtressourcen garantieren lassen (vgl.Przeworski 1991 78f; Mitcha 1997; Linz / Stepan 1996: 255f; Geddes 1996): 1. Derkommunistischen Partei wurden 35 % der Parlamentssitze (im Sejm) garantiert; 2.wurde auch garantiert, daß die Opposition die Wahl Jaruzelskis zum Präsidenten nichtverhindern würde. 3. wurden die Angelegenheiten der Landesverteidigung und innerenOrdnung der Kontrolle der Kommunisten überlassen. Solche Zugeständnisse sind nötig,um in den Verhandlungen zu Ergebnissen zu kommen. Allerdings sind diese institutio-nellen Spuren unter demokratischen Bedingungen nicht irreversibel. Entscheidungenkönnen nicht vorgegeben werden – das Volk kann sie auf demokratischen Wege unter-laufen. Daher sind die Institutionen, die solche Garantien sichern sollen, beim Übergangzur Demokratie prinzipiell instabil (vgl. Przeworski 1991: 79). Damit ist zwar eineGrundvoraussetzung demokratischer Institutionen - Stabilität im Sinne von Selbstver-ständlichkeit (vgl. Nedelmann 1995) – nicht erfüllt. Dafür braucht aber auch nicht be-

Page 199: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 194

fürchten zu werden, daß sich konservative Kräfte mit institutionellem Rückhalt dauer-haft gegen eine Konsolidierung des demokratischen Regimes stemmen können, wenn eseinen friedlichen, ausgehandelten Regimewechsel gab (vgl. dagegen Baylis 1998;Tanase 1999).Im Fall der osteuropäischen Transformation sprechen zwei weitere Argumente gegendie Befürchtung, daß sich die Sicherung von Machtressourcen demokratiegefährdendauswirken könnte: Kader der kommunistischen Partei können nicht wie ehemalige mi-litärische Machthaber direkt ein kontinuierliches Drohpotential aufrecht erhalten, dasbestimmte politische Ergebnisse sichert. Wird die kommunistische Partei bzw. ihreNachfolgeorganisation durch demokratische Wahlen abgelöst, dann kontrolliert sie zwareventuell weiterhin Ressourcen und Loyalitäten, die ihnen helfen können, spätereWahlen zu gewinnen (vgl. Segert 1995a). Sie hat aber nicht die Ressourcen, die Souve-ränität der neuen demokratisch legitimierten Regierung einzuschränken. Bekleiden dieabgewählten Kommunisten oder Ex-Kommunisten weiterhin zentrale Positionen inner-halb der staatlichen Verwaltung, muß dies der Konsolidierung einer Demokratie nichtim Wege stehen. Selbst wenn die Eliten der staatlichen oder ehemals staatlichen Unter-nehmen politischen Einfluß behalten konnten, indem sie ihre Positionsmacht inMarktmacht umwandelten, läßt sich plausibel annehmen, daß sie primär in ihrem Pri-vatinteresse handeln. Sie sind weniger daran interessiert, das politische System heraus-zufordern, als von demokratischen und marktwirtschaftlichen Änderungen zu profitie-ren (vgl. v. Beyme 1994: 182).Die politischen Transformationen Osteuropas waren dadurch gekennzeichnet, daß esvielfach gar keine oppositionellen Eliten gab, die alte Eliten hätten ablösen bzw. erset-zen können, wie bei den meisten anderen Systemwechseln. Daher mußten und müssensich am Übergang und an der demokratischen Konsolidierung alte Teile der Nomen-klatura beteiligen (v. Beyme 1994: 176f; Ágh 1995; Haraszti 1999) - lediglich Funktio-näre, die Spitzenpositionen bekleidet hatten, wurden abgesetzt. Von dieser Elitenkonti-nuität geht aber keine unmittelbare Gefahr für eine demokratische Konsolidierung aus.Anders als bei der Ablösung militärischer Regime, bei der die alten Eliten den Zugangzu Zwangs- und Gewaltressourcen meist behalten, müssen die osteuopäischen Zivilre-gierungen nicht mit militärischen Eingriffen rechnen.Allerdings gibt es andere spezifische Probleme in Osteuropa, die von einer Elitenkonti-nuität ausgehen und mittelbar die Demokratisierung erschweren. Diese Probleme sindeng mit dem Charakter der Systeme verbunden. Die Eliten der post-totalitären Gesell-schaften können zur Sicherung ihres Einflusses und ihrer politischen Macht den bislangunterdrückten Nationalismus schüren bzw. instrumentalisieren und sich damit dem De-mokratieaufbau in den Weg stellen. Wie die Politisierung sekundärer Themen bzw. eth-nischer cleavages mit einer Demokratisierung konfligiert, wird im Rahmen der Diskus-sion der Bedeutung des strukturellen und institutionellen Erbes deutlich (vgl. Teil III,

Page 200: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 195

Kapitel 2.1, 2.2): Den zivilgesellschaftlichen Ansätzen in der Gesellschaft fällt es unterdem Primat ethnischer, religiöser oder nationalistischer Themen schwer, eine wettbe-werbsfähige politische Gesellschaft mit ihren wichtigen Institutionen der Interessenag-gregation und -vermittlung aufzubauen. Nomanklatureliten hingegen kann es gelingen,mit dieser Politisierung ihre Macht auszubauen und sich über Wahlen zu legitimieren(vgl. Offe 1994; Linz / Stepan 1996).Ein weiteres Problem ist bei der Elitenkontinuität innerhalb der (ehemaligen) Staatsbe-triebe angelegt. Die Grenzen von öffentlich und privat sind oftmals undurchsichtig, wasRaum für Korruption entstehen läßt, unter der die Effizienz und die Legitimität post-kommunistischer Staaten nach wie vor leiden.Nach der Ablösung eines sultanistischen Regimes ist die Kontingenz bezüglich der Eli-tenkontinuität wesentlich höher als bei post-totalitären Systemen (Linz / Stepan 1996):Das hängt mit der Art des Regimewechsels zusammen. Eine Abkehr vom Totalitaris-mus kann Chancen für einen Regimewandel in post-totalitären Regimen öffnen. Sulta-nistische Regime hingegen, in denen die private und öffentliche Sphäre sowie Militär-und Zivilbereich eng miteinander verknüpft sind, haben nur eine Chance für eine De-mokratisierung: die Absetzung des Führers. Dann allerdings kollabiert das Regime, weildie hoch personalisierten Strukturen zusammenbrechen. In dieser Situation ist entschei-dend, wie das Machtvakuum ausgefüllt wird. Nicht so sehr die Elitenkontinuität, son-dern vielmehr die konkreten Strategien und Entscheidungen der Interimsregierung (z.B.wann demokratische Wahlen abgehalten werden) entscheiden über den Verlauf und dieChancen für eine Demokratisierung (Linz / Stepan 1996: 71f).

Wegen der ideologiegeleiteten Entpolitisierung konnten sich auch keine politisch pro-fessionellen Bewegungen entwickeln, die eine neue Elite für den demokratischen Um-bau hätten bereitstellen können. Im Rahmen der kommunistischen Ideologie wurdengesellschaftliche Konflikte vielfach verharmlost und unterdrückt. Sie wurden auf dieschädlichen Einflüsse der konkurrierenden westlichen Welt zurückgeführt und führtendamit zu einer Entpolitisierung der Gesellschaften. Somit bestimmte ein weiteres Cha-rakteristikum der politischen Herrschaftsausübung, nämlich die Rolle der Ideologie (ne-ben dem Grad des Pluralismus und zivilgesellschaftlicher Ansätze), das Erbe der kom-munistischen Staaten auf der Mikroebene. Kirchliche Gruppen spielten eine Rolle beider Demokratisierung, zogen sich dann aber mit der Ausnahme von Polen und der Slo-wakei - wo der Katholizismus weiterhin bedeutenden Einfluß auf die Politik hat - ausder Politik zurück. Kulturelle Eliten bekleideten Spitzenpositionen, denen sie vielfachnur schwerlich gewachsen waren, was den professionellen Politikern der kommunisti-schen Partei oder ihrer Nachfolgepartei als Angriffsziel diente (v. Beyme 1994: 185).Gab es auch in den Spitzenpositionen einen Elitenwechsel, so waren die Bereiche Wirt-schaft und Verwaltung sowie Justiz von einem weitgehenden Elitenwechsel ausge-

Page 201: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 196

schlossen. Alte Kader besetzten weiterhin wichtige Positionen, weil sich die umfangrei-chen Verwaltungen nicht uno actu auswechseln ließen.Ein weiterer Grund für die im Vergleich zu anderen Regimewechseln relativ hohe Eli-tenkontinuität in der Transformation Osteuropas liegt in der Art, wie mit dem alten Re-gime „abgerechnet“ wurde. Eine „Säuberung“ der Eliten war unter rechtsstaatlichenGesichtspunkten ausgesprochen problematisch (vgl. v. Beyme 1994; Offe 1994): Prin-zipiell wurde das vergangene Unrecht eher mit den Organisationen der Staatssicher-heit33 assoziiert als mit bestimmten politischen Führungspositionen. Wenn daher dieAkten von Organisationen wie der Stasi, der Securitate oder des KGB als Beweismate-rial herangezogen werden sollten, drohte neues Unrecht, weil sie oftmals zur Kompro-mittierung Oppositioneller gefälscht und zum Teil vernichtet wurden oder unvollständigsind. Darüber hinaus gilt unter rechtsstaatlichen Bedingungen der Grundsatz nullapoena sine lege, auf den sich die Eliten des alten Regimes im Falle der Anklage berufenkonnten, wenn sich die Strafbarkeit nicht aus den Gesetzen des alten Regimes selbstergab.Der relativ bescheidene Elitenwandel in Osteuropa verschafft zwar pragmatische Vor-teile mit dem Blick auf das politische Management im neuen Regime. Ungeklärt bleibtallerdings, ob die Verdrängung der Vergangenheitspolitik unter Gerechtigkeitsgesichts-punkten zu rechtfertigen ist, und damit auch, ob eine unbewältigte Vergangenheit, diesich in der Elitenkontinuität ausdrückt und die ja teilweise auch Ansprüche von Opfernleugnen muß, eine verläßliche Basis für sozialen Frieden bilden kann (Offe 1994: 187f).Kurzfristig läßt sich bezüglich der Elitenkontinuität mit v. Beyme (1994: 189f) resümie-ren, daß die Eliten in Osteuropa nicht mit Säuberungen, sondern durch langsame Ver-drängung im politischen Wettbewerb abgelöst wurden und langfristig ein „Generatio-nenaustausch“ durch das Nachrücken kompetenterer Politiker oder auch Verwaltungs-angestellter erfolgt.Die Art des Regimewechsels und der Charakter des kommunistischen Regimes bestim-men aber nicht nur die Chancen für bestimmte Teile der Eliten und neue Eliten, Einflußauf die Gestaltungsprozesse zu gewinnen. Sie haben auch einen prägenden Einfluß aufden Organisationsgrad der Eliten und damit darauf, welche ideologische Orientierungsich durchsetzen kann.Die Transformationen Osteuropas verliefen nicht nach einem überlegten Plan oder miteiner konkreten Zielvorstellung34. Das gilt selbst für Rußland, wo die Änderungen ausder Elite heraus bewußt entwickelt wurden. Gorbatschows Konzepte der Perestoika,Glasnost und des gemeinsamen europäischen Hauses waren zwar bewußte Reform-

33 Hier besonders die Rechtsverletzungen in Gefängnissen, Lagern oder psychischen Anstalten (Offe1994: 187f).34 Auch irrationale und nicht-rationale Motive können Einfluß auf die Entscheidungssequenzen gehabthaben, die zum Zusammenbruch führten (vgl. Przeworski 1991; Teil II, Kapitel 3 der vorliegendenArbeit).

Page 202: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 197

schritte. Dennoch konnte die Elite die Effekte dieser Schritte nicht voraussehen (und dasgalt auch für Gorbatschow). Der Prozeß bekam eine unerwartete Dynamik. In den ande-ren osteuropäischen Ländern verliefen die Änderungen ähnlich unvorhergesehen undz.T. noch weniger gesteuert.Hinzu kommt, daß sich wegen der Unterdrückung von Opposition in den kommunisti-schen Regimen keine organisierte Oppositionsbewegung bilden konnte. Der Organisati-onsgrad ist für den institutionellen Umbau entscheidend, weil er die Verhandlungsstärkebestimmt (vgl. Teil II, Kapitel 4.1). Opposition fand informell in privaten, oft voneinan-der unabhängigen Netzwerken statt, was eine denkbar schlechte Voraussetzung für dieFormulierung ideologischer und programmatischer Regimealternativen ist35. Dement-sprechend gab es eine „Apathie kollektiver Aspirationen“ (Elster / Offe / Preuss 1998:13). Darüber hinaus gab es bei den nicht-revolutionären Umbrüchen keine siegreicheElite, die mit einem kohärenten Plan oder konkreten Demokratisierungsprojekt antretenkonnte. Den Architekten der neuen Regime fehlte es außerdem an einer Basis für ihreLegitimität bzw. für ein politisches Mandat, mit dem ein umfassender Konstruktions-prozeß hätte getragen werden können.Mit dieser Dynamik des nicht intentional gesteuerten Wandels und dem Erbe eines ge-ringen Organisationsgrades einer Opposition, dem Mangel einer Gegenelite und fehlen-der konkreter inhaltliche Programme der Demokratisierung ergibt sich für die Konsoli-dierung eine ganz besondere Problematik: Die Formen des neuen, demokratischen Re-gimes werden im Wettbewerb schlecht organisierter politischer Eliten und Gruppenformuliert. Diese politischen Akteure sind extrem fragmentiert, ihnen mangelt es anrealisierbaren politischen Programmen, ihre Angebote sind uneindeutig und ihre Exi-stenz kurzlebig (Elster / Offe / Preuss 1998: 11f).

2.4 Zusammenfassung

Auf der Makroebene des Erbes können strukturelle Dimensionen identifiziert werden,mit denen eine Zustandsbeschreibung der Ausgangssituation für den demokratischenUmbau in den osteuropäischen Staaten möglich wird. Insofern läßt sich davon ausge-hen, daß die Vergangenheit (das Erbe) die Möglichkeiten der Gegenwart (den Umbauund evtl. die Stabilisierung) strukturiert (vgl. Brie 1996a: 39). Die drei strukturellenDimensionen, die in diesem Abschnitt angesprochen wurden, sind der Regimetyp, dasProblem der territorialen Integrität („Stateness-Problem“) und die Art des Regimewech-sels. Sie beeinflussen entscheidend, mit welchen Herausforderungen und Bedingungen

35 Eine Ausnahme bilden natürlich Polen und Ungarn. Dennoch wurden keine handlungsfähigen Akteureausgebildet. In Polen wurde mit Verhängung des Kriegsrechts 1981 die Opposition in ihre Schrankengewiesen. In Ungarn wurde der Reformprozeß aus den Reihen der kommunistischen Eliten initiiert –auch hier gab es kein Platz für alternative Regimekonzepte .

Page 203: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 198

der Umbau auf der Mesoebene der Institutionen und der Mikroebene der Akteure kon-frontiert ist:Der Regimetyp bestimmt das institutionelle Defizit und somit den Umfang des „institu-tional engeneering“. Das „Stateness-Problem“ klärt über die Voraussetzung für den in-stitutionellen Aufbau auf, indem es den Blick auf die territoriale Konsolidierung als eineVoraussetzung für den Aufbau demokratischer Institutionen lenkt. Die Art des Regi-mewechsels wiederum bestimmt ganz wesentlich die Elitenkontinuität und in Verbin-dung mit dem Charakter des Regimetyps (mehr oder weniger repressiv) die „Qualität“der Elite – ihre programmatische Stärke bzw. Schwäche sowie ihren Organisationsgrad.

Page 204: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 199

3. Der Umbau der Institutionen

Der politische Umbau erfolgt über institutionelle Neuerungen. Deshalb werden in die-sem Kapitel primär Prozesse, die auf der Mesoebene stattfinden, thematisiert. Das heißtnicht, daß der institutionelle Umbau frei von jeglichen Randbedingungen gestaltet wer-den kann. Vielmehr wird er - wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt - vom struk-turellen Erbe und dem Erbe auf der Mikroebene, das sich mit dem Organisationsgradpolitischer Gruppierungen und dem Grad der Elitenkontinuität konkretisiert, einge-schränkt. Auch das institutionelle Erbe grenzt die Gestaltungsmöglichkeiten ein. WennHandlungsroutinen und Netzwerke nicht vollkommen zusammengebrochen sind, d.h.eine gewisse Kontinuität bewahren konnten, dürfen sie bei der Umgestaltung der insti-tutionellen Landschaft nicht unberücksichtigt bleiben. Darüber hinaus bestimmen dienotorischen Defizite der kommunistischen Regime auf der Ebene intermediärer Institu-tionen die Agenda des institutionellen Umbaus. Sowohl aus den Defiziten, aber auchaus dem Zusammenbruch ehemaliger politischer Institutionen und aus den institutio-nellen Mindeststandards, die eine demokratische, politische Ordnung fordert, ergebensich die Aufgaben für den institutionellen Aufbau.Politische Strukturen ändern sich, wenn Institutionen umgestaltet werden. Die Umge-staltung wird von Akteuren in komplexen Interaktionsprozessen durchgeführt, aus de-nen bestimmte institutionelle Designs als ein Ergebnis interdependenter Entscheidungenhervorgehen. Wie sich die Änderungen auf der Mesoebene der Institutionen langfristigstrukturbestimmend auswirken, ist dann eine Frage der Stabilisierung. Der Umbau be-trifft daher die Makroebene erst langfristig und somit nur indirekt. Deshalb ist die ana-lytische Ebene, auf der strukturelle Makrovariablen thematisiert werden, für die kon-kreten Schritte des institutionellen Umbaus nur indirekt bedeutsam. Die Makrovariablendes Erbes bilden zwar Constraints für den institutionellen Umbau, und die angestrebtepolitische Struktur dient als Orientierungspunkt für die Architekten der demokratischenInstitutionen. Die Konstruktion einer neuen Struktur findet aber über die Änderungenauf der Mesoebene statt, auf die Entscheidungen, Präferenzen und Strategien sowie dieInteraktionskonstellationen der beteiligten Akteure, also Mikroprozesse, einen direktenEinfluß haben.

Page 205: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 200

3.1 Verfassung

„Institutionen sind Manifestationen von Leitideen, die bestimmte Rollen und Wertori-entierungen vermitteln.“ (Glaeßner 1994: 198). Die Leitideen werden in der Regel inder Verfassung kodifiziert. Sie bildet den grundlegenden Normcode, an dem sich derInstitutionenbildungsprozeß orientieren muß. Politische Institutionen werden von ihnenabgeleitet. Mit einer Verfassung wird die Meinungsbildung, die politische Willensbil-dung und die Entscheidungsfindung strukturiert (Glaeßner 1994), indem sie durch be-stimmte Handlungsroutinen Erleichterung schafft oder aber auch Zwang auf die Ak-teure ausübt, die an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Verfassungen müssenfestlegen, über welche Verfahren der Prozeß der politischen Entscheidungen reguliertwird, sie stiften Konsens, regulieren die Mobilisierung der Gesellschaft und dienen derLegitimierung der politischen Herrschaft (vgl. Merkel / Sandschneider / Segert 1996;Rüb 1995). Über sie wird daher vornehmlich reguliert, auf welchem Wege die Machtverteilt wird, welche Funktionen die verschiedenen Regierungsagenturen und -abteilun-gen einnehmen und wie sich die Beziehung zwischen Regierung und Öffentlichkeit ge-stalten soll (vgl. Finer / Bogdanorn / Rudden 1995).Wie dieser Katalog der Staatsaufgaben erfüllt werden soll, wird in den konkreten Vor-gaben bzw. Gesetzen der Verfassung zu der institutionellen Ausgestaltung des politi-schen und wirtschaftlichen Lebens kodifiziert. In den Rechten, die den Schutz der Frei-heiten des Individuums vor der Intervention des Staates garantieren (negative Rechte),oder in den Ansprüchen auf bestimmte Leistungen wie soziale Sicherheit, Recht aufArbeit oder medizinische Versorgung (positive Rechte), offenbaren sich die Leitideender Gesellschaft. Aufgrund eines impliziten Werte- und Normkatalogs wird über dieGesetze der Verfassung das Verhältnis von Bürger und Staat - das Verhältnis von Indi-viduum und Gemeinschaft - festgelegt.Die traditionelle, liberale Funktionsbeschreibung von Verfassung verweist auf die Be-grenzung der Staatsmacht, d.h. den Schutz der Individuen vor der Willkür der Herr-schenden (vgl. Rawls 1977). Zur Gestaltung dieses Schutzes müssen institutionelle Si-cherungen und Verfahren der Machtbegrenzung festgelegt werden. Damit erfolgen überdie Schutzfunktion auch institutionelle Vorgaben, mit denen eine bestimmte politischeOrdnung errichtet bzw. ein politisches Gemeinwesen konstruiert wird (vgl. Preuß 1994).Insofern hat die Verfassung Integrationswirkung: mit der politischen Ordnung gestaltensich die Möglichkeiten für die Berücksichtigung der Interessen und Werte verschiede-ner gesellschaftlicher Gruppen. Die Formulierung von Schutzrechten hat also auch im-mer einen inhärent politischen Charakter, weil sie mit institutionellen Formen (Regie-rungs- und Wahlsystem) die Rahmenbedingungen vorgibt, die von den politischen Ak-teuren berücksichtigt werden sollen und genutzt werden können.

Page 206: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 201

Der Schutz der Individuen wird formal durch die konstitutionelle Begrenzung der de-mokratischen Majoritätsregel umgesetzt. Die Majoritätsregel muß dahingehend be-grenzt werden, daß durch die Stimme der Mehrheit individuelle Rechte nicht verletztwerden können und daß bestimmten politischen Änderungen Hindernisse auferlegt wer-den (Elster 1988: 2f): Rechtssicherheit wird durch die Prinzipien der Legalität und derRechtsstaatlichkeit garantiert. Das erste Prinzip besagt, daß Bestrafung nur dann erfol-gen darf, wenn die Handlung explizit durch ein Gesetz verboten war, welches zu demZeitpunkt galt, zu dem die Handlung erfolgte. Damit werden willkürliche Bestrafungund rückwirkende Gesetzgebung verhindert. Das Prinzip der Legalität hindert die ge-genwärtige Mehrheit daran, Gesetze für die Vergangenheit zu erlassen. Rechtsstaatlich-keit hingegen ist auf die Zukunft gerichtet. Sie soll rechtliche Sicherheit für die Zukunftgarantieren, damit beispielsweise langfristige Projekte (Investitionen) vor der Willkürwechselnder Mehrheiten geschützt sind.Mit solchen Prinzipien findet eine klare Einschränkung diskretionärer Spielräume derRegierungsmehrheit statt. Deshalb läßt sich die Verfassungsgebung auch als eine „...generelle Strategie ... [zur] ... Reduktion von Unsicherheit durch Selbstbindung ...“(Rüb 1995: 531) formulieren. Mit Elster gesprochen, wirken die Verfassungen in derErfüllung dieser Funktion als ein Schutz der Demokratie vor Kurzsichtigkeit (myopia)(1988: 13). Die demokratische Mehrheitsregel selbst könnte nicht ohne gewisse Selbst-beschränkungen existieren. Gegenstand der Mehrheitsentscheidungen darf es bspw.nicht sein, wann Wahlen abgehalten werden, wie die Wahlbezirke definiert sind undnach welchen Mechanismen (Wahlsystemen) die Stimmen in Gewinner transformiertwerden. Wäre der Zugriff der Mehrheit auf diese Regulierungen unbeschränkt, würdestrategischen Manipulationen Tür und Tor geöffnet. Neben dem Risiko, daß die Machtfür partikularistische Absichten mißbraucht wird, gibt es bei uneingeschränkter Souve-ränität der Regierung ein weiteres Risiko, gegen das individuelle Rechte von den Ver-fassungen geschützt werden müssen. Dies sind Entscheidungen, die ein kollektives Ziel(ökonomischer Wachstum, militärischer Erfolg) über zivile und politische Freiheitenstellen36.Regierungen streben in der Regel einen weiten, freien Entscheidungsrahmen für ihrepolitischen Entscheidungen an. Warum also sollten sie eine Selbstbindung, womöglichsogar eine Bindung an die Entscheidung ihrer Vorgänger, akzeptieren? Hier liegt einewesentliche Problematik bei der Einschätzung der Rolle einer Verfassung für Demo-kratien: Wo liegen die Gründe für die Selbstbindung der politischen Macht?Elster gibt zwei Gründe an (1988: 8f): Erstens ist die Stabilität und Dauerhaftigkeit vonInstitutionen ein Wert an sich, weil erst durch diese Eigenschaften langfristige Planung

36 Und zwar nicht nur, weil es sich bei den individuellen Freiheiten um einen Wert an sich handelt,sondern auch - wie Elster zeigt (1988: 5) - aus rationalen Erwägungen: Wenn auch in vielen Fällen dasallgemeine Gut auf Kosten der individuellen Freiheit gefördert werden kann, läßt sich daraus nichtschließen, daß eine generelle Verletzung individueller Freiheiten den selben Effekt hat.

Page 207: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 202

möglich wird. Und zweitens gibt es unkluge Entscheidungen, die sich nicht einfachrückgängig machen lassen. Parlamente sind genauso wenig wie individuelle Akteuregefeit davor, daß sie Entscheidungen auf der Grundlage von Leidenschaften oderSelbsttäuschungen treffen, die hinterher bereut werden37. Ohne die Selbstbindung durchEinschränkungen werden Demokratien schwächer und sind nicht etwa stärker (vgl.Holmes 1988a), wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.Das bedeutet, daß die Verfassung in einem demokratischen Regime die Umsetzung ei-ner rationalen Strategie ist, dem ansonsten drohenden Partikularismus und mangelndenSchutz vor Kurzsichtigkeit vorzubeugen (Elster 1988: 15). Dieses Motiv und nicht etwader Wunsch, sich vor dem Einfluß kommunistischer Eliten zu schützen, sollte auch fürVerfassungsbildungen in Osteuropa ausschlaggebend sein.

Derartige Ansprüche an Verfassungen zu formulieren, entspringt einer formalen Be-trachtung, die zunächst die konkrete Umsetzung im politischen Tagesgeschäft unbe-achtet läßt. Ob das politische Tagesgeschäft den normativen Verfassungsvorgaben ge-recht wird, d.h. ob die Verfassung als normative Kraft auf die Institutionenbildung unddamit letztlich auch auf die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung wirktund damit ihrer Funktion gerecht wird, ist eine weiterführende Frage. Auch wenn mandem Argument zustimmt, daß rechtliche und institutionelle Kontinuität eine Grundvor-aussetzung für eine stabile Demokratie bilden, läßt sich dennoch über die Bedeutungvon Verfassungen debattieren. Verfassungen lassen sich nämlich in zweierlei Weisekritisieren:- Verfassungen gelten als unvollständig (vgl. Finer / Bogdanorn / Rudden 1995): Die

konkrete politische Praxis läßt sich nicht einfach aus den Verfassungen ableiten.Vielmehr wird in aufwendigen Interpretationsbemühungen der nationalen Gerichte(insbesondere des Verfassungsgerichts) die Übereinstimmung des alltäglichen poli-tischen Geschäfts mit der Verfassung geprüft. Außerdem werden politische Ent-scheidungsprozesse von institutionellen Organisationen zuwege gebracht, die inden Verfassungen nicht erwähnt sein müssen; kirchliche Organisationen, interme-diäre Organisationen, Wirtschaftskorporationen, Medien aber auch andere Gruppenwie ethnische Minoritäten, die Bürokratie und das Militär.Konkret bedeutet dies, daß ein in der Verfassung kodifizierter Minderheitenschutzaber auch Umweltschutz oder das Versprechen sozialer Sicherheit vom politischenDefinitionsprozeß abhängen können. Besonders im Falle der osteuropäischen Staa-ten führt das häufig zu einer deutlichen Diskrepanz zwischen Verfassungsnormenund der Verfassungswirklichkeit (Glaeßner 1994: 225f): Trotz umfangreicher Min-derheitenrechte verbleibt es oft im Unklaren, aufgrund welcher Kriterien sich Min-

37 Ein Hauptteil der Arbeit Jon Elsters behandelt solche Phänomene beschränkter Rationalität und ihreÜberwindungsmöglichkeiten (vgl. 1987).

Page 208: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 203

derheiten als solche definieren können und damit den entsprechenden Schutz ge-nießen.

- Verfassungen mangelt es an Effektivität (Finer, Bogdanorn, Rudden 1995): Zwarkönnen Verfassungen ein adäquates Mittel für die Selbstbeschränkung („Self-binding“) bezüglich der Herrschaftsausübung der aktuellen Mehrheit sein (vgl.Elster 1988; 1988a). Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß Verfassungen über-flüssig sind, weil im Interessenkonflikt mit den Vorgaben der Verfassung das ver-fassungsmäßige Handeln erneut ein Akt der Selbstbindung ist. Verfassungen ver-schieben also lediglich das Problem der Selbstbindung und heben es nicht etwaauf38. Wenn die Mächtigen sich ohnehin zurückhalten müssen, dann ist die schrift-liche Fixierung konstitutioneller Normen redundant. Das bestätigen auch Beispielewie Großbritannien, Neuseeland und Israel. Diese demokratischen Staaten kommenohne Verfassungen aus.

Gegen den in dieser Argumentation zum Ausdruck kommenden Verfassungspessimis-mus läßt sich neben dem Argument, das Verfassungen als rationale Strategie zur Über-windung nicht-rationaler Kurzsichtigkeit und Tendenz zum Partikularismus deutet, auchein an der praktischen Erfahrung gewonnenes Argument anführen: Nicht alle Verfas-sungen werden ignoriert, und meistens werden wenigstens einige ihrer Vorgaben be-folgt (Finer / Bogdanorn / Rudden 1995).Es läßt sich somit festhalten, daß Verfassungen zwar nicht allein den Schutz vor derWillkür der Mehrheit, den regierenden Eliten, garantieren können. Verfassungen sindaber auch nicht nur Fiktionen. Wird eindeutig an ihnen „vorbeiregiert“, dann ergibt sichfür die Regierenden zumindest ein Begründungsdruck. Sie müssen den Verfassungs-bruch rechtfertigen. Werden die Vorgaben der Verfassung befolgt und umgesetzt, dannist diese „realistisch“ – sie kanalisiert und beschränkt das Ausmaß und die Wirkungs-richtung der Macht einer Regierung und ihrer verschiedenen Organe (Finer / Bogdanorn/ Rudden 1995) und bestimmt die Ausgestaltung der politischen Ordnung.

Für die post-kommunistischen Staaten gibt sich bei der Verfassungsgebung zuvorderstdie Aufgabe, den Bürgern politische Rechte und individuelle Freiheiten zu garantieren,auf die sie unter der Herrschaft der kommunistischen Regime verzichten mußten. Au-ßerdem muß versucht werden, die konstitutionellen Grundlagen der politischen Ord-nung stabil zu halten. Die kontinuierliche Änderung von Verfassungsvorgaben schafftUnsicherheit und verhindert das Zustandekommen von Vertrauen, weil der Eindruck

38 Preuß (1994) führt dieses Dilemma aus: Anders als bei zwei Individuen mit konfligierenden Interessenkann bei einer Auseinandersetzung zwischen zwei Verfassungsorganen keine Entscheidung durch einehöhere Autorität herbeigeführt werden. Das Verfassungsgericht ist eine Schöpfung der gleichenVerfassung, die auch dem Parlament oder der Regierung zugrunde liegt. Warum also sollte es eine höhereAutorität haben, wo doch Regierung und / oder Parlament ihre Position im Streitfall zumindest auf eineLegitimierung durch die Bevölkerung stützen können, während Verfassungsgerichte demokratischschwach legitimiert sind.

Page 209: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 204

entsteht, daß aus opportunistischen Gründen von Machthabern strategisch manipuliertwird (vgl. Offe 1999). Eine fragile Verfassungordnung ist nicht in der Lage, überlebens-fähige Institutionen zu bilden, die für langfristige Planungen wichtig sind. In Osteuropascheinen allerdings die Dimensionen, die einer Verfassung Stabilität verleihen können,kaum berücksichtigt. Eine verfassungsgebende Versammlung gab es nur in Bulgarienund ein breiter öffentlicher Diskurs über die Inhalte der Verfassung hat kaum stattge-funden (vgl. Linz / Stepan 1996; Bos 1996). So bleibt die Legitimität der Verfassungenzweifelhaft, und gleiches gilt für den Anspruch, daß Verfassungen einen Grundkonsensder gesellschaftlichen Gemeinschaft abbilden sollen. Der Prozeß der Verfassungsge-bung scheint weniger von dem Bestreben, ein solides Fundament für eine Demokratiezu schaffen, als von der „Logik der Machtablösung“ (Rüb 1994a), d.h. von der Zusam-mensetzung der Akteure und ihren Strategien, bestimmt gewesen zu sein (Glaeßner1994: 210f).Bei den verhandelten Transformationen in Polen und Ungarn war die Formulierung derVerfassung ein Prozeß graduell gefaßter Kompromisse. Diese wurden von den Opposi-tionsbewegungen und den reformbereiten Kommunisten getragen (vgl. Teil II, Kapitel4). Die Diskussion um die Verfassungsordnung fand zuerst an den Runden Tischen stattund war nach der Ablösung der Kommunisten vom Auseinanderbrechen der Oppositi-onsbewegungen belastet. Auf dieser Grundlage ließ sich kein gemeinsamer gesell-schaftlicher Grundkonsens formulieren. Deshalb stehen die Verfassungen von Polen(Verfassungsgesetz) und Ungarn nicht für einen umfassenden gesellschaftlichen Kon-sens, sondern reflektieren eher den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine gemeinsameWertorientierung.Eine ähnliche graduelle Anpassung der Verfassung an die veränderten normativenGrundlagen des Staates fand in der DDR und der Tschechoslowakei statt, bevor es zumendgültigen Kollaps der Regime kam. In beiden Ländern beschied die nationale Frageden Verfassungsrevisionen ein frühes Ende. In der Tschechoslowakei behinderten diealten Verfassungelemete einen Grundkonsens, weil sie national-ethnische Ambitionenignorierten (vgl. Calda 1996). Und mit dem Beitritt zur BRD und damit der Übernahmeihrer Verfassung wurden die Versuche einer eigens für die DDR-Bürger formuliertenVerfassung obsolet.Völlig neue Verfassungen entstanden immer dann, wenn der Regimezusammenbruch inder Bildung von neuen Staaten mündete, wie in Tschechien, Slowakei und den Nach-folgestaaten der Sowjetunion. Für die Republiken Tschechien und Slowakei bildetenVerfassungsentwürfe, die den regionalen Kammern bereits vor dem Zusammenbruchder Tschechoslowakei vorlagen, die Grundlage für neue Verfassungen. In Rußland warnach dem Zusammenbruch der UdSSR der Prozeß der Verfassungsbildung am deutlich-sten von machtstrategischen Überlegungen geprägt. Trotz des Referendums zur Verab-schiedung der neuen Verfassung vom 12.12.1993 bildete das Verfassungsrecht in Ruß-

Page 210: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 205

land primär ein Instrument zur Stärkung der Machtpositionen und nicht etwa derMachtkontrolle (Bos 1996: 179f).Bei den Transformationen, die unter dem dominanten Einfluß der Ex-Kommunistenerfolgten, wurden recht zügig neue Verfassungen verabschiedet (Segert 1996: 120f): InRumänien und Bulgarien bildeten die Parlamente die verfassungsgebende Versamm-lung. Die zu einem frühen Zeitpunkt abgehaltenen Wahlen schufen in Rumänien Bedin-gungen, unter denen der Verhandlungsprozeß um die Verfassungsgebung ohne die Be-teiligung von Gegeneliten zwischen den Reformkommunisten erfolgen konnte. In Bul-garien hingegen kam es zu einem Umschwung der Kräfteverhältnisse während derPhase der Verfassungsgebung, bei dem die nicht-kommunistische Opposition ihre Posi-tion stärken konnte und somit auch stärkeren Einfluß auf die institutionelle Gestaltunggewann als in Rumänien (vgl. auch Kolarova / Dimitrov 1996).Die Art des Regimewechsels bestimmte die Akteurskonstellation in der Krise undwirkte somit indirekt auf die Gestaltung der Verfassungen. Das Ausmaß des Einflussesalter reformbereiter Eliten, neuer Eliten, aber auch oppositioneller Kräfte im Verfas-sungsgebungsprozeß definierte, inwieweit die neue Verfassung ein vom gesellschaftli-chen Grundkonsens geprägtes oder eher ein von machtstrategischen Erwägungen beein-flußtes Normgebilde widerspiegelt.

Verfassungsstabilität hängt von der Grundlage ab, auf die sich eine Verfassung stützenkann. Um einer fragilen Verfassung vorzubeugen, muß sie einen gesellschaftlichenGrundkonsens widerspiegeln. Verfassungen sind aber auch Vehikel der Selbstbeschrän-kung politischer Machthaber (vgl. Elster 1988; Holmes 1988), was bedeutet, daß dieStabilisierung demokratischer Institutionen letztendlich durch das Verhalten der politi-schen Akteure erfolgen muß. Wenn sich die politischen Akteure verantwortlich, d.h.weitsichtig, verhalten, können konstitutionelle Machtbegrenzungen z.T. von der demo-kratischen Kontrolle ersetzt werden:„If laws are promulgated by a properly elected assembly and administered by properparticipatory procedures, the need for constitutional constraints may appear lessurgent.“ (Elster 1988: 8).Welche Dimension ist nun aber für die Stabilisierung bedeutender: das Ausmaß, in demim Prozeß der Verfassungsgebung versucht wurde, einen gemeinsamen Grundkonsenszu formulieren, oder das Verhalten der Akteure im politischen Tagesgeschäft?Verfassungen können grundsätzlich dann einen konstitutiven Beitrag zur Stabilisierungleisten, wenn sie entweder formal legitimiert sind oder empirisch legitimiert sind (vgl.Merkel / Sandschneider / Segert 1996) oder beides. Welcher der beiden Legitimitäts-formen eine größere Bedeutung für die Stabilität beigemessen werden kann, bildet denzentralen Gegenstand der aktuellen verfassungstheoretischen Debatte in der Transfor-

Page 211: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 206

mationsforschung. Im folgenden werden die wichtigsten Argumente dieser Debatte auf-gezeigt.Formale Legitimität ergibt sich gemäß den Verfahren der Verfassungsschöpfung (Elster1994: 43f): Erstens bemißt sich die formale Legitmität der neuen Verfassung danach,wie die verfassungsgebende Versammlung zustande gekommen ist, d.h. ob sie demo-kratisch legitimiert war. Dies nennt Elster Legitimität von oben. Für diese Legitimitäts-form ist beispielsweise die Unabhängigkeit der verfassungsgebenden Versammlung vonRegierung und Parlament entscheidend, weil so die Unabhängigkeit von der an be-stimmten Interessen orientierten Tagespolitik bestmöglich gewährleistet werden kann.Als zweites ist die (interne) Verfahrenslegitimität von Bedeutung. Sie hängt davon ab,welches interne Entscheidungsverfahren bei den Abstimmungen und Verhandlungenangewendet wurde. Drittens und letztens gewinnt die neue Verfassung Legitimität vonunten, wenn sie dem Volk zur Verabschiedung vorgelegt wird.Aus der unterschiedlichen Kombination dieser formalen Legitimitätsquellen läßt sicheine Skala der Verfahrenlegitimität von „sehr demokratisch“ bis „demokratietheoretischbedenklich“ konstruieren (Merkel / Sandschneider / Segert 1996: 20f):Sehr demokratisch wurde verfahren, wenn vom Volk eine verfassungsgebende Ver-sammlung gewählt wird, die ihren Verfassungsentwurf nach demokratischen Prinzipienentwickelt bzw. beschließt und diesen dann auch dem Volk zur Annahme in einem Re-ferendum vorlegt. Das gilt auch für den Fall, daß das Referendum ausbleibt – wie beider Verfassungsgebung in Bulgarien (1991). Legitimität von oben wird eingebüßt, wenndurch ein bestehendes Staatsorgan der Verfassungsvorschlag ausgearbeitet wird unddann durch ein Referendum vom Volk angenommen wird – wie in Rußland (1993) undRumänien (1991). Der Verfassungsentwurf wird in diesen Fällen also nicht unabhängigvon Parlament oder Regierung entwickelt. Dieses Verfahren wird besonders dann de-mokratisch bedenklich, wenn die Annahme des Verfassungsentwurfs auch noch ohneAnnahme in einem Referendum erfolgt. In diese letzte Kategorie fallen Polen (1992),Tschechien (1992), die Slowakei (1992) und Ungarn (1989).

Aber auch wenn gelten sollte, daß „... the perceived legitimacy of the [constitution-ma-king] process will be one determinant of the extent to which those rules are actuallyobeyed.“ (Elster / Offe / Preuss 1998: 64), darf die Bedeutung des Schöpfungsaktesnicht überschätzt werden. Es gibt besonders bei Regimezusammenbrüchen einen trade-off zwischen demokratisch einwandfreien Verfahren der Verfassungsschöpfung undZeitknappheit. In den Zeiten des Umbruchs sind die verfassungsgebenden Eliten oft-mals nur während eines begrenzten Zeitabschnitts kompromißbereit, der keinen Raumfür die zeitraubenden formal-legitimierenden Verfahren läßt. Längere Interimsphasenohne demokratische Verfassung werden nicht gern in Kauf genommen, weil die Verfas-sungen die Grundlage der staatlichen Gemeinschaft und des politischen sowie wirt-

Page 212: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 207

schaftlichen Handelns festlegen. Besonders in Osteuropa kam den neuen demokrati-schen Verfassungen eine große Bedeutung zu, da sich die neuen Führungen darum be-mühten, jede Beziehung zum Kommunismus zu löschen und von der führenden Rolleder Partei Abstand zu nehmen. Deshalb waren in den osteuropäischen Ländern auchunmittelbar nach dem Kollaps der Regime Änderungen der Verfassung zu beobachten.Für die Entscheidung eine schnelle Lösung trotz der mangelnden formalen Legitimitätanzustreben, spricht auch der Umstand, daß die Annahme durch einen Volksentscheidfür die demokratische Stabilität nicht besonders bedeutend sein muß. Es gibt zahlreichekonsolidierte Demokratien mit stabilen Verfassungen, die ohne Verfassungsreferendumausgekommen sind; das gilt beispielsweise für die Bundesrepublik Deutschland, Grie-chenland und Uruguay. Entscheidend sind auch die Kontexte, unter denen die Referen-den durchgeführt werden. Sind diese gekennzeichnet durch Informationsverzerrung,und hat die politische Elite sich nicht um eine konsenssuelle, öffentliche39 Debatte be-müht, dann ist die Annahme des Entwurfs durch die Bevölkerung bedeutungslos für diedemokratische Stabilität.

Viel wichtiger als die formale Legitimität erscheint daher das politische Tagesgeschäftund die Übereinstimmung der in der Verfassung festgeschriebenen Institutionen mitdemokratischen Grundsätzen. Empirische Legitimität steht vor der formalen Legitimi-tät. Gerade weil bei der Verfassungsgebung die Spieler selbst die Spielregeln bestim-men und die verfassungskonforme Selbstbindung in einer noch instabilen politischenSituation immer wieder Compliance einfordern muß, ist die Handlung der Akteure unddie Qualität des durch die Verfassung vorgegebenen institutionellen Designs so ent-scheidend. Handeln sie im Rahmen der Verfassungsinstitutionen, dann kann die Verfas-sung eine unterstützende Wirkung auf die demokratische Konsolidierung haben. DieVerfassung und ihre Institutionen müssen sich als Symbol für Stabilität und Kontinuitätbewähren, um das Vertrauen der Eliten und der Bürger bzw. Bürgerinnen zu gewinnen.Empirische Legitimität bemißt sich allein aus der direkten Compliance der Akteure undaus den Eigenschaften der in den Verfassungen festgelegten Institutionen (vgl. Elster1988; Merkel / Sandschneider / Segert 1996).Für die Compliance gilt es, in den demokratischen Regierungssystemen mit den institu-tionellen Bestandteilen der Verfassung Entscheidungsprozesse so vorzustrukturieren,daß die funktionalen Anforderungen demokratischer Regierungsysteme optimal erfülltwerden können. Demokratien müssen institutionell in die Lage versetzt werden, ein

39 Das Kriterium der Öffentlichkeit im Prozeß der Verfassungsgebung kann von entscheidenderBedeutung sein, weil unter dem Blick der Öffentlichkeit bei den Akteuren die Tendenz besteht, sich aufallgemein anerkannte und akzeptierte Prinzipien und Argumente zu beziehen und nicht nur nach Maßgabedes Selbstinteresses zu handeln. Die Beobachtung durch die Öffentlichkeit kann somit eine zivilisierendeWirkung haben (vgl. Elster 1994; Elster / Offe / Preuss 1998).

Page 213: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 208

stabilitätswahrendes Gleichgewicht zwischen drei strukturell in ihnen angelegten Para-doxien zu schaffen (Diamond 1990: 48f):- In Demokratien muß es Konflikte geben können, aber gleichzeitig ein gewisser

Grundkonsens aufrecht erhalten bleiben.- Politische Entscheidungen müssen repräsentativ sein und zugleich muß die Regier-

barkeit gewährleistet werden.- Demokratien brauchen eine möglichst breite Zustimmung für ihre Entscheidungen,

müssen aber gleichzeitig effektiv entscheiden können.In diesen Paradoxien stehen sich Regierbarkeitsprobleme und Legitimitätsproblemegegenüber. Legitimität generiert sich dabei auch aus dem Grad der Regierbarkeit, dieauf die Leistungsfähigkeit des Systems – die die Zustimmung generiert - zurückwirkt.Die institutionellen Anforderungen für Demokratien lassen sich vor dem Hintergrundder aus den Paradoxien folgenden Spannungen in zwei Dimensionen zusammenfassen(vgl. Thibaut 1996; Merkel 1996: 94f; Merkel / Sandschneider / Segert 1996: 24f):Erstens darf es keine systematische Benachteiligung von jedweden Minderheiten oderpolitischen Gruppen geben, d.h. die soziale und politische Inklusion der verschiedenengesellschaftlichen Gruppen soll durch das institutionelle Design gewährleistet werden.Und zweitens müssen von der Bevölkerung die Entscheidungen und Politiken des Staa-tes akzeptiert und gutgeheißen werden. Damit ist die Effizienz der Institutionen ange-sprochen.Die Bewältigung von Inklusions- und Effizienzproblemen bildet daher den Bewer-tungsmaßstab für die Legitimität und somit die Leistungsfähigkeit der in den Verfas-sungen festgeschriebenen Verfahren bzw. Institutionen wie Regierungs- und Wahl-system. Die Leistungsfähigkeit und die institutionell vorgeschriebene Struktur der poli-tischen Entscheidungsprozesse stehen in einem engen Zusammenhang (Thibaut 1996).

Bevor die konkreten institutionellen Elemente der Verfassung installiert werden kön-nen, muß das grundlegende Problem der staatlichen Integrität gelöst sein. Wie läßt sichaber das „Stateness-Problem“ in multinationalen Staaten bewältigen? Um der Politisie-rung kultureller, religiöser oder ethnischer Konflikte aus machtstrategischen Erwägun-gen vorzubeugen, muß im Rahmen der Verfassungsgebung die Grundlage für eine kon-sensuelle Politik geschaffen werden. Dabei sind die Verfassungsarchitekten mit einerparadoxen Situation konfrontiert (Offe 1994: 172f): Die Kräfte, die eine alternativeIdentität gegenüber dem kommunistischen Regime anboten, indem sie den ethnischenNationalismus hervorhoben, bilden jetzt die stärkste Bedrohung für die Einführung ei-nes neuen, demokratischen Regimes.Eine Verfassung, die der Politisierung ethnischer Konflikte vorbeugen soll, muß umfas-sende und gleiche Bürgerrechte garantieren. Dazu gehört, daß dem Respekt vor denMenschenrechten ein hoher Stellenwert beigemessen wird, demokratische Teilnahme

Page 214: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 209

garantiert ist und Selbstbestimmungsrechte eingeräumt werden. Werden Bürgerrechtegemäß der ethnischen Zugehörigkeit vorenthalten, dann hat dies auch Auswirkungenauf den sozioökonomischen Status – auf die Verteilung politischer und ökonomischerRessourcen. Deshalb muß verhindert werden, daß sich in heterogenen Staaten die domi-nante Gruppe in bedeutenden Bereichen durchsetzt. Wenn Administration, Schulen undMedien auf eine offizielle Sprache begrenzt werden (wie bspw. in der rumänischen Ver-fassung), dann stellt das eine Majoritätspolitik dar, die zur legitimitätsgefährdendenPolarisierung führen kann (vgl. Glaeßner 1994).Wenn es auch an Akteuren mangelt, die andere kollektiv-rationale Strategien finden alsdie Ethnifizierung, so gibt es doch Chancen für eine Bewältigung des „Stateness-Pro-blems“ (Offe 1994: 183): Ethnische Konflikte lassen sich auch befrieden, 1. wenn einLernprozeß stattfindet, der über einen oft von Leiden geprägten Weg zu der Erkenntnisführt, daß ethische neutrale Konzepte in der Politik gestärkt werden, 2. wenn der ethni-sche cleavage im Zuge der ökonomischen Modernisierung zu einem klassenpolitischenKonflikt wird, bei dem verteilungspolitische Fragen im Vordergrund stehen, und 3.wenn sich „multiple Identitäten“ bilden, die situationsspezifisch unterschiedliche Identi-fikationen erlauben. Die Chancen für die Realisierung dieser positiv evolutionären Ent-wicklungen, lassen sich allerdings schlecht einschätzen.

3.2 Regierungssystem

Ein Kernstück der Verfassung ist die Festlegung auf das Regierungssystem. Hier ent-scheidet sich, welche Beziehung zwischen den staatlichen Gewalten herrschen soll. DasRegierungssystems bestimmt, wie Legislative und Exekutive voneinander abhängig sindund sich gegenseitig kontrollieren. Da die institutionelle Ausgestaltung ein Ergebnis derAkteurskonstellationen darstellt, bildet die konstitutionelle Festlegung des Regierungs-systems - zumindest in den Ländern, in denen der Regimewechsel nicht von oben ver-ordnet wurde - einen Kompromiß. In jedem Falle galt: wer die Verfassung schreibt,sichert sich Einfluß im politischen Geschehen (vgl. Elster 1994: 49; Przeworski 1991;Geddes 1996): In den Kompromiß fließen die strategischen Orientierungen der am Ver-fassungsprozeß beteiligten Akteure. Parteien mit einem starken Präsidentschaftskandi-daten, und dies waren oft die Ex-Kommunisten, versuchten, sich mit einem Präsiden-tenamt, das mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet sein sollte, die Macht zu si-chern. Neue politische Gruppierungen hingegen wollten ihren Einfluß in einem Systemmit gestärktem Parlament, in dem sie ihre Interessen eher berücksichtigt sehen, sichern.Das Ergebnis solcher strategischen Verhandlungen kann dann problematisch werden,wenn Mischformen von Parlamentarismus und Präsidentialismus entstehen, die Kom-

Page 215: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 210

petenzzuweisung nicht eindeutig oder widersprüchlich ist oder wenn die institutionellenVorgaben die Gefahr eines permanten Konflikts zwischen den Gewalten bergen.Die Mischformen liegen auf einem Kontinuum zwischen den beiden Idealtypen „Parla-mentarisches Regierungssystem“ und „Präsidentielles Regierungssystem“. Entlang die-ser Idealtypen hat sich Anfang der 90er Jahre eine Debatte um die Leistungsfähigkeitder verschiedenen Regierungssysteme entfacht. Zu dieser Renaissance einer alten de-mokratietheoretischen Fragestellung kam es, weil für die Verfassungen der post-kom-munistischen Staaten westliche Verfassungen, z.B. die deutsche und insbesondere dieU.S. amerikanische, als Orientierungspunkt galten (vgl. Linz / Stepan 1996). Es sollteentschieden werden, welches Regierungssystem der Konsolidierung junger Demokra-tien am angemessensten ist. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Demokrati-sierungen in Südeuropa und Süd- bzw. Mittelamerika wurde versucht, allgemeingültigeRückschlüsse für den Zusammenhang von Regierungssystem und demokratischer Sta-bilität zu ziehen. Sie bildeten die Grundlage für den Vergleich der institutionellen Lei-stungsfähigkeit parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme im Hinblickauf ihre Inklusions- und Effizienzeigenschaften.Der Vergleich der Regierungssysteme in der Vergleichenden Regierungslehre erfolgtentlang der Beziehung zwischen Legislative und Exekutive, die im parlamentarischenSystem durch gegenseitige Abhängigkeit und im präsidentiellen System durch gegen-seitige Unabhängigkeit gekennzeichnet ist (Stepan / Skach 1993: 3f):„A pure parliamentary regime in a democracy is a system of mutual dependence:The chief executive power must be supported by a majority in the legislature and canfall if it receives a note of no confidence.The executive power (normally in conjunction with the head of state) has the capacity todissolve the legislature and call for elections.A pure presidential regime in a democracy is a system of mutual independence:The legislative power has a fixed electoral mandate that is its own source of legitimacy.The chief executive power has a fixed electoral mandate that is its own source oflegitimacy.“.In dieser Beziehung sind die Randbedingungen für die Politik der neuen Regime in Ost-europa festgeschieben, innerhalb derer sie den wirtschaftlichen Wandel bewerkstelligenmüssen bei gleichzeitiger Stabilisierung der Demokratie.Eine Kernthese, an der sich die aktuelle Debatte um die angemessene Regierungsformfür Transformationsgesellschaften reibt, lautet, daß jungen Demokratien bei der Be-werkstelligung gravierender sozio-ökonomischer Reformen und der politischen Stabili-sierung die institutionellen Eigenschaften eines parlamentarischen Regierungssystemseher entgegenkommen. Der Präsidentialismus hingegen sei besonders in Umbruchpha-sen durch ein strukturelles Defizit gekennzeichnet, weil er Anreize für Akteure setzeund Entscheidungsregeln vorgebe, die besonders der demokratischen Konsolidierung

Page 216: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 211

entgegenwirkten (vgl. Glaeßner 1994; Lijphard 1991; Linz 1990, 1990a; Stepan / Skach1993; Riggs 199740). Die Argumente der Autoren, die diesen Standpunkt vertreten, las-sen sich in fünf Punkten zusammenfassen:- In parlamentarischen Regierungssystemen sind die Regierungen geneigt, mit parla-

mentarischen Mehrheiten ihre Programme durchzusetzen. Das liegt daran, daß diegegenseitige Abhängigkeit von Exekutive und Legislative Anreize schafft und Ent-scheidungsregeln setzt, eine Ein-Parteien-Mehrheit oder Koalitionsmehrheit aufzu-stellen. In präsidentiellen Regierungssystemen hingegen gibt es die Möglichkeit unddaher auch die Tendenz, bei fehlenden Mehrheiten mit Hilfe von Dekreten zu regie-ren. Mehrheiten sind für die demokratische Konsolidierung wichtig, weil sie denEntscheidungen bzw. Reformprogrammen demokratischen Rückhalt geben können,während ein Regieren am Parlament vorbei eine unangemessene Strategie für Pro-gramme zur ökonomischen und politischen Neustrukturierung darstellt.

- Parlamentarische Regierungssysteme sind eher in der Lage, mit einem Mehrpartei-ensystem zu regieren. Für alle Mitglieder in einer Koalition gibt es den Anreiz zukooperieren, wenn sie nicht die Macht verlieren wollen. Demokratien können daherim Parlamentarismus auch mit mehreren Parteien in der Legislative funktionieren.Das Amt des Präsidenten hingegen ist unteilbar. Die Kabinettsmitglieder stehen da-her nicht als Agenten einer überdauernden Koalition in der Regierung, sondern alsIndividuen, die aus machtstrategischen Erwägungen des Präsidenten von ihm beru-fen werden können. Die Beteiligung mehrerer Parteien vereinfacht allerdings dasdemokratische Regieren, weil sich die Koalitionsbildung durch Inklusion auszeich-net. In Koalitionen können die vielschichtigen ethnischen, religiösen und / oderökonomischen Konflikte über die Parteien, die idealerweise eine Position in diesencleavages beziehen, von der Legislative berücksichtigt werden. PräsidentielleSysteme haben eher die Neigung, politisch zu polarisieren, besonders dann, wennExekutive und Legislative unterschiedliche parteipolitische Präferenzen haben. Dar-über hinaus werden die Interessen organisierter Gruppen an den Rand gedrängt unddamit Ansätze ziviler und politischer Gesellschaft erstickt.

- Die Exekutive im parlamentarischen Regierungssystem ist weniger geneigt, amRande der Verfassung zu regieren. Wenn in präsidentiellen Systemen mit Dekretenregiert wird, weil die Politik des Präsidenten keine Mehrheit der Exekutive im Par-lament findet, wird oftmals am Rande der Verfassung regiert. Wegen seines eigenenMandats sieht sich der Präsident zu einem solchen eigenständigen Schritt legiti-miert. In parlamentarischen Systemen kann das Parlament eine Regierungsumbil-dung mit einem Mißtrauensvotum veranlassen, wenn die Führung am Rande derVerfassung regiert. Durch die Tendenz, mit Dekreten zu regieren, werden im präsi-

40 Bei Riggs heißt es bezüglich der Einführung präsidentieller Systeme in jungen Demokratien sogar: „...itis surely a recipe for desaster.“ (1997: 274).

Page 217: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 212

dentiellen Regierungssystem die demokratischen Institutionenen der Legislative undder Parteien und damit auch die Legitimität des demokratischen Regimes ge-schwächt.

- In parlamentarischen Regierungssystemen können Regierungskrisen gelöst werden,bevor sie sich zu Regimekrisen entwickeln. Das liegt an zwei Entscheidungsregeln:Erstens kann sich die Regierung nicht ohne eine Mehrheit in der Legislative bilden,und zweitens kann sie bei einem Vertrauensverlust von der Legislative abgesetztwerden. Im präsidentiellen Regierungssystem hingegen, ist es extrem schwer, denPräsidenten abzuwählen. Regierungskrisen können sich daher eher zu Regimekrisenentwickeln, was einer demokratischen Konsolidierung fundamental entgegengesetztwirkt. Oftmals wird in Regimekrisen sogar der Ruf nach Einmischung des Militärsund damit die Aufhebung demokratischer Grundsätze laut.

- Das politische System kann im parlamentarischen Regierungssystem eher langfri-stige Partei- und Regierungskarrieren bilden, die Loyalität und Erfahrung hervor-bringen. Präsidenten tauschen gerne die Kabinettsmitglieder nach Maßgabe ihrerpolitischen Anliegen aus. Geht der Präsident, dann verschwinden auch die Minister.Dieser Wechsel erübrigt sich im Parlamentarismus wegen der Koalitionsmehrheiten.Wichtige Minister haben häufig lange und enge Bindungen zu ihren Parteien undwerden im Falle der Wiederwahl auf ihren Posten belassen. Das ist deshalb einVorteil, weil Kontinuität und Erfahrung („continuity in governance“) der Regierungin ihren Verhandlungen mit der Bürokratie und den Agenten nationaler und interna-tionaler Akteure helfen.

Für die post-kommunistischen Staaten bedarf es in dem Streben nach Inklusion undEffizienz besonders des Aufbaus einer zivilen und politischen Gesellschaft. In einempräsidentiellen Regierungssystem muß unter Berücksichtigung der fünf aufgeführtenArgumente aber eher eine Gefährdung und Unterdrückung eines solchen Aufbaus gese-hen werden. Organisierten Gruppen fällt es schwer, Einfluß geltend zu machen oderetwa politische Kurse zu korrigieren, weil der Chef der Exekutive für einen feststehen-den Zeitraum gewählt wird. Und Parteiprogrammen kommt hier weniger Bedeutung zuals in parlamentarischen Systemen.

Die Gegenposition in der Debatte argumentiert nicht für eine prinzipielle Überlegenheitdes präsidentiellen Systems. Sie plädiert für eine differenziertere Sichtweise und wendetsich vornehmlich aus methodischen Erwägungen gegen die Präsidentialismuskritik.Thibaut (1996) und Nohlen (1991) unterstellen den Untersuchungen Stepans, Lijphardsund vor allem Linz‘ einen methodischen bias. Dieser kommt darin zum Ausdruck, daßeine mit Idealtypen formulierte Kritik die für politische Verfahren und Ergebnisse be-deutende Variationen des präsidentiellen Regierungssystems nicht berücksichtigt. IhreKritik läßt sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:

Page 218: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 213

- Die Kritik am Präsidentialismus orientiert sich weniger an seinen inhärenten Eigen-schaften, als an Merkmalen anderer institutioneller Arrangements wie dem Wahl-system oder dem Parteiensystem. Demokratieabträgliche oder –gefährdende Aus-wirkungen können auf dieser Basis dann nicht dem Präsidentialismus zugeordnetwerden, weil ein bestimmtes Wahl- oder Parteiensystem nicht als feststehende Ei-genschaft des Präsidentialismus angesehen werden kann.

- Die Präsidentialismuskritik postuliert kausale Zusammenhänge, die von der kon-kreten Variation zusätzlicher institutioneller Faktoren des politischen Systems inunzulässiger Weise abstrahieren. Faktoren wie das Wahlsystem oder auch die kon-kreten historischen Bedingungen bestimmen den Zusammenhang zwischen Regie-rungsform und politischem Wettbewerb bzw. den Charakter der Parteienlandschaft.Die Annahme des kausalen Zusammenhangs zwischen Präsidentialismus und einerTendenz zur Fragmentierung und Polarisierung des politischen Wettbewerbs istdeshalb nicht plausibel. Genauso wenig ist es plausibel, daß präsidentielle Regie-rungssysteme prinzipiell nicht konsensorientiert sind - ein Gegenbeispiel bildet derPräsidentialismus in den USA.

- Die Präsidentialismuskritik argumentiert von einer Position aus, die unterstellt, daßfür Demokratien in der Konsolidierungsphase vor allem institutionell garantierterKonsens wichtig ist. In politischen Konflikten wird eine Bedrohung für junge De-mokratien gesehen. Damit findet das funktionale Erfordernis der Inklusion eine un-zulässige Überbetonung. Effektivität, die sich in der Entscheidungs- und Problemlö-sungskapazität ausdrückt, wird unterbewertet. Rückt man dem entgegen die Effekti-vität ins Blickfeld, dann kann die Überlegenheit eines Regierungssystems nicht aufseine Eigenschaften, insbesondere Konsens und Kompromiß zu fördern, zurückge-führt werden.

- Ebenso wie die Konsens- und Kompromißfähigkeit einer politischen Ordnung nichtnur vom Regierungssystem abhängen, hängt auch die Entscheidungs- und Pro-blemlösungskapazität von intervenierenden Variablen ab. In der Policy-Forschungwerden hier Faktoren wie die interne Organisation der Regierung, die Beziehung zurLegislative und Verwaltung und die konkrete personelle Besetzung der Regierungs-einheiten identifiziert.

Aus diesen Gründen lehnen Thibaut und Nohlen eine komparative Analyse der Regie-rungsysteme ab, wenn in ihr die verschiedenen Variationen der Regierungssystemenicht berücksichtigt werden oder konkrete gesellschaftspolitische Probleme und Kon-fliktstrukturen unberücksichtigt bleiben. Den Idealtypen stehen in der Realität Regie-rungsysteme mit spezifischen, institutionellen Variationen gegenüber, die sich im histo-rischen Kontext der Länder entwickelt haben. Erst die Verschränkung von Regierungs-system und den zusätzlichen institutionellen Dimensionen des politischen Systems ent-scheidet darüber, ob das System eher konsens- und kompromißorientiert (konsensde-

Page 219: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 214

mokratisch) oder eher leistungs- und problemlösungsorientiert (mehrheitsdemokratisch)ist. Hierin besteht die z.T. verdeckte Fragestellung, die der Debatte um die Überlegen-heit eines der Regierungssysteme unterliegt.

Für die institutionentheoretische Untersuchung der Konsolidierungschancen ist dieFrage entscheidend, ob die mehrheitsdemokratischen oder die konsensdemokratischenElemente adäquat auf die Problemstruktur eines Landes reagieren können (Merkel1996). Autoren wie Linz, Stepan und Scach, Lijphard und Glaeßner unterstellen demPräsidentialismus eine Tendenz zur Majoritätsherrschaft. Dem parlamentarischenSystem hingegen wird eine höhere Konsensfähigkeit unterstellt. Aufgrund des man-gelnden Grundkonsens in den Transformationsgesellschaften wird in der Machtkonzen-tration eine Gefahr gesehen, und es wird davon ausgegangen, daß die gesellschaftlichenDifferenzen nur in einem Konsensmodell adäquat abgearbeitet werden können.Ob ein politisches System allerdings primär macht- oder konsensorientiert ist, hängtnicht nur vom Regierungssystem ab. Für eine solche Beurteilung muß die zum Regie-rungssystem parallele institutionelle Ausgestaltung des Wahlsystems, des Parteiensy-stems, der Verbände, der Verwaltung und relevanten politischen Akteure berücksichtigtwerden. Erst der in der Realität vorliegende Mix dieser institutionellen Arrangementsentscheidet über die Fähigkeit des politischen Systems, Inklusion und Effizienz zu ge-nerieren. Der institutionelle Kontext entscheidet also über die Orientierung des politi-schen Systems – ob eher konsens- oder eher majoritätsorientiert. Darüber hinaus ent-scheidet der sozio-ökonomische und historische Kontext über die Angemessenheit derjeweiligen Orientierung41. Es kann nämlich nicht einfach davon ausgegangen werden,daß für junge Demokratien ein genereller Vorteil konsensueller Institutionen gegenübereinem mehrheitsdemokratischen Institutionenmix besteht42. Es verhält sich nämlichvielmehr so, daß es Regierungsfunktionen - wie Regierbarkeit und Effektivität - gibt,die eher durch majoritäre Entscheidungsmechanismen optimiert werden und daher ineiner Machtkonzentration ihr institutionelles Äquivalent finden. Andere Regierungs-funktionen – wie Repräsentation und Integration gesellschaftlicher Interessen - werdeneher durch konsensorientierte Verfahren optimiert (Thibaut 1996: 53). Welcher Orien-tierung aus Stabilitätsgründen der Vorrang einzuräumen ist, hängt primär von der Kon-

41 Hier muß einschränkend angemerkt werden: Selbst wenn das dem sozio-ökonomischen Kontextangemessene System gewählt wird, ist dies keine Garantie für die Erfüllung der mit der Einführung desentsprechenden Regierungssystems verbundenen Hoffnungen. Gerade für parlamentarische Systeme zeigtsich in Ostmitteleuropa, daß in Abwesenheit einer gut funktionierenden Exekutive und demokratischerpolitischer Parteien die Parlamente ihre Demokratisierungschancen nicht ausschöpfen können (D.M.Olson 1997: 402f). In der Transformation waren die Parlamente mit dem Übergang von Passivität zumAktivismus und von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit oft überfordert. Die erweitertenHandlungsoptionen blieben wegen der mangelnden Handlungsfähigkeit ungenutzt(„opportunity/capability gap“).42 Dagegen Lijphart (1991:75f).

Page 220: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 215

fliktstruktur der Gesellschaft und dem sozio-ökonomischen Kontext ab (Merkel / Sand-schneider / Segert 1996; Merkel 1996):Für Gesellschaften, in denen eine starke Fragmentierung vorliegt und die ethnisch, na-tional oder religiös heterogen sind, erfüllt die institutionell vorgegebene Konsensorien-tierung Inklusions- und Effizienzansprüche. Bereits integrierte Gesellschaften mit einerhomogenen Struktur können stärker die Vorteile majoritär orientierter Institutionen(Policy-Innovationen <Thibaut 1996>) ausnutzen. Für den sozio-ökonomischen Kontextder Konsolidierung post-komunistischer Staaten gilt, daß die institutionelle Ausgestal-tung der Regierungssysteme funktional-äquivalente Lösungen für die spezifischen Pro-bleme der Systemwechsel bieten muß. Die Institutionen müssen die Konflikte bewälti-gen, die aus der Änderung der politischen und wirtschaftlichen Makrostrukturen resul-tieren können, und die tiefgreifenden Wirtschaftsreformen bewerkstelligen.

Neben den kontextabhängigen Kriterien für die Angemessenheit eines Regierungssy-stems lassen sich auch kontextunabhängige Aussagen bezüglich der institutionellen Lei-stungsfähigkeit von Regierungssystemen treffen. Dies gilt für die Zwischenformen –hierin stimmen die konträren Positionen in der Debatte um die Vorzüge des präsidenti-ellen bzw. des parlametarischen Regierungsystems überein. Zwischenformen sind oft-mals das Ergebnis einer weitreichenden Kompromißbildung wie sie z.B. in Polen amRunden Tisch stattgefunden hat. Um die Zwischenformen zu identifizieren, muß mandie institutionelle Ausgestaltung der Beziehung von Legislative und Exekutive genaueruntersuchen. Dies kann anhand von Kriterien geschehen, wie sie Merkel (1996: 77)zusammengefaßt hat:Die Machtbeziehung von Parlament und Regierung bzw. Parlament und Präsident wirdgeprägt von den Kontrollrechten des Parlaments gegenüber der Regierung, vom Vor-handensein eines Rechts des Präsidenten, das Parlament aufzulösen oder die Regierungabzusetzen, sowie von legislativen Vetorechten und speziell zugewiesenen Politikman-daten des Staatsoberhauptes.Merkel beschreibt anhand dieser Kriterien die institutionellen Besonderheiten von Re-gierungsystemen, die sich nicht eindeutig als präsidentielle Regierungssysteme (wie esin seiner reinen Form in keinem osteuropäischen Staat installiert wurde) oder als reinparlamentarisches System (wie die Regierungssysteme in Bulgarien, Ungarn, Tsche-chien und der Slowakei) identifizieren lassen (1996: 78):Die erste Mischform bildet das „präsidentiell-parlamentarisches Regierungssystem“ wiees in Rußland eingeführt wurde. In diesem Regierungssystem werden zwei Führer derExekutive gewählt. Der Präsident wird vom Volk direkt gewählt und der Premier wirdindirekt, vom Parlament, gewählt. Der Präsident hat außerdem nicht nur das Recht,Mitglieder des Kabinetts auszutauschen. Er hat auch Vetorechte gegen ein parlamentari-sches Mißtrauensvotum. Insofern ist die kontrollierende Wirkung des Mißtrauensvo-

Page 221: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 216

tums des Parlaments gegenüber der Regierung stark beschnitten. In der anderen Misch-form, dem „parlamentarisch-präsidentiellen System“, gibt es zwar auch eine doppelteFührung in der Exekutive. Jedoch sind die Rechte des Präsidenten beschränkter. Erkann nicht gegen den Willen des Parlaments die Regierung entlassen oder den Regie-rungschef stürzen. Diese Kategorie bildet eine institutionelle Charakterisierung des pol-nischen Regierungssystems.Mit der Typologie lassen sich das Machtverhältnis von Exekutive und Legislative sowiedie Machtkonflikte innerhalb der Legislative eines semipräsidentiellen Systems ver-deutlichen. In beiden Mischsystemen ist der potentielle Konflikt zwischen den Gewal-ten strukturell angelegt. Zwischen Präsident und Regierung bzw. zwischen Präsidentund Legislative gibt es keine eindeutige Kompetenzzuweisung. Vielmehr wird inner-halb der Exekutive um Kompetenzen gestritten. Das hemmt die Entscheidungsfähigkeitdes Regierungssystems (vgl. Merkel / Sandschneider / Segert 1996; Merkel 1996;Glaeßner 1994), was den Verlust der Unterstützung in der Bevölkerung nach sich zieht.In Polen hatte der ständige Konflikt zwischen Präsident und Sejm bzw. Regierung einenpolitischen Stillstand zur Folge. Wichtige Entscheidungen wurden aufgeschoben, unddaher konnten anstehende Probleme nicht gelöst werden (Merkel 1996). In Rußland hatJelzin den institutionell angelegten Konflikt zwischen Exekutive und Legislative ent-schieden, in dem er einfach ohne Mehrheiten mit der Hilfe von Dekreten politische Ent-scheidungen durchsetzte. Mit diesem Vorgehen bewegt sich das Regime weg von de-mokratischen Entscheidungsprozeduren hin zu autoritären Regierungsstilen. Deshalbkann dort auch kaum noch von einer „Institutionalisierung der Demokratie“ die Redesein, sondern eher von der Durchsetzung eines „plebiszitären Autoritarismus“ (Brie1996: 172; Bos 1996).Kontextunabhängig, also ohne Beachtung des institutionellen und der sozio-ökonomi-schen Randbedingungen, läßt sich zusammenfassen, daß eine uneindeutige Allokationvon Entscheidungskompetenzen und die konfligierende Definition von Machtstrukturenin Mischsystemen dem Konsolidierungsprozeß junger Demokratien entgegen wirkt. Derim Semipräsidentialismus institutionell angelegte Konflikt um Kompetenzen kann zuwechselseitigen Blockaden führen, die die Entscheidungseffizienz der Regierung unter-drücken.

3.3 Wahlsystem

Ganz ähnlich wie es die Auseinandersetzung um die Angemessenheit eines bestimmtenRegierungssystems gibt, gibt es auch eine Diskussion um die Vorzüge bestimmterWahlsysteme für die Konsolidierung (vgl. Lijphard / Waisman 1996; Geddes 1996;Gebethner 1996). Wahlsysteme haben eine zentrale Bedeutung bei der Ausgestaltung

Page 222: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 217

des politischen Wettbewerbs – sie bestimmen, ob er sich eher konsensual oder eher kon-fliktorientiert gestaltet.Die wichtigste Eigenschaft von Wahlsystemen ist die Übersetzung der Wahlpräferenzender Bürger in demokratisch legitimierte politische Macht (Elster / Offe / Preuss 1998:111f). Die Art des Wahlsystems bestimmt die Relation zwischen Stimmen und Manda-ten. In dieser Relation kann je nach Repräsentationssystem ein mehr disproportionalesoder ein stärker proportionales Verhältnis herrschen. Genau an dieser Stelle entzündetsich die Debatte um die Auswirkung der verschiedenen Wahlsysteme. Über die Relationvon Stimmen und Mandaten wirkt das Wahlsystem auf die Art der politischen Willens-bildung, auf die Struktur des Parteiensystems und -wettbewerbs, darauf, wie ethnische,religiöse, nationale sowie weitere soziale cleavages politisch gemanagt werden und wiepolitische Alternativen strukturiert werden (Nohlen / Kasapovic 1996; Elster / Offe /Preuss 1998). Satori (1994) faßt die Effekte von Wahlsystemen in zwei Kategorien zu-sammen: Sie haben einen „constrain-effect“, weil sie die Entscheidung der Wähler aufeine festgelegte Weise umsetzen und sie somit beschränken, und sie haben einen„reductive-effect“, weil sie die Anzahl der politischen Parteien mit beeinflussen.Wie kann der Übersetzungsprozeß von Wählerpräferenz zu politischer Macht im Wahl-system gestaltet werden? Diese Frage wird auf zwei Dimensionen entschieden: Erstensauf der Dimension der Repräsentation und zweitens auf der Dimension der Entschei-dungsregeln (Nohlen / Kasapovic 1996: 18f): Die politische Repräsentation kann nachder Mehrheitswahl erfolgen, bei der es das primäre Ziel ist, für eine Partei oder einenVerbund von Parteien eine politische Regierungsmehrheit zu erzielen, oder nach derVerhältniswahl, bei der darauf abgezielt wird, die Kräfteverhältnisse organisierter aberauch nicht organisierter Interessen in der Bevölkerung wiederzugeben. Die Entschei-dungsregeln setzen sich aus den „technischen Elementen“ - der Einteilung der Wahl-kreise, der Listenform, d.h. der Form der Kandidatur und Stimmgebung und der Ver-rechnung der Stimmen - mit denen die konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems er-folgt, zusammen.Alle Wahlsysteme, auch die gemischten, bei denen über die Kombination von Entschei-dungsregeln Mehrheits- oder Verhältnisorientierungen ausgeglichen bzw. kombiniertwerden, lassen sich entweder der Mehrheits- oder der Verhältnisrepräsentation zuord-nen – „Tertium non datur“ (Nohlen / Kasapovic 1996: 19). Der Grund dafür, daß auf derRepräsentationsebene keine gemischten Systeme existieren können, liegt in der wider-sprüchlichen Funktionserfüllung, die sich in den Zielen von Mehrheitswahl einerseitsund Verhältniswahl andererseits ausdrücken - besonders zwischen Repräsentation undPartizipation können Zielkonflikte bestehen. Entsprechend werden in der Debatte umdas angemessene, besser geeignete Wahlsystem die Vorteile der Repräsentation durchMehrheitswahl gegenüber der Repräsentation durch Verhältniswahl gegenübergestellt(Nohlen / Kasapovic 1996: 20f): Von der Mehrheitswahl wird erwartet, daß sie der Zer-

Page 223: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 218

splitterung der Parteien vorbeugt, weil die Chancen der kleinen Parteien, Mandate zugewinnen, gering sind. Eng damit verbunden ist der Effekt, daß sich die Parteien bei derMehrheitswahl durchsetzen, die um die Gunst der breiten Wählerschicht der gemäßigtenWähler werben, was zur politischen Mäßigung führt. Eine Stabilisierungswirkung wirderwartet, weil die Mehrheitswahl das Entstehen von Mehrheitsregierungen begünstigt.Gleichzeitig kann es aber auch recht schnell zum politischen Wechsel kommen, weilgeringe Änderungen der Stimmenverhältnisse zu großen Umschwüngen bei den Man-datsverhältnissen führen können. Und nicht zuletzt wird der Mehrheitswahl ein Legiti-mitätsvorteil unterstellt, weil die Wähler unmittelbar über die Regierungsführung ent-scheiden.Die Vorteile der Verhältniswahl werden besonders in der Eigenschaft gesehen, einebreite Repräsentation der gesellschaftlichen Orientierungen und Interessen im Parla-ment zu gewährleisten. Somit können nicht nur gesellschaftliche Änderungen berück-sichtigt werden, sondern es ergibt sich die Notwendigkeit, bei Koalitionsabsprachenüber Kompromisse zu verhandeln, die eine Integration verschiedener gesellschaftlicherInteressen und damit die Berücksichtigung gesellschaftlicher Konfliktlinien gewährlei-sten. Außerdem verhindern Verhältniswahlen manufactured majorities (Kasapovic /Nohlen 1996: 224) - künstliche Mehrheiten, denen keine Mehrheit bei den Wählerngegenübersteht, womit auch extremen, politischen Änderungen vorgebeugt wird.Mit diesen Argumenten wird auf Anforderungen an die institutionelle Leistungsfähig-keit von Wahlsystemen verwiesen. Vor allem wird von ihnen die Erfüllung dreier zen-traler Funktionen erwartet (Nohlen / Kasapovic 1996: 183f): Sie sollen die gesellschaft-lichen Interessen und Meinungen repräsentieren, die politische Macht wenigstens soweit konzentrieren, daß effektive politische Entscheidungen zustandekommen unddurchgesetzt werden können, und sie dürfen der Partizipation von Bürgern und Interes-sengruppen an der politischen Macht nicht im Wege stehen43.

Die Diskussion, die die Leistungsfähigkeit von Wahlsystemen entlang der Repräsentati-onsform thematisiert, führt aus zweierlei Gründen an der Problematik des angemesse-nen Wahlsystems vorbei: Es wird verkannt, daß erstens die Erfüllung der funktionalenAnforderungen und die politischen Auswirkungen des Wahlsystems erst durch das Zu-sammenspiel der Elemente der Entscheidungsregeln geprägt werden und daß zweitensder sozio-kulturelle und politische Hintergrund wesentliches Kriterium der Angemes-senheit eines Wahlsystems bleibt.Die politischen Effekte des Wahlsystems auf andere institutionelle Ebenen - wie dasParteiensystem - und die Erfüllung funktionaler Anforderungen der Wahlsysteme las-sen sich durchaus gestalten. Erst die Kombination verschiedener Elemente des Wahlsy- 43 Nohlen und Kasapovic stellen diesen drei Hauptanforderungen zwei weitere zur Seite (1996: 184): DieEinfachheit des Wahlsystems, so daß die Umsetzung des Votums in politische Macht nachvollziehbar ist,und Legitimität, die sich auf die Akzeptanz des Wahlsystems bezieht.

Page 224: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 219

stems bestimmt den Typus des Verhältniswahlsystems bzw. des Mehrheitswahlsystems(Nohlen / Kasapovic 1996: 22f):- Die Einteilung der Wahlkreise in Einer- oder Mehrpersonenwahlkreise kann die

Funktion der politischen Repräsentation gestalten, da sich die Größe des Wahlkrei-ses auf die Proportionalität von Stimmen und Mandaten auswirkt. Werden wenigeMandate in einem Wahlkreis vergeben, dann wird ein höherer Stimmenanteil benö-tigt, um ein solches zu realisieren. Kleine Parteien haben dabei schlechtere Chancen,so daß die Interessen der Bürger nicht proportional übersetzt werden können. Damitwirkt die Wahlkreiseinteilung auf das Parteiensystem und hat eine weitere politischeBedeutung in der Gestaltung der Machtverhältnisse.

- Kandidatur- und Stimmgebungsverfahren unterscheiden sich danach, ob eine Ein-zelkandidatur und dementsprechend eine Einzelstimmenabgabe erfolgt oder obParteien über Listen kandidieren bzw. Listenstimmgebung vorgegeben ist. Mit die-sen Elementen kann vor allem die Funktion der politischen Repräsentation gesteuertwerden. Führen die anderen Elemente des Wahlsystems dazu, daß die Parteien ge-schwächt sind, dann kann dieser Effekt mit einer Listenwahl ausgeglichen werden.Wird dementgegen eine zu große Machtkonzentration bei den Parteien bemängelt,können eine Einzelkandidatur oder nicht starre Listen, die eine Kandidatenreihen-folge vorschreiben, eine Lösung für eine nicht zufriedenstellende Repräsentationdarstellen. Die politischen Auswirkungen dieser Elemente des Wahlsystems sind indem Verhältnis von Wähler und Kandidaten sowie von Kandidat und der jeweiligenPartei zu suchen. Bei Einzelkandidaturen können sich die Wähler durch konkretePersonen vertreten sehen, und der Kandidat wird unabhängiger von seiner Partei.Bei Listenwahlen hingegen hat der Wähler geringeren Einfluß auf die parteiinterneKandidatenauswahl, und dementsprechend steigt die Abhängigkeit des Kandidatenvon seiner Partei.

- Für die Verrechnung der Stimmen, die sich auf Repräsentationsfunktion und Kon-zentrations- bzw. Effektivitätsfunktion auswirkt, ist die Wahl der Entscheidungsre-gel zwischen Majorz und Proporz richtungsweisend. Majorz begünstigt die Kon-zentrationsfunktion, weil derjenige Kandidat das Mandat gewinnt, der eine relativeoder absolute Mehrheit der Stimmen bekommt - nur der Sieger eines Wahlkreisesbekommt ein Mandat. Die politische Wirkung dieser Entscheidungsregel bestehtdarin, daß die Entscheidungssituation für die Wähler an Klarheit gewinnt. Negativkann sich allerdings auswirken, daß durch die Konzentration eine Partei vorherrschtund damit die Motivation für Opposition sowie die Parteienlandschaft verödet unddie Wahlbeteiligung nachläßt, weil die nicht erfolgreichen Stimmen völlig unbe-rücksicht bleiben. Im Proporz hingegen, der auf Repräsentation zielt, finden auchdie Stimmen, die keine Mehrheit erlangen konnten, Berücksichtigung, weil die Ver-gabe der Mandate nach dem Stimmenanteil erfolgt. Parteien haben deshalb einen

Page 225: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 220

Anreiz, um jede Stimme zu kämpfen, wodurch ein reger Wettbewerb der Parteienerwartet werden kann. Außerdem ist der Anreiz für die Wähler höher, sich an derWahl zu beteiligen. Die Konzentrationsfunktion kann allerdings auch bei Proporz-systemen erfüllt werden, nämlich dann, wenn künstliche Hürden bei der Umsetzungvon Stimmen in Mandate eingeführt werden. Solche Sperrklauseln können je nachAnsatzhöhe einen Konzentrationseffekt haben, weil kleinen Parteien der Zugang zurparlamentarischen Repräsentation erschwert wird.

Die Erfüllung funktionaler Anforderungen, die politischen Auswirkungen des Wahl-systems und damit auch die Vor- und Nachteile des gewählten Repräsentationsprinzipshängen aber nicht nur vom „technischen Design“ des Wahlsystems ab. Die historischenErfahrungen eines Landes und die sozialstrukturellen Bedingungen, die den Grad dergesellschaftlichen Homogenität sowie die gesellschaftlichen Konfliktlinien vorgeben,sind der bestimmende Kontext, in dem Wahlsysteme eine spezifische Wirkung entwic-keln. Sie bestimmen den von Satori festgestellten „constrain-effect“ auf die Entschei-dungsfreiheit der Wähler mit. Solche Kontextvariablen entscheiden darüber hinaus überden von Satori erwähnten „reductive-effect“, weil sie Auswirkungen des Wahlsystemsauf die Parteienlandschaft mitbestimmen. Repräsentieren die Parteien nämlich bei-spielsweise diffuse Programme oder sind sie schlecht organisiert und gibt es eine hoheWählerfluktuation, wie in den meisten ostmitteleuropäischen Staaten, dann können auchdie Entscheidungsregeln der Wahlsysteme die Anzahl der Parteien nicht reduzieren ge-schweige denn die Parteienlandschaft strukturieren (Elster / Offe / Preuss 1998: 129).

Wie relevant der Kontext für die Wirkung des Wahlsystems ist, offenbart sich auch beiempirischen Untersuchungen zu den Wahlsystemen in Osteuropa. Wie auch die Festle-gung der anderen institutionellen Dimensionen der Verfassung, folgt die Wahl und dieAusgestaltung des Wahlsystems weniger der Einschätzung ihrer Funktionsweise undAngemessenheit als der machtstrategischen Orientierung der verhandelnden Akteure,die die Verfassung gestalten. Dennoch kann versucht werden, die Wahlsysteme derpost-kommunistischen Staaten nach der Erfüllung von Funktionsanforderungen unddamit auch z.B. nach einem durch seine Elemente gesetzten Primat bei Konsens- oderKonfliktorientierung zu untersuchen, um konkrete Probleme für die Konsolidierungherauszustellen.Das vorherrschende Repräsentationsprinzip in den post-kommunistischen Staaten ist dieVerhältniswahl. Die Gestaltung der Entscheidungsregeln ist in den Wahlsystemen rela-tiv konform (Kasapovic / Nohlen 1996): Es handelt sich um Verhältniswahlsysteme mitMehrpersonenwahlkreisen und Sperrklauseln. Diese Elemente sind kombiniert mit star-ren Listen und Einzelstimmgebung. Sowohl in Polen und Rumänien, als auch in derSlowakei und in Tschechien gibt es die Verhältniswahl in Personenwahlkreisen. Bulga-rien weicht von diesem System etwas ab. Zwar gilt auch dort die Verhältniswahl mit

Page 226: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 221

Sperrklausel. Die Verrechnung der Stimmen erfolgt aber zuerst auf der nationalenEbene. In Ungarn verhält es sich so, daß die Verhältnismandate durch kompensatorischeMandate ausgeglichen werden, um Disproportionseffekte, die durch die Vergabe vonListenmandaten nach Proporz zustande kommen können, auszugleichen.Die Gründe bzw. Motive für die Einführung des Verhältniswahlrechts sind darin zusehen, daß die Herrschaftseliten entweder ihren politischen Machtanspruch aufgegebenhaben oder die Opposition – wie in Polen – große Wahlsiege erringen konnte, was sielegitimierte und befähigte, Reformen in Richtung Verhältniswahl durchzusetzen. Demunterliegt die Annahme, daß diejenigen, die die institutionelle Gestaltung des politi-schen Systems bestimmen bzw. aushandeln, von politischem Selbstinteresse geleitetwerden (vgl. Geddes 1996: 18; J. Simon 1997: 371). Damit spielen machtstrategischeErwägungen und die Verhandlungsmacht bei der Verabschiedung eines Wahlsystemseine wichtige Rolle. Entsprechend zeigte sich auch, daß Kommunisten, die ihre Machtbehalten konnten, das Majoritätsprinzip bevorzugten. Und das aus drei Gründen: 1. weildie organisatorische Basis ihrer Partei besser war als die der Oppositionskräfte, 2. weilsie davon ausgingen, daß die Mitglieder der lokalen Verwaltung noch in der Lage wa-ren, genug Stimmen anzuziehen, und 3. weil sie darauf bauten, daß sie auf der nationa-len Ebene Kandidaten nominieren konnten, die sich eines höheren Bekanntheitsgradesin der Öffentlichkeit erfreuten (Elster / Offe / Preuss 1998: 112). Aus denselben Grün-den setzten sich die oppositionellen Parteien eher für Verhältniswahlsysteme ein. Fastalle Oppositionen in kommunistischen Staaten gehörten zu der Kategorie der kleinerenInteressengruppen und Parteien sowie Parteien und Interessengruppen, die sich unsicherüber ihre zukünftig bevorzugte, proportionale Repräsentation waren - sie unterschätztendabei aber oftmals ihre Stärke und fanden sich deshalb mit Zugeständnissen ab, mitdenen sie sich nicht zufrieden gegeben hätten, wenn ihre Einschätzungen akkurater ge-wesen wären (vgl. Geddes 1996: 21f). Die machtstrategische Determiniertheit desWahlsystems zeigt sich auch an den Reformen der Wahlsysteme. Mit dem Machtverlustund der Zersplitterung der kommunistischen Parteien oder Nachfolgeparteien nahmallgemein die Tendenz hin zur Verhältniswahl (Bulgarien, Polen und Jugoslawien) zu.Kombinierte Wahlsysteme wie das in Rußland kamen aufgrund von Kompromissen undWahlsiegen der oppositionellen Kräfte zustande. Seit Jelzins Wahl 1991 gab es einenständigen Machkonflikt zwischen dem Präsidenten und dem Parlament, bei dem dieGestaltung der Verfassung eine zentrale Stellung einnahm.In einer umfassenden Untersuchung zu den Wahlsystemen in Osteuropa kommenKasapovic und Nohlen zu den folgenden Schlußfolgerungen (1996: 248f): Die politi-schen Auswirkungen der kombinierten Wahlsysteme sind in besonderem Maße kontext-abhängig. Sie bilden vielleicht eine angemessene institutionelle Lösung für Pattsituatio-nen, die sich aus den machtstrategischen Motiven der politischen Akteure ergeben, al-lerdings stehen bei der Instrumentalisierung von Elementen der Entscheidungsregeln im

Page 227: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 222

machtstrategischen Kalkül nicht die Funktionserfüllungen und schon gar nicht Inklusi-ons- und Effizienzkriterium der Institutionen im Vordergrund. Daher können die kon-kreten Wahlsysteme sowohl den Erwartungen der Verhältniswahl als auch den Erwar-tungen der Mehrheitswahl entsprechen. Die politischen Auswirkungen des angewende-ten Verhältniswahlrechts auf die Parteienstruktur, den Proportionseffekt (Verhältnis vonStimme und Mandat) und der Regierungsbildung (Koalitionsregierung oder Einpartei-enregierung) zeigen zwar z.T. die Auswirkungen, die aufgrund der theoretisch konsta-tierten Zusammenhänge erwartet werden könnten. Allerdings gibt es auch bedeutendeAusnahmen. Besonders eine Kontextvariable zwingt zur Zurückhaltung bei der Ein-schätzung des Zusammenhangs zwischen Verhältniswahl und Mehrparteiensystem: DieParteienlandschaft in den post-kommunistischen Staaten ist derartig instabil, daß sichvon ihr nicht abstrahierend auf einen solchen Zusammenhang schließen läßt.Dementsprechend vorsichtig muß auch mit der Einschätzung bezüglich der Erfüllungder funktionalen Erfordernisse der Wahlsysteme umgegangen werden (Nohlen /Kasapovic 1996: 180f): Mehrheitswahlsysteme können zwar eher Konzentration undPartizipation fördern. Verhältniswahlsysteme hingegen vor allem Repräsentation undüber die institutionelle Ausgestaltung der Wahlkreise und Listen auch Konzentration.Damit sind nicht bestimmte Designs der Wahlsysteme funktionaler als andere. Vielmehrmüssen vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Erfordernisse Prioritäten gesetztwerden, mit denen sich die Wahl eines Repräsentationssystems und deren institutionelleAusgestaltung begründen läßt44. Allen funktionalen Erfordernissen kann kein Wahl-system gerecht werden, zumal es auch Zielkonflikte zwischen Anforderungen wie Parti-zipation und politischer Stabilität gibt.

Sowohl die politischen Auswirkungen als auch die Erfüllung der funktionalen Erforder-nisse von Wahlsystemen verweisen auf zwei Dimensionen: Einmal entscheidet der „in-nere Kontext“, d.h. die Ausgestaltung der technischen Elemente, und zum zweiten der„äußere Kontext“, die sozio-ökonomischen Herausforderungen und die Gestaltung desinstitutionellen Umfeldes (Parteienstruktur, Regierungssysteme usw.), und nicht etwapauschal das gewählte Repräsentationsprinzip, über die politische Angemessenheit unddie Funktionalität eines Wahlsystems.In der akademischen Diskussion darf allerdings nicht untergehen, daß Wahlsysteme inder Regel nicht aufgrund ihrer besonderen Eignung zur Bewältigung gesellschaftlicher

44 Die Entscheidung für ein Wahlsystem ist immer auch mit einer Debatte darüber, was demokratischeRepräsentation leisten soll, verbunden. Blais (1991) stellt fest, daß empirische Überprüfungen vonWahlsystemen viel weniger ihre tatsächlichen Konsequenzen widerspiegeln als die Werthaltung, die dieEntscheidung für ein Wahlsystem bestimmte. Je nach Einschätzung, ob Ziele wie Stabilität,Führungsstärke, Zuverlässigkeit, Fairneß oder auch Legitimität dem Kontext angemessen bzw.erforderlich sind, fällt die Präferenz für ein bestimmtes Design des Wahlsystems aus. Die Werte weisenauf die Frage nach der Funktion der demokratischen Repräsentation, den Erwartungen also, die mit derEinführung eines Wahlsystems verbunden sind.

Page 228: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 223

Herausforderungen eingeführt werden. Wahlsysteme sind primär Ergebnis strategischerKalküle45, die Auswirkungen auf Machtkonstellationen zu antizipieren versuchen undsich bezüglich der Wirkungsweise von Institutionen täuschen können.

3.4 Parteien und Interessengruppen

Parteien und Parteiensystem sind zwar nicht Gegenstand des in der Verfassung vorge-schriebenen institutionellen Designs der neuen politischen Systeme. Der Institutionali-sierungsgrad von Parteien bzw. die Institutionalisierung eines Parteiensystems habenaber einen bedeutenden Einfluß auf die Gestaltung der politischen Ordnung. Die Kon-solidierung der Demokratie ist eng mit der Institutionalisierung eines Parteiensystemsverbunden, weil in modernen Demokratien die Struktur der Parteien und die Art desWettbewerbs in den Wahlen einen bedeutenden Effekt auf die Stabilität der demokrati-schen Institutionen haben. Die in dem jeweiligen Parteiensystem agierenden Parteienkönnen als intermediäre Institutionen der Interessenartikulation und -aggregation wir-ken. Den Parteien in Osteuropa kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Andereintermediäre Gebilde, wie Interessengruppen, sind unterentwickelt und oftmals zuschlecht organisiert, um einen Einfluß auf die Politikgestaltung auszuüben.Mit der Thematisierung der Parteienentwicklung und der Parteiensysteme in Osteuropawird nicht nur die Aufgabe der Parteien im politischen Gestaltungsprozeß und damitihre Rolle in der Konsolidierung angesprochen. Mit ihr wird exemplarisch die allgemei-nere Problematik der Institutionalisierung eines funktionierenden System intermediärerInteressenvermittlung thematisiert. Interessengruppen und Parteien stehen in einemWirkungszusammenhang. Zwischen ihnen muß sich eine Arbeitsteilung zwischen einer-seits funktionaler und andererseits territorialer Interessenrepräsentation durchsetzen(vgl. Rüb 1995). In Ermangelung einer solchen Ausdifferenzierung kommt es rasch zueiner Überforderung der Parteien, die zu Staatskrisen führen kann, wenn z.B. Lohnkon-flikte nicht von den Tarifpartnern geregelt werden, sondern zu politischen Konfliktenwerden (v. Beyme 1997: 44f). Andererseits kann die Dominanz der InstitutionenformPartei dazu führen, daß sich Parteien nicht primär auf die materielle Gestaltung der Po-litik konzentrieren, sondern sich vermehrt auf der symbolische Ebene der Politik enga-gieren. Werden auf dieser Ebene dann Moral, Ethnizität, Nation und Religion themati-

45 Hierin muß allerdings keineswegs eine Gefährdung für die demokratische Stabilität gesehen werden. Ineiner vergleichenden Studie zum Effekt der Wahlsysteme auf die Demokratisierung in Zentraleuropakommt J. Simon (1997) zu dem Ergebnis, daß die Form des Wahlsystems eher einen geringen Effekt aufdie Systemstabilität hat. Und dies gilt, obwohl die machthabenden Parteien gravierende Änderungen inden Wahlsystemen nach den ersten Wahlen durchgesetzt haben (eine Ausnahme bildet Ungarn); einSchritt, der eher machtstrategischen Opportunismus als demokratische Motive vermuten ließe. DieÄnderungen konnten das Wahlergebnis nur unmerklich beeinflussen.

Page 229: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 224

siert, birgt das die Gefahr einer ideologischen Polarisierung in der Gesellschaft (vgl.Glaeßner 1994: 251f; Elster / Offe / Preuss 1998: 146).

Welche Anforderungen können in modernen Gesellschaften an Parteien und Parteiensy-stem gestellt werden? Parteien fungieren als vermittelnde Instanz zwischen den unter-schiedlichen gesellschaftlichen Interessen einerseits und der Ebene politischer Ent-scheidungen andererseits, die für die Mitglieder der Gesellschaft bindend formuliertwerden. Daraus ergeben sich als Anforderungen an die Parteien, die gesellschaftlicheIntegration und Konfliktaustragung im politischen System zu bewerkstelligen, Interes-sen zu repräsentieren und die entsprechende Unterstützung zu mobilisieren, Interessenzusammenzufassen und Ziele zu formulieren sowie Führungspersonal zu rekrutieren(Segert / Machos 1995: 233). Zwei Dimensionen des Parteienwettbewerbs gewinnendadurch für das Funktionieren des demokratischen Regimes an Bedeutung: die numeri-sche Dimension, die auf die Fragmentierung46, d.h. auf die Zahl der Parteien, verweist,und eine qualitative Dimension, deren Ausprägung durch die ideologische Polarisierungim politischen Konflikt zwischen den Parteien bestimmt wird (Thibaut 1996: 56). Dienumerische Dimension wird von der Geschichte der Parteien und der sozialen Bewe-gungen sowie vom Typ des vorangegangenen Regimes und im Falle Osteuropas auchvon der vorkommunistischen Vergangenheit bestimmt. Zudem hat die durch die Verfas-sung vorgegebene Institutionenstruktur, wie Festlegung des Regierungssystems undWahlsystems, einen mitgestaltenden Einfluß auf Anzahl und Grad der Fragmentierungder Parteien. Die qualitative Dimension ergibt sich aus der Funktionswahrnehmung undRolle der Parteien in der Gestaltung der Interessenaggregation und -vermittlung. Alsodaraus, auf welche Art und Weise sie sich entlang der gesellschaftlichen cleavages dif-ferenzieren, um Unterstützung in dem noch recht unstrukturierten Wählermarkt in Ost-europa zu mobilisieren. Diesem Verweis auf Variablen, die den Grad der Fragmentie-rung und Polarisierung bestimmen, liegt die grundlegende Annahme der Kontextgebun-denheit des Parteiensystems zugrunde47.Die Entstehung der Parteien bildet den Ausgangspunkt für die numerische Dimensiondes Parteiensystems. Sie gestaltete sich in den post-kommunistischen Staaten unter Be-dingungen, die sich deutlich von den Bedingungen unterscheiden, die nach dem II.Weltkrieg oder nach dem Autoritarismus Lateinamerikas bzw. Südeuropas galten. InEuropa und Amerika konnte nach dem Zusammenbruch der totalitären und autoritärenRegime bei der Gestaltung von Parteien und des Parteiensystems an Traditionen ausdemokratischen Zeiten angeknüpft werden. Waren oppositionelle Parteien auch verbo-ten, so wurden dennoch im Untergrund Organisationsstrukturen aufrechterhalten, oderwichtige Akteure setzten sich ins Ausland ab. Im Falle Osteuropas gab es zum großen 46 Nach Sartori kann dann von Fragmentierung des Parteiensystems gesprochen werden, wenn mehr alsfünf Parteien im Parlament repräsentiert sind oder sich an der Regierung beteiligen (1976: 126f).47 Ähnlich bei Segert (1995: 233).

Page 230: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 225

Teil gar keine demokratische Vergangenheit und wenn, dann lag sie zu lang zurück, uman sie anknüpfen zu können. Das gleiche gilt für Akteure, die mit dem Rückgirff aufbestimmte Parteitraditionen politische Programme hätten präsentieren können. Auch siegab es nicht. Die Parteienlandschaft glich mit der Ausnahme der (ex)kommunistischenParteien einer tabula rasa (Elster / Offe / Preuss 1998: 131). Die Parteien entstandenerst im Zuge der Umbrüche, und dementsprechend bildete sich das Parteiensystem zeit-lich parallel zu der Institutionalisierung demokratischer Strukturen aus.Segert und Machos unterscheiden drei Typen von Parteien, die bei der Transformationin Osteuropa eine Rolle spielten und spielen (1995: 276f): Es gibt historische Parteien,Nachfolgeparteien und Oppositionsbewegungen. In Osteuropa waren die historischenParteien aus den oben genannten Gründen relativ bedeutungslos. Die Nachfolgeparteiender kommunistischen Partei wandelten sich in Parteien, die am demokratischen Wett-bewerb teilnehmen. Dabei beharrten sie entweder als kommunistische Parteien auf ihrenideologischen Inhalten, oder sie avancierten zu sozialdemokratischen Parteien (vgl.Ishiyama 1995). Die Oppositionsbewegungen werden mit dem Begriff der „Ein-Punkt-Umbrellaparteien“ oder „single-issue Parteien“ (Glaeßner 1994: 261) charakterisiert.Bei ihnen handelte es sich in der Regel um Zusammenfassungen verschiedenster Inter-essen, die in einem Punkt übereinstimmten; der Widerstand gegen das kommunistischeRegime vereinte sie. Die Hoffnung, daß sich aus den Oppositionsbewegungen herausParteien entwickeln würden, mit denen ein dem westlichen Parteiensystem vergleichba-res System aufgebaut werden könnte, hat sich schnell zerschlagen. Die Bewegungenfielen oftmals mit dem endgültigen Zusammenbruch der kommunistischen Regime ent-lang ihrer ansonsten heterogenen Interessenlinien auseinander, weil ihnen zentrale Ei-genschaften fehlten wie ein kohärentes Programm, klare Entwürfe für den politischenWandel sowie eine zuverlässige organisatorische Basis.Damit ergab sich für den Zustand der Parteien in Osteuropa eine Situation, die Glaeßnertreffend als eine „Proto-Parteienlandschaft“ bezeichnet (1994: 252): Parteien fungierenprimär als organisationale Basis für die Interessen alter oder auch neuer Eliten, womitdie Bedeutung von Persönlichkeiten die Bedeutung der Parteien verdrängte. Weil dieParteien eben nicht der Beteiligung der Bürger an der Politik dienen, steht es schlechtum ihre Funktionserfüllung; Interessenartikulation und -aggregation werden von ihnennur ungenügend geleistet. Daraus erklären sich auch ihre schwache soziale Basis und ihrniedriger Institutionalisierungsgrad.

Neben diesen historischen Hintergründen, die eine Tendenz zur Fragmentierung begün-stigen, spielen die institutionellen Randbedingungen eine entscheidende Rolle für dienumerische Gestaltung des Parteiensystems. Die Wahl des Regierungs- sowie desWahlsystems kann sich auf die Struktur des Parteiensystems auswirken. Beim institu-tionenkonformen Handeln der entscheidenden politischen Akteure kann so mit „institu-

Page 231: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 226

tional engineering“ eine entscheidende Weichenstellung für die Stabilisierung einesdemokratischen Parteiensystems erfolgen. Allerdings wirken Variablen wie Regie-rungssystem und Wahlsystem im Verbund auf die Herausbildung des Parteiensystems(v. Beyme 1997: 27f). Damit gewinnen die institutionellen Wechselwirkungen an Kom-plexität, so daß nur eingeschränkt allgemeine Aussagen getroffen werden können. Fest-halten läßt sich: mit freien und gleichen Wahlen - am besten nach einem Verhältnis-wahlrecht - bei gleichzeitiger Einführung eines parlamentarischen Regierungssystemskönnen die Parteien an Bedeutung gewinnen; sie können unter diesen Bedingungen alsvermittelnde Instanzen zwischen den Bürgern und Eliten - also der Ebene politischerEntscheidungen – fungieren (vgl. Segert / Machos 1995: 291). Bei der Verhältniswahlgewinnen unterschiedlichste Interessen zwar die Chance der Berücksichtigung und kön-nen somit eine faire Repräsentation fördern. Allerdings besteht die Gefahr der Zersplit-terung des Parteiensystems. Auch hat ein präsidentielles Regierungssystem, bei dem derPräsident vom Volk gewählt wird, in Kombination mit einem Mehrheitswahlsystemstrukturierende Wirkung auf das Parteiensystem (vgl. v. Beyme 1997: 28). Die Bedeu-tung der Parteien für den politischen Vermittlungsprozeß ist unter diesen Bedingungenrelativ gering, der Konzentrationseffekt auf die Parteienlandschaft eher stark. Zwischendiesen extremen Polen liegen die institutionellen Designs, bei denen mit spezifischeninstitutionellen Elementen Proportions- bzw. Disproportionseffekte ausgeglichen wer-den, wie bspw. Sperrklauseln. Diese Gestaltungsmöglichkeiten zeigen, daß unter-schiedliche Wahlsysteme die gewünschten Konzentrationseffekte auf die Parteienland-schaft erwirken können (Nohlen / Kasapovic 1996: 187). Sperrklauseln können die Be-deutung kleiner Parteien in parlamentarischen Systemen begrenzen und damit einer zugroßen Fragmentierung vorbeugen. Ob es zu derartigen, theoretisch zu erwartenden,Wirkungen im Institutionengeflecht kommt, hängt letztendlich davon ab, ob Einstellun-gen und Verhalten der Eliten institutionellen Vorgaben folgen.Eine zunehmende Fragmentierung kann, muß aber nicht, mit einer zunehmenden ideo-logischen Distanzierung der politischen Standpunkte zusammenhängen. Ob es sich soverhält, muß auf dem Hintergrund der qualitativen Dimension des Parteienwettbewerbsuntersucht werden. Die numerische Dimension ist kein hinreichender Indikator für dieStabilität der demokratischen Institutionen. Wenn in einem fragmentierten Parteiensy-stem alle Parteien die Legitimität des politischen Systems akzeptieren und den institu-tionellen Spielregeln folgen, dann muß hinter der Fragmentierung keine politische Pola-risierung liegen (Sartori 1976: 179). Mit der qualitativen Dimension wird also auf denGrad der Polarisierung verwiesen, der über die von den Parteien zu übernehmendeFunktionswahrnehmung einer demokratiefördernden Rolle informiert. Sartori hat dieArt des Parteienwettbewerbs in einem Mehr-Parteiensystem mit den zwei Begriffenmoderater und polarisierter Pluralismus charakterisiert (1976: 131f, 173f): In einempolarisierten Parteienwettbewerb liegen die politischen Meinungen, für die die Parteien

Page 232: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 227

stehen, maximal auseinander. Entsprechend tief sind die cleavages, es gibt kaum Kon-sens, und die Legitimität des politischen Systems wird in Frage gestellt. Letzteres zeigtsich insbesondere an dem mit der Polarisierung verbundenen Phänomen der Anti-Sy-stem Parteien. „Briefly put, we have polarization when we have ideological distance...“(Sartori 1976: 135). Für das politische System besteht die Gefahr, daß die Oppositionsich unverantwortlich verhält und der Wettbewerb unfair wird. Unter diesen Bedingun-gen ist insbesondere in Krisensituationen die Handlungsfähigkeit des politischen Regi-mes stark eingeschränkt. Im ideologisierten Konflikt kommt es leicht zur Lähmung derpolitischen Entscheidungsinstanzen oder zu schlecht kalkulierten Reformen. ModeraterPluralismus hingegen ist gekennzeichnet durch eine relativ geringe ideologische Distanzzwischen den bedeutenden Parteien (es gibt keine Anti-System-Partei von Bedeutung)sowie durch das Streben aller Parteien, sich an der Regierung zu beteiligen, und damitihrer Bereitschaft zur Koalitionsbildung.In Osteuropa liegen die Parteiensysteme zwischen diesen beiden Polen, haben aber einestarke zentrifugale Tendenz hin zu einer zunehmenden Polarisierung (Elster / Offe /Preuss 1998: 141, 147). Die Ursache für diese Tendenz liegt in den sozialen Konflikten.Sie komplizieren das Entstehen stabiler Parteien und eines moderat pluralistischen Par-teiensystems.Den Ausgangspunkt des Parteienwettbewerbs bildete die Entstehung der neuen Parteienbzw. der parteiähnlichen Organisationen. Sie sind entweder aus dem Konflikt mit demkommunistischen Regime oder aus den Herausforderungen in der Phase des Regimezu-sammenbruchs hervorgegangen. Zu diesen Zeitpunkten bestand der zentrale cleavagezwischen Befürwortern und Gegnern der staatlichen Unabhängigkeit; die Befürworterwaren meist antikommunistisch orientiert und die Gegner prokommunistisch(Kasapovic / Nohlen 1996: 246). Alle anderen Konfliktlinien waren dieser bestimmen-den Konfliktlinie untergeordnet. Als das Ziel der staatlichen Unabhängigkeit erreichtwurde, zerfielen etliche der politischen Organisationen. Als dominanter Parteientyp inder politischen Landschaft nach der Regimeablösung bewahrte sich die „Anti-Partei“,die als Reaktion auf die Einparteienherrschaft auf einem Konzept der anti-politics ba-sierte. Den oppositionellen Bewegungen ging es weniger um den Aufbau alternativerParteien als um den Aufbau einer autonomen Civil Society. Die Foren und Netzwerkedes Widerstandes waren dementsprechend schlecht organisierte soziale Bewegungen.Für die Profilbildung der Parteien, die sich aus ihnen entwickelten, waren daher politi-scher Stil, Images und dominante Persönlichkeiten bedeutender als politische Pro-gramme und Themen. Dem gegenüber stand die unklare Interessenlage der Wähler inden postkommunistischen Gesellschaften (vgl. Segert / Machos 1995: 236f). Diese feh-lende Differenzierung in der Wählerschaft gepaart mit einem Mangel an differenziertenintermediären Institutionen der Interessenvermittlung, über die sich interessenbasierte

Page 233: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 228

kollektive Identitäten hätten entwickeln können, verursachen eine hohe Volatilität derWähler (vgl. Glaeßner 1994: 251f: Merkel 1997: 9f).Die Parteien konnten sich nicht entlang bereits existierender sozio-ökonomischer clea-vages bilden, weil es unter den Bedingungen des Staatssozialismus keine Assoziations-freiheit gab und die soziale Differenzierung nur schwach ausgebildet war. Dementspre-chend gering ist die Ausprägung kultureller sowie ideologischer Profile bei den Wäh-lern, und ihre Parteipräferenzen sind extrem instabil. Nur ethnische und religiöse Mino-ritäten bieten eine klare Interessenlinie, die zur Identitätsstiftung taugt. Stabile Kon-fliktlinien ließen sich wenn, dann nur in diesen Bereichen und zwischen den Interessender Landbevölkerung und den Interessen der industriell geprägten bzw. urbanen Bevöl-kerung erkennen (vgl. Segert / Machos 1995: 236f). In den osteuropäischen Staaten warder in den westlichen, europäischen Demokratien zentrale cleavage im traditionellenKlassenkonflikt zwischen Arbeitern und Eigentümern an Produktionsmitteln nicht vor-handen. Solche Verteilungskonflikte ließen sich verhandeln und daher in einem mode-raten Parteienwettbewerb, der demokratische Stabilität fördert, vermitteln. WenigerStabilität kann erwartet werden, wenn ethnische Unterschiede eine Rolle spielen. Der-artige Konflikte sind Null-Summen-Spiele („Entweder-oder Konflikte“; siehe Elster /Offe / Preuss 1998: 147f), die zu extremer Konfrontation tendieren und somit eine Ten-denz zur Polarisierung und unzivilisierten Formen der Konfliktaustragung im Parteien-wettbewerb haben.Für den Charakter des Parteienwettbewerbs waren also nicht so sehr vermittelbare so-zio-ökonomische Interessen ausschlaggebend, ebenso wenig sind die Parteien in denBereichen stabiler gesellschaftlicher Interessen verankert. Vielmehr „schweben“ dieParteien über der Gesellschaft. Die Bildung der Parteien folgte nämlich aus den Reihender Eliten, deren primäres Motiv nicht die Berücksichtigung wichtiger gesellschaftlicherInteressen war. Interessen und Konflikte der Bevölkerung wurden vielmehr für eigenesMachtstreben instrumentalisiert (Offe 1994: 135f). Die Konfliktlinien der Parteien lie-gen entsprechend auf der Ebene der Eliten. Solche Parteien leiden oftmals an schwa-chen organisatorischen Ressourcen und sind durch eine schwache Bindung zu den öko-nomischen und sozialen cleavages der Gesellschaft gekennzeichnet (vgl. v. Beyme1994: 297f, 1997). Für die Institutionalisierung eines stabilen Parteiensystems bildeninstabile Parteien oftmals ein Hindernis, weil für sie das primäre Motiv nur eine Reali-sierung kurzfristiger Interessen und nicht die Aufstellung langfristiger programmati-scher Ideen und politischer Projekte sein kann (Elster / Offe / Preuss 1998: 134).

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Problemhintergrund für eine erfolgreicheInstitutionalisierung von Parteiensystemen in den post-kommunistischen Staaten sowohlbei den politischen Akteuren als auch bei den Wählern verankert ist: Die Parteiensy-steme repräsentieren Elitengruppen und keine politische Programmatik, die Beziehung

Page 234: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 229

der Parteien zur Gesellschaft ist unklar, die Interessen der Gesellschaft bilden nicht denAusgangspunkt für die Parteipolitik, und auf der Seite der Wähler haben sich nochkeine dominanten cleavages herausgebildet, die von den Parteien aufgenommen werdenkönnten. Außerdem ist die Akzeptanz der Parteien als Instrumente der politischen Wil-lensbildung bei den Wählern niedrig (Glaeßner 1994: 266). Die osteuropäischen Partei-ensysteme können ihre Schlüsselrolle in der demokratischen Stabilisierung, solange siedurch Instabilität und ein geringes Maß an Institutionalisierung gekennzeichnet sind,nur schlecht wahrnehmen.Entgegen den instabilen Parteiensystemen Osteuropas, die aus den speziellen Entste-hungsbedingungen und den daraus folgenden konsolidierungsgefährdenden Tendenzenzur Fragmentierung und Polarisierung hervorgegangen sind, sind stabile Parteiensy-steme durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet (v. Beyme 1997: 34f): Erstenssollten sie durch ein Minimum an Extremismus gekennzeichnet sein. Extremismus, dersich in Osteuropa insbesondere am Erstarken nationalistischer Parteien zeigt, ist durchdie Tendenz gekennzeichnet, daß die politischen Akteure mit nicht-demokratischenMitteln ihre Ziele zu realisieren versuchen. Zweitens sollten die Parteien in einer klarencleavage-Struktur verankert sein. Die Programme der Parteien sollten die sozialen Kon-fliktlinien widerspiegeln, so daß sie im Parteienwettbewerb kanalisiert werden. Beimangelnden Parteiprofilen besteht die Gefahr, daß die Wähler für die Versprechen „po-litischer Wunderheiler“ anfällig werden. Drittens sollte es eine klare Aufgabenteilungzwischen Parteien und anderen Institutionen der Interessenvermittlung geben. Damitwird einmal der Zersplitterung von Parteiensystemen entlang der internen Interessendif-ferenzierung vorgebeugt. Zum anderen wird einer Überlastung der Parteien vorgebeugt,wenn funktionale Interessen zu intermediären Institutionen neben dem Parteiensystemausgelagert werden. Viertens wäre der Rückgang überlagerter cleavage-Linien in einerPartei wünschenswert, weil ein solcher „Faktionalismus“ der Eindeutigkeit eines politi-schen Programms entgegensteht. Fünftens sollte die Volatilität der Wähler nicht zuhoch sein. Parteien können sich stabilisieren, wenn die Fluktuation der Wähler niedriggehalten wird und sich eindeutige Parteipräferenzen herausbilden. Eine niedrige Fluk-tuationsrate muß allerdings kein Zeichen für ein demokratisches Parteiensystem sein –sie kann auch aus der hegemonialen Stellung einer Partei entstehen. Sechstens unter-stützt Koalitionsbildung den Stabilisierungsprozeß. Wenn zwei weitere Indikatoren be-rücksichtigt sind: Ist die Alternative zwischen Opposition und Regierung klar und gibtes realistische Alternativen der Koalitionsbildung, dann wirken Koalitionen als Vorbe-dingung von Regierungseffektivität.Bei der Auflistung solcher Konsolidierungskriterien handelt es sich allerdings mehr umdie Beschreibung von Symptomen eines funktionierenden Parteiensystems als um dieAuflistung von Konstruktionskriterien für ein stabiles Parteiensystem. Das politicalengineering gestaltet sich schwierig und ist nur eingeschränkt möglich. Die für den

Page 235: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 230

Grad der Fraktionierung mitbestimmende institutionelle Weichenstellung ist das Ergeb-nis von Verhandlungen, bei denen machtstrategische Motive mindestens gleichbedeu-tend neben den normativen Motiven des Aufbaus einer stabilen Demokratie Einflußnehmen. Aber nicht nur die oftmals kurzfristig orientierten Akteure können das für einedemokratische Konsolidierung unterstützende Institutionendesign behindern. Verfas-sungsinstitutionen und Parteiensystem sind sowohl bei ihrer Entstehung als auch in ihrerWirkung und Wechselwirkung von den historischen Hintergründen, sowie den sozio-ökonomischen und institutionellen Kontexten abhängig. Diese Variablen bilden dieRahmenbedingungen für die Institutionenkonstruktion, bestimmen somit die Eigen-schaften des Parteiensystems und entscheiden über die demokratischen Konsolidierung-schancen.

3.5 Architekten des institutionellen Umbaus

Die Geschichte der Regime und die Art des Übergangs bzw. Zusammenbruchs bestim-men den Grad der Elitenkontinuität und setzen somit die Akteure fest, die als Schlüssel-figuren des institutionellen Umbaus agieren. Nach welcher Maßgabe aber handelten dieAkteure beim Umbau? Wieso entschieden sie sich für ein bestimmtes institutionellesSetting? Bei den Ausführungen zu den institutionellen Optionen und deren Wirkung aufeine gewünschte Stabilisierung der Demokratie sind vereinzelt schon die strategischenErwägungen bei der Wahl eines bestimmten Regierungssystems oder Wahlsystems an-geklungen. Welches Motiv kann hinter diesen Strategien sinnvoll vermutet werden,ohne auf eine tautologische Rationalitätsvermutung zu verfallen?Zur Stabilisierung neuer Institutionen muß es zu einer Übereinstimmung der individu-ellen Handlung mit den institutionellen Vorgaben kommen (vgl. Nedelmann 1995).Diese Compliance hängt nicht nur von der Art der Orientierung ab – langfristig oderkurzfristig -, sondern auch von den Gratifikationen, die bei einem bestimmten institu-tionellen Design für die Akteure „abfallen“. Hier liegt der zentrale Hinweis für das Mo-tiv der Akteure beim institutionellen Umbau. Institutionen, mit denen Kompetenzenzugewiesen werden und die Allokation von Ressourcen erfolgt, werden gedacht alsQuelle der Gratifikationen – ihre Verteilungswirkung wird von den Akteuren antizipiert.Welches aber sind die Gratifikationen für die politischen Akteure? Sie müssen sich fürdie Erklärung der Mikrodynamiken des institutionellen Umbaus benennen lassen.Die Motive der Akteure lassen sich als Modellannahme auf politisches Selbstinteressereduzieren (Geddes 1996). Die Beteiligten der Runden Tische, der verfassungsgebendenVersammlung oder der Legislative verfolgen ihr eigenes Interesse, daß sich auf ihrepolitische Karriere konzentriert. Bei den Untersuchungen zum Zusammenbruch deralten Ordnung allerdings stellte sich als ein zentrales Ergebnis heraus, daß zum Ver-

Page 236: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 231

ständnis der Mikroprozesse, die an der Entwicklung beteiligt waren, derartig reduktioni-stische Modelle nur ungenügend betragen können. Die Modellierung der Entschei-dungssequenzen der politischen Eliten und die Erklärungsversuche zur öffentlichenMobilisierung haben gezeigt, daß nicht nur rationale, sondern auch irrationale undnicht-rationale Motive zu Entscheidungen führten, die den Zusammenbruch hervor-brachten. Auch bei der Untersuchung der Prozesse, die zur Einrichtung von RundenTischen führten, wird deutlich, daß sich am besten mit einem multi-motiationalen Ak-teurmodell die Entscheidungen und Interaktionen auf der Mikroebene nachzeichnenlassen. Vor diesem Hintergrund muß man fragen, warum sich beim institutionellen Um-bau ein Modell bewähren soll, bei dem Selbstinteresse das einzige Motiv der Akteureist.Der erste Grund ist, daß bei der Frage zu den Motiven der Akteure im Prozeß der Insti-tutionenbildung von den Bedingungen, die zu den Verhandlungen führten, abstrahiertwird. Die Entstehung des normativen Kontextes, in dem strategisch – nach Maßgabedes Selbstinteresses – um die institutionelle Ausgestaltung der neuen Ordnung verhan-delt werden kann, ist nicht Gegenstand der Fragestellung. Bei der Modellierung derProzesse an den Runden Tischen hingegen war diese Frage durchaus relevant: Nebendem taktischen Einsatz strategischer Mittel in der Verhandlung interessierte vor allemauch die Konstruktion von Kontextbedingungen, die erfolgsorientiertes Handeln derKompromißfindung in Distributionsfragen erlaubte. Ist dieser Kontext erst einmal ge-schaffen, dann ist durchaus Raum für das Feilschen um eine günstige Verteilung macht-strategischer Positionen. Hier setzt die Untersuchung der entscheidungsrelevanten Mo-tive beim Umbau an.Der zweite Grund, der für die Phase des institutionellen Umbaus ein auf Selbstinteressebasierendes Modell rechtfertigt, verweist auf die spezielle Situation in Osteuropa nachdem Zusammenbruch. Zwar muß Selbstinteresse nicht auf politische Karriere und damitauf wertfreies Machtstreben reduziert werden. Wenn bestimmte Institutionen die Chan-cen heben, Wahlen zu gewinnen und somit politische Ziele zu verwirklichen, dann kannmit dem politischen Selbstinteresse durchaus eine norm- und wertgebundene Orientie-rung verbunden sein48. Die institutionellen Präferenzen der Akteure stehen dann nichtungebunden im Raum, sondern hängen von ihrer Rolle in der politischen Arena ab.Diese wird bestimmt von den sozialen Interessen, die ihre Partei repräsentiert, sowie derPosition, die die Partei in der Parteienlandschaft einnimmt (vgl. Geddes 1996: 19). Dieindividuellen Akteure treten also als Agenten der Parteien oder Gruppierungen auf, dieim politischen Wettbewerb zueinander stehen, und vertreten somit prinzipiell deren In-teressen und Präferenzen. Die Präferenzen für konkrete institutionelle Designs sind von

48 Eine solche Definition von (politischem) Selbstinteresse findet sich auch bei Pappi (1995: 239), derkollektive Ziele, die sich auf das Gemeinwohl beziehen, als Präferenz individueller politischer Akteure ineinem Rational Choice-Modell formuliert.

Page 237: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 232

den äußeren Umständen, dem Zeitpunkt, der Wahrnehmung von Optionen und demGrad der Unsicherheit abhängig.Die Akteure, die zur Zeit des Umbaus miteinander im Wettbewerb standen, instrumen-talisierten gesellschaftliche Konfliktlinien für ihr eigenes Machtstreben, was sich amdeutlichsten an der Instrumentalisierung sekundärer Themen wie ethnischer cleavageszeigt. Es gab kaum Parteien, die stabile gesellschaftliche Interessen vertraten. Die vonihnen repräsentierten Konfliktlinien widerspiegelten keine langfristigen, sozialen Inter-essen, sondern Interessenkonflikte auf der Ebene der Eliten49. Nicht um politische Pro-gramme wurde gerungen, sondern um die Realisierung kurzfristiger Interessen. Daherkann plausibel angenommen werden, daß in Osteuropa Selbstinteresse weniger für diestrategische Repräsentation sozialer Interessen stand als für politisches Karrierestrebenund somit für machtstrategisches Kalkül.Unter diesen spezifischen Bedingungen kann man davon ausgehen, daß es den Akteurenum die Sicherung eines Wettbewerbsvorteils im Kampf um die Stimmen geht unddarum, ihre Präsens auf dem politischen Parkett zu sichern. Das Modell bewährt sich,wie sich an eindringlichen Beispielen der osteuopäischen Transformation zeigt (Geddes1996: 21f; Kasapovic / Nohlen 1996: 246f; Gebethner 1996; Elster 1994):- Anfangs, in der Vorbereitung der ersten freien Wahlen, präferierten die kommuni-

stischen Parteien eine starke Präsidentschaft und majoritäre Wahlsysteme. Sie gin-gen davon aus, daß sie die Wahl gewinnen würden, und wollten somit ihre politi-sche Position stärken. In den Ländern, in denen sich die kommunistische Partei be-sonders sicher war (Ungarn und Rumänien), setzte sie sich sogar für direkt von denBürgern gewählte Präsidenten ein, um somit ihre Macht und Legitimität gegenüberder Legislative zu stärken. Wenn die Opposition allerdings schon massiv in der Öf-fentlichkeit aufgeteten war (Polen) oder die Wahlen erst in einer unsicheren Zukunftstattfinden würden (Bulgarien), votierte die kommunistische Partei für ein vomParlament gewählten Präsidenten. Außerdem bevorzugten kommunistische Parteienund ihre Nachfolgeorganisationen Mehrheitswahlsysteme: sie überschätzten ihre ei-gene Popularität, es gab eine verbreitete Präferenz der Parteikader, unabhängig vomImage der Partei, als Individuen zu kandidieren, und lokale kommunistische Kaderkonnten auf ein funktionierendes politisches und Patronagenetzwerk zurückgreifen.In der Einführung einer proportionalen Repräsentationsform wurde eine Bedrohungdieser lokalen Wahlressourcen gesehen, weil ein Verhältniswahlsystem die Neube-stimmung der Wahlbezirke bedeutet hätte.

- Kleine politische Gruppierungen, die sich über ihre zukünftige Existenz im Unkla-ren waren, bevorzugten Formen der proportionalen Repräsentation möglichst ohneoder mit niedriger Sperrklausel. In diese Kategorie fielen fast alle Oppositionspar-

49 Das ließ sich besonders bei den „Taxi-Parteien“ (Beyme 1997: 37), bei denen Akteur und Agent nahezudie selbe Entität bilden, beobachten. In diesen kleinen und kleinsten Parteien, in denen sich die Mitgliederum einen Führer gruppieren, werden primär die Privatinteressen der Führer verfolgt.

Page 238: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 233

teien, aber auch die kommunistische Partei nach den ersten Wahlen. Ausnahmenbildeten die großen Oppositionsparteien Ungarns und die stützenden Fraktionen fürLech Walesa in Polen (1990-1991). In Ungarn, weil sich Kandidaten oppositionellerParteien und Reformkommunisten schon seit 1985 in ihren Distrikten etablierenkonnten. In Polen, weil man in einem gemischten System – halb majoritär und halbproportional – die besten Chancen für Walesa sah. Parteien mit charismatischenPersönlichkeiten bevorzugten eine Verhältniswahl mit nicht-gebundenen Listen(„open list proportional representation“), weil bei dieser Stimmgebungsform dieReihenfolge der Kandidaten verändert werden kann und somit der Wähler mit dar-über entscheidet, wer die Partei vertreten soll. Starre Listen (close-list system) hin-gegen wurden von Parteien mit weniger bekannten Persönlichkeiten oder mit domi-nanter Führung bevorzugt, weil damit die Parteiführung entscheidet, wer sie vertre-ten soll.

Welche institutionellen Ergebnisse sich allerdings durchsetzen konnten, ergab sich erstaus den Verhandlungen der am Umbau beteiligten Akteure. Die Ergebnisse variiertenmit den äußeren Umständen, dem Zeitpunkt und den wahrgenomenen Optionen sowiedem Grad der Unsicherheit, die die Verhandlungsmacht der Parteien bzw. Akteure be-stimmten. Ein Beispiel für den Einfluß der äußeren Umstände auf Institutionenbil-dungsprozesse bildet der Rückzug der SU aus den politischen Angelegenheiten der ost-mitteleuropäischen Staaten. Die Verhandlungsmacht der kommunistischen Parteien mitder Opposition bzw. innerparteilichen Reformkräften ließ drastisch nach, nachdem dieUnsicherheit bezüglich einer Intervention sowjetischer Truppen aufgehoben war. Be-sonders an der Entwicklung der Institutionen in Polen läßt sich die Wirkung der Ver-schiebung der Verhandlungsmacht in zeitlichen Etappen nachzeichnen (vgl. Osiatynski1996; Geddes 1996): Während sich in der Situation der Unsicherheit bis April 1989 dieInteressen der kommunistischen Partei gut durchsetzen konnten, zeichnete sich begin-nend im Juni 1989 eine drastische Veränderung zugunsten oppositioneller Interessen ab.Bis April 1989 war das Präsidentenamt mit weitreichenden Machtbefugnissen ausge-stattet, galt ein Mehrheitswahlsystem und wurden der kommunistischen Partei und ihrenverbündeten 65 Prozent der Sitze im Sejm zugesprochen. Der Präsident wurde von derLegislative gewählt, in der die kommunistische Partei eine garantierte Mehrheit besaß.Mit dem symbolischen Rückzug der SU und den negativen Wahlergebnissen für diekommunistische Partei50 änderten sich ab Juni 1989 die Bedingungen der Präsident-schaftswahlen und der Parlamentszusammensetzung. Die deutlich eingeschränkte Ver-handlungsmacht der kommunistischen Partei führte dazu, daß sich der Reformprozeßbeschleunigte. Der Präsident wurde nun von den Bürgern direkt gewählt, und es wurde

50 Von den frei wählbaren Mandaten im Sejm gingen alle an die Opposition, die Mandate im Senat gingenzu 99 Prozent an die Opposition (Nohlen, Kasapovic 1996: 117f).

Page 239: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 234

das Verhältniswahlrecht eingeführt, weil sich mittlerweile selbst kommunistische Ab-geordnete über ihre tatsächliche Stärke innerhalb des Parteiensystems unsicher waren.Von Oktober 1991 an, konnten außerdem weitere einschränkende Kompromisse bezüg-lich der Machtbefugnisse des Präsidenten geschlossen werden, weil die Verhandlungs-macht der kommunistischen Partei immer weiter nachließ; die öffentliche Unterstützungließ nach und die Repräsentation in der Legislative war nur noch klein.Ähnlich zeigte sich auch die Entwicklung in Bulgarien und Rumänien und Ungarn. Diekommunistischen Parteien (bzw. Nachfolgeparteien) konnten hier nach erstenMachteinbußen ihre Stärke zwar auf einem mittleren Niveau halten (Geddes 1996: 24f),dennoch setzten sich institutionelle Optionen durch, die den kleinen und oppositionellenParteien entgegen kamen. In Ungarn änderte sich zwar nicht das Wahlsystem. Dafürwurden aber Legitimitätsquellen und Machtbefugnisse des Präsidenten weiter einge-schränkt, nachdem von der SU keine Bedrohung mehr ausging, sich die Opposition or-ganisieren konnte und die öffentliche Unterstützung für die kommunistische Parteinachließ (vgl. Sajó 1996). Diese Eingeständnisse lassen sich auch als Folge der Wahl-siege der Opposition in Ungarn nach den ersten Wahlen werten. In Rumänien und Bul-garien wurde ähnlich wie in Polen das Mehrheitswahlrecht gegen das Verhältniswahl-recht ausgetauscht. Die institutionellen Eingeständnisse der kommunistischen Parteienin Bulgarien und Ungarn wurden gegen ein Zugeständnis bezüglich des Zeitpunktes fürdie Wahlen eingetauscht (Geddes 1996). Je früher die Wahlen stattfanden, desto gerin-ger war die Chance für die Opposition, sich zu organisieren und einen organisiertenWahlkampf zu führen (vgl. auch Teil II, Kapitel 4).

Mit dem Hinweis auf die Akteursmotive gewinnt man ein Verständnis dafür, welchenAkteuren bestimmte institutionelle Settings entgegenkommen. Die Wege der institutio-nellen Änderungen lassen sich nachzeichnen. Dennoch erfolgt die Gestaltung des insti-tutionellen Designs keinesfalls voluntaristisch. Der Verweis auf die äußeren Umständehat gezeigt, daß die Wahl immer unter bestimmten Bedingungen stattfindet, die nichtvon den Akteuren kontrolliert werden. Darüber hinaus entfalten einmal installierte poli-tische Institutionen Wirkungen, die die Strategien der Akteure bzw. Parteien beeinflus-sen (Glaeßner 1994; 251f). Institutionen kreieren „agency“; sie setzen die Regeln undGrenzen der Freiheit der Akteure fest und definieren die Verantwortung, die den Akteu-ren zugewiesen wird (Elster / Offe / Preuss 1998: 27f) und bilden damit einen neuenAusgangspunkt für anschließende Veränderungen.

Page 240: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 235

3.6 Zusammenfassung

Auf der Mesoebene des politischen Umbaus können die Institutionen identifiziert wer-den, deren Ausgestaltung und Wirkungsweise für die Konsolidierung einer Demokratieentscheidend sind. Die Grundlagen eines neues Regimes entstehen, wenn in einer neuenVerfassung veränderte Leitideen und Wertorientierungen der Gesellschaft formuliertwerden und mit den institutionellen Elementen der Verfassung die formale Umsetzungdieser Ideen festgelegt wird. Neben den in der Verfassung formulierten Regeln des po-litischen Wettbewerbs spielen die Institutionen der Interessenaggregation und -vermitt-lung für die Gestaltung der Demokratie eine zentrale Rolle. Parteien und gegebenenfallsweitere Gebilde intermediärer Interessenvermittlung kanalisieren die gesellschaftlichencleavages im politischen Prozeß.In den seltensten Fällen läßt sich eindeutig angeben, welchen formalen Kriterien dieVerfassungen, ihre Elemente wie Regierungs- oder Wahlsystem oder das Parteiensy-stem genügen müssen, damit die Konsolidierung der jungen Demokratien gelingenkann. Das hat zwei Gründe: Erstens ist die Wirkung von Institutionen hochgradig kon-textabhängig. Institutionen entfalten ihre Wirkung im Kontext anderer Institutionen.Dieser Institutionen-Mix ist zudem in seiner demokratiefördernden Wirkung von sozio-ökonomischen Kontextvariablen - wie Homogenitätsgrad der Gesellschaft - abhängig.Zweitens ist die Wirkung der Institutionen mikroabhängig. Akteure gestalten die Insti-tutionen nach der Maßgabe strategischer Kalküle und entscheiden mit ihrer Compliance,welche institutionellen Vorgaben sich durchsetzen werden.Die Mikroabhängigkeit des institutionellen Umbaus bringt zwar konkrete institutionelleErgebnisse hervor. Dennoch kann nicht behauptet werden, daß die Zusammensetzungder am Gestaltungsprozeß beteiligten Akteure die Struktur der neuen Demokratien de-terminiere. Werden in Verhandlungen auch Ergebnisse erzielt, die sich gut in spieltheo-retischen Modellen nachzeichnen lassen, so verändern sich doch kontinuierlich die Con-straints für die Spiele. Es kann nicht sicher eingeschätzt werden, wie die Wähler reagie-ren, und selbst die Profis im politischen Geschäft durchschauen nicht die komplexenWechselwirkungen mit anderen institutionellen Arrangements. Zudem läßt sich nichtabsehen, welche neuen Akteure auf dem politischen Parkett erscheinen werden bzw.wer abtritt.

Page 241: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 236

4. Stabilisierung

Heute, ca. 10 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime, befindensich die osteuropäischen Staaten immer noch in der Konsolidierungsphase. Ungelösteethnische Konflikte (Rumänien), Segregationsbestrebungen (Rußland) und antisemiti-sche Semantik (Polen und Rußland) sowie die Politisierung dieser sekundärencleavages sind die offensichlichsten Symptome undemokratischer Tendenzen und kon-fliktorientierter Politikstile, die sich nicht demokratisch mit Kompromissen lösen lassen.Läßt sich auch nur schwer einschätzen, zu welchem Zeitpunkt die Phase der politischenKonsolidierung in Osteuropa abgeschlossen sein wird, so kann man doch Wesentlichesüber Ausgangsbedingungen und somit über die Herausforderungen, die die jungen De-mokratien zu bewältigen haben, festhalten. Mit der Thematisierung des Erbes und derProzesse des Umbaus erhält man Aufschluß über die Konsolidierungschancen. Mit demErbe sind durch vorausgegangene Prozesse Bedingungen für die Strategien des institu-tionellen Umbaus vorgegeben. Mit dem institutionellen Umbau werden Weichen für diepolitische Entwicklung gestellt. Hierin begründen sich die Chancen und Risiken einerlangfristigen demokratischen Stabilisierung, über die mit zunehmendem zeitlichen Ab-stand zur Phase institutionellen Umbaus mehr Aussagen getroffen werden können.

Von dem institutionellen Umbau gehen langfristig strukturelle Änderungen aus, ge-nauso wie sich mit ihm die Zusammensetzung der politisch einflußreichen Akteure än-dern wird. Auf der Makroebene wird ein demokratisches Regime angestrebt, und aufder Mikroebene ist es für eben dieses Ziel bedeutend, daß sich sämtliche relevantenAkteure im Rahmen der durch die (neuen) Institutionen vorgegebenen Entscheidungs-spielräume und Normen bewegen. Von den Einstellungen und dem Handeln der Ak-teure hängt es letztlich ab, ob sich die neuen Institutionen etablieren und sich somit dasdemokratische Regime (die neuen Makrostrukturen) etabliert. Institutionen habenPolity-Aspekte, die auf die Ordnung des politischen Systems und damit auf seineStruktur weisen. Sie haben aber auch Policy-Aspekte, weil sie die Voraussetzung für dieEntwicklung und Durchsetzung politischer Inhalte bilden und damit Entscheidungen aufder Mikroebene bestimmen bzw. von ihnen in ihrem Bestand abhängen.

Die Stabilisierung des demokratischen Systems hängt von dem Zusammenspiel der ver-schiedenen Variablen auf den unterschiedlichen analytischen Ebenen ab. Die Abstim-mung des Institutionen-Mix auf die gesellschaftlichen Herausforderungen und das Han-deln der Akteure im neuen Regelwerk bestimmen den Erfolg der politischen Konsoli-dierung. Der Erfolg zeigt sich, 1. wenn die demokratischen Strukturen so stabilisiertsind, daß das neue politische Regime seine Identität in der ständigen Konfrontation mit

Page 242: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 237

Umwelteinflüssen strukturell behaupten kann - den demokratischen Modus des Prozes-sierens beibehält51 - und dennoch flexibel auf Umweltänderungen reagiert kann, wenn2. die Institutionen, die ein demokratisches Design bilden, etabliert sind und 3., wennsich bei der Bevölkerung und den Eliten demokratische Identitäten gebildet haben. Da-mit sind alle drei Analyseebenen des umfassenden sozialen Phänomens der politischenKonsolidierung angesprochen.Bleibt diese Beschreibung aber nicht inhaltslos, solange keine konkreten Kriterien, dieals Indizien für einen solchen Erfolg fungieren, angegeben werden können? In der ein-leitenden Diskussion zur Konsolidierung wurden mit den Ausführungen zu den Kon-zepten „Demokratie“ und „Konsolidierung“ die Problematik der Stabilisierung demo-kratischer Regime bereits diskutiert. Als Ergebnis ließ sich festhalten, daß die abstrak-ten Beschreibungen unter Punkt 1 bis 3 keinen theoretisch gesicherten Kriterienkatalogfür die Identifikation einer konsolidierten Demokratie angeben. Es läßt sich nicht gesi-chert sagen, welche Makrovariablen Auskunft über die erfolgreiche Stabilisierung ge-ben können. Die in den Untersuchungen zur Konsolidierung angegebenen Kriterien sindjedoch keineswegs überflüssig. Sie dienen als Aufriß der Problemkreise, mit denen derVersuch einer demokratischen Konsolidierung konfrontiert ist. Diese Problemkreisebeziehen sich einerseits auf die strukturierende Wirkung der neuen Institutionen in ih-rem Zusammenspiel und andererseits auf die Effekte institutioneller Änderungen aufdas Handeln der Akteure. Hierin liegt der Schlüssel für die Makrostabilität und zwarunabhängig davon, ob ein maximalistisches oder ein minimalistisches Demokratiekon-zept als Orientierungspunkt für die Konsolidierung dient. Was aber genau müssen ei-nerseits die Institutionen und andererseits die Akteure für eine Stabilisierung leisten?Die Antwort auf diese Frage haben die Ausführungen zum institutionellen Umbau z.T.schon vorweggenommen. In der Diskussion um das angemessene Institutionendesigngeht es ja gerade darum, die strukturierenden Wirkungen zu antizipieren. Die Überle-gungen konzentrieren sich aber häufig sehr eingeschränkt auf die Wirkung institutio-neller Elemente wie Regierungs- und Wahlsystem oder Parteienstruktur und vernachläs-sigen daher oft die Frage, wie sich die einzelnen Elemente in das gesamte Institutionen-gefüge einpassen. Zu ihrer Beantwortung bedarf es der Angabe allgemeinerer Stabili-tätsbedingungen auf der Mesoebene und der Mikroebene. Dieser Schritt wird in denfolgenden zwei Abschnitten unternommen.

4.1 Institutionelle Stabilitätsbedingungen

Der institutionelle Umbau fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem nicht nur in der Wis-senschaft konkurrierende Konzepte optimaler demokratischer Institutionen diskutiert 51 Vgl. auch Schedler (1998) zur „regime continuity“.

Page 243: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 238

wurden. Der Institutionentransfer nach Osteuropa52 erfolgte zu einer Zeit, die vom star-ken Zweifel an denselben Institutionen gekennzeichnet war. Oftmals galten die Institu-tionen in den Herkunftsländern bereits als reformbedürftig, woraus sich prinzipiell das„... Problem des Transfers schwacher Institutionen in fragile Systeme ergibt ...“(Nedelmann 1995: 32). Dennoch kann man begründet schon während der Phase desUmbaus Chancen und Risiken für eine erfolgreiche Demokratisierung herausarbeiten.Über systematische und über ganz konkrete Probleme der jungen Institutionen könnenAussagen getroffen werden. Aussagen, die klären, welche institutionellen Vorgaben dieEtablierung demokratischer Strukturen begünstigen und wie Institutionen die Com-pliance relevanter Eliten sowie die Legitimität gegenüber der Bevölkerung hervorbrin-gen. Für Verfassungsinstitutionen und intermediäre Institutionen lassen sich Standardsformulieren, die funktionale Kriterien für einen demokratischen „quality-check“ aufli-sten, der über die Chancen und Risiken informiert:Um die Überführung institutioneller Vorgaben in stabile Strukturen zu leisten, müssenInstitutionen „agency“ hervorbringen (Elster / Offe / Preuss 1998: 27f). „Agency“ be-zeichnet die erfolgreiche und abgeschlossene Institutionalisierung von Regeln undGrenzen für die Entscheidungsfreiheit und Verantwortung der Akteure. Sie bildet somitein erstes Kriterium für die Konsolidierung der neuen politischen Ordnung. Ein Mißlin-gen der Konsolidierung würde sich daran zeigen, daß sich Akteure nicht mehr auf Re-geln zum Schutz ihres Lebens, ihres Eigentums oder ihrer Freiheit beziehen können,weil legitime Gesetze und Rechte systematisch gebrochen werden – Krieg, Bürgerkrieg,und gewaltsame Unterdrückung werden wahrscheinlich. Für eine Konsolidierung isthingegen kennzeichnend, daß politische Konflikte und Verteilungskonflikte nach fest-stehenden Regeln ausgetragen werden. Mit „agency“ sprechen Elster, Offe und Preussdas allgemeine Problem der Institutionenordnung der Gesellschaft an. Institutionenmüssen spezifische Fähigkeiten einzelnen Handlungseinheiten zuordnen.Diese Allokation von „agency“ muß in verschiedenen Dimensionen geleistet werden.Lepsius (1990: 53f) hat vier solche Dimensionen, die als Konkretisierung der Stabili-tätsanforderungen für Institutionen fungieren können, herausgearbeitet: Erstens müssendie Institutionen die „Kompetenzallokation“ leisten. Sie müssen Entscheidungskompe-tenzen, die festlegen, was von wem entschieden werden darf, definieren. Damit entstehtauch der Anspruch nach Erfüllung der in den jeweiligen Bereichen anfallenden Aufga-ben. Zweitens muß die „Ressourcenallokation“ gewährleistet sein. Mit ihr entscheidetsich die Art, wie über politische, wirtschaftliche oder militärische Macht verfügt wird,wer sie nutzen kann. Drittens bedarf es der „Legitimitätsallokation“, mit der die Be-

52 In der Transformationsforschung ist der Begriff „Institutionentransfer“ oftmals für die osteuropäischeTransformation reserviert (vgl. Lehmbruch 1996): Mit ihm soll die Fremdbestimmtheit des Umbruchshervorgehoben werden.Hier wird er neutraler eingeführt. Er steht lediglich für die Orientierung der ostmitteleuropäischen Staatenan westlichen Konzepten der politischen- und der Wirtschaftsverfassung.

Page 244: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 239

gründung der staatlichen Herrschaft erfolgt. Es muß also institutionell festgelegt sein,wer die soziale Ordnung rechtfertigt. Als vierte Zuordnung muß die „Kontrollalloka-tion“ gesichert sein. Mit ihr wird festgelegt, wer unter welchen Bedingungen Sanktio-nen anwenden darf, die von den institutionellen Regelungen abweichendes Handelnvorbeugen und bestrafen sollen. Erst mit einer solchen institutionellen Differenzierunglassen sich demokratiefeindliche Handlungen ausgrenzen und wird einzelnen Handlun-gen und Handlungskontexten die Chance gegeben, eigene Ziele zu verfolgen und Kom-petenzen in festgelegten Handlungskontexten zu entwickeln.

Eine Voraussetzung für die klare Zuordnung von Kompetenzen zu Handlungskontextenist die differenzierte Zuständigkeit von Institutionen (vgl. Rüb 1996: 41f). Wie die Er-fahrung mit den kommunistischen Regimen zeigt, muß darauf geachtet werden, daß esnicht zu einer Vermischung institutioneller Sphären kommt; Institutionen müssen hori-zontal differenziert sein (Elster / Offe / Preuss 1997: 31): Dazu gehört die Abgrenzungunabhängiger Zuständigkeitsbereiche und eine stark eingeschränkte Übertragbarkeit vonMacht- und Statuspositionen von einem institutionellen Bereich zum anderen. Diesehorizontale Differenzierung institutioneller Sphären gab es in den kommunistischenRegimen nicht. Vielmehr waren sie durch tight coupling gekennzeichnet; die politischeExekutive hat Entscheidungen über Investitionen im ökonomischen Bereich getroffenund hatte auch einen weitgehenden Einfluß auf Wissenschaft, Medien und Gerichtsbar-keit. Hier vermischten sich die Sphären. tight coupling ist in den kommunistischen Ge-sellschaften dafür verantwortlich gewesen, daß politische Strategien wissenschaftlichlegitimiert wurden oder auch dafür, daß die Rechtsprechung den Herrschenden unterge-ordnet wurde. Zur demokratischen Stabilität hingegen gehört institutioneller Pluralis-mus, der durch die funktionale Trennung von Zuständigkeitsbereichen Spezialisie-rungsgewinne - wie fachliche Kompetenz - fördert (Rüb 1996: 42), klare Verantwor-tungsstrukturen schafft und verhindert, daß Krisen und Funktionsdefizite sich von einerSphäre in die andere fortpflanzen (Elster / Offe / Preuss 1997: 31).Die horizontale Differenzierung ist nicht nur ein Kriterium für die Stabilisierung vonVerfassungsinstitutionen. Sie läßt sich auch als Qualitätsmerkmal der Institutionen derintermediären Interessenvermittlung anwenden53. Parteien sind zwar wichtige interme-diäre Institutionen, die zwischen der Gesellschaft und den staatlichen Entscheidungsin-stanzen vermitteln, indem sie Forderungen und Unterstützungsleistung aus der Gesell-schaft weiterleiten. Andere intermediäre Interessenverbände sind in Osteuropa abernoch recht unterentwickelt. Deshalb findet die horizontal differenzierte Arbeitsteilungzwischen Parteien und Interessengruppen nicht oder kaum statt. Die Parteien müssennicht nur die territoriale Repräsentation leisten, sondern auch die funktionale (vgl. v.Beyme 1997; Merkel 1997). Dieser Zustand birgt zwei Risiken. Einerseits sind die Par- 53 Zur Rolle der horizontalen Differenzierung in neuen Demokratien siehe auch O’Donnell (1998).

Page 245: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 240

teien überfordert mit der Vielfalt der Konfliktthemen und andererseits besteht die Ge-fahr, daß sich Konflikte ausweiten und zur Staatskrise heranwachsen, weil sie durch dieParteien in die staatlichen Arenen hineingetragen werden. Ein Beispiel für eine solcheEntwicklung bilden die Lohnkonflikte in Rußland, die sich regelmäßig zu einer Staats-krise auszuweiten drohen (vgl. v. Beyme 1997: 44). In der Erfüllung des Stabilitätskrite-riums horizontaler Differenzierung der territorialen und funktionalen Aufgabenbereichebesteht für die intermediäre Ebene der Demokratien Osteuropas weiterhin eine kaum zuüberschätzende Herausforderung.Über den Erfolg der osteuropäischen Parteien wird in Zukunft auch entscheiden, inwie-fern ihnen die soziale Verankerung gelingt. Eliten, die aus der Legislative heraus mitmachtstrategischem Kalkül Parteien gründen, fehlt oftmals die Beziehung zu gesell-schaftlichen Problemlagen und die Verantwortung für die Vermittlung gesellschaftli-cher Interessen. Den Parteien fehlt es entsprechend an Akzeptanz innerhalb der Bevöl-kerung, weil sie „... erkennbar das Resultat einer dezisionistischen Setzung sind ...“(Wiesenthal 1999: 6) - hinter solchen Entscheidungen vermutet man Willkür. DieseMängel können besonders vor dem Hintergrund der schwach ausgeprägten intermediä-ren Ebene der empirischen Legitimität der Verfassung entgegenwirken und damit diedemokratische Stabilität gefährden.Wie entscheidend die Differenzierung institutioneller Spähren ist, zeigt auch eineSchwerpunktbildung in der aktuellen Konsolidierungsforschung, die bei den Problemeneiner Etablierung formeller demokratischer Institutionen liegt (Merkel / Croissant 2000,Brie 1996; O‘Donnell 1998). Hier wird gezeigt, daß sich neben den intentional einge-führten formalen Institutionen, wie der Verfassung, der Regierungsform, der Gesetzge-bung und dem Wahlsystem, auch informale Institutionen bilden, die entweder an alteTraditionen anknüpfen oder sich in Netzwerken neu bilden. Informalen Muster sozialerBeziehungen bilden sich in jedem politischen System und existieren auch in stabilisier-ten liberalen Demokratien. Sie können aber zur Gefahr für die Demokratie werden,wenn sie „... auf der horizontalen Ebene die exekutive Macht hemmen, oder [...] sich indie vertikale Dimension zwischen Regierende und Regierte schieben, ...“ (Merkel /Croissant 2000: 24). Ein Kriterium für die demokratische Stabilisierung ist demzufolge,daß informale Institutionen formale Institutionen nicht verdrängen dürfen. Kommt es zueiner solchen Verdrängung, dann handelt es sich um eine „defektive Demokratie“(Merkel / Croissant 2000), die durch Illegitimität gekennzeichnet ist. Eine solche Ent-wicklung zeichnet sich in Osteuropa insbesondere für Rußland ab; Rechtsgrenzen wer-den durch die Exekutive verletzt, und die Bedeutung des Parlaments wird unterhöhlt,wodurch legitime Verfahren und bürgerliche Freiheitsrechte in die Bedeutungslosigkeitverbannt werden (Brie 1996). Informale Institutionen setzten sich gegen die demokrati-schen, rechtsstaatlichen Institutionen durch, und mit dem Machausbau des Präsidenten-amtes erfuhren die defektiven Prozesse sogar eine Formalisierung.

Page 246: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 241

Wie die Entwicklung in Rußland zeigt, besteht in jungen Demokratien die Gefahr, daßneue Regeln selbst immer wieder zum Gegenstand der Konflikte werden, d.h. dieSelbstbindung der Akteure noch nicht funktioniert.Das Verhalten der Akteure entscheidet, ob beim institutionellen Umbau das Kriteriumerfolgreich institutionalisierter „agency“ erfüllt werden kann und ob sich die differen-zierten Zuordnungen von Handlungsfähigkeiten gegen opportunistische Tendenzendurchsetzen können. Die Akteursmotive und Interaktionsprozesse, die zur Durchsetzungder formalen demokratischen Kriterien führen, bleiben bei der Diskussion institutionel-ler Stabilitätskriterien noch unberücksichtigt. Erst eine Untersuchung der Mikroprozessekann Bedingungen angeben, unter denen ein Zustand sich ständig ändernder Regelun-gen vermieden wird. Die Stabilisierung politischer Institutionen verweist also nicht nurauf die Mikroebene, weil Akteure über ihre Gestaltung entscheiden. Institutionen habenimmer auch eine „kulturelle Dimension“, die den Zusammenhang von funktionierendenRegelstrukturen und individuellen Motiven deutlich macht (Eisen 1996: 36f): Institutio-nalisierung von Demokratie erfolgt zwar über die Einrichtung formeller Strukturen. Siebedarf darüber hinaus aber der adäquaten sozio-kulturell geprägten Einstellungsmusterund Werthaltungen von Akteuren. Aus ihnen generiert sie die für die Stabilität unerläß-liche Legitimität.

4.2 Compliance

Neue Institutionen können noch keine strukturprägende Wirkung entfalten, weil diedurch sie vorgegebenen Handlungsroutinen erst die entlastende Selbstverständlichkeitausbilden müssen, die dann zu einem strukturbestimmenden Merkmal des neuen Regi-mes wird. Sollen Institutionen erfolgreich als Strukturen politischer Koordination einge-führt werden, dann müssen sie auf der Ebene kollektiver Sinnwelten Stabilität und Le-gitimität generieren (vgl. Eisen / Wollmann 1996: 21). Handlungsroutinen sind von denpolitischen Akteuren noch nicht internalisiert, haben keinen Eigenwert und wirken da-her noch nicht entlastend - der Glaube an die Legitimität, der eine entscheidendeGrundlage für die langfristige Stabilität bildet, muß sich erst noch entwickeln.Beim institutionellen Umbau entsteht daher eine Rational Choice-Situation für die Ak-teure (Eliten sowie Bevölkerung). Das bedeutet, daß die mit den neuen Institutionenzusammenhängenden Normen und Werte noch keine relevante Handlungsorientierungbilden und sie daher vorzugsweise nach ihrer instrumentellen Nützlichkeit bewertetwerden, was für die politischen Entscheidungsfindungen eher eine Be- als Entlastungdarstellt. Die Einhaltung der institutionellen Vorgaben bei dem institutionellen Aufbau

Page 247: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 242

ist von den Anreizen und Gratifikationen abhängig, die mit den Institutionen verbundensind (Nedelmann 1995).In einer Phase institutioneller Neuerungen kann also davon ausgegangen werden, daßder instrumentelle Charakter von Verfassungsinstitutionen im Vordergrund steht. Ak-teure, die mit den institutionellen Regelungen unzufrieden sind, wissen, daß die fragli-chen Regelungen nicht aus einer fernen Vergangenheit stammen und sich durch einebewährte Vergangenheit legitimieren. Sie sind erst kürzlich eingeführt worden und las-sen sich deshalb noch recht leicht anzweifeln und ändern. Außerdem wurden die Rege-lungen in turbulenten Zeiten nicht zuletzt auch auf der Grundlage der Nutzenkalküle derbeteiligten Akteure eingeführt. Dementsprechend schwach ist der Institutionalisierungs-grad der Regelungen. Es lassen sich leicht Verbündete für einen Vorstoß in RichtungNeuformulierung der Regelungen finden – diese Gefahr besteht besonders dann, wenndie Autonomie der Institutionen von einer demokratisch gewählten Mehrheit in Fragegestellt wird.In der Mikroabhängigkeit der neuen Institutionen muß allerdings nicht nur ein Nachteilbzw. eine Gefährdung für den Konsolidierungsprozeß gesehen werden. Eine instru-mentelle Einstellung gegenüber neuen Institutionen wägt nämlich auch die Vor- undNachteile der vorangegangenen Institutionen gegenüber den neuen ab, worin eineChance für demokratische Institutionen liegen kann. Erst wenn in der Restitution alterInstitutionen ein Vorteil gesehen wird, kann die Elitenkontinuität problematisch werden- es muß nicht prinzipiell davon ausgegangen werden, daß die Akteure eine stabile Prä-ferenz für die alte Ordnung haben. Der Prozeß der Stabilisierung neuer Institutionenaber auch die Präferenz für die alten Institutionen hängt von den Anreizen und demZeitpunkt der Gratifikationen ab. Damit ist der Zeithorizont der Akteure bei ihrer in-strumentellen Kalkulation von entscheidender Bedeutung. Der Grad der kurzfristigen(„miopia“) bzw. langfristigen Orientierung („foresight“) entscheidet über den Erfolg derInstitutionalisierung.Institutionalisierte Handlungsroutinen können zählebig sein. Werden ihre formalenGrundlagen (Verfassung, Parteiengesetz usw.) auch geändert, können sich dennoch alteHandlungsroutinen in politischen Netzwerken fortsetzen. Der Prozeß des institutionel-len Umbaus ist daher durch eine paradoxe Konstellation gekennzeichnet (Nedelmann1995: 36f): Oftmals weichen die importierten politischen Institutionen von der Sozial-struktur ab (sie mögen zwar die relevanten cleavages in den westlichen Gesellschaftenregulieren, passen aber nicht auf die aktuellen Konfliktlinien in den osteuropäischenStaaten, d.h. sind nicht in der Lage, diese Konflikte zu kanalisieren und die entspre-chenden Interessen zu aggregieren), womit die neuen Institutionen schwach bleiben. Indiesem Falle können sich die institutionellen Reste aus der Vergangenheit strukturprä-gend durchzusetzen. Damit werden die neuen Institutionen davon abgehalten, ihre Ei-genlogik zu entwickeln, und die politischen Akteure sind kaum mehr von ihrem instru-

Page 248: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 243

mentellen Nutzen (Entlastungen durch hohe Institutionalisierung) zu überzeugen. DerRückgriff auf alte Institutionen kommt dann besonders der kurzfristigen Rationalitätentgegen. Die Bürger und z.T. auch politischen Eliten fühlen sich von neuen Institutio-nen kurzfristig nicht belohnt, da sie individuelle Nachteile zugunsten langfristiger kol-lektiver Vorteile eintauschen müssen. Die alten Institutionen bringen die gewohnten(kurzfristig gedacht) sicheren Gewinne54. Neue Institutionen werden nur eingeführt,wenn von ihnen langfristig höhere Gewinne erwartet werden können55.Im Gegensatz zu früheren Demokratisierungen spielt der Zeithorizont der Akteure beiden Demokratisierungen in Osteuropa eine zentrale Rolle (Schmitter / Santiso 1998):Durch die Plötzlichkeit und Reichweite der Transformationen sind die Entscheidungse-liten mit multiplen Unsicherheiten konfrontiert. Sie durchschauen oftmals nicht denKontext, in dem sie ihre Entscheidungen treffen müssen. Die Wechselwirkungen ihrerEntscheidungen in unterschiedlichen Bereichen tendieren dazu, nicht antizipierte undnicht intendierte Effekte zu produzieren. Auch können sie sich im Prozeß der Entschei-dungsformulierung nicht auf frühere, historische Erfahrungen beziehen. Für die Elitenbesteht somit in dem neuen institutionellen Kontext ein hohes Risiko, Positions- undMachtverluste zu erleiden. Sie müssen dennoch die Bereitschaft entwickeln, für dieChance, in Zukunft Macht und Position zu gewinnen, kurzfristig Verluste zu akzeptie-ren.Für eine Konsolidierung demokratischer Institutionen ist es daher entscheidend wichtig,ob es gelingt, von kurzfristigen Erwartungen auf langfristige Planung bei der Bevölke-rung und bei den politischen Eliten umzustellen. Für den erfolgreichen Umbau demo-kratischer Institutionen kommt es also besonders darauf an, 1. inwieweit und wieschnell es gelingt, die mit dem institutionellen Umbau verbundenen Gratifikationen zurealisieren, 2. wie weit die Geduld der Eliten und Bevölkerung reicht (vgl. Offe 1994)und 3. inwiefern sich Vertrauen in die neuen Institutionen herausbilden kann. 54 Dieser Konflikt, der durch die Mikroabhängigkeit des Institutionenaufbaus entsteht, läßt sich als inter-und intra-personales Prisoners‘ Dilemma (PD) formulieren: Auf der inter-personalen Ebene müsseneinzelne auf individuelle Gewinnmaximierung verzichten, damit kollektive Gewinne realisiert werden(von denen sie unter Umständen sogar ausgeschlossen bleiben). Auf der intra-personalen Ebene muß aufunmittelbare Gewinne zugunsten langfristiger Gewinne verzichtet werden. Für beide Dilemmas (sofernsie die tatsächliche Einstellung vieler Bürger in Osteuropa reflektieren) bildet wohl nur die Änderung derobjektiven Bedingungen (Auszahlungen) eine Lösung. Eine effektive Sozialpolitik muß die individuellenKosten der kollektiv angestrebten Ziele abfedern. Individuell muß erkannt werden, daß sich der Verzichtauf die unmittelbare Nutzenrealisierung lohnt. Es muß in die Regeln des politischen und ökonomischenSpiels, denen unbedingt gefolgt werden muß, vertraut werden können. Hier liegt die Verantwortung beiden politischen Eliten. Sie dürfen das institutionelle Regelwerk nicht aus opportunistischen Gründenmanipulieren (Vergleiche zum Zusammenhang von Vertrauen und demokratischer Konsolidierung auchOffe 1999).55 Nedelmann schätz die Stabilisierung demokratischer Institutionen als sehr schwierig ein, weil diedemokratische Norm des „kritischen Bürgers“ und die Institution von Opposition eine prinzipielleInfragestellung demokratischer Regime bedeute (1995: 33). Gegen diese prinzipielle Schwäche läßt sicheinwenden, daß idealerweise die Kritik des Bürgers und der Opposition sich nicht gegen dasdemokratische Regime richtet, sondern gegen die Entscheidungen der Regierung, die mit demokratischenMitteln abgewählt werden kann. In der Kritik kann sich also gerade eine stabile Institutionalisierung derDemokratie ausdrücken.

Page 249: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 244

Bei der Auflistung solcher Anforderungen an Institutionen darf nicht vergessen werden,daß die Compliance mit ihnen nicht verordnet werden kann oder auf der Grundlage vonbestehenden Normen oder Verträgen (die gebrochen werden können) entsteht. Wegender Mikroabhängigkeit der Stabilisierung muß die Übereinstimmung der individuellenHandlung mit den institutionellen Vorgaben aus sich selbst („selfinforcing“<Przeworski 1991>) erfolgen. Die Autorität der Regeln ist somit äquivalent zur Bereit-schaft der Akteure, opportunistischen Versuchungen zu widerstehen; einer Bereitschaft,die von den Opportunitätskosten und dem Vertrauen in die anderen Akteure abhängt(Elster / Offe / Preuss 1997: 30f). Diese „selfinforcing“ Compliance mit den neuen In-stitutionen läßt sich nach Przeworski unter zwei Bedingungen herstellen (1991): Erstensmüssen die Institutionen den fairen politischen Wettkampf garantieren. Das kann durchsich wiederholende Wahlsituationen geleistet werden. Erst vor diesem Hintergrundwerden die politischen Eliten Verluste akzeptieren, weil sie in dem institutionellen Set-ting eine Chance für ihre Interessen in der Zukunft sehen. Zweitens müssen die kurzfri-stigen Interessen der Akteure in langfristige Orientierungen überführt werden. Das ge-lingt, wenn die Institutionen effizient sind, d.h. Möglichkeiten schaffen, die materielleWohlfahrt zu verbessern. Unter dieser Bedingung wird es attraktiver sein, Verluste inder Demokratie zu akzeptieren, als sie in einer nicht-demokratischen Zukunft zu ver-meiden. Sehen die Akteure ihre Chance, distributive Gewinne (Effizienz) zu realisieren,und erwarten sie reziproke Compliance (Fairneß), dann besteht eine gute Chance dafür,daß sie die Autorität der selbstgesetzten Regelungen akzeptieren. Somit läßt sich dasProblem der vertikalen Dimension von Institutionen (vgl. Elster / Offe / Preuss 1997:30f) lösen. Vertikal meint, daß die Stabilisierung von Institutionen dann gewährleistetist, wenn den Entscheidungen der Akteure von einer höheren Entscheidungsebene Be-dingungen (Constraints) auferlegt sind. Diese Hierarchie findet aber ihr Ende bei den inder Verfassung formulierten Regelungen. Auf dieser Ebene müssen die einmal in einemAkt der Selbstbindung installierten Regelungen so akzeptiert werden, als wären sie voneiner höheren Instanz eingesetzt.Eine weitere Bedingung für fairen Wettbewerb ist die Abwesenheit systematischer Be-nachteiligung von politischen Gruppen oder Minderheiten. Die Institutionen müssenalso entsprechend dem Grad der gesellschaftlichen Heterogenität bzw. Homogenitätsoziale und politische Inklusion gewährleisten. Damit werden - über die geforderteCompliance der Eliten hinaus - die in der Bevölkerung verankerten Interessen einbezo-gen. Für die Stabilität der Institutionen darf das Kriterium nicht vernachlässigt werden,weil ablehnende Stimmungen in der Bevölkerung von den Eliten instrumentalisiertwerden können. Das Kriterium der Effizienz bezieht sich ebenfalls auf die Bevölkerung.Haben die distributiven Eigenschaften der Institutionen die Wirkung, daß die Chancenzur materiellen Wohlfahrt steigen, dann werden politische Entscheidungen im Rahmender Institutionen auch eher akzeptiert und gutgeheißen. Dieses Verständnis der Kriterien

Page 250: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 245

Inklusion und Effizienz (vgl. Thibaut 1996; Merkel 1996: 94f; Merkel / Sandschneider /Segert 1996: 24f) zeigt, daß institutionelle Stabilität nicht nur ein Rational Choice-Pro-blem der vertikalen Akzeptanz neuer institutioneller Regelungen durch die Eliten ist.Institutionelle Stabilität verlangt auch nach der Erfüllung von Akzeptanzkriterien derBevölkerung.Zusammenfassend bilden diese Lesarten von institutioneller Effizienz und sozialer undpolitischer Inklusion die empirische Legitimität der Verfassungsinstitutionen. Empiri-sche Legitimität ist somit ein entscheidender Faktor, der den Verfassungen der jungenDemokratien „innere Souveränität“ gibt (Merkel / Sandschneider / Segert 1996: 18f).Aus ihr bestimmt sich die Dauer und damit die Stabilität der demokratischen Verfahren.Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Beispiel dafür, daß selbst wenn Verfassungenim Schöpfungsakt unzureichend legitimiert sein sollten (mangelnde formale Legitimi-tät), ihnen aus der täglichen Bewährung mit der Zeit Stabilität zuwachsen kann.Permanenz ist für die Stabilisierung entscheidend. Die Zeit arbeitet für eine Stabilisie-rung durch Akzeptanz der institutionellen Regelungen, besonders seitens der Eliten. Siewirkt als ein unterstützender Faktor für die Compliance, weil Regelungen, die langegelten, stabiler bzw. selbstverständlicher werden. Mit der Zeit wird das Kosten-NutzenVerhältnis beim Ändern der Regeln unkalkulierbarer, weil sich Akteure schon arrangierthaben und lernen konnten, Chancen in dem geltenden Rahmen zu nutzen. Außerdemkonnten sich über die Zeit hinweg Spiele wiederholen und somit reziproke Compliance,auf die sich Vertrauen aufgebaut, erfahren werden56. Bewährtes und Selbstverständli-ches wird nicht so schnell geändert.

4.3 Zusammenfassung

Die Angabe von verläßlichen Makrokriterien, von denen der Stabilisierungsgrad derneuen Demokratie abgeleitet werden kann, bleibt auf unbestimmte Zeit unmöglich. Zumjetzigen Stand der Konsolidierungstheorie verfangen sich solche Versuche in den theo-retischen Schwierigkeiten, die mit der präzisen Angabe von Konsolidierungskriterienfür Demokratien verbunden sind. Auf der Meso- und Mikroebene hingegen lassen sichdurchaus allgemeine Kriterien angeben, die über demokratiefördernde Kriterien für In-stitutionen und Akteurshandeln informieren:Institutionen müssen den Akteuren Grenzen und Regeln für ihre Handlungen und Ent-scheidungen auferlegen, so daß die Bereiche ihrer Kompetenz feststehen, die Verfügungüber Ressourcen geregelt ist, klar wird, wie die Herrschaftsverhältnisse gerechtfertigtsind und geregelt ist, wie mit defektiven Handlungen umgegangen wird. Darüber hinausmüssen zwischen den verschiedenen institutionellen Sphären klare Grenzen gezogen 56 Vgl. auch zur Wirkung wiederholter Spiele auf Kooperation: Axelrod (1984).

Page 251: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 246

sein, damit die Anreize zum „tight coupling“ niedrig gehalten werden und intermediäreInteressenvermittlung stattfinden kann.Die Akteure müssen Compliance mit den neuen institutionellen Vorgaben zeigen. Ob esdazu kommt, hängt von den erwarteten Gratifikationen ab, die mit einem institutionen-konformen Handeln verbunden werden. Bei den Akteuren muß sich eine Haltungdurchsetzen, die kurzfristigen Versuchungen widersteht. Die Zeichen dafür stehen gut,wenn es gelingt, den institutionellen Wandel rasch voranzubringen, so daß Gratifikatio-nen in absehbarer Zeit erwartet werden können, die Akteure geduldig sind und Ver-trauen in die neuen Institutionen entsteht. Aber auch die Zeit hilft der Compliance. Eta-blierte und bewährte Verfahren geraten selten unter Druck.

Page 252: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 247

5. Die politische Konsolidierung im Spannungsfeld von Wirtschaft und Kultur

Die Chancen für eine Konsolidierung der neuen osteuropäischen Systeme läßt sich nichteinschätzen, ohne den Blick über die Grenzen des politischen Teilsystems zu wagen.Die Stabilisierungschancen besonders in Osteuropa, wo nicht nur die politische Ord-nung neu definiert wird, hängen von den Wechselwirkungen zwischen den gesellschaft-lichen Teilbereichen Politik, Wirtschaft und Kultur ab. Zu dem Entwicklungspfad einerneuen politischen Ordnung, wie er hier skizziert wurde, laufen parallel die Pfade wirt-schaftlicher Neustrukturierung57 und kultureller Umorientierung58. Diese Entwicklun-gen sind eng miteinander verwoben. Bei der Institutionalisierung einer neuen politi-schen Ordnung können nicht nur selbstreferentiell die Effekte der neuen Institutionenauf den Modus der Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen thematisiertwerden. An vielen Stellen werden die Wechselwirkungen mit den Entwicklungen in denanderen gesellschaftlichen Teilbereichen deutlich: Mit der Abhängigkeit stabilitätsrele-vanter Variablen - wie der Compliance der Eliten mit den institutionalisierten Regelnoder der Legitimität des neuen politischen Regimes bei der Bevölkerung - wird die Effi-zienz des wirtschaftlichen Teilbereichs berührt. Und mit den gesellschaftlichen cleava-ges, die den „natürlichen“ Anknüpfungspunkt für Parteien und andere intermediäre In-stitutionen der Interessenvermittlung und -aggregation bilden, werden kulturelle Dimen-sionen angeschnitten; cleavages stehen für Kategorien, entlang derer sich Identifikati-onsmuster bilden und die an der Definition integrationsstiftender Solidaritätsformenbeteiligt sind.In den 10 Jahren, die seit dem Zusammenbruch verstrichen sind, hat sich die Einschät-zung, aufgrund welcher Wechselwirkungen die Konsolidierung einer demokratischenMarktwirtschaft gefährdet ist, deutlich verschoben. Auch hieran zeigt sich, wie schweres fällt, selbst kurzfristige Prognosen zu den Konsolidierungschancen abzugeben. Mitfortschreitender Entwicklung änderte sich der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Ar-gumentation in der Diskussion um die Konsolidierungschancen.

5.1 Erste Reaktionen: Dilemmas der Reformen

Den Ausgangspunkt des institutionellen Umbaus in den postkommunistischen Staatenbildete der verbreitete Wunsch nach einem demokratischen Wandel in einer Situation 57 Vgl. hierzu ausführlich: Rueschemeyer, Stephens, Stephens (1992); Clague, Rausser (1992); Haussner,Jessop, Nielsen (1995).58 Vgl. hierzu ausführlich: Mänicke-Gyöngyösi (1991, 1995b, 1996); Tatur (1991); Rose, Seifert (1995);v. Beyme (1994: 328f); Thaa (1997). Für den speziellen Fall der Transformation Ostdeutschlands vgl. dieVeröffentlichungen der Max-Planck-Arbeitsgruppe „Transformationsprozesse in den neuenBundesländern“ (Wielgohs / Wiesenthal 1997; Wiesenthal 1996).

Page 253: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 248

des ökonomischen Bankrotts. Von der Transformation wurde erwartet, daß sich struktu-relle Prozesse, die in den westlichen Gesellschaften über lange Zeitabschnitte – Jahr-zehnte – evolutionär erfolgten, mit einem Schlag durchsetzen würden.In der gedrängten Zeitstruktur der Entwicklung wurde ein „Dilemma der Gleichzeitig-keit“ gesehen (Offe 1994): Entscheidungen mußten getroffen werden, mit denen eineEntwicklung ermöglicht werden soll, die bislang in der Geschichte der Modernisierungsukzessive erfolgte (Nationalstaatsbildung, Marktwirtschaft, Demokratisierung, Wohl-fahrtstaat). Die nationalstaatliche Identität der betreffenden Gesellschaft galt es zu defi-nieren, politische und ökonomische Grundlagen in einer Verfassung festzulegen, undgleichzeitig mußte die „normale Politik“ geleistet werden. Entscheidungen in allen dreiBereichen treffen zu müssen, konfrontierte die Reformeliten mit einem hohen Grad anKontingenz, was für die Staatsbürger und Wirtschaftssubjekte Unsicherheit brachte undfür die politischen Entscheidungsträger Anreize zum opportunistischem Handeln schuf.Daher wurde befürchtet, daß sich die Problemlösungsstrategien gegenseitig blockierenkönnten59. Die Entscheidungen, die in den einzelnen Bereichen anstanden, schieneninkompatibel.In den Wechselwirkungen, die zwischen den Reformen in den Bereichen der Politik undder Wirtschaft zu erwarten waren, wurde ein erstes grundlegendes Problem für denUmbau der postkommunistischen Gesellschaften gesehen (Glaeßner 1994: 190f): Eswurde davon ausgegangen, daß man in einer demokratischen Ordnung die harten Maß-nahmen des ökonomischen Umbaus nur ungenügend durchsetzen kann. Die Alternative,eine autoritäre marktwirtschaftliche Ordnung einzuführen, die soziale Ressourcen fürden ökonomischen Aufbau mobilisieren kann, kam als Reformstrategie nicht in Frage.Auch autoritäre Marktwirtschaften bedürfen des Rückhalts der Gesellschaft, wie er sicham besten über demokratische Verfahren verwirklichen läßt.Ein zweites grundlegendes Problem, das für den Umbau der postkommunistischen Ge-sellschaften identifiziert wurde, schließt an das erste an. Es bezieht sich auf die man-gelnde Erfahrungen im Umgangs mit marktwirtschaftlichen und demokratischen Insti-tutionen und wurde somit an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft einerseits undKultur60 andererseits lokalisiert. Es wurde davon ausgegangen, daß es insbesondere in

59 Auch wenn die „Gleichzeitigkeiten“ eine offensichliche Eigenschaft der Transformationen Osteuropassind, so müssen sie doch nicht unbedingt das exklusive Merkmal dieser Transformationen sein.O’Donnell hat mit Blick auf die Entwicklungen der lateinamerikanischen Demokratien bereits auf dietrade-offs der Demokratie „.. in terms of more effective, and more rapid opportunities for reducing socialand economic inequalities.“ (1986: 10) verwiesen. Die trade-offs bildeten eines der generellen Themender Transitionsforschung (O’Donnell / Schmitter 1986). Übereinstimmend wurde in ihnen eine Gefahr fürdie Demokratisierungschancen gesehen, wenn starke sozio-ökonomische Ungleichheiten neben einerKultur existieren, in der Demokratie wegen ihrer vermeintlichen Schwäche ablehnend begegnet wurdeund eine Offenheit für autoritäre Lösungen weit verbreitet war. So eine Situation konnte fürLateinamerika identifiziert werden und dementsprechend pessimistisch wurden für diese Region dieDemokratisierungschancen eingeschätzt.60 Die Verwendung des Kulturbegriffs in der Konsolidierungsdebatte ist alles andere als eindeutig – sie istuneinheitlich und fast nie explizit. Dennoch läßt sich der angesprochene Bereich für die

Page 254: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 249

Rußland und den südosteuropäischen Gesellschaften an einer „kulturellen Fundierung“für ein demokratisch-martwirtschaftliches System fehlte (Glaeßner 1994). Die kommu-nistischen Systeme hatten die Entstehung einer adäquaten „Mentalität“ verhindert unddort, wo sie vor der Etablierung eines autoritären, planwirtschaftlichen Systems bestan-den hat, zurückgedrängt. Es gab 1989/90 keine kulturelle Basis für die neuen politi-schen und ökonomischen Ordnungen. Das einzige Fundament, auf das das Projekt desUmbaus bauen konnte, war der verbreitete, aber diffuse Wunsch, Marktwirtschaft undDemokratie einzuführen. Beiden Aspekten fehlte der kulturelle Rückhalt. Die ökonomi-schen Akteure und die Bürger konnten nicht in den Prozeß des Umbaus und der Stabili-sierung integriert werden.

Die schwierige, simultane Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft birgt einhohes Maß an Unsicherheit, die eine Identitätsbildung einerseits als verantwortlicherStaatsbürger der neuen Demokratie und andererseits als Wirtschaftssubjekt in der neuenWirtschaftsordnung erschwert61. Deshalb wurde erwartet, daß kulturelle Dimensionen

Transformationsproblematik bestimmen: Die Einführung des Kulturbegriffs folgt der These, daß diegesellschaftliche Entwicklung in Richtung zunehmender Differenzierung eine Veränderung dergemeinschaftlichen Solidaritätsformen und der Werte und Normen erfordert. Der osteuropäischeTransformationsprozeß läßt sich als gesellschaftlicher Differenzierungsprozeß charakterisieren:Transformation kann als der Versuch gesehen werden, das Primat der politischen Rationalität durch einedifferenzierte Struktur, in der die gesellschaftlichen Teilbereiche eigene Rationalitäten verfolgen können,abzulösen. Mit den differenzierten, komplexeren Strukturen ergibt sich - ganz im Sinne desModernisierungskonzepts Parsons’ (1969a; 1969b) - die Notwendigkeit einer universalistischenNormstruktur. In einem unabhängigen, universalistischen Rechtssystem müssen beispielsweiseEigentumsrechte verbindlich geklärt sein, damit das Marktsystem seine eigene Rationalität entwickelnkann. Und für die politische Bürokratie muß das Rechtssystem definieren, wie weit die Amtsautoritätreicht und wo sie eingeschränkt wird. Diese Normen sind auf Legitimität und damit auf die Unterstützungder gesellschaftlichen Gemeinschaft angewiesen: Nur in ihrem Rahmen kann Solidarität gestiftet werden,die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bzw. die Integration der Gesellschaft garantiert. Dafür müssensich die Gesellschaftsmitglieder mit den neuen Normen und Werten identifizieren. Auf derPersönlichkeitsebene bedeutet das, daß sie ihre autonomere Individualität akzeptieren und alsWirtschaftssubjekte nutzen müssen. Sie müssen außerdem eine demokratische Identität entwickeln, diePluralismus akzeptiert und unterstützt. Entscheidende Elemente bei der Bildung der neuen Identität sindeinerseits die kulturellen Traditionen und Erfahrungen, die während der kommunistischen Herrschaftinternalisiert wurden sowie die neuen Formen der Interessenaggregation und -vermittlung (überintermediäre Institutionen und die Identifikation mit der von den Eliten vertretenen Positionen). Derkulturelle Hintergrund unterscheidet sich z.T. gravierend bezüglich der Erfahrungen mitzivilgesellschaftlichen und pluralistischen Werten. Über die erfolgreiche Institutionalisierung vonInteressenaggregation und -vermittlung kann gemeinschaftliche Solidarität gestiftet werden, die mit denNormen der demokratisch-marktwirtschaftlichen Strukturen kompatibel ist. Mißlingt diese Form derSolidaritätsstiftung, dann können sich Identitäten entlang ethnischer Kategorien und Symbolik bilden, diezwar Solidarität stiften, aber oftmals die staatliche Integrität bedrohen und mit den pluralistisch-demokratischen sowie den individualistisch-marktwirtschaftlichen Werten im Widerspruch stehen.Insofern steht der Verweis auf den kulturellen Bereich auch für das kulturelle Erbe. Die Erfahrungen mitdem kommunistischen Regime, die Internalisierung bzw. Identifikation mit den entsprechenden Wertengeraten neben den Prozessen der Aktualisierung nationaler Identitäts- und Solidaritätsbildung überFormen der Interessenaggregation und -vermittlung in den neuen demokratisch-martwirtschaftlichenStrukturen ins Blickfeld.61 Besonders die ungeklärte nationale bzw. territoriale Integrität der Gesellschaft birgt für die Bürger derosteutropäische Staaten, die mit dem „Stateness“-Problem konfronitiert sind, ein hohes Maß anUnsicherheit.

Page 255: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 250

der Identitätsbildung an Bedeutung gewinnen (vgl. Offe 1994). Hiermit ging die Gefahreinher, daß nationale und ethnische Identitäten (wie in der ehemaligen SU und in Jugo-slawien) betont werden oder daß sich die Bevölkerung an Doktrinen, wie die der katho-lischen Kirche in Polen (vgl. Holzer 1994: 151f), klammert. Prozesse der nationalenGemeinschaftsbildung lassen sich durchaus instrumentalisieren. Sie können aber nichtgezielt in Richtung erwünschter Verfahrensregeln und Allokationsentscheidungen ma-nipuliert werden, selbst wenn sie eng damit verbunden sind (Offe 1994). Deshalb mußtebefürchtet werden, daß die Strategien der gemeinschaftlichen Identitätsbildung den Ar-chitekten der Reformen nicht nützen, sondern ihre Aufgabe eher zusätzlich komplizie-ren würden.

Zu Beginn der 90er Jahre wurde verstärkt auf prinzipielle Widersprüche gleichzeitigerpolitischer und wirtschaftlicher Reformen aufmerksam gemacht62. In den Wechselwir-kungen zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen Politik und Wirtschaft wurde vonkritischen Sozialwissenschaftlern die zentrale Konsolidierungsproblematik gesehen63.Man fürchtete außerdem, daß weitere Widersprüche angestoßen werden könnten: Dienegativen Auswirkungen der gleichzeitigen Einführung von politischen und ökonomi-schen Reformen könnten einen Prozeß anstoßen, der die mangelnden kulturellen Res-sourcen und potentiellen Konfliktherde in reelle Probleme der Akzeptanz der neuenInstitutionen und handfeste Konflikte überführt. Eine „Pandorabüchse der Paradoxien“(Offe 1994) drohte sich zu öffnen. Der Zusammenbruch der demokratischen Institutio-nen stand zu befürchten, weil die unzureichende Erfahrung im Umgang mit den neuenInstitutionen und sekundäre Themen der nationalen oder ethnischen Identitätsbildungals Hindernisse für den Erfolg der Reformen gesehen wurden.In der gleichzeitigen Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie wurde ein„asymmetrischer Antagonismus“ (Offe 1994) gesehen. Es wurde angenommen, daßDemokratie grundsätzlich der Implementation wichtiger ökonomischer Struktur- undInstitutionenänderungen widerspreche. Elster (1990) argumentierte, daß Demokratie diekonsequente Reform des Preissystems und der Eigentumsverhältnisse behindere. Erbegründete diesen Zusammenhang wie folgt (Elster 1990): Eine Voraussetzung für diemarktwirtschaftliche Reform ist, daß die vom Staat festgesetzten Preise freigegebenwerden, da sie der Eigentumsreform im Wege stehen. Außerdem muß mit der Preisre-form eine Eigentumsreform einhergehen, weil eine staatlich gelenkte Verteilung (Allo-kation) die gewünschte Entwicklung der Marktkräfte behindert. Ohne Eigentumsreformwürden Preissignale eine Ressourcenknappheit nicht reflektieren oder sogar ignorieren,was eine ineffiziente Verwendung des Kapitals mit sich brächte. Die beiden Reform-

62 Diese Argumentation richtete sich gegen die Vorstellungen neoliberaler Reformstrategen und ihreVersuche der Implementation eines „Designer-Kapitalismus“ (vgl. Hausner / Jessop / Nielsen 1995; v.Beyme 1994: 221f).63 Vgl. auch ausführlich zu den Paradoxien der Konsolidierung Rüb (1995).

Page 256: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 251

schritte, Deregulierung der Preise bzw. Abbau von Subventionen und Einführung desPrivateigentums, haben aller Voraussicht nach (und wie die Erfahrungen der letzten 10Jahre bestätigen) umfassende, negative soziale Konsequenzen. Firmenschließungen,Arbeitslosigkeit und die Entwertung von Besitzständen64 sind ihre unpopulären Begleit-erscheinungen, die eine Verstärkung von Eigentumsunterschieden und damit von so-zialen Unterschieden induzieren. Bei einer solchen Entwicklung muß mit sozialen Kon-flikten gerechnet werden, die der Demokratisierung im Wege stehen und die Bevölke-rung dazu veranlassen könnten, die „demokratische Responsivität des politischen Sy-stems“ (Wiesenthal 1999) gegen die ökonomischen Reformen zu richten, d.h. unterNutzung ihrer neuen Partizipationsrechte die Wirtschaftsreformen zu blockieren. Diepolitischen Reformen einer Demokratisierung bedeuten aber nicht nur die Einrichtungdemokratischer Partizipationsrechte. Demokratie muß auch die Etablierung verfas-sungsmäßiger Garantien leisten. Rechtssicherheit ist die zentrale Voraussetzung fürInvestitionen. Können die ökonomischen Agenten nicht davon ausgehen, daß Eigen-tumsrechte respektiert werden, dann verkürzt sich ihr Zeithorizont, was dem Investiti-onsbestreben fundamental widerspricht. Verfassungsrechtliche Garantien für die neuenEigentumsverhältnisse lassen sich unter der Bedingung sozialer Spannungen allerdingsschlecht festschreiben. Die Verfassungen bleiben unbeständig, so daß anstatt der er-wünschten Rechtssicherheit rechtliche Unberechenbarkeit und Unsicherheit dominieren.Beispiele für diesen von Elster beschriebenen Zusammenhang lassen sich in Polen,Bulgarien, Rumänien und Tschechien beobachten. In diesen Ländern bildeten die Par-lamente die verfassungsgebende Versammlung (vgl. Linz / Stepan 1996; Elster / Offe /Preuss 1996). Bei einer solchen Konstruktion bestimmen die Spieler selbst die Spielre-geln, was der gewünschten Verfassungsstabilität widersprechen kann und unerwünschteMöglichkeiten für eine interessengeleitete Politik öffnet (vgl. Teil III, Kapitel 3.1).Konstitutionelle Sicherheit ist nur dann gewährt, wenn sie den institutionellen Rahmenund die Spielregeln der Demokratie bindend festschreibt und somit langfristig Rechtssi-cherheit garantiert.Der von Elster angeführte strukturelle Zusammenhang ist im Grunde nicht neu. Er isttheoretisch schon vor den Entwicklungen in Osteuropa von Vertretern der Modernisie-rungstheorie formuliert worden. Sie argumentierten, daß die Konkurrenzdemokratie erstdurch die sozio-ökonomische Voraussetzung einer entwickelten Marktwirtschaft er-möglicht wird (vgl. Lipset 1981): Wenn in einer Demokratie neue Verteilungsrichtlinienbzw. Kriterien für die Güter- und Ressourcenallokation formuliert werden, dann ist zubefürchten, daß die Mächtigen in ihrem eigenen Interesse handeln. Hinzu kommt, daßdie Eliten ein demokratisches Mandat für die Reform der Eigentumsverhältnisse habenmüssen und zur Rechenschaft über ihre Reformen verpflichtet sind. Daraus ergibt sich 64 Beispielsweise verlieren die Ersparnisse über inflationäre Entwicklungen ihren realen Wert, undvormals politisch zugeordnetes Quasieigentum wird enteignet, weil es nach Kriterien zugeteilt wurde, diemarktwirtschaftlich-ökonomisch betrachtet sinnlos sind.

Page 257: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 252

das paradoxe Ergebnis, daß Demokratie eine Voraussetzung für die wirtschaftliche Li-beralisierung bildet.Bei der Übertragung des bekannten theoretischen Zusammenhangs auf die neue Ent-wicklung Osteuropas kommen allerdings erschwerende Faktoren hinzu. Dies sind diemangelnde Erfahrung im Umgang mit politischen und sozialen Konflikten, die sichnicht nur wegen der negativen Folgen der Wirtschaftsreformen für die Wohlfahrt derBevölkerung verstärken, sondern die auch auf der Grundlage der unsicheren gemein-schaftlichen Identität und den damit vorgezeichneten nationalen und ethnischen Span-nungen entstehen. Eine aktive Teilnahme an der Gestaltung gesellschaftlicher Prozessewurde unter den kommunistischen Regimen unterdrückt (vgl. Teil II, Kapitel 1.3). Da-mit konnte die Verantwortung für politisches Mißmanagement leicht und zu recht ex-ternalisiert werden. Mit der weiterhin sich schwierig darstellenden Etablierung von in-stitutionalisiertem Konfliktmanagement fehlt den post-kommunistischen Gesellschaftenauch heute noch die institutionelle Basis für die verantwortliche Einbeziehung und Be-teiligung der Bürger und wirtschaftlicher Akteure beim demokratischen und wirtschaft-lichen Umbau. Die distributiven Konflikte müssen institutionalisiert werden, damit dieproduktiven Aspekte gesellschaftlichen Konflikts genutzt werden können und die indi-viduellen Kosten und Risiken des Übergangs abgefedert werden. Bis heute gibt es aberkaum Interessenverbände, Parteien oder Gewerkschaften, die in der Lage sind, sozialePakte zu schließen und auf Grund umfassender Strukturen65 im allgemeinen Interesse zuhandeln (Przeworski 1991).Die historischen Erfahrungen und das institutionelle Erbe der post-kommunistischenGesellschaften resultierten in einem Mangel an den nötigen kulturellen Ressourcen zurEtablierung zivilgesellschaftlicher Organisationsformen und schufen die Grundlage fürnationale, ethnische und religiöse Konflikte. Dieser Umstand barg gravierende Risikenfür den institutionellen Umbau und erschwerte die Stabilisierung der jungen Demokra-tien und Marktwirtschaften.

Elster räumte zwar die Möglichkeit ein, daß sich auf einer niedrigeren Ebene Lösungender strukturellen Dilemmas finden lassen könnten (1993). Aber auch die Prozesse aufder Meso- und Mikroebene, die durch die Reformen angestoßen wurden, schienen dienegative makrotheoretische Argumentation zu stützen:Auf den Akteursebene ist die demokratische Stabilisierung eine Frage der Complianceder Akteure mit den demokratischen Institutionen unter den neuen ökonomischen Be-dingungen (vgl. Przeworski 1991; Nedelmann 1995). Die Compliance ist von zweiKriterien - Fairneß und Effizienz – abhängig, die sich widersprechen können. Fairneßverlangt, daß die bedeutenden Interessen geschützt werden, während Effizienz die Not- 65 Nur umfassende Interessenverbände können die Auswirkungen ihrer Interessenpolitik auf diegesamtgesellschaftliche Situation berücksichtigen und können kein Interesse daran haben,Partikularinteressen gegen das Allgemeinwohl durchzusetzen (Olson 1968).

Page 258: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 253

wendigkeit mit sich bringen kann, gegen Interessen zu verstoßen. Regierungen müssenin Phasen grundlegender ökonomischer Reformen gegen Eigentumsrechte bzw.-interessen (Bodenreformen oder Maßnahmen, die zur Arbeitslosigkeit führen) ver-stoßen, wenn allokative Effizienz durchgesetzt werden soll. Gerade weil demokratischeVerfahren restriktiv sein können - Eigentum und Besitzstände bedrohen können -, sinddie Bedingungen, unter denen Demokratie bzw. die dezentralen Strategien autonomerpolitischer Akteure in eine Gleichgewichtssituation überführt werden, generell fragil(Przeworski 1991).Auf der Mikroebene wird auch die für den Konsolidierungsprozeß kritische Bedeutungdes Zeitfaktors deutlich: Ökonomische Reformen können langfristig zwar erfolgreichsein, bringen kurzfristig aber Benachteiligungen für große soziale Gruppen. Damit pro-vozieren sie die Opposition wichtiger politischer Kräfte, die unter demokratischen Be-dingungen auf die Stimmungswechsel in der Öffentlichkeit reagieren müssen. Der Er-folg politischer und ökonomischer Reformen ist somit auch von den MikrovariablenVertrauen und Geduld abhängig. Sie könnten den „Schatten der Zukunft“ verlängern(vgl. Axelrod 1984) und somit die kurzfristigen in langfristige Rationalitäten überfüh-ren. Vertrauen generiert sich nicht nur aus der Fairneß, sondern setzt ein Minimum aninstitutioneller Gratifikation für die politischen Akteure voraus (Nedelmann 1995). Obdie Eliten oder die Bürger der postkommunistischen Staaten einen substantiellen Nutzenin den neuen politischen und ökonomischen Institutionen sehen können, bleibt zweifel-haft. Vertrauen wird nicht zuletzt aus diesem Grunde auch als die fehlende Ressource inden postkommunistischen Staaten bezeichnet (vgl. Sztompka 1995). Läßt dann auchnoch die öffentliche Unterstützung nach (beispielsweise wegen der sozialen Kosten),tendieren die politischen Akteure zu unrealistischen Versprechen, was zum Zusammen-bruch des Vertrauens beiträgt. Mit der Geduld, die sich auf die Effizienz bezieht, verhältes sich ähnlich. Die Geduld der Bevölkerung - und damit auch mittelbar die Geduld derpolitischen Akteure - kann sich prinzipiell nur unter vier Bedingungen zugunsten derneuen Institutionen entwickeln (Offe 1994: 77f):Entweder ergibt sich 1. eine Art Wirtschaftswunder, womit sich verhindern ließe, daßdie Geduld der Bevölkerung überstrapaziert wird, oder es wird 2. die Geduld der Bevöl-kerung mit einer Mischung von positiven und negativen Sanktionen aus dem internatio-nalen System subventioniert. 3. könnten die jungen Regierungen versuchen, die sozialenUnannehmlichkeiten sozialpolitisch zu mildern, und 4. ließen sich rückwärts gewandteEntwicklungen verhindern, wenn die Mitglieder der Gesellschaft ihre Interessen vonVertretungen (intermediären Institutionen) geschützt sähen.Die Aussichten für die osteuropäische Transformation deckten sich nicht mit den positi-ven Szenarien – sie wurden von Offe eher negativ eingeschätzt. Ein Wirtschaftswunder,wie es Westdeutschland erlebte, hängt ebenso wie die Möglichkeit positiver Sanktionenvon den finanziellen Zuwendungen wohlhabender Geberländer ab. Das für eine derar-

Page 259: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 254

tige Unterstützung notwendige Kreditvolumen würde die Geberländer wohl überlasten.Eine sozialpolitische Milderung widerspräche hingegen dem schöpferischen Zerstö-rungsprozeß; die Entwicklung müßte sich umkehren, der Sozialstaat würde zur Voraus-setzung für Markt und Demokratie. In Osteuropa zeigt sich nach Offe außerdem ein dergesellschaftlichen Integration über die Vermittlungsleistung intermediärer Institutionenwidersprechender Prozeß: Der Entwicklung einer „Zivile[n] Selbstorganisation jenseitsvon Markt, Staat und ethnischer Gemeinschaft...“ (Offe 1994: 80) muß unter den Be-dingungen präsidentieller Verfassungssystemen und der Erstarkung charismatischerPolitik eine geringe Chance zugewiesen werden.

Die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen der Politik, Wirt-schaft und Kultur führten in den frühen Reaktionen auf den Umbau in Osteuropa zueiner kritischen Sicht der Entwicklungschancen: Przeworski ging davon aus, daß miteinem kontinuierlichen Konflikt über die Basisinstitutionen gerechnet werden muß undInstitutionen wahrscheinlich nur als temporäre Lösungen gewählt werden (1991). Den-noch konnte er keinen wesentlichen Unterschied bei den Bedingungen der Einführungeiner ökonomisch effizienten Demokratie in Osteuropa zu den Bedingungen in den vie-len anderen Ländern dieser Welt, in denen auch von Wohlstand und Demokratie ge-träumt wird, sehen. Nach seiner Einschätzung handelt sich auch in den post-kommuni-stischen Ländern um „normale“ Probleme armer kapitalistischer Länder im Bereich derWirtschaft, Politik und Kultur. Pointiert stellt er fest: „The East becomes the South“(Przeworski 1991: 191).Offe (1994) und Elster (1990) hingegen entwarfen ein deutlicheres „Negativszenario“,das sich wie folgt zusammenfassen läßt: Die Makroprozesse des strukturellen Umbaus,d.h. der nachholenden Modernisierungsschritte (Nationalstaat, Marktwirtschaft, Demo-kratie und Wohlfahrtsstaat), waren historisch aufeinanderfolgende und aufeinander auf-bauende Prozesse. Sie gingen davon aus, daß ihre gleichzeitige Einführung wahrschein-lich scheitern würde, und zwar an den Folgen der mangelnden Mesofundierung gesell-schaftlicher Interessenintegration, der unzureichenden Konfliktkanalisierung und Risi-koabfederung (intermediäre Institutionen) und der überspannten Beanspruchung derGeduld und Zuversicht auf der Mikroebene, d.h. an der kurzfristigen Interessenorientie-rung seitens der Eliten und der von den schmerzhaften Folgen des wirtschaftlichen Um-baus betroffenen Bevölkerung. Das Scheitern würde dann eine rückwärtsgewandteEntwicklung („backlash“) in allen gesellschaftlichen Teilbereichen bedeuten: Markt-wirtschaftliche Reformen könnten aufgehalten oder sogar zurückgedrängt werden, auto-ritäre Machtstrukturen und ethnische Konflikte könnten an Bedeutung gewinnen, so daßnicht nur gemeinschaftliche Identität als Bürger einer demokratisch-marktwirtschaftli-chen Gesellschaft, sondern auch die territoriale Integrität bedroht sind.

Page 260: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 255

5. 2 Erste Revisionen: Chancen und Risiken für Reformen

Dem „Negativszenario“, das in den ersten Reaktionen auf die Umbrüche Osteuropasentworfen wurde, läßt sich entgegenhalten, daß es bisher in der angenommenen Drama-tik nicht in Erfüllung gegangen ist. Die systematische Skepsis war inkorrekt (Wiesent-hal 1999: 6). Trotz der hohen sozialen Kosten bei den Transformationen konnten sichdie Nachfolgeparteien des kommunistischen Regimes nicht durchsetzen (vgl. Wollmann/ Wiesenthal / Bönker 1995). Die früheren Untersuchungen sind damit aber keinesfallswertlos. Erstens ist die Transformation noch nicht abgeschlossen, und zweitens habendie Hinweise Offes und Elsters die Aufmerksamkeit für konkrete Problembereiche inder Schnittmenge gesellschaftlicher Teilbereiche sensibilisiert. Sie bilden als „Worst-Case-Szenarien“ immer noch einen Referenzpunkt für nachfolgende Untersuchungenerfolgreicher Transformationentwicklung. So hat auch Elster selbst die Bedeutung sei-ner Argumentation eingeschätzt:„To repeat, this sketch of an argument is mainly intended to provide a framework fordiscussion. By offering specific premises for a pessimistic conclusion, it should make iteasier to discuss whether there are grounds for being more optimistic.“ (Elster 1990:316).Die aktuellere Transformationsforschung kann sich aber erst einmal von der Untersu-chung prinzipieller Hindernisse abwenden und auf die Probleme der praktischen Um-setzung neuer Politiken konzentrieren. Dazu gehört auch eine Neuformulierung bzw.Konkretisierung der Wechselbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen Teilberei-chen. Eine solche Revision der Wechselwirkungen muß erklären können, aus welchenGründen sich die Entwicklung der demokratischen Konsolidierung bisher erfolgreicherdarstellte als erwartet; wie begründen sich die Chancen für eine Verzögerung oder sogarAufhebung der vom Zeitfaktor diktierten, die demokratischen Ansätze bedrohendenWidersprüche?

Während sich das Negativszenario für den Bereich der Politik nicht bestätigte, wurdenim Bereich der wirtschaftlichen Konsolidierung die Schwierigkeiten unterschätzt. DieKosten des Umbaus (Produktionseinbrüche und Fall des Sozialprodukts) sind höherausgefallen als erwartet und übersteigen sogar die Werte, die man von den Transforma-tionen in Südamerika kannte. Diese Fehleinschätzung begründet sich aus dem begrenz-ten Wissen über die Ausgangsbedingungen der Transformation (Wollmann / Wiesenthal/ Bönker 1995): Einer Einschätzung des Transformationserfolges fehlt jeder Ver-gleichshintergrund, da die eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstbeobachtung der kommu-nistischen Systeme eine unsichere Basis für die Vergleichsdaten bildete und somit zu

Page 261: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 256

unterschiedlichen Schätzungen der Produktionsverluste führen mußte. Aus diesemGrunde läßt sich auch der Erfolg der wirtschaftlichen Reformen schwer einschätzen.Erst mit dem mittelfristigen zeitlichen Abstand Mitte der 90er Jahre ließen sich dieKennzahlen der osteuropäischen Wirtschaften realistischer einschätzen. Mit der Kennt-nis der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Bedingungen wurde auch die Einschätzungder Chancen und Risiken für eine erfolgreiche Konsolidierung zielgenauer. Konsolidie-rungserfolge zeichneten sich ab, und die Schwierigkeiten der Institutionenstabilisierungkonkretisierten sich im politischen Alltagsgeschäft. Eine erste Phase der politischen undwirtschaftlichen Reformen war abgeschlossen; die rechtlichen Voraussetzungen für einemarktwirtschaftliche und demokratische Struktur waren eingeführt.Nach etwa fünf Jahren konnte unter Kenntnis realistischerer Kennzahlen für die Bedin-gungen des wirtschaftlichen Umbaus nach den Bedingungen für eine zukünftige Stabili-sierung der in den Verfassungen kodifizierten Demokratie gefragt werden. Die Fragezielte auf die Bedingungen des Institutionenumbaus auf der Akteursebene, da die for-malen Voraussetzungen für eine sich selbst regelnde Ökonomie und politische Verfah-rensregeln zur Stabilisierung offensichtlich nicht ausreichten. Daher gerieten institutio-nalisierte Formen korporatistischer Verhandlungen und Konflikte einerseits und Formender Parteienkonkurrenz andererseits verstärkt ins Blickfeld (Mänicke-Gyöngyösi1995b): Institutionalisierte Handlungszusammenhänge sind auf strategisch relevanteAkteursgruppen angewiesen. Sie können als korporatistische Akteure bzw. Agentenkorporatistischer Akteure die gesellschaftlichen Konflikte in einer Weise austragen, diedie gesellschaftliche Integration und die kreative Nutzung des Konfliktpotentials er-möglicht. Nur so kann verhindert werden, daß Konflikte systembedrohend ausufernoder Kategorien wie Ethnizität, Religion und Nation als primäre, konfliktreiche Identi-tätskonzepte gesellschaftlicher Integration an Bedeutung gewinnen. Aus Akteurskon-stellationen müssen die stabilisierenden Institutionalisierungsschübe hervorgehen.Diese Entwicklung in der Transformationsforschung bestätigt ein Ergebnis des Kapitelszum institutionellen Umbau66: Die Untersuchungen zur Konsolidierung muß sich insbe-sondere auf Prozesse der Meso- und Mikroebene konzentrieren. Auf diesen Ebenenliegt in der aktuellen Situation der Schlüssel zur Stabilisierung effektiver Marktwirt-schaften und repräsentativer Demokratien. Zwar lassen sich in der Diskussion zur Ziel-bestimmung der Entwicklung post-kommunistischer Staaten Widersprüche auf der Ma-kroebene thematisieren. Und ebenso muß bei den Voraussetzungen für die Etablierungneuer institutionalisierter Handlungszusammenhänge das strukturelle Erbe berücksich-tigt werden. Dennoch liegt der Fokus auf den „untergeordneten“ Analyseebenen, da hierbestimmt wird, welche Institutionen und Akteurskonstellationen sich langfristig stabili-sieren werden, so daß zu einem späteren Zeitpunkt einmal sinnvoll von Strukturen dieRede sein kann. Die osteuropäischen Staaten befinden sich zur Zeit in einer dynami- 66 Vgl. Teil III, Kapitel 3.

Page 262: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 257

schen Phase des Umbaus und der Ausgestaltung neuer Formen der Durchsetzung kol-lektiv verbindlicher Entscheidungen in der Politik, neuer Formen der Verteilung undRessourcenbereitstellung in der Wirtschaft, aber auch der Definitionen neuer integrati-onsstiftender Solidaritätsformen der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Den Akteurenstellt sich in dieser noch instabilen Situation die Aufgabe, die politischen, ökonomi-schen und kulturell-kommunikativen Medien zu entwickeln, die die gesellschaftlicheModernisierung im Sinne der funktionalen Ausdifferenzierung der gesellschaftlichenTeilbereiche und gleichzeitig die gesellschaftliche Integration gewährleisten; Machtbe-ziehungen, Modi der Mobilisierung von Ressourcen sowie Einfluß und Commitmentgegenüber den neuen gesellschaftlichen Normen und Werten gilt es jetzt allgemein ver-bindlich und dauerhaft zur Stabilisierung der Interaktionen zu definieren.

Über den kulturellen Hintergrund, die unterschiedlichen Traditionen und den Charakterdes Zusammenbruchs wirkt die spezifische Vorgeschichte der einzelnen Länder auf dieaktuellen Identitätskonzepte der Eliten und Öffentlichkeit und beeinflußt somit den Pro-zeß und Erfolg der zivilgesellschaftlichen Erneuerung. Die Neubildung der nationalenIdentitätsmuster ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische Konsolidie-rung und für eine effektive Marktwirtschaft, d.h. die Kongruenz der Identitäten mit denautoritären bzw. post-totalitären Regimen muß überwunden werden.Die Bedeutung der kulturellen Dimension läßt sich am Vergleich der Entwicklungen derostmitteleuropäischen Staaten mit Rußland zeigen (Mänicke-Gyöngyösi 1995b): In denostmitteleuropäischen Staaten bilden z.T. die zivilgesellschaftlichen Traditionen und dieintellektuellen Diskurse Anknüpfungspunkte für eine demokratische Identität. Es ent-standen konkurrierende Kräfterelationen, die eine Grundlage für den demokratisch-plu-ralistischen Prozeß der politischen Willensbildung sind. Die neuen Eliten rekrutiertensich aus den oppositionellen Bewegungen, was einen ersten demokratischen Wandelbeschreibt, in dem Gemeinschaftskonzepte mit neuen Werten zur Geltung kommen. InRußland hingegen hat es nur einen Wechsel der Staatsform gegeben - ohne die Beteili-gung von Gegeneliten. Hier fehlt es daher an Ansatzpunkten für eine neue, auf demo-kratische, zivilgesellschaftliche Werte aufbauende Identitätsbildung67. Auf die Demo-kratisierungsansätze wird mit Auflösungstendenzen reagiert, weil die weggefallene,teilweise erzwungene, ideologische Solidarität auf der Staatsebene durch regionale eth-nische Symbolik, der die neuen Identitätskonzepte folgen, aufgefangen wird.Das kulturelle Erbe der stalinistischen Unterdrückung und Säuberung setzt sich in Län-dern wie Rußland und der Ukraine in der „... Unfähigkeit der Menschen, sich auf einerfreiwilligen und demokratischen Basis zusammenzuschließen...“ (Fukuyama 1999: 12)

67 Hinzu kommt erschwerend, daß es in Rußland eine lange, ungebrochene Tradition der Autokratie alsdominante politische Kultur gibt. Die Reaktion auf die negativen Erfahrungen mit der Demokratiewurden dementsprechend mit Autoritätsverlust, Chaos und Verfall in Zusammenhang gebracht (vgl. G.Simon 1996).

Page 263: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 258

fest. Diese Tendenz steht der Bildung zivilgesellschaftlicher, solidaritätsstiftender As-soziation entgegen. Normen und Werte, die eine „inclusion“ der Gesellschaft bewerk-stelligen müssen, können sich unter diesen Bedingungen nicht auf Bürgersinn und poli-tische Werte stützen. Damit ist die Gefahr verbunden, daß eine intolerante Gemein-schaft, die sich über konfliktreiche ethnische Symbolik zusammenschließt und damit zu„...exclusion, zu Ausgrenzung und Hass...“ (Fukuyama 1999: 13) anderen Gemein-schaften gegenüber führt, die Basis für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bildet.

In einer ersten Revision der Konsolidierung stellt sich insbesondere die Frage, welcheMechanismen auf der Mikro- und Mesoebene es verhindern konnten, daß es zu der be-fürchteten rückwärtsgewandten Reaktion der Akteure kam. Die Antwort liegt bei denbesonderen Ausprägungen der Handlungszusammenhänge der Eliten und bei der Rolleder Öffentlichkeit in Osteuropa:Für die Eliten im Bereich der Politik und der Wirtschaft muß für den Zeitraum nachdem Zusammenbruch von einer „Akteurslücke“ ausgegangen werden. Die Gründe dafürsind vielschichtig (Wollmann / Wiesenthal / Bönker 1995): Der politische Zusammen-bruch erfolgte ohne relevante Gegeneliten, aus denen die für Demokratien typischenAkteure hätten rekrutieren werden können. Neue Eliten sind aufgrund mangelnder Er-fahrung mit kollektiven Entscheidungen, Kompromissen und öffentlicher Verantwor-tung oft überlastet. Hinzu kommt, daß in dem neuen System Vermittlung, die an spezi-fischen politischen Interessen orientiert ist, kaum nachgefragt wird. Der Grund dafür istin der „erfolgreichen“ Nivellierung von sozialstrukturellen Differenzen während derkommunistischen Herrschaft zu suchen. Das hat zur Folge, daß die demokratischen In-stitutionen einen relativ homogenen „Input“ erfahren und den politischen Akteure keinean „Policy“-Themen orientierte Profilbildung gelingt. Ganz analog zeigt sich das Pro-blem für die Wirtschaft. Hier scheiterte die Hoffnung, daß die Privatisierung staatlicherBetriebe Akteure generiert, die an einer Stärkung der marktwirtschaftlichen Struktureninteressiert sind. Es zeigt sich, daß die Privatisierung diejenigen begünstigte, die auf-grund ihrer Position im alten System einen bevorzugten Zugang zum Volkseigentumhatten. Dies sind die vormaligen Direktoren und Belegschaften der Großbetriebe, denenhalbstaatliche Holdings bzw. Privatisierungsagenturen gegenüberstehen. Für diese Ak-teure stellt eine konsequente Privatisierung und Marktöffnung aber oftmals eine Bedro-hung dar. Sie wehren sich gegen den Abbau von Staatskrediten und Lohnsubventionenund stemmen sich somit gegen marktwirtschaftliche Reformen.Bezüglich der Öffentlichkeit stellt sich die Situation weniger einheitlich dar. Zwar hates in den osteuropäischen Staaten parallele Erfahrungen mit der Staatsmacht und ähnli-che Sozialisationsversuche der „Erziehungsdiktaturen“ (Parsons 1972) gegeben, den-noch ist die Verteilung der kulturellen Ressourcen für die Herausbildung einer CivilSociety länderspezifisch unterschiedlich (Mänicke-Gyöngyösi 1995b; Wollmann /

Page 264: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 259

Wiesenthal / Bönker 1995): Die parallele Erfahrung besteht darin, daß der allmächtigeStaat die Erfahrungen im Umgang mit der Obrigkeit nachhaltig prägte. Eine tiefe Skep-sis gegenüber kollektiv organisierten Formen der Interessenvertretung und die man-gelnde Kenntnis der Verfahren ziviler Selbstorganisation sind die anhaltende Folge. Diemit dieser Haltung induzierte Passivität wird unterstützt von der Erwartung, daß staatli-che Institutionen für alle gesellschaftlichen Belange zuständig sind. Diese Wechselwir-kung zwischen dem kulturellen und dem politischen Bereich gilt vergleichsweise fürden Bereich der Wirtschaft. So schwer es fällt, politische Parteien entlang prägnanterInteressendifferenzen zu bilden, so schwer fällt es auch, Assoziationen der Wirt-schaftsinteressen zu organisieren. Interessen, die organisationstauglich sind, ergeben einBild zerstreuter Verbändestruktur (Wollmann / Wiesenthal / Bönker 1995: 19f).Über diese mehr oder weniger stark ausgeprägte, gemeinsame Erfahrung hinaus gibt esgravierende länderspezifische Unterschiede, die die Chancen für die Bildung zivilge-sellschaftlicher Institutionen mitbestimmen (vgl. Mansfeldová / Szabo 2000). Unter-schiede im kulturellen Erbe der osteuropäischen Staaten - damit sind hier Traditionenzivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ansätze gemeint - beeinflussen diepfadabhängige Entwicklung von intermediären Gebilden. Der sogenannte „Gu-laschkommunismus“ Ungarns beispielsweise bildet einen positiven Erfahrungshinter-grund, für wirtschaftliche und politische Selbstorganisation. In Rußland hingegen gibtes nahezu keine zivilgesellschaftliche Erfahrung (vgl. Beichelt / Kraatz 2000).Diese Spezifizierung der Wechselwirkungen zwischen dem kulturellen Hintergrundeinerseits und dem politischen und wirtschaftlichen Bereich andererseits läßt Aussagenüber den bisherigen Verlauf der Transformation und die aktuellen Probleme für einewirtschaftliche und politische Konsolidierung zu. Unerwarteterweise wirkten die Ak-teursdefizite in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch entlastend (Wollmann /Wiesenthal / Bönker 1995: 20f): Die Abwesenheit durchsetzungsfähiger Interessen-gruppen bewahrte die Einführung der Wirtschaftsreformen trotz unerwartet hoherWohlfahrtseinbußen vor demokratiegefährdenden Konflikten, wie sie noch von Elsterund Offe vorhergesehen wurden. Die Eliten gewannen bedeutend an Entscheidungs-spielraum, weil die Bevölkerung am politischen Leben vergleichsweise uninteressiertwar.

Die Schwäche der intermediären Ebene (kollektive Akteure und Institutionen) kannaber nur eine vorübergehende Hilfe im Reformprozeß sein. Die negativen Auswirkun-gen des Mangels sind absehbar. Der politische Bereich ist nicht nur stark belastet, weildie Entlastungswirkung gesellschaftlicher Selbstorganisation sich nicht entwickelt. Einwegen mangelnder pluralistischer Strukturen kaum kontrolliertes, staatliches Monopolpolitischer und wirtschaftlicher Entscheidungen ist auch der Gefahr ausgesetzt, privatbesetzt und damit für opportunistische Interessen instrumentalisiert zu werden. Die

Page 265: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 260

mangelhafte Interessenvertretung birgt außerdem zusätzliche Risiken für die gesell-schaftliche Integration. Da gesellschaftliche Konflikte nicht entlang der klassischenpolitischen cleavages verlaufen, besetzen Themen wie Nation, Tradition, Religion undEthnizität die politische Agenda.Die Problematik der Politisierung ethnischer Konflikte liegt in der Schnittmenge vonPolitik und Kultur und läßt sich der Frage nach den Chancen der Entwicklung einerpolitischen, zivilgesellschaftlichen Kultur unterordnen. Die Verknüpfung der beidenKonzepte „Zivilgesellschaft“ und „Transformation“ bildet daher ein zentrales Themader neueren politischen Transformationssforschung (vgl. Croissant / Lauth / Merkel2000; v. Beyme 2000; Masfeldová / Szabó 2000; Kraus 2000). Die Verknüpfung erfolgtüber eine funktionalistische Bestimmung des Konzepts der Zivilgesellschaft (Croissant /Lauth / Merkel 2000: 11f): Die Erfüllung der Schutzfunktion, der Sozialisierungsfunk-tion, der Vermittlungsfunktion, der Gemeinschaftsfunktion und Kommunikationsfunk-tion der Zivilgesellschaft bestimmt den Konsolidierungsgrad der Demokratie. Die Er-füllung der Funktionen klärt nämlich, in welchem Maße die Bürger vor staatlicher Will-kür geschützt werden, Rechtsstaat und Gewaltenteilung etabliert sind, Bürger zivileTugenden erlernen, wie politische Eliten rekrutiert werden und ob im öffentlichenRaum ein Medium demokratischer Selbstreflexion der Gesellschaft institutionalisiert ist.

In der Neuformulierung der Transformationsprobleme gewinnt die Pfadabhängigkeitund damit das kulturelle Erbe im Bereich des zivilgesellschaftlichen Vorlebens an Be-deutung68: Der Institutionenumbruch steht und fällt mit dem Tempo, in dem es„...gelingt, diese institutionelle Erblast des ancient règime abzuwerfen und Raum fürzivilgesellschaftliche Entwicklungen und deren privat-wirtschaftliche und inner-gesell-schaftliche Aktivitäten und Institutionenbildungen zu schaffen“ (Wollmann / Wiesent-hal / Bönker 1995: 22). Voraussetzung dafür ist, daß die institutionellen Reste des all-mächtigen Staates abgeschafft werden und die neuen staatlichen Strukturen so einge-richtet werden, daß sich privatwirtschaftliche und eigengesellschaftliche Handlungs-strukturen etablieren können.

5.3 Zusammenfassung

Der Hauptwiderspruch der Konsolidierung hat sich nach den ersten erfahrungsreichenJahren verschoben. Die Widerstände gegen eine erfolgreiche Konsolidierung demokra-tisch-marktwirtschaftlicher Strukturen werden nicht mehr primär an der Schnittstelledes politischen mit dem wirtschaftlichen Bereich gesehen, wie noch zu Beginn der 90er

68 Vgl. für eine ähnliche Argumentation bezüglich des Zusammenhangs von ökonomischen undgesellschaftlichen Änderungen Hausner, Jessop, Nielsen (1995).

Page 266: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Konsolidierung der politischen Ordnung 261

Jahre. Entgegen der Logik der ersten Negativ-Szenarien mußte man erkennen, daß sichunter den Bedingungen demokratischer Institutionen die harten Maßnahmen des öko-nomischen Umbaus durchaus durchsetzen ließen. Die Bedeutung des Zeitfaktors – wiesie von Przeworski, Offe und Elster hervorgehoben wurde – hat sich für die Schnitt-menge von Politik und Wirtschaft geändert. Besonders Offes Einschätzung der Bedeu-tung der Geduld der Bürger und der negativen Folgen ihrer Überspannung traf so nichtzu. Das Dilemma der Gleichzeitigkeit, so kann man zu diesem späteren Zeitpunktschließen, entdramatisierte sich aufgrund der unpolitischen Haltung der Bevölkerungund wegen des niedrigen Organisationsgrades gesellschaftlicher Interessen.Die aktuelle Herausforderung der Konsolidierung liegt nicht mehr primär an derSchnittstelle politischer und wirtschaftlicher Reformen. Sie hat sich auf die Schnittstellevon Politik und Wirtschaft einerseits mit dem kulturellen Erbe bzw. den kulturellenRessourcen andererseits verlagert und wirkt von dort aus auf die einzelnen gesellschaft-lichen Teilbereiche zurück. Damit haben sich die Ausgangsbedingungen für die Stabili-sierung geändert. Anfangs standen noch die Risiken für demokratische Reformen, diedirekt aus den Wohlfahrtseinbußen bei marktwirtschaftlichen Reformen folgten, imVordergrund. Kulturelle Defizite schienen nur indirekt eine Bedrohung der neuen de-mokratischen Ordnung zu bilden – und zwar dann, wenn die überspannte Geduld derEliten und der Bevölkerung die Instrumentalisierungschancen ethnischer Konflikte stei-gerte. Heute hingegen gerät die direkte Gefährdung der weitergehenden Stabilisierungdemokratischer Institutionen und wirtschaftlicher Effizienz durch den Mangel an ent-sprechenden kulturellen Ressourcen ins Blickfeld. Die Stabilisierung demokratisch-marktwirtschaftlicher Strukturen steht heute vor der Aufgabe, die Bildung einer zivilge-sellschaftliche Identität zu fördern und sich gegen die Tendenzen der Identitätsfindungentlang konfliktreicher - meist ethnischer - Dimensionen durchzusetzen.

Page 267: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 262

IV. ERGEBNIS

Page 268: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 263

Um ein komplexes Phänomen wie die Transformation Osteuropas zu verstehen, bedarfes - und das wurde ausführlich diskutiert – einer Vielzahl theoretischer Ansätze undPerspektiven. Es wurde gezeigt, daß einzelne Ansätze blinde Flecken haben, d.h. Frage-stellungen offen lassen, deren Beantwortung für das Verständnis der Transformationunausweichlich ist. Die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven können allerdingsnicht einfach willkürlich miteinander kombiniert werden. Ein eklektischer Umgang mitTheorie läßt sich nur vermeiden, wenn bestimmte Fragestellungen zu Teilaspekten desPhänomens der jeweils relevanten analytischen Ebene und der entsprechenden theoreti-schen Perspektive zugeordnet werden. Bei einer solchen Zusammenführung dürfen sichdie Aussagen der verschiedenen Perspektiven nicht widersprechen. Aus diesem Grundesind die Schnittstellen anzugeben, an denen sich die analytischen Ebenen aneinanderfü-gen lassen. Und die Prämissen der Theorien müssen so formulieren sein, daß sie dieIntegration der anderen Perspektiven erlauben. Mit diesen Kriterien sind die Grundvor-aussetzungen für ein Mehrebenenmodell benannt. Sie bilden die Koordinaten für eineerfolgreiche Navigation durch die Komplexität des Phänomens.Diese Arbeit hat gezeigt, welche theoretische Perspektive sich für welche Fragestellun-gen eignet. Auch wurde versucht zu zeigen, an welcher Stelle weiterführende Fragenauftauchen, die auf eine andere analytische Ebene verweisen, so daß sie „natürliche“Anknüpfungspunkte für andere theoretische Perspektiven bilden. Darüber hinaus wurdedarauf hingewiesen, welche Nachteile ein exklusiver Erklärungsanspruch für eine be-stimmte analytische Perspektive hat: Entweder lassen sich ohne weiteres Gegenbei-spiele finden, oder die Ansätze verfangen sich in Widersprüchen zu ihren eigenen Prä-missen. Die Gegenbeispiele begrenzen den Erklärungsanspruch dieser Beiträge auf ei-nen beschränkten Teilbereich des Phänomens. In diesem Fall muß zur Beantwortungdes umfassenden Phänomens doch wieder mit Hilfe anderer Perspektiven gearbeitetwerden. Wenn theoretische Ansätze in ihrer Anwendung den eigenen Prämissen wider-sprechen, ist dies meist ein Hinweis auf ein reduktionistisches Theoriekonzept. Im Be-mühen um eine eindeutige und einfache Modellkonstruktion wird an der Realität vorbeimodelliert. Weder die Reduktion auf einen Makrodeterminismus noch die Konstruktioneines reduktionistischen Akteurmodells werden dem Charakter und der Dynamik derTransformationsprozesse gerecht.Zahlreiche Beiträge antizipieren mittlerweile die Defizite, die sich aus einer reduktioni-stischen Konzeption der Prämissen ergeben, und öffnen sich daher für andere Perspek-tiven. Die Autoren beschränken sich entweder auf eine eindeutig abgegrenzte Frage-stellung und verweisen somit die Anschlußfähigkeit anderer theoretischer Perspektivenoder sie formulieren die Prämissen ihrer Modelle so, daß sie den Prämissen von Ansät-

Page 269: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 264

zen, die gesellschaftliche Prozesse auf einer anderen analytischen Ebene beobachten,nicht widersprechen1.Die folgenden Ausführungen zu den Ergebnissen der Untersuchungen des Zusammen-bruchs der alten, kommunistischen Ordnung und zu der Problematik des Entstehenseiner neuen, politischen Ordnung sind in Abbildung 3 (Seite 298) und 4 (Seite 299) zu-sammengefaßt.

1 Diesen Schritt vollziehen die akteurtheoretischen Ansätze, die mit einem multi-motivationalenAkteurkonzept arbeiten. Die Vielseitigkeit der Motive verweist auf den Einfluß verschiedener sozialerKontexte und Institutionen. Wann welche Orientierung dominiert, wird stark von den Kontextenbestimmt. Die Akteure sind nur bedingt frei in der „Wahl“ der Motive. Beispielsweise lassen die überSozialisationsprozesse internalisierten Normen und Werte nicht zu, daß Entscheidungen lediglich nacheinem eigennutz-kalkulierenden Kalkül getroffen werden.

Page 270: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 265

1. Die Mehrebeneanalyse des Zusammenbruchs

Eine erste Phase der Transformation ist abgeschlossen. Die kommunistischen RegimeOsteuropas sind zusammengebrochen. Neue Staaten haben sich gebildet, die alten Ver-fassungen sind revidiert oder gegen neue, demokratisch orientierte, Verfassungen aus-getauscht worden, und die Eliten der ersten Reihe mußten abtreten.Für die Theorie ergab sich aus dem Zusammenbruch eine Herausforderung. Hatten dochnur die wenigsten Wissenschaftler die Entwicklung voraussehen können, so versuchtennach dem Zusammenbruch um so mehr Autoren, mit ihrem favorisierten theoretischenAnsatz die Entwicklung nachzuzeichnen. Zwar gilt die landläufige Meinung, daß manhinterher stets klüger ist, auch für wissenschaftliche Untersuchungen. Die nachgereichteErklärung der Geschehnisse steht aber vor einem zusätzlichen theoretischen Problem:Wird nun auf einmal offensichtlich, warum die osteuropäischen Systeme zusammenbre-chen mußten, dann wird es um so unverständlicher, daß die Entwicklung uns derartüberraschte. Eine theoretische Untersuchung des Zusammenbruchs muß deshalb aucheine Antwort auf die Frage zulassen, warum die Entwicklung nicht vorauszusehen war.Die Antwort kann sich entweder aus den Modellen selbst ergeben oder mit dem Hin-weis auf andere, anschlußfähige Ansätze erfolgen, bei denen der Schlüssel zur Antwortlieg,.

Für den Zusammenbruch ergibt sich aus der Zusammenführung der verschiedenen theo-retischen Perspektiven ein Modell (vgl. Seite 298) , das 1. das Phänomen auf unter-schiedlichen analytischen Ebenen untersucht (Achse I), 2. von statischen Zustandsbe-schreibungen bis zur Untersuchung dynamischer Prozesse reicht (Achse II) und 3. imAbstraktionsgrad von allgemeinen Aussagen über kommunistische Gesellschaften biszur Beschreibung konkreter Interaktionen variiert (Achse III). In Abbildung 3 sind ent-sprechend dieser Dimensionen die drei Achsen dargestellten, auf denen sich die theore-tischen Beiträge plazieren lassen2.Die allgemeinste Formulierung liefert die systemtheoretische Zustandsbeschreibung.Sie identifiziert Defizite auf der Makroebene, die für alle kommunistischen Systemegalten und stabilitätsbedrohende Ausmaße annehmen konnten: Die osteuropäischenSysteme waren sämtlich durch ein Differenzierungsdefizit gekennzeichnet, das aus ei-ner unterdrückten soziokulturellen Evolution resultierte. Prozesse der ökonomischen,politischen und kulturellen Systembildung wurden mit der Unterdrückung funktionaler

2 Die Achsen sollen die Ausprägungen der Dimensionen lediglich auf einem Ordinalskalenniveaudarstellen. Das heißt, sie informieren lediglich darüber, auf welcher Ebene die Untersuchung erfolgt, undüber ein Mehr oder Weniger bezüglich der Dynamik und des Abstraktionsgrades. Theorien überschreitenzunehmend die analytischen Ebenen. Deshalb muß auch bei dieser Dimension nicht von dem Entweder-Oder einer Nominalskala ausgegangen werden.

Page 271: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 266

Differenzierung verhindert. Das Primat einer Leitdifferenz verhinderte, daß die gesell-schaftlichen Teilsysteme nach einem eigenen basalen Code operieren konnten. AlleTeilsysteme hatten sich dem teilsystemischen Code der Politik unterzuordnen. DieseEntdifferenzierung behinderte die effiziente Problemverarbeitung und Strukturanpas-sung. Auf Anreize und Umweltanforderungen konnte nicht spezifisch, also adäquat,reagiert werden, weil die repressiv erzwungene Unterordnung unter den Code soziali-stisch / antisozialistisch die Vorteile teilsystemischer Rationalitäten unterdrückte.Strukturtheoretische Analysen wie von der geopolitischen Theorie und der Modernisie-rungstheorie geleistet schließen an die systemtheoretische Argumentation an. Die geo-politische Theorie führt aus, wie schwierig es für die SU gewesen ist, mit der Um-weltanforderung militärischer Konflikt bzw. militärische Machtkonstellation umzuge-hen. Die externe Anforderung übersetzte sich in eine interne Herausforderung. Zur Be-hauptung im militärischen Wettbewerb muß von der Wirtschaft eine effiziente Ressour-cennutzung geleistet werden. Die Interstate-Competition auf dem militärischen Gebietwurde somit zu einem internationalen Wettbewerb um die effiziente Ressourcennut-zung, was in den kommunistischen Staaten vor allem in den 80er Jahren zu liberalisie-renden Marktreformen führte. Aus dem Konflikt wurde Konvergenz.Die Modernisierungstheorie konzentriert sich eher auf die internen Probleme, die ausdem Differenzierungsdefizit folgen. Interne Schwächen werden dann offensichtlich,wenn externe Anforderungen, wie militärischer Wettbewerb, nicht verarbeitet werdenkönnen. Hier liegt die Schnittstelle, an der sich die Modernisierungstheorie für die geo-politische Argumentation öffnen muß und umgekehrt die geopolitische Theorie einePräzisierung ihrer Argumentation durch die Modernisierungslogik erfährt. Aber nichtnur auf dieser inhaltlichen, sondern auch auf der theoretischen Ebene lassen sich geo-politische und modernisierungstheoretische - konvergenz- und konflikttheoretische -Analysen zusammenführen. Die systemtheoretische Argumentation ordnet Konflikt denUmwelteinflüssen zu, auf die mit Strukturanpassung reagiert werden muß. Genau einsolcher Schritt wurde mit den liberalisierenden Reformen unternommen, die zur zu-nehmenden Konvergenz der prinzipiell planwirtschaftlich-zentralistisch gesteuertenSysteme mit den marktwirtschaftlich-demokratisch gesteuerten Systemen führten. Den-noch beschreibt dieser Zusammenhang primär die Entwicklung in der SU. Die mittel-und südosteuropäischen Staaten waren nicht durch einen militärischen Wettbewerb zuwirtschaftlichen Reformen - Konvergenz - gezwungen. Für sie spielte die Entwicklungin der SU eine zwar bedeutende, aber dennoch nur mittelbare Rolle. Andere, primärinterne Herausforderungen schwächten die Systeme und veranlaßten sie teilweise zuliberalisierenden Reformen. Hier zeigt sich, daß mit der strukturtheoretischen Argu-mentation vom Abstraktionsgrad der systemtheoretischen Argumentation abgewichenwird. Obwohl die Strukturtheorien Hinweise auf strukturelle Schwächen geben, die sich

Page 272: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 267

meist für alle osteuropäische Staaten identifizieren ließen, gab es strukturelle Spezifika,die z.T. für die unterschiedliche Entwicklung verantwortlich waren.Die modernisierungstheoretischen Analysen führen allgemein aus, wie sich mangelndeDifferenzierung negativ im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Teilsystem derGesellschaft auswirken. Das politische Teilsystem war mit der Steuerung der Wirtschaftüberfordert. Der Versuch, die „chaotische“ Steuerung im marktwirtschaftlichen Systemdurch eine zentrale Steuerung zu rationalisieren, schlug fehl. In den kommunistischenStaaten fehlte es aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und desverfälschten Feedbacks an einer verläßlichen Grundlage für rationale Entscheidungen.Das politische Teilsystem kämpfte insbesondere mit den Folgen des Demokratiedefizitskommunistisch verfaßter Regime. Es gab keine effektiven Institutionen der Interes-senaggregation und -vermittlung, was sich negativ auf die Integration der Gesellschaftund die Legitimität der Herrschaftsverhältnisse auswirken mußte. Dennoch gab es de-mokratische Ansätze. Die osteuropäischen Staaten unterschieden sich stark in der Aus-prägung zivilgesellschaftlicher Ansätze. Diese demokratischen grasroots sollten für dieEntwicklung des Zusammenbruchs eine gestaltende Rolle übernehmen. In der kulturel-len Entwicklung entstand für die kommunistischen Gesellschaften dadurch ein Problem,daß die von der marxistisch-leninistischen Ideologie konstatierten Werte, die unabding-bar Teil der gesellschaftlichen Identität waren, zunehmend in Widerspruch zur gesell-schaftlichen Realität gerieten. Den Werten der egalitären Ideologie standen Privilegienwie Wohlstand und Macht gegenüber, die sich nicht wie in marktwirtschaftlich-bürger-lich organisierten Gesellschaften über Leistung rechtfertigen ließen.Die strukturtheoretischen Beiträge treten über die analytischen Grenzen der Sy-stemtheorie hinaus. Sie beschreiben, daß die individuellen Dispositionen der Akteure(Eliten und Bevölkerung) mit den strukturellen Merkmalen variieren und geben somitdie Schnittstelle zu der analytischen Ebene der Mikroprozesse an. Die geopolitischeSituation wirkt sich auf den Zusammenhalt der Eliten aus (Elitenkonvergenz) und be-stimmt die Legitimität des Regimes vor der Bevölkerung. Die von den Modernisierung-stheorien untersuchten Differenzierungsdefizite bestimmen einerseits den Handlungs-rahmen, indem sie im Bereich der Wirtschaft und Politik die Entscheidungsfreiheit bzw.Möglichkeiten der Interessenartikulation der Akteure begrenzen. Andererseits werdenmit der Thematisierung kultureller Werte und Normen sowie ihrer Widersprüche dieMotivation der Gesellschaftsmitglieder und die Legitimität des Regimes berührt.System- und Strukturtheorien liefern Zustandsbeschreibungen, die zu einem Zeitpunktansetzen, zu dem die Dynamik des Zusammenbruchs niedrig war. Dennoch beschreibensie spannungsreiche Zustände, die nach Veränderung verlangen. Auf strukturelle Defi-zite, die zur Instabilität über Legitimitätsmangel und abnehmende Elitenkonvergenzführen, muß reagiert werden. Hier liegt die Chance für politische und ökonomische Än-derungen. Die Strukturtheorien beschreiben den Schritt der Liberalisierung bereits als

Page 273: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 268

eine logische Folge der Schwäche des Wirtschaftssystems und gehen damit über einereine Zustandbeschreibung hinaus. Die Dynamik der zunehmenden Konvergenz mitmarktwirtschaftlichen Systemen kann mit der Liberalisierung beginnen.

Die Untersuchungen auf der Makroebene beschreiben die Öffnung des Transformati-onsfensters. Auf die Spannungen wird von entscheidungsrelevanten Akteuren reagiert.Zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise sie reagieren, kann die Makroperspektivenicht klären. Teilweise sind die Schritte der Liberalisierung wieder zurückgenommenworden (z.B. die NPÖ in der DDR), oder auf Legitimitätsdefizite wurde mit Repressio-nen reagiert. Es kam aber auch vor, daß wirtschaftliche Freiheiten von politischen Frei-heiten flankiert wurden. Diese Vielfalt der Reaktionen läßt sich nicht einfach auf einenMakrodeterminismus zurückführen. Die Akteure, die zwischen den Strategien des Um-gangs mit den strukturellen Schwächen und Spannungen wählen, treffen ihre Entschei-dung in komplizierten Verhandlungen, deren Ergebnisse nicht aus den objektiven Be-dingungen abgeleitet werden können. Wie aber wirken die strukturellen Hintergründeauf diese Entscheidungen bzw. wie wirken die Entscheidungen auf die Strukturen zu-rück?Diese Frage spannt sich über den theoretische „Graben“ zwischen Makro- und Mikro-theorien, der von den Mesotheorien überbrückt werden kann. Sie können die beidenParadigmen zusammenführen, indem sie zeigen, auf welche Weise 1. Makromerkmaleden Spielraum von individuellen und korporativen Akteuren variieren (Wirkungspfeil 1in Abb. 3) und wie sich 2. Mikroprozesse kurz- und mittelfristig in routinierte, institu-tionalisierte Prozesse und langfristig in strukturelle und systemische Eigenschaften um-setzen (Wirkungspfeil 2 in Abb. 3). Somit fügen sie in zwei Schritten die beiden Para-digmen an ihren Schnittstellen zusammen:Der Schritt 1 erfolgt mit der Diskussion horizontaler und vertikaler Defizite intermediä-rer Institutionen. Die institutionentheoretischen Untersuchungen zur mangelnden Inter-mediarität zeigen, welche Institutionen als unabhängige Variable Handlungsroutinenund Machtverhältnisse festigen konnten. Normen und Werte, die Konformität mit dermarxistisch-leninistischen Ideologie sicherten, wurden von den Akteuren internalisiertund erst hinterfragt, als sich die Schwächen der kommunistischen Systeme nicht mehrverdecken ließen und erste oppositionelle Stimmen zu hören waren. So läßt sich sowohldie anfängliche Stabilität der Systeme als auch die Dynamik, mit der die Institutionendes Systems zunehmend in Frage gestellt wurden, verstehen. Die Dynamik entstehtdann, wenn der Umgang mit den Institutionen nicht mehr unreflektiert, sondern strate-gisch erfolgt.Hier setzt der Schritt 2 an. Kommt es zu Reformen, dann wird über Institutionen, die dieVerteilung der Macht und den Zugang zu den Ressourcen regeln, verhandelt. Die Insti-tutionen stehen unter Begründungsdruck und werden somit zur abhängigen Variable.

Page 274: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 269

Bei ökonomischen Liberalisierungsmaßnahmen - wie von den Modernisierungtheorienangedeutet - werden die Institutionen des Eigentumsrechts Gegenstand strategischerÄnderungen. Durch die Reformprozesse wird eine Dynamik angestoßen, die den Akteu-ren z.T. aus der Kontrolle gerät. Am Beispiel des „Dilemma of Reforms“ zeigen dieinstitutionentheoretischen Untersuchungen, daß institutionelle Reformen den uner-wünschten Nebeneffekt der abnehmenden Elitenkohärenz haben können. Der strategi-sche, zweckorientierte Umgang mit Institutionen garantiert also nicht die planmäßigeErfüllung der mit den Änderungen angestrebten Wirkungen. In Osteuropa trieben dieÄnderungen die Schwächung der Strukturen weiter voran und gefährdeten die Identitätdes Systems.

Der Abstraktionsgrad der Mesotheorien unterscheidet sich deutlich von dem der Ma-krotheorien. Auch wenn sich die poltischen, ökonomischen und kulturellen Institutionenin den kommunistischen Staaten teilweise ähnelten oder sogar Gemeinsamkeiten auf-wiesen, unterschied sich der Umgang mit ihnen sowie die Wirkung von institutionellenÄnderungen doch gravierend. Daher setzen die Mesountersuchungen auf der Ebene in-stitutioneller Spezifika der gesellschaftlichen Teilsysteme (hier besonders Politik undWirtschaft) der einzelnen Staaten an. Mit dem vertikalen Institutionendefizit sprechensie ein Problem an, das für die SU zentral war. Vertikale Institutionen, die die Vorge-setzten-Untergebenen-Beziehung regulieren, konnten dort die Steuerung der Bürokratienicht leisten, so daß erstens Korruption die Stabilität bedrohte und zweitens lokaleMachthaber der Zentrale ihre Loyalität aufkündigten. Für die anderen osteuropäischenStaaten wirkte die Schwäche vertikaler intermediärer Institutionen zwar mittelbar, weilmit der Schwächung der SU eine externe Legitimitätsgrundlage der Herrschaftsverhält-nisse wegfällt. Primär war aber ein anderes Defizit von Bedeutung. Es gab keine Insti-tutionalisierung der horizontalen Trennung von Zuständigkeitsbereichen und dement-sprechend auch keine intermediären Institutionen, die zwischen den Bereichen vermit-telten. Dieses tight coupling bewirkte, daß es keine Handlungs- und Entscheidungs-möglichkeiten jenseits der Parteispitze gab. Die institutionentheoretischen Untersu-chungen konkretisieren - besonders anschaulich am Beispiel der Entscheidungsprozessein der DDR -, zu welchen Irrationalitäten diese institutionelle Umsetzung des im Systemangelegten Differenzierungsdefizits führten.Die theoretische Ansatzhöhe der Mesoperspektive berücksichtigt aber auch Mikropro-zesse, nämlich dann, wenn die Reaktionen und den Umgang der Akteure mit den insti-tutionellen Defiziten thematisiert werden. Einige Eliten reagierten mit Antikorruptions-kampagnen, andere strebten Änderungen der Eigentumsrechte an, ließen verstärkt poli-tische Pluralität zu oder reagierten mit Repressionen. Welche strukturellen Wirkungensolche Versuche der Etablierung neuer Handlungsroutinen haben, kann eine institutio-nentheoretische Untersuchung zu klären versuchen.

Page 275: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 270

Die Mikrotheorien setzen mit ihren Modellen bei den Entscheidungssequenzen der Ak-teure an. Sie modellieren damit nicht die institutionalisierenden und strukturierendenWirkungen der Handlungen von Akteuren, sondern versuchen nachzuzeichnen, wieEntscheidungen getroffen werden konnten, die zu den Ergebnissen wie einer zuneh-menden Liberalisierung, repressiven Unterdrückungsmaßnahmen oder auch dem end-gültigen Zusammenbruch der kommunistischen Systeme führten. Akteurstheorien un-tersuchen Prozesse auf der Interaktionsebene. Mit dem Verweis auf bestimmte Ak-teurskonstellationen, die Strategien der Akteure, ihre Präferenzen und Motive konkreti-sieren sich ihre spezifischen Entwicklungsunterschiede und -schritte in den einzelnenStaaten. Je nachdem, welche Bedeutung bestimmten Akteursgruppen bei den Entschei-dungen, die zu gravierenden Änderungen der Institutionenstruktur führten, zukam,konnte der Charakter des Zusammenbruchs sehr unterschiedlich ausfallen: Verliefen diemeisten Übergänge zur Demokratie auch friedlich, so war zumindest in Rumänien eineandere Entwicklung, eine eruptive, gewaltsame Ablösung des alten Regimes, zu beob-achten. Aber auch bei den friedlichen Übergängen gab es Unterschiede, die weit in dieKonsolidierungsphase hinein wirken können. In einigen Staaten wurde der Wandelweitestgehend von oben, d.h. aus den Reihen der Eliten initiiert (Sowjetunion, Ungarn),während in anderen Staaten die Reaktion und Mobilisierung der Öffentlichkeit eineSchlüsselrolle spielte (Bulgarien, Polen, DDR). Die föderalen Staatenverbände zerfielenweitgehend bei dem Übergang (Tschechoslowakei, Jugoslawien, SU), während es inanderen Staaten nahezu keine „Stateness“-Probleme gab (Polen, Ungarn), sie unter-drückt wurden (Rumänien, Bulgarien) oder sich dadurch lösten, daß der Verfassungeines anderen Staates beigetreten wurde (DDR).Solche spezifischen Entwicklungen lassen sich nur verstehen, wenn die Interaktion derpolitischen Akteure und Reaktion der Bevölkerung in Betracht gezogen werden. Natür-lich setzen sich die Akteurskonstellationen vor dem Hintergrund der strukturellen Ei-genschaften sowie der institutionellen Spezifika des kommunistischen Systems zusam-men, und die Akteure handeln auch nach Vorgabe institutionalisierter Handlungsrouti-nen. Hier liegen auch die Schnittstellen der Mikrotheorien, an denen die Analysen aufder Interaktions- bzw. Akteursebene an Analysen auf übergeordneten analytischen Ebe-nen anschließen. Dennoch verfügen die Akteure über eine gewisse Entscheidungsfrei-heit. Militärischer, ökonomischer, aber auch politischer und moralischer Problemdruckstellen Institutionen unter Bewährungsdruck und verlangen nach neuen Strategien. In-nerhalb der Eliten bilden sich Fraktionen, und die Bevölkerung reagiert auf die abneh-mende Legitimität evtl. mit Protest, was wiederum die Machtverhältnisse innerhalb derEliten verschieben kann. In einer solchen Situation entsteht Spielraum für alternativeEntwürfe und Entscheidungen, die zu gravierenden Änderungen führen können.

Page 276: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 271

Die Akteurtheorien modellieren dynamische Transformationsprozesse, indem sie Ent-scheidungssequenzen nachzeichnen, welche berücksichtigen, daß sich die Machtver-hältnisse in der Elite mit jeder Entscheidungssequenz verschieben können und daß eseine Wechselwirkung zwischen diesen Innerelitenprozessen und der öffentlichen Mobi-lisierung geben kann (Wirkungspfeil 3 in Abb. 3). Von sukzessiven Entscheidungs-schritten geht der Wandel der Systeme aus, wird über neue Regeln der Macht- und Res-sourcenverteilung bestimmt. Regeln, die soeben noch galten, sind am nächsten Tagschon wertlos. Nur eine Perspektive, die in der Lage ist, solche Schritte nachzuzeich-nen, wird der hohen Dynamik der Geschehnisse gerecht und kann erklären, wie es zuErgebnissen kommen konnte, die von den Entscheidungsträgern nicht antizipiert wur-den und oftmals auch nicht gewollt waren.Die Mikromodelle zeigen mit der Modellierung der Entscheidungssequenzen, warumAkteure in einer bestimmten Art und Weise auf strukturelle und institutionelle Defizitereagierten und wie diese Reaktionen zu den Ergebnissen führten, die sich beobachtenließen.Unklar bleibt aber weiterhin, warum der Zusammenbruch zu einem bestimmten Zeit-punkt erfolgte. Diese Unschärfe läßt sich auch aus der Mikroperspektive beheben nichtgänzlich. Das hängt damit zusammen, daß sich sowohl die Entscheidungen der Elitenals auch die Reaktion der Bevölkerung nicht vorhersehen lassen. Es gibt keinen Grundanzunehmen, daß mangelnde gesellschaftliche Integration, uneffizientes Wirtschaftenund abnehmende Legitimität und Elitenkonvergenz sich ab einem bestimmten Punktautomatisch in Liberalisierungsmaßnahmen und öffentlichen Protest umsetzen. Ein sol-cher Determinismus läßt sich nicht feststellen, weil eine Vielzahl von Motiven die Ent-scheidungen der Akteure bestimmt. Innerhalb der Eliten werden Entscheidungen nichtnur nach rationaler Maßgabe getroffen. Irrationalitäten schleichen sich ein, wenn einefalsche Wahrnehmung der Möglichkeiten oder Wunschdenken die Entscheidungen be-einflussen. Und nicht-rationale Motive, wie normative und moralische Orientierungen,spielen eine Rolle bei der Entscheidung zum öffentlichen Protest trotz drohender Sank-tionen. Ebenso verhandeln Eliten und Opposition auf der Grundlage einer gemeinsamennormativen Basis, auf die die Parteien sich in von Verständnisorientierung beeinflußtenVorverhandlung teilweise einigen konnten.In dieser Breite individueller Motive liegt der Schlüssel zur Beantwortung der eingangsgestellten Frage, warum der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme so schwervorauszusehen war: Eine Vielzahl von Variablen (Motiven und Kontextbedingungen)bestimmt die Reaktionen und Handlungen der Akteure. Der Zusammenbruch stellt ei-nen Prozeß dar, der sich aus aneinandergereihten Entscheidungssequenzen ergibt, wobeinach jeder Sequenz ein neuer Zustand mit z.T. völlig anderen Voraussetzungen dieGrundlage für die nächste Entscheidung bildet. Besonders deutlich wurde diese Dyna-misierung kontextueller Bedingungen bei den Verhandlungen an den Runden Tischen.

Page 277: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 272

Die politischen Akteure sahen sich nach einzelnen Entscheidungsschritten teilweise mitunerwarteten und unbeabsichtigten Folgen wie Protesten und Wahlniederlagen kon-frontiert, die die Machtkonstellationen und somit die Ausgangsbedingungen für dieweiteren Verhandlungsschritte gravierend änderten. Der Prozeß der Entscheidungenfindet darüber hinaus hinter verschlossenen Türen statt; über die Motive der entschei-dungsrelevanten Akteure läßt sich daher nur spekulieren. Damit fehlt die Grundlage füreindeutige Wirkungsmodelle, derer es bedarf, um Zeitpunkt und Entwicklung vonTransformationen vorherzusehen. Was die Mikrotheorie aber neben der Erklärung,warum Vorhersagen nicht getroffen werden können, leisten kann, ist ein Verständnisder Akteurskonstellationen, der Strategien der Akteure sowie ihrer Motive und Präfe-renzen. Mit diesen Größen kann der Prozeß nachgezeichnet werden, so daß die Dyna-miken und die verschiedenen Wege zur Demokratie verständlicher werden.

Die Analyse des Zusammenbruchs ist mit zwei theoretischen Herausforderungen kon-frontiert: Erstens handelte es sich beim Zusammenbruch der kommunistischen SystemeOsteuropas um ein allgemeines Phänomen, von dem ganz Osteuropa betroffen war. Undzweitens vollzog sich der Zusammenbruch in jedem einzelnen Staat auf recht unter-schiedliche Weise. Nur in einem Mehrebenenmodell lassen sich beide Aspekte mitein-ander verbinden, weil dieses den Graben zwischen verschiedenen theoretischen Para-digmen überwinden kann. Der Prozeß des Zusammenbruchs findet sowohl auf der Ma-kro- als auch auf der Meso- und Mikroebene statt. Analysen des Zusammenbruchs, dieausschließlich auf einer analytischen Ebene argumentieren, können diese Zusammen-hänge nicht ignorieren. Einige Autoren verweisen deshalb explizit auf Erklärungslückenihres Modells und ermöglichen somit Anschluß und Ausbau ihrer Modelle. Die Unter-suchungen hingegen, die einen exklusiven Erklärungsanspruch reklamieren, zeigen gra-vierende Defizite: Einerseits werden die Modelle unpräzise, d.h. sie ignorieren spezifi-sche Entwicklungspfade, wenn sie für den Zusammenbruch einen Makrodeterminismusunterstellen. Andererseits zeigen mikrotheoretische Ansätze mit exklusiven Erklärungs-anspruch die Tendenz, modellfremde Variablen in ad hoc-Manier einzuführen. SolcheDefizite lassen sich in einem Mehrebenenmodell des Zusammenbruchs, das je nach Dy-namik des Wandels und in enger Verbindung mit dem Allgemeinheitsgrad der Be-schreibungen auf Primate theoretischer Herangehensweisen verweist, vermeiden.

Page 278: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 273

2. Die Mehrebenenanalyse der Konsolidierung

Die Untersuchung des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime folgt primär derHierarchie der analytischen Ebenen. Die Beiträge zur Erklärung bzw. zum Verständnisdes Zusammenbruchs wurden nach den Dimensionen einer ebenenspezifischen Unter-suchung geordnet und diskutiert. Bei der politischen Konsolidierung hingegen wurdeder Logik einer phasenspezifischen Untersuchung gefolgt. Bei den Versuchen, die Ent-wicklung der politischen Konsolidierung vorherzusagen bzw. Kriterien für Chancen undRisiken einer demokratischen Entwicklung anzugeben, wurde der Blick auf Variablengelenkt, die in der Dynamik bestimmter Phasenabschnitte für den Konsolidierungspro-zeß an Bedeutung gewinnen.Der Perspektivenwechsel vom Primat der ebenenspezifischen Untersuchung zum Primatder phasenspezifischen Untersuchung liegt in der Sache begründet: Beim Zusammen-bruch sind die Phasen abgeschlossen, bei der politischen Konsolidierung nicht. Deshalbkönnen bei der politischen Konsolidierung auch nur Variablen und Mechanismen ein-zelner Teilphasen untersucht werden. Dementsprechend ändert sich die Fragestellung.Bei einem abgeschlossenen Phänomen wie dem Zusammenbruch besteht das Erkennt-nisinteresse darin, die Ursachen und Prozesse des Phänomens zu erklären bzw. zu ver-stehen. Damit wird automatisch auf die Ebenen der Analyse verwiesen. Im Gegensatzdazu besteht bei dem noch nicht abgeschlossenen Phänomen der Konsolidierung dasErkenntnisinteresse vorwiegend darin, Vorhersagen über die Konsolidierungsentwick-lung zu treffen bzw. Chancen und Risiken für eine demokratische Konsolidierung ein-zuschätzen. Ein solches Interesse lenkt die Aufmerksamkeit auf Variablen und Mecha-nismen, die sich bis zum Zeitpunkt der Untersuchung beobachten lassen. Haben sich diedemokratischen Regime noch nicht zufriedenstellend stabilisiert, dann kann versuchtwerden, aus Variablen und Mechanismen der Phasen, die einer Stabilisierung vorausge-hen, Schlüsse über die zukünftige Entwicklung und Entwicklungschancen zu ziehen3.Somit wird eine phasenspezifische Untersuchung vorgenommen.Je nachdem, ob der Blick zurück gelenkt wird also versucht wird den Zusammenbruchder alten Ordnung nachzuvollziehen, oder ob ein Blick nach vorne gewagt wird, d.h.Aussagen über die zukünftige Entwicklung der neuen Ordnung angestrebt werden, wirdim ersten Fall die Aufmerksamkeit primär auf die analytische Ebene gelenkt und imzweiten Fall auf die Phasen des Untersuchungsgegenstandes. Das Modell der politischeKonsolidierung (vgl. Seite 299) stellt deshalb 1. den Prozeß in seiner zunächst be-schleunigenden und sich anschließend wieder beruhigenden Dynamik dar (Achse II‘),wechselt dann 2. mit dem Ablauf der Phasen die analytische Ebene (Achse I‘) und va- 3 Nach der Einschätzung von Kopecky und Mudde haben diesen Schritt nur die wenigsten Ansätze derTransformationsforschung vollzogen: „Most studies are actually non-theoretical, describing in often vividdetails the political and social developments in (post-) transition countries.“ (2000: 519).

Page 279: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 274

riiert 3. im Abstraktionsgrad von allgemeinen Aussagen bezüglich kommunistischerGesellschaften über institutionelle Spezifika einzelner Staaten bis hin zu konkreten In-teraktionen und Motiven (Achse III‘). In Abbildung 4 sind entsprechend dieser Dimen-sionen drei Achsen dargestellt, auf denen sich die für die Konsolidierung relevantenPhasen plazieren lassen. Der Fluß der Achsen wird an der Stelle unterbrochen, wo sichdie beschleunigte Dynamik des Wandels zu beruhigen beginnt, die Richtung der Ana-lyse sich ändert und der Abstraktionsgrad wieder zunimmt. Für die Konsolidierungheißt das: Radikale, hochdynamische Änderungen müssen in einen Zustand überführtwerden, in dem Änderungen nur noch graduell und unter der Prämisse der Identitäts-wahrung erfolgen. Die Fragestellungen der Analyse beziehen sich nicht mehr auf dieAusgangsbedingungen, unter denen Institutionen neu gebildet werden, sondern darauf,welche Bedingungen von den neuen Institutionen geschaffen werden. Und von der Un-tersuchung der Interaktionen und Motive im Institutionengebungsprozeß wird auf dieSuche nach allgemeinen Stabilisierungskriterien demokratischer Systeme abgestellt.

Die phasenspezifischen Untersuchungen zum Erbe, Umbau und zur Stabilisierung ha-ben gezeigt, daß jede Phase Variablen und Mechanismen auf z.T. verschiedenen Analy-seebenen in den Vordergrund rückt. Damit wird deutlich, daß sich auch die Konsolidie-rungsforschung nicht nur auf entweder Mikro- oder Meso- oder Makrovariablen stützenkann. Eine Vielzahl von Variablen und Prozessen auf allen drei analytischen Ebenenmuß berücksichtigt werden:Die Konsolidierungsprozesse sind eng mit den Entwicklungen, die zum Zusammen-bruch führten, verbunden. Die Ursachen sowie der Prozeß des Zusammenbruchs be-stimmen als Erbe die Ausgangsbedingungen für die Konsolidierung. Das wird beson-ders bei der Untersuchung der Runden Tische deutlich, die in der Schnittmenge vonZusammenbruch und Konsolidierung liegen. Im Rahmen der Verhandlungen wurdennicht nur Schritte verabschiedet, die die alte Ordnung kippen ließen. Sie trugen auchaktiv zum demokratischen Umbau bei, in dem erste demokratische Wahlen von ihnenaus initiiert wurden und z.T. demokratische Verfassungen und Institutionen als Ver-handlungsergebnis verabschiedet wurden. Das kommunistische Regime und die Art desRegimewechsels hinterlassen somit Spuren, die zwar mit der Zeit verwischen mögen(vgl. Przeworski 1991), an die aber beim Aufbau des demokratischen Regimes ersteinmal angeknüpft werden muß.Der Schwerpunkt der Untersuchung des Erbes als Bedingung für die weitere institutio-nelle Gestaltung liegt auf der strukturellen, d.h. auf der Makroebene. Damit wird dieBedeutung institutionalisierter Handlungsroutinen, stabiler Netzwerke und einflußrei-cher alter Eliten für den Umbau nicht geleugnet. Die Variablen der Meso- und Mikro-ebene können z.T. von der Analyse des Regimes und der Art des Regimezusammen-bruchs abgeleitet werden (Wirkungspfeile 4 und 5 in Abb. 4). Unterschiedliche Regi-

Page 280: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 275

metypen haben je ihre etablierten institutionalisierten politischen Prozesse, und sie ha-ben in ihrem Kontext sozialisierte Eliten mit einem von den Strukturen mehr oder weni-ger geprägten Rollenverständnis hervorgebracht. Vom Regimetyp lassen sich Schlüssenicht nur über Eliten und deren Organisationsgrad ziehen, sondern auch über den Orga-nisationsgrad oppositioneller Bewegungen, weil der Regimetyp unter anderem über denGrad der Repressivität (politischer Pluralismus) definiert wird. Die Art des Regimezu-sammenbruchs - und dazu gehören auch die Bedingungen der Stateness - entscheidet,ob und wer aus den Reihen der alten Eliten politischen (oder auch ökonomischen) Ein-fluß behält und welche Strategien erfolgversprechend beim demokratischen Umbau ein-gesetzt werden. Neben diesem eher direkten Einfluß übt die Vergangenheit zudem einenindirekten Einfluß auf den Neuaufbau demokratischer Institutionen aus: Das Erbe be-stimmt die Agenda des demokratischen Umbaus, weil es die Aufgabenstellung für dieArchitekten der Demokratie vorgibt. Damit wird festgelegt, welche institutionellen De-fizite es zu beheben gilt. Mit dem Erbe wird hauptsächlich auf Variablen verwiesen, diein einer relativ stabilen, wenig dynamischen Phase der alten, kommunistischen Regimeihren Ursprung haben. Mit der Thematisierung des Umbaus geraten zunehmend Mikro-variablen ins Blickfeld, und der Prozeß dynamisiert sich. So ergibt sich aus den Makro-variablen des Erbes ein jeweils spezifisches „Konsolidierungsfenster“ für den institutio-nellen Umbau.In der Umbauphase der politischen Konsolidierung zeigt sich nicht ganz so deutlich einPrimat für eine Analyseebene. Makrovariablen werden nicht umgebaut und entscheidensomit nur indirekt über Erfolge und Mißerfolge bei der Konsolidierung der Demokratie,indem sie die sozio-ökonomischen und historischen Bedingungen für den Umbau set-zen. Diese Bedingungen konkretisieren sich auf der Meso- und Mikroebene. Der Um-bau knüpft an die institutionellen Herausforderungen an, die sich aus dem Erbe ergeben,und ist mit den „hinterlassenen“ Akteuren zu bewältigen. Primär geht es in dieser hoch-dynamischen Phase um die Einführung demokratischer Institutionen. Mit Demokratieist ein bestimmtes institutionelles Setting gemeint, das durch die Gestaltung einer neuenoder überarbeiteten Verfassung - mit der Entscheidung für ein demokratisches Regie-rungs- und Wahlsystem – entsteht sowie durch die Bildung neuer Parteien und andererInstitutionen intermediärer Interessenvermittlung. Das Setting entspringt den Handlun-gen und Motiven von Akteuren, d.h. ihrem politischen Selbstinteresse. Die Handlungender Akteure müssen sich aber auch an den institutionellen Regeln orientieren. Deshalbbilden die wechselseitigen Prozesse von Institutionenbildung einerseits und institutio-neller Regulierung bzw. Begrenzung von Entscheidungen andererseits (Wirkungspfeil 6in Abb. 4) den Fokus für die Untersuchung des Umbaus4. Die Übereinstimmung der

4 Vgl. für eine ähnliche Argumentation auch das Jahrbuch 1995 des Wissenschaftszentrums Berlin(Rudolph 1995): Die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Akteurshandeln und dem Umbau bzw.der Etablierung neuer Institutionen in Transformationsprozessen werden in Abhängigkeit vonhistorischen Bedingungen thematisiert. Für die Transformationstheorie folgt aus der Komplexität des

Page 281: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 276

Handlungen der Eliten aber auch der Bevölkerung mit den demokratischen Institutio-nen (Compliance) erfordert demokratisches Handeln und eine politisch-demokratischeIdentität. Darin liegt die Begründung für die Relevanz der Mikroebene für den Umbau.Mikro- und Mesoprozesse bestimmen gemeinsam den Übergang zu dem neuen demo-kratischen Regime. Sowohl der Aufbau von Institutionen als auch ihre Wirkung sindmikroabhängig. Das bedeutet aber nicht, daß Institutionen allein in den Handlungen derAkteure aufgehen, d.h. von ihnen willkürlich eingeführt werden können und die durchsie erfolgenden Handlungsvorgaben je nach Opportunität einmal befolgt und einmalgebrochen werden. Institutionen entwickeln eine eigene Dynamik im Kontext andererInstitutionen und gesellschaftlicher Kontextvariablen5. Selbst wenn die Akteure versu-chen, die Allokationswirkung (auf Macht und andere Ressourcen) der Institutionen zuantizipieren, garantiert ihnen die strategische Manipulation z.B. beim Verfassungsge-bungsprozeß keinen Erfolg ihres Kalküls – schließlich handelt es sich bei der Einfüh-rung von Demokratie um die Institutionalisierung von Unsicherheit (vgl. Przeworski1991) bezüglich zukünftiger Machtverteilungen. Die Unsicherheit entsteht aus der nichtvorhersehbaren Präferenz der Wähler, die nicht nur von politischen Faktoren, sondernauch von ökonomischen und kulturellen Faktoren abhängt, welche von politische Elitenkaum gesteuert werden können. Darüber hinaus ergibt sich aus den Wechselwirkungenim Institutionengeflecht (wie zwischen Wahlsystem und Parteiensystem oder zwischenRegierungssystem und Parteiensystem) Unsicherheit bezüglich der langfristigen Allo-kationswirkung einzelner institutioneller Arrangements. Die Institutionen selbst habeneine strukturierende Wirkung auf das Handeln der Akteure. Sie bilden die neuen Con-straints für das strategische Kalkül politischer Eliten, indem sie Anreize und Sanktionenfür demokratiekonformes Handeln zu setzen versuchen. Weil die politischen Institutio-nen die Palette der diskretionären Handlungen definieren und damit die Chancen undRisiken für eine erfolgreiche demokratische Konsolidierung bestimmen sowie einelangfristige, strukturierende Wirkungen haben, gewinnen sie für den Systemumbau einezentrale Bedeutung6.Die Stabilisierungsthematik wirft die Frage nach den angemessenen Stabilitätskriterienauf, anhand derer sich entscheiden läßt, ob Regime als demokratisch konsolidiert einge-schätzt werden können. Hierzu wurde festgestellt, daß von einer allgemeinen Theorieder politischen Konsolidierung noch abgesehen werden muß. Die Diskussion um mini-malistische und maximalistische Konsolidierungskonzepte führt zu dem Ergebnis, daßsich die Konzepte ungenügend begründen und empirisch vielfach scheitern, weil es ver-schiedene länderspezifische Eigenarten der Entwicklung zu einer konsolidierten Demo- Prozesses die Einsicht, daß nur eine begrenzte Steuerbarkeit des gesellschaftlichen Wandels möglich istund daß es eines umfassenden Rahmens zur Analyse des Transformations- und Konsolidierungsprozessesbedarf.5 Auch die internationalen Dimensionen, wie die Einbindung in oder die Abhängigkeit vontransnationalen Gebilden, stellen solche Kontextvariablen dar (vgl. Pridham 1997; 1999).6 Insofern gilt die von Merkel formulierte These des „politcs first“ (1996: 74).

Page 282: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 277

kratie gibt. Konkrete Kriterien der demokratischen Konsolidierung lassen sich nur will-kürlich festlegen. So entsteht zwar ein Katalog wünschenswerter, demokratischerStruktur- und Institutioneneigenschaften, der im Umfang variiert. Je mehr formale bzw.prozedurale Ansprüche durch normative Ansprüche ergänzt werden, desto umfangrei-cher wird der Katalog. Ein von normativen Vorstellungen7 unabhängiger, zuverlässigerMaßstab für den Grad der Konsolidierung konnte aber nicht entwickelt werden. Mit denHinweisen, daß von einer stabilen Demokratie Kontinuität, Flexibilität und Krisenresi-stenz erwartet wird, findet quasi nur eine semantische Präzisierung des Stabilitätsbegrif-fes statt. Konkrete institutionelle Merkmale für Makrostabilität lassen sich aus diesenBeschreibungen nicht ableiten.Auf der Mesoebene bleibt die Formulierung für Stabilitätskriterien, mit denen sich derGrad der Konsolidierung beurteilen ließe, ebenso abstrakt. Die Kriterien, die sich ange-ben lassen, stellen lediglich Mindeststandards für demokratische Institutionen dar, andenen sich die Architekten der Demokratie in der Umbauphase idealerweise orientierensollten: Stabilität auf der Mesoebene verlangt nach einer klaren Begrenzung von Ent-scheidungs- und Handlungsfreiheiten der Akteure („Agency“) und danach, daß dieHandlungs- und Entscheidungskompetenzen zugeteilt (Allokation von „Agency“) undvoneinander abgegrenzt werden (horizontale institutionelle Differenzierung). Auf derMikroebene muß das politische Interesse in Compliance überführt werden können, sodaß den institutionellen Vorgaben gefolgt wird. Compliance ist die notwendige Voraus-setzung für die Umsetzung der institutionellen Mindeststandards (Wirkungspfeil 7 inAbb. 4), die erfüllt werden müssen, wenn die Institutionalisierung der Demokratie lang-fristig in stabile Strukturen überführt werden soll (Wirkungspfeil 8 in Abb. 4). Erstwenn die Dynamik institutioneller Änderungen nachläßt, bildet sich die Makrostruktureiner stabilen demokratischen Identität, aus der sich mit der Zeit konkrete Meso- undMikromerkmale ableiten lassen (die Wirkungspfeile 7 und 8 würden dann in die entge-gengesetzte Richtung weisen). Langfristig müssen sich demokratische Strukturen eta-bliert haben, die sich dadurch auszeichnen, daß ein hoher Institutionalisierungsgrad derDemokratie besteht, d.h. die Akzeptanz der institutionellen Regelungen selbstverständ-lich und unhinterfragt erfolgt.

Die Konsolidierungsforschung hat sich zum Ziel gesetzt, allgemeine Aussagen zur Sta-bilisierung junger demokratischer Regime zu machen (Schmitter 1995a). Daraus erge-ben sich zwei Herausforderungen: Erstens muß geklärt werden, welche Kriterien anzu-geben sind, um den Grad der Stabilität, d.h. die Eigenschaften einer konsolidierten De-mokratie, zu definieren. Und zweitens muß, um Aussagen über den „richtigen Weg“ zur

7 Auch formale bzw. prozedurale Demokratiekonzepte sind normativ. Ihnen liegen liberale Wertezugrunde.

Page 283: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 278

Demokratie formulieren zu können, nach den Bedingungen gefragt werden, unter denendie neue Demokratie installiert wird.Die Kriterien für eine konsolidierte Demokratie lassen sich zur Zeit noch nicht angeben.Was aber angegeben werden kann, ist eine Liste wünschbarer Eigenschaften, die einePräzisierung der Zielvorstellung oder Mindeststandards junger Demokratien darstellt.Bei der Einrichtung demokratischer Institutionen können dann eben diese auf die Kom-patibilität mit den angestrebten Zielen hin überprüft werden.Die Einrichtung demokratischer Institutionen ist kein rein voluntaristischer Akt. Viel-mehr handelt es sich dabei um einen Aushandlungsprozeß, der mehr oder weniger direktan bestehende Strukturen und Institutionen anschließt. Damit gewinnt die Untersuchungder Genese der institutionellen Arrangements des demokratischen Regimes eine ent-scheidende Bedeutung.Die Forschung zur Genese der institutionellen Arrangements der neuen Demokratienhat bisher entweder Makrovariablen oder Mikrovariablen als ausschließliche, determi-nierende Ursachen für den Umbau definiert:Als Makrovariablen wurden entweder die historischen Voraussetzungen, Erfahrungenund Traditionen identifiziert oder die Art des Regimewechsels mit der Ausgestaltungder neuen Regime in Verbindung gesetzt (vgl. Lipset / Rokkan 1967; Glaeßner 1994;Linz / Stepan 1996). In den Modellen bilden dann zum Beispiel Verfassungsstrukturenund der Verfassungsalltag der kommunistischen Regime solche historischen Vorausset-zungen. Damit werden durchaus relevante Variablen benannt. In den osteuropäischenStaaten wurde nach dem Zusammenbruch tatsächlich an Verfassungstraditionen ange-knüpft. Verfassungen der kommunistischen Regime wurden überarbeitet bzw. demo-kratisiert, und es gab Fälle, in denen demokratische Verfassungen aus der Zeit vor dem2. Weltkrieg als Vorlage genutzt wurden. Die kommunistischen Verfassungen beinhal-teten oftmals demokratische Elemente, die es nur zu stärken und konsequent umzuset-zen galt. Das war möglich, weil die Verfassungen teilweise Errungenschaften des bür-gerlichen Rechtsstaats formal beinhalteten, ihre Staatszielformulierungen auch in de-mokratischen Regimen noch konsensfähig waren, d.h. die Verfassungen weniger dis-kreditiert waren als nach einem Systemwechsel von autoritären oder faschistischen Re-gimen (v. Beyme 1994: 231f). Dennoch reicht der alleinige Verweis auf solche Makro-variablen nicht aus, um Aussagen über die Konsolidierungsschancen für die neue De-mokratie zu treffen. Zentrale Bereiche der Verfassungen, wie das Verhältnis zwischenden Staatsgewalten und das Wahlsystem, wurden neu gestaltet. Diese Innovationen las-sen sich nicht direkt von Makrovariablen ableiten. Auch die Art des Regimewechselskann die konkrete institutionelle Ausgestaltung nicht erklären. Das zeigt der Blick aufdie verhandelten Systemwechsel, aus denen unterschiedliche Regierungs- und Wahlsy-steme hervorgegangen sind.

Page 284: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 279

Wurden in der Konsolidierungsforschung Mikrovariablen thematisiert, so sind die Ak-teurkonstellationen und die Handlungen und Motive der am Umbau beteiligten AkteureUntersuchungsgegenstand (vgl. Przeworski 1991; Offe 1994; Nohlen 1996; Geddes1996; Elster / Offe / Preuss 1998). Das politische Interesse und die zukünftigen Macht-chancen informieren in den entsprechenden Modellen über bestimmte institutionellePräferenzen (das gilt auch für den Import ausländischer „bewährter“ Institutionen<Merkel 1996: 85>), die sich nach spieltheoretischen Gesetzmäßigkeiten durchsetzenoder zumindest die Kompromißlösungen beeinflussen können. Der mikrotheoretischeAnsatz bewährt sich besonders bei der Erklärung der institutionellen Ausgestaltung derMachtverhältnisse im Regierungssystem und bei der Erklärung der Wahl des Reprä-sentationsprinzips des Wahlsystems. Aber auch die Untersuchung der Mikroprozessegenügt nicht für die Einschätzung der Konsolidierungschancen der neuen Demokratien.Die Mikroprozesse erklären die Genese der demokratischen Institutionen nur teilweise.Was fehlt, ist die Klärung der Frage, warum bestimmte Präferenzen eine Chance imGestaltungsprozeß der Institutionen hatten. Über die Chance der Beteiligung bei derGestaltung der Demokratie entschieden Makrovariablen wie die Art des Zusammen-bruchs und die Struktur des vorausgegangenen, kommunistischen Regimes, die in un-terschiedlicher Weise externe oder innerparteiliche Opposition zuließ. Mit diesen Va-riablen werden die Bedingungen für die Berücksichtigung bestimmter Präferenzen undfür die Spielsituationen, in denen diese aufeinandertreffen, gesetzt.Derartige makro- und mikrotheoretische Analysen der Konsolidierung verweisen je-weils nur auf Teilaspekte eines umfassenden Prozesses der Entstehung der osteuropäi-schen Demokratien. Die Konsolidierungsstheorie muß anerkennen, daß sich Prozessedes Regimewandels erst verstehen lassen, wenn mit einem Mehrebenenansatz aufstrukturelle Vorgaben verwiesen wird und parallel mit dem Verweis auf die Akteureauch machtpolitische Interessen berücksichtigt werden:Will man die Chancen für die abschließende Phase der Konsolidierung - der Makrosta-bilität – abschätzen, muß man auf die Mesoebene verweisen, d.h. die Wirkung der In-stitutionen untersuchen. Will man verstehen, wie welche Institutionen in der Phase desUmbaus entstanden sind, dann muß man die Akteure und Konstrukteure der institutio-nellen Designs und ihre Motive thematisieren. Will man verstehen, warum einige Ak-teure ihre Interessen durchsetzen konnten andere hingegen nicht, dann hilft der Blickauf die dem Umbau vorangegangenen Phasen. Hier haben sich das historisch-struktu-relle Erbe und die strukturellen Rahmenbedingungen (wie zum Beispiel das internatio-nale Umfeld) gebildet, die eine bestimmte Art des Systemwechsels ermöglichten. DasHandeln der Akteure kann also nicht losgelöst vom sozial-strukturellen und historischenKontext verstanden werden. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich sagen: „...outcomesvary with perceived strength...“ (Geddes 1996: 19). Die wahrgenommene Stärke erklärtsich aus den Machtstrukturen der alten Regime und aus den Prozessen ihrer Auflösung.

Page 285: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 280

Das Mehrebenenmodell der Konsolidierungsforschung setzt also je nach Fragestellungund in enger Verbindung mit der zu untersuchenden Phase der Konsolidierung Teilper-spektiven, d.h. Primate bestimmter Herangehensweisen, fest. Je nach Phase, auf die sicheine Fragestellung bezieht, kann auf eine bestimmte analytische Ansatzhöhe verwiesenwerden. Prozesse des Umbaus lassen sich verstehen, indem auf die Ausgangsbedingun-gen verwiesen wird. Diese Bedingungen können mit einer Analyse der Makrovariablenangegeben werden. Die Struktur der vorausgegangenen Regime ist verwoben mit insti-tutionellen Eigenschaften und Mängeln auf der Mesoebene und hat bestimmte Hand-lungs- und Präferenzorientierungen der Akteure hervorgebracht. Dieser Rahmen des„Konsolidierungsfensters“ grenzt die Möglichkeiten des Umbaus ein. Der Umbau läßtsich aus einer analytischen Perspektive, die die Prozesse der Mesoebene thematisiert,nachzeichnen. Institutionentheoretische Ansätze können versuchen, über Zusammen-hänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Institutionen aufzuklären, undsomit über die Chancen und Risiken der Entwicklung zur stabilen Demokratie informie-ren. Um allerdings das Zustandekommen des Institutionen-Mix und die Möglichkeitenfür institutionelle Änderungen sowie Stabilisierung der demokratischen Institutionen zuverstehen, muß man sich auf die Mikroebene beziehen. Über die Motive der Architek-ten des neuen institutionellen Designs und die Motivation der Eliten - sich an die insti-tutionellen Regeln zu halten - können akteurstheoretische Ansätze aufklären.Akteurshandeln und Strukturen müssen parallel als Bedingungen für das institutionalengineering und damit auch für die Stabilisierungschancen der jungen Demokratie be-trachtet werden. Die Stabilisierung der jungen Demokratien Osteuropas wird sich letzt-endlich daran ablesen lassen, ob soziale und wirtschaftliche Krisen überstanden werdenkönnen. Eine derartige Leistungsfähigkeit hängt davon ab, wie gut politische Institutio-nen und das Handeln der politischen und sozialen Akteure mit den sozio-ökonomischenBedingungen abgestimmt sind (Merkel 1996: 73) – wie die Makro-, Meso- und Mikro-variablen aufeinander wirken.

Page 286: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 281

3. Schlußfolgerungen für die Theoriebildung

Um die vorliegende Arbeit in die aktuelle Theoriediskussion einzuordnen, muß einBlick auf Strategien der Theorieentwicklung und auf Theorietrends in der Politikwis-senschaft und in der Soziologie gewagt werden. Ansätze, die unterschiedliche theoreti-sche Paradigmen zusammenführen, entsprechen nicht gerade dem mainstream in dersozialwissenschaftlichen Theorielandschaft. Obwohl die Identifikation eines solchenmainstream bzw. gegenwärtiger Theorietrends in der vielgestaltigen, sich kontinuierlichweiterentwickelnden Theoriewelt ein schwieriges Unterfangen ist, fallen zumindestKonjunkturen dominanter Theorien auf. Bestimmte Ansätze erfreuen sich verstärkterRezeption und Anwendung, weil sie als adäquate Herangehensweisen für die aktuellinteressierenden Fragestellungen identifiziert werden und weil sie das leisten, was voneiner sozialwissenschaftlichen Theorie erwartet wird.

Die Erwartungen an eine Theorie sind eng damit verbunden, welcher Gegenstandsbe-reich für eine Wissenschaft identifiziert wird und welcher Anspruch mit der Formulie-rung und Nutzung eines theoretischen Ansatzes oder Modells verbunden ist. Die An-sprüche an Theorie fallen recht unterschiedlich aus: Einige Autoren erwarten, daß Theo-rien in einem bestimmten Anwendungsbereich helfen, Phänomene mittels rekonstruie-render Modellierung zu verstehen. Andere Autoren nutzen Theorie, um den Gegenstandin einem von der Praxis unabhängigen Code zu entfremden und somit Erkenntnisge-winn zu liefern8. Wieder Andere verlangen von einem theoretischen Ansatz Deduktionnach positivistischer Tradition. Die erwartete „Dienstleistung“ der sozialwissenschaftli-chen Theoriebildung besteht respektive in der möglichst realitätsnahen Wiedergabe vonPhänomenen, in einer kritische Reflexion oder darin, Prognosen über zu erwartendeEntwicklungen abzugeben.In der Theoriediskussion innerhalb der Politikwissenschaft gibt es ganz unterschiedlicheEinschätzungen bezüglich der angemessenen Ansprüche an Theorie. Entsprechend istdie aktuelle Theorieentwicklung auch von divergierenden Trends geprägt. Unterschied-liche Ansätze reklamieren für sich die adäquate Bearbeitung bestimmter Gegenstands-bereiche (oder sogar aller Gegenstandsbereiche) und die Einlösung des von ihnen her-vorgehobenen Anspruchs an die theoretische Aussagekraft: Es gibt systemtheoretische(vgl. z.B. Deutsch 1969; Easton 1979; Willke 1983, 1992), institutionentheoretische

8 Willke reklamiert für (System-)Theorie eine eigene Dignität, die entsprechend dem autopoietischenParadigma der Systemtheorie darin gründet, daß theoretische und empirische Kommunikationselbstreferentiell operieren (1995). Insofern richtet sich Theorie primär auf sich selbst und nicht aufempirische Bezüge. Ihre praktische Bedeutung gewinnen Theorien nach Willke durch ihre Wirkung, diedarin besteht, daß sie - wie auch Kunst - nicht Wahrheiten sondern Weltsichten produziert. Für denBeobachter kann sich daraus „... das Aha-Erlebnis einer diskrepanten Erscheinung, die Rückfragen an dieeigene normalisierte Perspektive provoziert“ (Willke 1995: 145), ergeben.

Page 287: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 282

(vgl. z.B. Lepsius 1995a; Mayntz 1995; Nedelmann 1995; Weinert 1995)9 und RationalChoice-Ansätze (vgl. z.B. Scharpf 1985; Pappi 1995; Downs 1968; Olson 1985; Ordes-hook 1995). Normativ orientierte Theorieansätze der Politischen Philosophie, die dieFrage nach dem Sinn politischer Institutionen stellen, werden von Formaler PolitischerTheorie, die als empirisch-analytische Ansatz das theoretische Erkenntnisinteresse inden Vordergrund stellt unterschieden (vgl. Walsh / Bahnisch 2000), und diese wiederumvom „Area Studies“, bei denen historisch-politische und kulturelle Dimensionen dasPolitische prägen (vgl. Johnson 1997)10.Eine Durchsicht führender politikwissenschaftlicher Zeitschriften zeigt allerdings, daßsich Rational Choice-Theorien besonders erfolgreich behaupten können11: In der Ameri-can Political Science Review12, dem American Journal of Political Science, demJournal of Conflict Resolution, der International Review of Political Science und derPolitischen Vierteljahresschrift besteht ein bedeutender Anteil der Beiträge aus Analy-sen, die mit diesem Ansatz arbeiten13.Die Rational Choice-Theorie steht für die theoretischen Modelle, die in der Politikwis-senschaft unter dem Label ökonomische Theorien der Politik oder Neue Politische Öko-nomie (vgl. Olson 1965; 1985) zusammengefaßt werden. Dazu werden auch Ansätzegezählt, die als Public oder Social Choice Theory (vgl. Buchanan / Tullock 1962;Downs 1968; Hirschman 1972; Riker 1992) bezeichnet werden und auch Ansätze, diespieltheoretische Modelle als analytisches Instrumentarium anwenden (vgl. Riker 1967;Scharpf 1988a; 1997)14.Den zahlreichen, nicht nur politikwissenschaftlichen, sondern auch soziologischen Ra-tional Choice-Ansätzen ist gemeinsam, daß sie von dem Prinzip des methodologischen

9 Institutionentheoretische Ansätze in der Politikwissenschaft lassen sich allerdings oftmals einemRational Choice-Ansatz unterordnen. Bespielweise dann, wenn wie im Filtermodell von Czada undWindhoff-Héritier (1991) Institutionen lediglich als Restriktionen bzw. „Handlungskorridore“ rationalwählender Akteure eingeführt werden.10 Nicht genannt sind in dieser Typologie die dialektisch-kritischen Ansätze, weil sich deren Anhängerüberwiegend als Soziologen verstanden (v. Beyme 1992: 43).11 Diese Einschätzung ist weit verbreitet, so daß man bezüglich des dominanten Trends in derpolitikwissenschaftlichen Theoriebildung und -anwendung von einem Konsens derWissenschaftsgemeinschaft ausgehen kann (vgl. beispielsweise Wiesenthal 1987; Green / Shapiro 1994;Riker 1992).12 Für eine Übersicht über den wachsenden prozentualen Anteil der Rational Choice-Artikel in derAmerican Political Science Review vgl. Green und Shapiro (1994: 3).13 Dieser Hinweis mag als formales Kriterium für eine Trendaussage nicht genügen. Bei Lalman,Oppenheimer und Swistak (1993: 77f) finden sich zwei weitere Hinweise: Erstens gibt es eine Anzahlvon bedeutenden Zeitschriften, die speziell der Weiterentwicklung und Anwendung der Rational Choice-Theorien gewidmet sind: Public Choice, Choice and Welfare, Rationality and Society, The Journal ofTheoretical Politics. Und zweites finden Rational Choice-Theorien nicht nur eine weite Verbreitung inder Politikwissenschaft. Ihre theoretischen Modelle und Erkenntnisse erfreuen sich auch einer hohenAnerkennung in der Wissenschafts-Community, was sich besonders deutlich an den Nobelpreisen ablesenläßt, die Paul Samuelson, Kenneth Arrow, Ronald Coase, Gary Becker und Herbert Simon für ihreBeiträge verliehen bekommen haben.14 Einen kritischen Überblick über die verschiedenen aktuellen Rational Choice-Ansätze in derPolitikwissenschaft und ihrer Untersuchungsgegenstände liefern Green und Shapiro (1994), Friedman(1995) und Wiesenthal (1987).

Page 288: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 283

Individualismus ausgehen, also soziale Phänomene auf individuelles Handeln und in-tentionale Entscheidungen zurückführen und als Handlungsmaxime der Akteure Ratio-nalität (in den verschiedensten Ausprägungen) unterstellen. Die Parameter der Theoriebilden einerseits die Randbedingungen (Constraints) und andererseits die Präferenzenund Ziele der Akteure. Rational Choice-Ansätze zeichnen sich durch einen klaresStatement bezüglich des theoretischen Anspruchs ihrer Modelle aus. Sie definieren sichals „erklärend-quantifizierende Akteursansätze“ (Pappi 1995: 236), die soziale Phäno-mene nicht nur erklären wollen - wie etwa auch historisch-typologische Ansätze -, son-dern den Anspruch erheben, aus ihren Modellen deduktiv Prognosen über zu erwartendeEntwicklungen abzuleiten (vgl. Riker 1992; v. Beyme 1995; Esser 1993: 29f). Will eineSozialwissenschaft diesen Anspruch einlösen, muß einerseits der theoretische Kern derErklärungsmodelle eindeutig und einfach formuliert werden und andererseits der Ge-genstandsbereich klar abgegrenzt sein.Die Formulierung des theoretischen Kerns der Rational Choice-Theorie, die Handlung-stheorie, hat zwar bedeutende Fortschritte gemacht, ist aber kontrovers. Konnten Modi-fikationen der theoretischen Prämissen auch eine Realitätsannäherung des Akteurmo-dells bewirken15, so hat sich dennoch eine Kontroverse bezüglich der Frage entzündet,ob die Präferenzen der Akteure, die für ihre Entscheidungen und Handlungen die aus-schlaggebenden Parameter bilden, theoretisch abgeleitet werden können oder empirischerhoben werden müssen16. Die Vertreter der ersteren Position plädieren dafür, die situa-tionsspezifischen Präferenzen der Akteure theoriereich über Brückenannahmen vonaxiomatisch gesetzten Hauptzielen - „physical wellbeing“ und „social approval“ - ab-zuleiten (Lindenberg 1996, 1991; Esser 1993). Als situationsspezifische Präferenzenkönnen dann jeweils die Motive unterstellt werden, die diese Hauptziele über eine hier-archische Ordnung von Nebenzielen produzieren, also in der jeweiligen Situation einenmit Blick auf die beiden letzten Werte instrumentellen Nutzen haben. Die Brückenan-nahmen sollen nach dieser Einschätzung die Kluft zwischen einer relativ leeren Nut-zentheorie und der Realität schließen und somit die Voraussetzung für die Erfüllung desdeduktiven Anspruchs bilden.Diese orthodoxe Variante der Rational Choice-Theorie wird in der Poltikwissenschaftund in der Soziologie kontrovers diskutiert. Die theoretisch abgeleitete Zielehierarchieder Präferenzen wird abgelehnt (vgl. Opp / Friedrichs 1996; Kelle / Lüdemann 1995;Pappi 1995), weil mit dem Modell klassische politikwissenschaftliche Problemstellun-gen wie das Wählerparadox, das Dilemma des kollektiven Handelns, das Abstim-mungsparadox (vgl. Green / Shapiro 1994) oder auch konkretere Probleme wie die Ko-alitionsbildung (vgl. Pappi 1995: 238) nicht befriedigend erklärt werden können. Die

15 Vgl. weiter unten zur Strategie „Modification“.16 Im amerikanischen Kontext wird eine ähnliche Kontroverse entlang Gegenüberstellung von„Preconception vs. Observation“ (vgl. Johnson 1997) oder einer „culturist view“ versus der RationalChoice-Perspektive (Shapiro 1998) geführt.

Page 289: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 284

Realität „produziert“ in bezug auf die theoretisch abgeleiteten Vorhersagen Anomalien.Alternativ wird deshalb für eine empirische Ermittlung der Präferenzen plädiert. Hierbesteht aber die Gefahr, daß der Prognoseanspruch signifikant eingeschränkt wird, weildie situationsspezifisch definierten Ziele und Präferenzen jeweils neu zu erheben sind.In der Politikwissenschaft wird einer solchen Befürchtung mit dem Verweis auf denGegenstandsbereich begegnet. Dieser wird nämlich auf einen Bereich eingeschränkt, indem, anders als beim Gegenstandsbereich der Soziologie, die Präferenzen und Zieleöffentlich diskutiert werden (Pappi 1995: 249), d.h. die Parameter für die theoretischeModellierung gut zugänglich sind. Nur auf der Basis dieser klar umrissenen Einsatzfä-higkeit kann die Rational Choice-Theorie ihren „Universalitätsanspruch“ aufrecht er-halten (v. Beyme 1995: 24) und in der Politikwissenschaft ihren Anspruch an Eigen-ständigkeit (gegenüber der Soziologie bzw. soziologischer Theorien) behaupten (vgl.Willke 1995: 134). Eingesetzt wird die Rational Choice-Theorie dann bei der Untersu-chung von Wählerverhalten, Parteienkonkurrenz, Interessengruppen, Stabilität von Ko-alitionen, Verhandlungssituationen und Konstellationen der internationalen Politik (vgl.Lalman, Oppenheimer und Swistak 1993; Green / Shapiro 1994).„Being attractive does not necessarily imply that a theory is acceptable, valid, or true inall circumstances.“ (Boudon, 1998: 817). Im Gegenteil: Eine Ausweitung des Gegen-standes induziert die Öffnung der Ansätze für andere Paradigmen. Das läßt sich am Bei-spiel der Steuerungsproblematik zeigen: Mayntz (1995) sieht politische Handlungen ineiner derart vielgestalten und komplexen Wirklichkeit eingewoben, daß von ihr keineSteuerung im Sinne einer direktiven, lenkenden Einwirkung erwartet werden kann.Zwar sind Akteure nicht überflüssig und haben in Netzwerken und Verhandlungssyste-men durchaus Einwirkungsmöglichkeiten. Ihr Einfluß beschränkt sich aber auf ein „In-terdependenzmanagement“ mit dem zwischen politischen und anderen gesellschaftli-chen Teilprozessen vermittelt wird. Gesellschaftliche Selbststeuerung, spontane Struk-turbildung und politische Steuerung wirken zusammen. Gesellschaftliche Selbstrege-lungsmechanismen bilden aber nicht den Gegenstand von Akteursmodellen, sondernverweisen auf meso- oder sogar makrotheoretische Modelle. Willke (1995: 144) siehthier sogar eine Annäherung an die autopoietischer Systemtheorie: Selbstregelungspro-zesse führen in der Forschung, die sich mit Steuerungsproblematik beschäftigt, zumAustausch zwischen Akteurstheorien und Systemtheorien.Der unterschiedliche Umgang mit theoretischen Defiziten und bei der Bestimmung desGegenstandes zeigt, daß unterschiedliche Schritte in der Theorieentwicklung möglichsind: Wird ein theoretischer Ansatz dadurch herausgefordert, daß zentrale Fragestellun-gen unbeantwortet bleiben, läßt sich zwischen drei Strategien wählen: 1.„Replacement“,2.„Modification“ und 3.„Supplementation“ (vgl. Shapiro 1998): Im ersten Fall wird dieTheorie von einer anderen Theorie ersetzt. Das birgt die Gefahr, daß eine reduktionisti-sche Sichtweise von einer anderen reduktionistischen Sichtweise abgelöst wird. Ersetzt

Page 290: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 285

man einfach ein Paradigma durch ein anderes, ebensowenig universell gültiges Para-digma, dann können neue „blinde Flecken“ entstehen. Mit der zweiten Strategie werdendie Anomalien der Theorie durch Weiterentwicklungen der Modelle zu überwindengesucht. Folgende Beiträge waren hier bei der Entwicklung der Rational Choice-Theo-rie einflußreich: Rikers und Ordeshooks (1968) Beitrag zum „civic virtue“, der zur bes-seren Erklärung von Wählerverhalten beitrug. Schellings „theory of focal points“(1963), die ihre Bedeutung bei der Modellierung von Verhandlungsprozessen behauptenkonnte. Kahnemans und Tveskys (1979) bzw. Tvesky und Kahnemans (1986) Beiträgezur Erklärung von Entscheidungen unter Risiko17, die zu einer „prospect theory“ geführthaben. Und Simons Beitrag zur Formulierung einer Theorie der „bounded rationality“(1954, 1990) und damit zur Entwicklung der Werterwartungstheorie oder auch derTheorie des subjektiv erwarteten Nutzens (SEU-Theorie - vgl. Esser 1996). Solche Mo-difikationen werden von den theoriereichen, orthodoxeren Ansätzen zu Weiterentwick-lung ihrer Modelle genutzt. Mit ihnen können die Anomalien zum Teil überwundenwerden, weil durch sie auch nicht-rationale (normative) oder sogar irrationale (bspw.„risk-aversion“) Ziele und Präferenzen in die Theorie integriert werden. Dafür muß derRationalitätsbegriff aber auch entsprechend „aufgeweicht“ werden. Ein derartiger Kom-promiß wird natürlich auch eingegangen, wenn die Ziele und Präferenzen von Akteurenempirisch erfaßt werden. Bei einem solchen Vorgehen wird erst gar nicht danach ge-fragt, inwiefern die erhobenen Ziele rational sind - die Vorstellung des rationalen Ak-teurs wird dann als „notwendige Lebenslüge dieser Wissenschaft“ (v. Beyme 1995: 20)akzeptiert und nicht etwa mit dem Motiv der realitätsnahen Wiedergabe von Phänome-nen eingeführt.Die Aufweichung der theoretischen Konzepte geht zu Lasten der Erklärungskraft. Greenund Shapiro (1994) schlagen deshalb alternativ vor, ein klares Rationalitätskonzept bei-zubehalten, die Bedingungen, unter denen es sinnvoll Anwendung findet, ausfindig zumachen, und die Theorie in „amalgams of strategic and cultural explanations“ (Shapiro1998: 41) einzufügen. Während „Modification“ noch eine Strategie zur Behauptung desAutonomieanspruches der Theorie sein kann, entspricht das von Green und Shapirovorgeschlagene Vorgehen der dritten Strategie - „Supplementation“ - einem integrativenKonzept der Zusammenführung verschiedener theoretischer Ansätze. Mit dem Verweisauf die Bedeutung kultureller Variablen, historischer Randbedingungen, soziologischerVariablen und auf Faming-Effekte sowie andere psychologische Variablen machen sichdie beiden Autoren für eine Ergänzung der Rational Choice-Theorien durch anderetheoretische Ansätze stark.In der Community der Politikwissenschaftler stößt ein solches Integrationsbemühen aufheftigen Widerstand (vgl. Lohmann 1995; Murphy 1995). Darin bestätigt sich ein Trend

17 Die Autoren zeigen, daß die Aussicht auf Verluste handlungsmotivierender wirkt, als die Aussicht aufGewinne („risk aversion“).

Page 291: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 286

zum methodologischen Dogmatismus nach dem Muster „eine Disziplin, eine Methode,eine bevorzugte Analyseeinheit“ (v. Beyme 1995: 20), dem das Streben, die RationalChoice-Theorie als den vorherrschenden und angemessenen wissenschaftlichen Ansatzin der Poltikwissenschaft als mainstream zu behaupten, zuarbeitet18. Es zeigt sich zwar,daß es auch an anderer Stelle in den Politikwissenschaften Integrationsbemühungengibt, wie im Bereich der Internationalen Politik (vgl. Müller 1994; Zartmann 1997;Wendt 1998)19, der Transformationsforschung (vgl. v. Beyme 1994, 1994a, 1997; Mer-kel 1994, 1995; Eisen / Wollmann 1996; Elster / Offe / Preuss 1998; Kopecky / Mudde2000) und der neueren Forschung zur politischen Steuerung (vgl. Mayntz 1991; Mayntz/ Scharpf 1995, 1995a20). Dieser Trend scheint aber entweder vergleichsweise schwachauszufallen oder auf eine eher akademische Diskussion beschränkt zu bleiben und we-niger forschungsrelevante Verbreitung zu finden.

Anders als in der Politikwissenschaft verhält es sich in der Soziologie mit den Theo-rietrends. Das liegt nicht zuletzt daran, daß sie sich als die allgmeinste aller Sozialwis-senschaften versteht, d.h. ihr Gegenstand alles umfaßt, was Sozialität ausmacht (vgl.Schimank 1999, 2000). Die Soziologie kann (will sie sich nicht nur über ihre zahlrei-chen Teildisziplinen und die entsprechenden speziellen Soziologien, sondern auch alsumfassende Gesellschaftswissenschaft definieren) ihren Gegenstand nicht ohne weiteresbegrenzen. Daher fällt es auch schwerer, für sie einen einfachen, sparsamen theoreti-schen Kern zu formulieren – zum Beispiel kann Handeln noch viel weniger als beim

18 Auch mit der Einschränkung des Anwendungsbereiches der Politikwissenschaft wird keineswegs dieIntegration verschiedener theoretischer Konzepte gefördert. Vielmehr dient diese Strategie oftmals dazuden exklusiven Erklärungsanspruch von Rational Choice-Theorien in der Politikwissenschaft zuunterstreichen (vgl. exemplarisch: Lalman / Oppenheimer / Swistak 1993).19 Für diesen Hinweis danke ich Helmut Nolte. Einen Überblick über den „State of the Discipline“ in derpolitikwissenschaftlichen Krisen-, Konflikt-, und Kriegsforschung gibt Brecher (1996).20 Mayntz und Scharpf versuchen mit ihrem Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus eineIntegration der institutionalistischen und handlungstheoretischen Perspektive, mit der die Dichotomie vonAkteur und Struktur überwunden werden soll (1995a: 45; Scharpf 1997). Diese Integration erfolgt überdas Handlungsmodell, das sich a) durch eine Verbindung unterschiedlicher Handlungsorientierung (bspw.normativer und rational-strategischer), b) durch eine Theorie kollektiver und korporatistischer Akteureund c) durch die Prämisse, daß die jeweilige Handlungsorientierung aus der Handlungssituation mit ihremspezifischen „Betroffenheitsprofil“ folgt, auszeichnet (1995a: 52f). Die Struktur gesellschaftlicherTeilsysteme wird von den Akteurskonstellationen, die von den verschiedenen, institutionalisierten Modider Handlungskoordination (Verhandlung, Abstimmung oder Hierarchie) bestimmt sind, geprägt. Ausdieser Betrachtung fallen allerdings die Bereiche heraus, in denen eine eigendynamische Entwicklungdurch fehlende Koordination (Mayntz / Scharpf 1995; Mayntz 1991) stattfindet. Mayntz und Scharpfargumentieren, daß diese Entwicklungslogik für die Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahenSektoren, mit denen sich die Politikwissenschaft befaßt, nicht gilt (1995). Sie wenden sich gegen den„Steuerungspessimismus“, wie er aus der Betrachtungsweise der autopoietischen Systemtheorie, diegerade die eigendynamische Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme thematisiert, folge: „Auchfunktional differenzierte und transnational verflochtene moderne Gesellschaften sind in der Lage, ihreigenes Geschick im guten wie im schlechten absichtsvoll zu beeinflussen“ (1995: 33). An dieser Stellefindet in ihrem Modell die Integration unterschiedlicher theoretischer Ansätze eine Grenze. Evolutionäreoder dem autopoietischen Operationsmodus folgende Entwicklungsprozesse bleiben - nicht zuletzt mitdem Bestreben nach Parsimony (theoretischer Sparsamkeit) und mit einem normativen Bekenntnis zumSteuerungsoptimismus (vgl. Scharpf 1989) - unberücksichtigt.

Page 292: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 287

politikwissenschaftlichen Interessenfeld auf eine singuläre „soziale Logik“ (vgl. Aretz1997) reduziert werden.In der Soziologie blickt man außerdem auf eine lange Tradition unterschiedlicher Her-angehensweisen zurück, die sich bis heute in der Theorie- und Methodenentwicklungfortgesetzt hat. Als globale Einschätzung wird ihr daher heute attestiert, eine „multipa-radigmatische Wissenschaft“ (vgl. Ritzer 1975; Schimank 1999) zu sein. Die Paradig-menvielfalt läßt sich an den zahlreichen Dichotomien ablesen, die sich in der soziologi-schen bzw. sozialwissenschaftlichen Forschung herausgebildet haben (vgl. Nolte 1999;Wallerstein 1997): makrotheoretische bzw. system- und strukturtheoretische Ansätzestehen mikrotheoretischen bzw. handlungszentrierten Ansätzen gegenüber, Determi-nismus wird gegen Voluntarismus ins Feld geführt, erklärende grenzt sich von verste-hender Soziologie ab, und rationalistische werden von normativistischen Theorien un-terschieden, um hier nur die augenfälligsten zu nennen21.Da Theorien kontinuierlich weiterentwickelt werden bzw. neue theoretische Konzepteauftauchen, lassen sich die Dichotomien nur schwer in eine Theoriesystematik einfügen.Ritzer hat in den 70er Jahren (1975) versucht, gegenwärtige Sozialtheorien zu systema-tisieren. Seine „Trias der Paradigmen“ gilt heute schon nicht mehr (Reckwitz 1997: 31):Durkheims Konzept der „social facts“ wurde weitgehend vom Strukturfunktionalismusabgelöst, der Einfluß der verhaltenstheoretischen, behavioristischen Psychologie wurdevom handlungstheoretischen Paradigma der Rational Choice-Theorien abgelöst, und daskulturwissenschaftliche Paradigma der „social definition“ erfuhr eine „interpretativeWende“ in den kulturtheoretischen und den konstruktivistischen Denkansätzen.Wegen der Weite des Gegenstandes der Soziologie und der langen Geschichte ihrerParadigmenvielfalt - von der auch die Vielfalt soziologischer Fragestellungen22 undPerspektiven herrührt - ist eine Trendangabe bzw. die Identifikation eines mainstreamin der Theorieentwicklung und -anwendung hier schwieriger als in der Politikwissen-schaft. Selbst wenn der Einfluß des reduktionistisch-erklärenden Rational Choice-An-satzes auch in der Soziologie zunimmt, sind kritische bzw. dialektische Standpunkte,die verstehende Soziologie und der Strukturfunktionalismus sowie die Systemtheoriekeinesfalls weniger präsent oder weniger bedeutend (vgl. Hitzler 1997). Als Trend mußdaher nicht die Dominanz eines Paradigmas angenommen werden, sondern eine gegen-sätzliche Bewegung, die einerseits im Auseinanderdriften der Sozialwissenschaftendurch die Zersplitterung in Teildisziplinen und andererseits aber auch in einer Annähe-rung unterschiedlicher, vermeintlich gegensätzlicher Paradigmen zu Ausdruck kommt(vgl. DGS Sektion Soziologische Theorien 1998: 87f). 21 Im US-amerikanischen Kontext werden die verschiedenen Theorieansätze der Soziologie auch mit derDichotomie „nonpositivist“ und „positivist“ klassifiziert (vgl. Denzin 1997).22 Luhmann charakterisiert die Spannbreite der soziologischen Fragestellungen mit den zwei Fragen „Wasist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ (1993) und charakterisiert damit die seiner Ansicht nachzentrale Dichotomie soziologischer Herangehensweisen - der auf der einen Seite positivistischen und aufder anderen Seite kritischen Ansätze.

Page 293: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 288

Die Zersplitterung in Teildisziplinen folgt aus der Spezialisierung von Interessengebie-ten, wie sie in den verschiedenen „Bindestrichsoziologien“ (so in politische Soziologie,Rechtssoziologie, Religionssoziologie, Sportsoziologie, Sprachsoziologie und vielemehr) zum Ausdruck kommt. Wissensgebiete behaupten sich aber nicht nur über ihrenGegenstand, sondern sie etablieren für sich auch bestimmte methodische und theoreti-sche Herangehensweisen. Spezielle Soziologien zeichnen sich oftmals durch ihre An-wendungsorientierung aus und gelten deshalb sogar als die hervorgehobenen Vermittlerzwischen Theorie und Empirie (Hitzler 1997: 7). Mit der Abgrenzung eigenständigerGegenstandsbereiche können aber wichtige Wechselwirkungen aus dem Blickfeld ge-raten, schließlich werden gesellschaftliche (Problem-)Bereiche bei der Ausdifferenzie-rung in Teilbereiche analytisch getrennt. Die Wechselwirkungen werden dann relevant,wenn komplexe gesellschaftliche Phänomene wie die Transformation Osteuropas unter-sucht werden. Für die Theorie rücken derartig umfassende Fragestellungen das Zusam-menwirken kultureller, ökonomischer und politischer Dimensionen in den Vordergrund,womit das Verhältnis unterschiedlicher, oft teildisziplin-spezifischer Paradigmen ent-scheidende Bedeutung gewinnt.Die Annäherung unterschiedlicher Paradigmen findet in der Soziologie dort statt, wotheoretische Weiterentwicklungen („Modification“) durch Verknüpfungen von Ansät-zen erfolgen. Hier kann man beispielsweise die Verbindung von kognitiven mit Ratio-nal Choice-Ansätzen (vgl. exemplarisch Boudon <1998>) nennen oder die Auflösungdes Mikro-Makro- Dualismus (als Beispiele lassen sich hier Colemans <1990> bzw.Essers <1993> Makro-Mikro-Makro-Modell oder Giddens <1988> Strukturierungstheo-rie oder auch Habermas <1992> Verbindung des Lebensweltkonzepts mit dem System-konzept anführen)23. Annäherungen finden aber nicht nur über Modifikationen derTheorien statt, sondern lassen sich auch an inhaltlichen Vergleichsgesichtspunkten auf-zeigen: Stichweh (1995) etwa weist Überschneidungen und parallele Problemlagen fürdie Systemtheorie und Rational Choice-Theorie nach. Reckwitz (1997) zeigt, daß trotzgravierender Unterschiede die Kulturtheorie Bourdieus bzw. Giddens und die konstruk-tivistische Systemtheorie Luhmanns Gemeinsamkeiten aufzeigen. Und Münch (1994)weist nach, daß sich Ökonomie und Moral durchdringen; mit dieser Annäherung ent-schärft sich die Dichotomie von rationalistischer und normativer Theorieorientierungen.Aus solchen Annäherungen kann aber keinesfalls eine Integrationstendenz bezüglichverschiedener theoretischer Perspektiven abgeleitet werden: „Wechselseitige Kritik undder Aufweis paralleler Problemlagen beschleunigen [zwar] die jeweilige Theoriedyna-mik, aber die Diversität der Theorien wird dadurch um nichts verringert.“ (Stichweh1995: 404). Explizite Annäherungen stoßen nicht nur in der Politikwissenschaft, son-dern auch in der Soziologie auf heftigen Widerstand, weil oftmals der Autonomiean- 23 Die hier genannten Beispiele stehen für Annäherung handlungsorientierter an systemorientierteAnsätze. Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion dieser Tendenz, aber auch der Annäherungvon systemorientierter an handlungsorientierte Ansätze vgl. Nolte (1999).

Page 294: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 289

spruch der jeweiligen Theorie aufrechterhalten werden soll. Ein solcher Anspruch findtsich besonders stark bei den Rational Choice-Ansätzen. Sie versuchen, das ökonomi-sche Modell als Grundlage sozialwissenschaftlicher Theoriebildung zu etablieren. Auto-ren wie Coleman (1990), Esser (1993), Lindenberg (1985) und Kiser und Hechter(1998) beanspruchen mit ihrem Modellen nicht nur einen eingeschränkten Bereich, fürden sich plausibel das Primat einer rationalen Handlungslogik annehmen läßt, zu erklä-ren, sondern darüber hinaus das gesamte Feld sozialwissenschaftlicher Fragestellungenabzudecken „...by offering superior models of causal relations and by suggesting plau-sible causal mechanisms.“ (Kiser / Hechter 1998: 786)24.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich sowohl in der Politikwissen-schaft als auch in der Soziologie ein Integrationstrend anhand der Modifikationen undimpliziten Annäherungen verschiedener Paradigmen identifizieren läßt. Damit ist aberkeineswegs die Koexistenz unterschiedlicher Paradigmen in der sozialwissenschaftli-chen Community akzeptiert. Mit den Änderungen und impliziten Annäherungen wirdoftmals sogar der theoretische Autonomieanspruch eines Paradigmas zu behaupten ver-sucht, indem Anomalien in der Theorieentwicklung so umdefiniert werden, daß sie un-ter das bevorzugte Paradigma zusammengefaßt werden können (vgl. beispielsweise Es-sers Versuch, Irrationalität, Emotionalität, Normorientierung und die Bindung an mora-lische Verpflichtungen als eine Option „unreflektierten Handelns“ neben der Optionrationalen, „reflektierten Handelns“ der Wahl rational Handelnder anheimzustellen undauf diese Weise Anomalien in den Modus der Rational Choice-Theorien zu integrieren<1996>). Parallel zum Trend der impliziten Annäherungen läßt sich deshalb ein Trendzum „Theoriekonflikt“ beobachten.Einen anderen Trend kann man bei der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung fest-stellen: Themen wie Transformation und Steuerung können nicht exklusiv unter denZuständigkeitsbereich einer sozialwissenschaftlichen Teildisziplin subsumiert werden25.Die „gesellschaftstheoretische Kontextuierung“ (Willke 1995: 135) derart komplexerProzesse, die sich auf und zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenenabspielen, verlangt eher nach einer multiparadigmatischen Forschung. Der Gegen-standsbereich gewinnt Komplexität aus den Wechselwirkungen, die angrenzende gesell-schaftliche Teilbereiche betreffen. Solche Untersuchungen verlangen per Definition

24 Die Voraussetzung für einen solchen Anspruch wird in zwei Schritten gesehen: 1. werdenverschiedenste Akeursorientierungen bzw. -motive und Handlungslogiken unter ein Modellzusammengefaßt, mit dem sich dann auch angeben läßt, unter welcher Bedingung eine bestimmteOrientierung vorherrscht und 2. werden andere Theorien und Paradigmen auf das Rational Choice-Paradigma zurückgeführt (vgl. Esser 1993: 321f; Kiser / Hechter 1998: 807f).25 Merkel (1995) spricht von „sozialwissenschaftlicher Transformationsforschung“ und auch die Arbeitenvon Mayntz und Scharpf (1995a, 1995b) und Schimank (1995) am MPI für Gesellschaftsforschungversteht sich als sozialwissenschaftliche Forschung – v. Beyme bemerkt dazu: „...Renate Mayntz undviele andere hätten die Frage, ob sie Politologen oder Soziologen seien, nicht einmal verstanden.“ (1995:20).

Page 295: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 290

nach einer interdisziplinären Methode, danach, einen „shift our viewing angles“(Wallerstein 1997: 1255) zu vollziehen, und somit nach einer Zusammenführung unter-schiedlicher Paradigmen. Sozialwissenschaftliche Theoriebildung tendiert deshalb eherzur Integration bzw. ist auf sie angewiesen, als politikwissenschaftliche Forschung oderdie in spezielle Soziologien differenzierte soziologische Forschung.

Ansätze, die ihren Geltungsbereich einschränken, können bei der Untersuchung umfas-sender Phänomene keine Autonomie beanspruchen. Die Untersuchung der Transforma-tion Osteuropas hat gezeigt, wie fruchtbar die Strategie des „Supplementation“ seinkann; diese Form der Integration kennzeichnet eine Position, die der Tendenz, Exklusi-vität für einzelne Paradigmen in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zu bean-spruchen, entgegen gesetzt werden kann. Nicht nur der Ausbau – „Modification“ – ein-zelner Paradigmen muß vorangetrieben werden. Verschiedene Perspektiven lassen sichdarüber hinaus fruchtbar zur Reflexion komplexer Phänomene zusammenführen. Aberauch herausgegriffene Teilphänomene wie die öffentliche Mobilisierung, kommen mitreduktionistischen Modellen nur schlecht aus. In dem Maße, wie das Teilphänomen aufandere Phänomene (z.B. die aufbrechende Elitenkohärenz) und die entsprechendenWechselwirkungen verweist, lassen sich andere Paradigmen bzw. theoretische Perspek-tiven kaum ausschließen.Für ein realistisches Projekt der Integration bzw. Zusammenführung verschiedeneranalytischer Perspektiven zur Analyse komplexer gesellschaftlicher Phänomene müssendie Grenzen bzw. Defizite der theoretischen Perspektiven bei der Untersuchung offen-gelegt werden. Positiv formuliert heißt das: Die Schnittstellen, an denen die verschiede-nen Paradigmen ineinandergreifen können, sind anzugeben. Und wie die Diskussion zuden Theorietrends in den Sozialwissenschaften zeigt, hat jedes Paradigma Auswirkun-gen auf den Erkenntnisanspruch. Leistungen und Einschränkungen eines „integrativenParadigmas“, das verschiedene analytische Ansatzhöhen zusammenführt, müssen auf-gezeigt werden.

Die zwei zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen, daß sich diese Ansprü-che mit einer Mehrebenenanalyse einlösen lassen. Das erste Ergebnis bezieht sich aufdie analytische Ansatzhöhe und das zweite betrifft den Erkenntnisanspruch der theoreti-schen Modelle:1. Die untersuchungsleitende These der Arbeit, daß für die Modellierung komplexersozialer Phänomene eine theoretischen Öffnung Bedingung ist, hat sich bestätigt. Diebefriedigende Erklärung der Transformation und eine entwicklungsbegleitende For-schung werden erst mit einem Mehrebenenansatz, der die verschiedenen theoretischenAnsatzhöhen integriert, möglich.

Page 296: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 291

Die Analysen einzelner Transformationsabschnitte können, wenn sie über die reine Zu-standsbeschreibung hinaus Zusammenhänge und Prozesse untersuchen wollen, nichtohne Verweise auf die übergeordnete bzw. untergeordnete analytische Ebene auskom-men. Weder die Untersuchungen zu den Ursachen des Zusammenbruchs noch die Un-tersuchungen zur Konsolidierung können Prozesse allein mit der Beschreibung vonMakro- oder Mikrovariablen ausreichend analysieren. Das Akteurshandeln folgt wederallein normativen Vorgaben, so daß es sich von Makrovariablen ableiten ließe, nocherfolgt es in einem normfreien Raum, so daß strukturelle Variablen allein als Anteze-densbedingungen bzw. „externe“ Constraints rationaler Orientierung wirken. Akteuretreffen Entscheidungen und haben Gestaltungsspielräume, so daß der alleinige Verweisauf systemische Prozesse und strukturelle Variablen die Variationen des sozialen Ver-änderungsprozesses nicht ausreichend erfassen kann. Ebensowenig lassen sich die Ent-scheidungen der Akteure reduktionistisch26 modellieren. Sie folgen nicht nur einem vonEigennutz bestimmten Kalkül. Die Ansätze zur Interaktion der politischen Akteure, zuröffentlichen Mobilisierung und vor allem der Modellentwurf zu den Verhandlungspro-zessen an den Runden Tischen zeigen dies. Multimotivationale Modelle bewähren sich,weil sie mit der Mehrebenenanalyse kompatibel sind. Normative Orientierungen ver-weisen auf Strukturen sowie Institutionen, und sie können als „interne“ Constraints aufdie Motive und Handlungsorientierung wirken, weil Werte und Normen über Sozialisa-tionsprozesse internalisiert werden.Diese Aussagen bestätigen sich sowohl bei den aufgearbeiteten Beiträgen zum Zusam-menbruch als auch bei der Untersuchung der Problemfelder einer politischen Konsoli-dierung. Die makrotheoretischen Untersuchungen eigenen sich besonders für die Be-schreibung der Voraussetzungen der Änderungsprozesse (Transformations- und Konso-lidierungsfenster). Wie systemische und strukturelle Spannungen bzw. Defizite aufge-löst und überwunden werden, zeigen uns die mikrotheoretischen Beiträge. Die Verbin-dung von beiden Ebenen kann auf der Mesoebene geleistet werden. Auf ihr wird deut-lich, auf welche Weise Makromerkmale den Spielraum von Akteuren begrenzen undunter welchen Bedingungen sich Mikroprozesse in strukturelle und systemische Eigen-schaften umsetzen.Die gesamte Transformation gestaltet sich somit als ein Prozeß, der analytisch mit Be-schreibungen auf der Makroebene startet und auf der Mesoebene eine Präzisierung er-fährt, an die die Prozesse der Mikroebene anknüpfen. Die Prozesse der Mikroebene än-dern kurz- und mittelfristig die Ausprägungen der Mesoebene. Dies ist ein Prozeß, derlangfristig strukturierende Wirkungen entfaltet und somit zu neuen Makroeigenschaften

26 Sowohl Makrotheorien, als auch Mikrotheorien können in Reduktionismus verfallen (vergl. hierzuGiddens 1988: 78 und ausführlich Elster 1991: 116f): Makrotheorien, wenn sie die Motive und damit dasHandeln der Akteure über Internalisierung und normative Prägung ausschließlich auf strukturelleMerkmale zurückführen. Mikrotheorien, wenn Strukturen als beliebige, intendierte Schöpfung vonAkteure modelliert werden.

Page 297: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 292

führt. Dieses Modell einer sozialwissenschaftlichen Analyse entspricht dem Makro-Mi-kro-Makro-Modell von Coleman (1991: 8f) bzw. Esser (1993: 98f), nach dem sozialePhänomene auf der Makroebene das Ergebnis eines dreistufigen, zirkulären Prozessesbilden27: Auf der Makroebene wird die soziale Situation rekonstruiert. Damit wird dieLogik für die Bedingungen und Alternativen des Handelns und Entscheidens der Ak-teure deutlich. Auf der Mikroebene wird mit einer Handlungstheorie die Logik der Se-lektion modelliert, so daß das Entscheidungshandeln der Akteure nachvollzogen werdenkann. Und auf dem Wege zurück von der Mikro- zur Makroebene werden die Effektedes Handeln in einer Logik der Aggregation zu einem „kollektiven Explanandum“ zu-sammengefügt. Mit der Mesoebene wird ein Zwischenschritt eingefügt, mit dem dieLogik der Situation und die Logik der Aggregation eine Präzisierung erfahren – dieWirkung von strukturellen Eigenschaften (und hier ganz besonders die „internen Con-straints“) auf Akteurshandeln werden anhand institutioneller Eigenschaften deutlich,und ebenso wird deutlich, wie Akteurshandeln über Institutionen strukturierend wirkt.Auf der Mesoebene werden somit Transformationsregeln von der Makro- zur Mikro-eben und vice versa angegeben.Damit erfüllt der Mehrebenenansatz zwei wichtige Bedingungen für eine Synthese vonStruktur- und Akteuransätzen (vgl. Elster / Offe / Preuss 1988: 303): Der Erklärungs-rahmen läßt zu, daß Strukturen die Institutionen vorgeben, die wiederum den Modus derEntscheidung prägen und die Entscheidung selbst auch mitbestimmen („forwardlinkages“). Anders herum können Entscheidungen bzw. Akteure aber auch Institutionenhevorbringen, mit denen eine Veränderung der Strukturen erfolgt („backwardlinkages“).Dieses Mehrebenenmodell läßt sich in einen umfassenderen Rahmen des Strukturwan-dels einfügen: Die Beschreibung des Transformationsprozesses stimmt mit der Stan-dardformel von der „Dualität sozialer Struktur“ (Giddens 1988: 240f; Nolte 1999) über-ein. Giddens hat mit seiner Strukturierungstheorie gezeigt, daß die soziale Struktur so-wohl Ergebnis als auch Bedingung für Handeln und Entscheiden der Akteure ist, wobeidie institutionelle Analyse die Präzisierung der Beziehung von Struktur und Handlungleistet (1988: 245, 343). Bei Giddens gilt: „Der Handlungsstrom produziert kontinuier-lich Folgen, die die Akteure nicht beabsichtigt haben, und diese unbeabsichtigten Fol-gen können sich auch, vermittelt über Rückkoppelungsprozesse, wiederum als nichtein-gestandene Bedingungen weiteren Handelns darstellen.“ (1988: 79). Ein solcher Prozeßzeigt sich in zweifacher Weise besonders deutlich bei der Transformation:

27 Der Verweis auf die Ähnlichkeiten der Modelle impliziert nicht das Bekenntnis zum Paradigma desMethodologischen Individualismus, für das die Ansätze von Esser und Colemann stehen. Gefolgt wirddem Modell zwar insofern, als die Analyse gesellschaftlicher Prozesse unterschiedliche Ebenenberücksichtigen muß. In dem hier vorgeschlagenen Modell sollen aber darüber hinaus auch dieMechanismen und Dynamiken, die von unterschiedlichen Paradigmen auf den jeweiligen Analyseebenenidentifiziert werden, genutzt werden.

Page 298: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 293

Einerseits zeigt sich global bei der Analyse zur Konsolidierung, daß im Erbe die Bedin-gungen für das Handeln in der Phase des Umbaus angelegt sind. Diese Handlungen sindauf dem Wege, neue Bedingungen zu schaffen, indem neue Handlungsmuster institutio-nalisiert werden, die sich (hoffentlich) zu demokratischen Strukturen aggregieren. Unterden demokratischen Strukturen, oder wie das Ergebnis der Aggregation auch immerausfallen mag, gelten neue Bedingungen für Handlungen, die sowohl für Reproduktionals auch für Änderung verantwortlich sein werden. Neue, wenn auch weniger radikale,Änderungs- bzw. Reproduktionsprozesse werden dem Konsolidierungsprozeß folgen –das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) ist selbst mit den TransformationenOsteropas noch nicht erreicht28.Andererseits zeigt sich der rekursive Prozeß auch im kleinen. In den dynamischen Pha-sen der Verhandlungen an den Runden Tischen und des institutionellen Umbaus findendie Rückkopplungsprozesse zwischen der Mesoebene und der Mikroebene statt. Ak-teure entwerfen und verabschieden neue Regelungen, die den Ausgangspunkt für nach-folgende Verhandlungen über weitere institutionelle Innovationen bilden. Mit jedemSchritt ändert sich nicht nur das institutionelle Gefüge. Auch die Zusammensetzung derAkteure und die Machtverteilung unter ihnen können bei jedem Zirkel des Prozessesneu sein, so daß sich die Bedingungen für die Bildung von Institutionen wieder gravie-rend ändern. Handlungen und Entscheidungen finden zwar unter bestimmten situativenBedingungen statt. Sie schaffen aber immer auch neue Bedingungen für Anschluß-handlungen und -entscheidungen.

Die Untersuchungen zur Transformation haben nicht nur gezeigt, daß sich die Mehre-benenanalyse bewährt, weil sie eine realitätsnähere und konsistentere Einschätzungkomplexer gesellschaftlicher Prozesse leistet. Auch die an diese Aussage anschließendeAufgabenstellung ist erfüllt: Die Schnittstellen werden deutlich, an denen sich die un-terschiedlichen analytischen Perspektiven zusammenführen lassen. Außerdem kanngezeigt werden, welche theoretische Perspektive sich für welche Fragestellung bzw.welchen Teilaspekt des umfassenden Prozesses der Transformation bewährt. Je nach-dem, ob die Logik der Situation, die Logik der Handlung und Entscheidung (Selektion)oder die Logik der Aggregation im Zentrum der Untersuchung stehen, kann auf die ent-sprechende Analyseebene verwiesen werden. Gleiches gilt auch für Phasen der Trans-formation: Je nach Dynamik einer Phase haben die Prozesse ihren Ausgangspunkt aufeiner bestimmten analytischen Ebene. Je weiter allerdings auf den Hierarchieebenen deranalytischen Ansatzhöhe nach unten gegangen wird, desto spezifischer werden die Aus- 28 Fukuyama meinte mit seiner Aussage, daß die westlichen Werte des politischen und wirtschaftlichenLiberalismus über andere Ordnungskonzepte gesiegt hätten. Selbst diese differenziertereBetrachtungsweise ist problematisch, da sich besonders in den post-sowjetischen und post-jugoslawischen Ländern „illiberale“, defekte Demokratien herausgebildet haben und die Werte despolitischen Liberalismus bei den politischen Akteuren eine nachgeordnete Rolle zu spielen scheinen (vgl.Merkel / Croissant. 2000).

Page 299: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 294

sagen. Während bei der Beschreibung systemischer Eigenschaften und struktureller De-fizite kommunistischer Gesellschaften die Aussagen noch einen relativ hohen Allge-meinheitsgrad aufweisen, gelangen mit der zunehmenden Dynamik Spezifika einzelnerStaaten bis hin zu den Besonderheiten institutionenprägender Interaktionen ins Blick-feld. Die Abnahme des Allgemeinheitsgrades liegt in der Zunahme der Entscheidungs-freiräume der Akteure begründet. Je größer die Freiräume sind, desto mehr Variationender Entwicklungspfade ergeben sich.

2. Als zweites Ergebnis - parallel zur theoretischen Öffnung - kann festgehalten werden,daß die Rahmenbedingungen für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung neu abge-steckt werden müssen. Mit der Integration weiterer analytischer Ebenen werden zusätz-liche, vormals modellfremde Variablen berücksichtigt. Damit steigt die Komplexität dertheoretischen Konstruktion, so daß weder der Makro- noch der Mikrodeterminismusreduktionistischer Modelle aufrechterhalten werden kann29. Der Anreiz, Modelle miteinem einfachen und eindeutigen Determinismus zu entwickeln (so versucht von derGeopolitischen Theorie oder auch den Rational Choice-Ansätzen) besteht darin, Phä-nomene nicht nur im nachhinein zu verstehen, sondern ursächlich erklären30 zu könnenbzw. über die zukünftige Entwicklung Aussagen zu wagen. Auf der Basis einer über-schaubaren Menge zentraler Variablen und Wirkungsmechanismen wird versucht, no-mologische Kausalbeziehungen zu formulieren, die sich, wenn die entsprechendenRandbedingungen angegeben werden können, auch für Vorhersagen eignen. Daß dieModellierung im Mehrebenenmodell an Einfachheit („parsemony“) und Eindeutigkeiteinbüßt, muß dennoch kein Nachteil sein, da im Gegenzug eine realitätsnähere Model-lierung möglich wird. Was helfen eindeutige Modelle, wenn sie ihrem eigenen An-spruch nicht gerecht werden, d.h. weder plausible Erklärungen noch zuverlässige Vor-hersagen liefern?Die Untersuchungen zum Zusammenbruch haben gezeigt, daß sich die meisten Theo-rien auf einen heuristischen Anspruch beschränken oder lediglich für einen sehr be-schränkten Ausschnitt einen Erklärungsanspruch aufrecht erhalten können. Sowohl Sy-stem-, Struktur- und Institutionentheorien als auch Akteurstheorien und die multimoti-vationale Modellierungen der Verhandlungen an den Runden Tischen verweisen aufeinen zurückgenommenen Erklärungsanspruch.Bei der Konsolidierungsforschung verhält es sich ähnlich. Sie wird von deskriptivenStudien bestimmt, was nicht zuletzt aus den Unsicherheiten bezüglich allgemeingültigerDemokratisierungskonzepte und zuverlässiger Konsolidierungspfade, die als Orientie- 29 Hierin weicht der Mehrebenenansatz auch prinzipiell von dem Makro-Mikro-Makro-Modell ab.Coleman (1991) und Esser (1993) versuchen als Kern des Modells eine eindimensionaleHandlungstheorie (SEU-Theorie) zu formulieren, mit der ein deduktiver Erklärungsanspruchaufrechterhalten werden kann.30 Erklären bezieht sich hier auf den wissenschaftlichen Begriff einer deduktiv-nomologischen Erklärungnach Popper (1984) und Hempel und Oppenheim (1948).

Page 300: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 295

rung für die Einschätzung der Entwicklungschancen dienen könnten, resultiert (vgl.Kopecky / Mudde 2000). Wegen der Variablenvielfalt und der Vielfalt der Wirkungszu-sammenhänge stellt sich das Phänomen Transformation derartig komplex dar, daß ein-deutige Kausalbeziehungen schlecht zu identifizieren sind. Allerdings hat die For-schung, und das zeigt sich besonders bei der Untersuchung der Problemfelder politi-scher Konsolidierung, Wirkungszusammenhänge herausgearbeitet, von denen wir zwarnicht wissen, ob sie im konkreten Fall zum Zuge kommen werden. Sie bilden aber im-merhin Mechanismen, mit denen im Nachhinein ein Prozeß modelliert werden kann31.Damit läßt sich auch das „Defizit“ einer Mehrebenenanalyse der Konsolidierung auf-fangen.Ein zurückgenommener Erklärungsanspruch bildet für die Konsolidierungsforschung,deren Ziel ja gerade der Versuch ist, Aussagen über zukünftige Entwicklungen zu wa-gen, ein gravierendes Problem: Vorhersagen lassen sich nur auf der Grundlage eindeu-tiger Wirkungsmodelle, von denen wir in der Mehrebenenanalyse absehen müssen, tref-fen. Sollen in einer Mehrebenenanalyse die verschiedenen analytischen Ebenen desProzesses der Transformation berücksichtigt werden, entsteht ein derart komplexes Va-riablengefüge mit multiplen Interdependenzen, daß allgemeine Aussagen schwierig,wenn nicht unmöglich werden. Die Kompexität der Variablen, die einen Einfluß auf diepolitische Konsolidierung haben, begründet sich nicht nur aus der Vielzahl von Kombi-nationsmöglichkeiten der verschiedenen institutionellen Elemente und Designs. Zu die-ser Komplexität interner Wirkungszusammenhänge kommt die Komplexität externerWirkungszusammenhänge: Die politische Stabilität hängt mit den Entwicklungen inanderen gesellschaftlichen Teilsystemen zusammen. Beispielsweise wird die Effizienzdes politischen Teilsystems vorwiegend am wirtschaftlichen Erfolg gemessen. Die Aus-prägung dieser Größe ist zwar auch von politischen Regulierungen abhängig. Dieeffiziente Ressourcennutzung kann aber nicht direkt von der Politik gesteuert werden.Über die erfolgreiche Nutzung von Ressourcen und die Verwirklichung demokratisch-zivilgesellschaftlicher Strukturen entscheiden auch kulturelle Ressourcen einer Gesell-schaft. Im kulturellen Erbe sind die Möglichkeiten für die Neubildung kongruenterIdentitätsmuster, die eine Voraussetzung für demokratische Konsolidierung und effek-tive Marktwirtschaft bilden, angelegt.

Wegen dieser offensichtlichen Komplexität muß es beim gegenwärtigen Stand der Kon-solidierungsforschung genügen, a) die Genese der demokratischen Institutionen nach-zeichnen zu können, d.h. zu verstehen, und b) mögliche Entwicklungswege für eine

31 Mechanismen können erklären, warum etwas passiert ist, weil sie Aussagen sind, die sich aufWirkungszusammenhänge beziehen (Elster 1989: 3f). Sie unterscheiden sich allerdings vongesetzesmäßigen Aussagen. Während gesetzesmäßige Aussagen allgemeingültig sind und keineAusnahmen zulassen, schließen Mechanismen Aussagen, wie “if p, then sometimes q.” (Elster 1989: 10)nicht aus.

Page 301: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 296

demokratische Konsolidierung zu identifizieren. Vom Erklärungsanspruch im deduktiv-nomologischen Sinne muß zurückgetreten werden, so daß der Anspruch, Vorhersagenüber die Entwicklung zu treffen, nicht aufrechterhalten werden kann. Weitreichenderund umfassender sozialer Wandel wie in Transformationen ist nicht determiniert. Erläßt sich weder aus den Strukturen, noch aus dem Verhalten bzw. Handeln der Akteureableiten. Das hat nicht zur Folge, daß man sich darauf beschränken muß, Geschichte zuschreiben. Die Erfahrungen mit den Demokratisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg,in Südeuropa und Lateinamerika bieten eine Folie, vor der Chancen und Risiken einerstabilisierenden Entwicklung anhand des spezifischen Institutionen-Mix in einem gege-benen sozio-ökonomischen Kontext identifiziert werden können. Es lassen sich Mecha-nismen aufzeigen, mit denen problematische Entwicklungen bzw. riskante institutio-nelle Konstruktionen und demokratische Defizite begründet ausgewiesen werden kön-nen. Auch wenn der Pfad zur Demokratie ein unsicherer Pfad bleibt, kann versuchtwerden, Generalisierungen anhand typischer Dilemmas, Fehlentscheidungen aber auchFehleinschätzungen aufzuzeigen (vgl. O’Donnell / Schmitter 1986).Hier gewinnt Theorie wieder an Bedeutung. Auch wenn die Vielzahl der Variablen undWechselwirkungen der Formulierung einer allgemeinen Konsolidierungstheorie imWege stehen, kann mit einem Mehrebenansatz, dem ein zurückgenommener Erklä-rungsanspruch zugrunde liegt, wesentliches für die Konsolidierungsforschung geleistetwerden:Erstens kann mit zeitlichem Abstand ein Blick zurück gewagt werden, der über dieAusgangsbedingungen für den Umbau informiert und zu dem Verständnis der Prozessedes Umbaus beiträgt. Zweitens entsteht ein Katalog relevanter Kriterien. Kriterien, diebeim Blick nach vorne als „quality-check“ fungieren und noch während der Zeit desinstitutionellen Umbaus über Chancen und Risiken für eine stabile Demokratie infor-mieren. Somit helfen die Mechanismen nicht nur, relevante kausale Beziehungen fürvergangene Ereignisse zu identifizieren. Sie können auch als Grundlage für Untersu-chungen zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten dienen.Ein Mehrebenenansatz kann das Defizit eindeutiger Kausalbeziehungen also auf zwei-fache Weise ausgleichen: Soziale Phänome lassen sich realitätsnäher modellieren, undfür zukünftige, angestrebte Entwicklungen können Problemfelder angegeben werden.Im Sinne eines possibilistic approach (Hirschman 1979) lassen sich die Möglichkeitenfür die erfolgreiche Entwicklung austarieren32. Es gibt kein „Rezeptwissen“, das denrichtigen Weg kennt. Das heißt aber nicht, daß sich die Forschung darauf beschränkenmuß, rückblickend die Änderungsprozesse theoretisch zu sortieren. Mit einer Haltungdes „thoughtful wishing“ (O’Donnell 1986: 18) kann sie den Wandel beratend beglei-ten. Dieser Anspruch ist zwar bescheidener, aber keineswegs „ärmer“, wenn man wieWallerstein bedenkt: „The possible is richer than the real.“ (1997: 1254). 32 Zum „Möglichkeitsraum der Politik“ vgl. Wiesenthal (1997: 252) .

Page 302: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ergebnis 297

Darüber hinaus ist der Ansatz ausbaufähig. So, wie die bekannten Mechanismen haupt-sächlich aus den Erfahrungen mit den Transformationen in Südeuropa und Lateiname-rika gewonnen wurden, ist auch die Beobachtung der Transformation Osteuropas eineQuelle für die Theoriebildung. Neue Wirkungszusammenhänge, die vermeintlich stabileSysteme gefährden, den plötzlichen, unerwarteten Umbruch bewirken und die denTransformationstheorien vor 1989 offensichtlich unbekannt waren, lassen sich aus derAnalyse des Zusammenbruchs gewinnen. Und die Beobachtung der weiteren Entwick-lung in Osteuropa wird neue Einsichten in die Entwicklungschancen und -risiken jun-ger, marktwirtschaftlich-demokratischer Systeme geben.

Page 303: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Syst

emth

eori

eU

mw

elt-

einf

lüss

eun

dD

iffer

enzi

erun

gs-

defiz

ite

inte

rnat

. Her

ausf

orde

rung

und

mili

t. M

acht

kons

tella

tion

Modernisierungs-theorie

Tra

nsfo

rmat

ions

-fe

nste

r

Inst

itutio

nen-

theo

rie

Ana

lytis

che

Eben

eM

akro

Mik

roM

eso

Mik

roth

eori

e

Konkretisierung

Aus

führ

ung

wirt

scha

flich

erW

ettb

ewer

b

Elite

n-ko

nver

genz

Legi

timitä

t

Mot

ivat

ion/

Legi

timitä

t

Kon

verg

enz

Kon

flikt

Ents

chei

-du

ngsf

reih

eit

Inte

ress

en

ökon

omis

ch

polit

isch

kultu

rell(

Wer

te)

Geopolitische Theorie

stru

ktur

elle

Schw

äche

n:

Dyn

amik

des

Wan

dels

nied

rig

hoch

Abs

trakt

ions

grad

(Allg

emei

nhei

tsgr

ad d

er B

esch

reib

unge

n)ni

edri

gho

ch

man

gelh

afte

Inte

rmed

iarit

ätun

d„D

ilem

ma

of R

efor

ms“

horiz

onta

le u

ndve

rtika

le D

efiz

itein

term

ediä

reIn

stitu

tione

n

abne

hmen

deEl

itenk

ohär

enz

bei

Libe

ralis

ieru

ng

Inne

relit

enpr

ozes

se(L

oyal

ität)

öffe

ntlic

he M

obili

sier

ung

(Leg

itim

ität)

Ver

hand

lung

en a

mR

unde

n Ti

sch

Abbildung 3: Der Zusammenbruch

(2)

(1)

(3)

I II III

298

Page 304: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Ana

lytis

che

Eben

eM

akro

Dyn

amik

des

Wan

dels

nied

rig

hoch

Abs

trakt

ions

grad

(Allg

emei

nhei

tsgr

ad d

er B

esch

reib

unge

n)ni

edri

gho

ch

hoch

nied

rig

Mak

roM

eso/

Mik

roM

ikro

/ Mes

o

nied

rig

hoch

Mak

ro:

- Reg

imet

yp- „

Stat

enes

s“ /

terri

toria

le In

tegr

ität

- Art

des

Reg

imew

ande

ls

Mes

o:- I

nstit

utio

nelle

Def

izite

Mik

ro:

- Elit

enko

ntin

uitä

t- O

rgan

isat

ions

grad

der

Elit

en u

ndO

ppos

ition

Mes

o:- V

erfa

ssun

g- I

nstit

utio

nelle

Ele

men

te d

erVe

rfass

ung:

Reg

ieru

ngss

yste

m, W

ahls

yste

m- P

arte

ien

und

inte

rmed

iäre

Inst

itutio

nen

Mik

ro:

- Pol

itisc

hes

Selb

stin

tere

sse

Mak

ro:

- Kon

tinui

tät d

er R

egim

eide

ntitä

t- F

lexi

bles

Rea

gier

en a

uf s

ich

ände

rnde

Um

wel

tein

flüss

e /

Kris

enre

sist

enz

Mes

o:- „

Agen

cy“

- Allo

katio

n vo

n „A

genc

y“- H

oriz

onta

le in

stitu

tione

lleD

iffer

enzi

erun

g

Mik

ro:

- „C

ompl

ianc

e“

Kon

solid

ieru

ngs-

fens

ter

Abbildung 4: Die politische Konsolidierung

Um

bau

Erb

eSt

abili

sier

ung

Kul

ture

lle K

onso

lidie

rung

Öko

nom

isch

e K

onso

lidie

rung

(4)

(5)

(6)

(7)

(8)

III‘II‘ I‘

299

Page 305: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 300

LITERATUR

Page 306: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 301

Ágh, A.: Die neuen politischen Eliten in Mittelosteuropa, in: Bönker, F. / H. Wiesentalund H. Wollmann (Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Endedes Anfangs, Leviatan, Sonderheft 15, 1995: 422-436.

Alexander, J. C.: Modern, Anti, Post, and Neo; How Social Theories Have Tried toUnderstand the „New World“ of „Our Time“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23,1993: 165-197.

Arato, A.: Revolution, Civil Society und Democracy, in: Transit (1), 1, 1990: 110-126.Aretz, H.-J.: Ökonomischer Imperialismus; Homo Oeconomicus und soziologische

Theorie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg.26, 1997: 79-95.Axelrod, R.: The evolution of cooperation, New York, 1984.Baecker, D.: Poker im Osten, Probleme der Transformatinsgesellschaft, Berlin, 1998.Baláz, J. / R. Bobach: Transformationstheorie - Versuch einer Rekonstruktion, in:

Heuer, B./ M. Prucha (Hg.): Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung fürdie Philosophie, Frankfurt, 1995.

Baláz, J.: Eine sanfte Dekommunisierung? Der Lustrationsdiskurs nach der „sanftenRevolution“ in den tschechischen und slowakischen Medien, in: Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.): Öffentliche Konfliktdiskurse um Restitution vonGerechtigkeit, politische Verantwortung und nationale Identität, Berlin, 1996:163-182.

Bauman, Z.: A Revolution in the Theory of Revolutions?, in: International PoliticalScience Review, Vol.15, 1994: 15-24.

Baylis, T.A.: Elite change after communism: Eastern Germany, the Czech Republic,and Slovakia, In: East European Politics and Societies, Vol. 12, 1998: 265-299.

Beichelt, T. / S. Kraatz: Zivilgesellschaft und Systemwechsel in Russland, in: Merkel,W. (Hg.): Systemwechsel 5, Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen, 2000:115-144.

von Beyme, K.: Die politischen Theorien der Gegenwart, Opladen, 19927.von Beyme, K.: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt, 1994.von Beyme, K.: Ansätze einer Theorie der Transformation der ex-sozialistischen

Länder Osteuropas, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 1, Theorien, Ansätzeund Konzeptionen, Opladen, 1994a.

von Beyme, K. / C. Offe (Hg.): Theorie der Politik im Zeitalter der Transformation,Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 26 / 1995.

von Beyme, K.: Parteien im Prozeß der demokratischen Konsolidierung, in Merkel, W./ E. Sandschneider (Hg.): Systemwechsel 3, Parteien im Transformationsprozeß,Opladen 1997: 23-56.

von Beyme, K.: Zivilgesellschaft – Von der vorbürgerlichen zur nachbürgerlichenGesellschaft?, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 5, Zivilgesellschaft undTransformation, Opladen, 2000: 51-70.

Page 307: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 302

Blais, A.: The Debate over Electoral Systems, in: International Political ScienceReview, Vol. 12, 1991: 239-260.

Bobach, R.: Der Umbruch im Osten - Binnenperspektiven, in: Heuer, B. / M. Prucha(Hg.): Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie,Frankfurt, 1995.

Bönker, F. / C. Offe: Die moralische Rechtfertigung der Restitution des Eigentums, in:Leviatan, Heft 3, 1994: 318-352.

Bönker, F. / H. Wiesental und Hellmut Wollmann: Einleitung, in: (ders.):Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviatan,Sonderheft 15, Opladen, 1995: 11-29.

Bönker, F.: The Dog That Did Not Bark? Politische Restriktionen und ökonomischeReformen in den Visegràd-Ländern, in: ders. / H. Wiesental und H. Wollmann(Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs,Leviatan, Sonderheft 15, 1995: 180-206.

Bos, E.: Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transformationsprozessen,in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 1, Theorien, Ansätze und Konzeptionen,Opladen, 1994: 81-110.

Bos, E.: Verfassungsgebungsprozeß und Regierungssystem in Rußland, in: Merkel, W. /E. Sandschneider und Dieter Segert (Hg.): Systemwechsel 2, DieInstitutionalisierung der Demokratie, Opladen, 1996: 179-213.

Boudon, R.: Limitations of Rational Choice Theory, in: American Journal of Sociology,Vol. 104, 1998: 817-28.

Brecher, M.: Introduction: Crisis, Conflict, War – State of the Discipline, in:International Political Science Review, 1996: 127-139.

Brezinski, H.: Der Stand der wirtschaftlichen Transformation, in: Brunner, G. (Hg.):Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa, Berlin, 1996: 131-162.

Brie, M.: Realsozialismus zwischen antikapitalistischem Ausbruchsversuch undSelbstaufhebung, in: ders. / D. Klein (Hg.): Zwischen den Zeiten. Ein Jahrhundertverabschiedet sich, Hamburg, 1992: 57-100.

Brie, M.: Rußland, das Entstehen einer „deligierten Demokratie“, in: Merkel, W. / E.Sandschneider und Dieter Segert (Hg.): Systemwechsel 2, DieInstitutionalisierung der Demokratie, Opladen, 1996: 143-178.

Brie, M.: Staatssozialistische Länder Europas im Vergleich; AlternativeHerrschaftsstrategien und divergente Typen, in: Wiesenthal, H. (Hg.): Einheit alsPrivileg, Vergleichende Perspektiven auf die Transformation Ostdeutschlands,Frankfurt/M. / New York, 1996a: 39-104.

Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa, Berlin,1996.

Page 308: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 303

Brunner, G.: Rechtskultur in Osteuropa, Das Problem der Kulturgrenzen, in: ders.(Hg.): Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa, Berlin, 1996:91-112.

Buchanan, J. / G. Tullock: The Calculus of Consent, Ann Arbor, Michigan, 1962.Bude, H.: Das Ende einer tragischen Gesellschaft, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der

Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, 1993: 267-281.Calda, M.: The Roundtable Talks in Czechoslovakia, in: Elster, J. (Hg.): The

Roundtable Talks and the Breakdown of Communism, Chicago/London, 1996:135-177.

Clague, C. / G.C. Rausser (Hg.): The Emergence of Maket Economies in EasternEurope, Oxford, 1992.

Clague, C.: The Journey to a Market Economy, in: ders. / G.C. Rausser (Hg.): TheEmergence of Maket Economies in Eastern Europe, Oxford, 1992: 1-24.

Coleman, J. S.: Comment on Kuran and Collins, in: American Journal of Sociology,Vol.100, 1995: 1616-19.

Coleman, J. S.: Foundations of Social Theory, Cambridge, 1990.Collins, R.: The Future Decline of the Russian Empire; An Application of geopolitical

Theory, Sociology Lecture Series 1980, veröffentlicht in: ders. (Hg.): WeberianSociological Theory, New York, 1986.

Collins, R. (Hg.): Weberian Sociological Theory, New York, 1986.Collins, R. / D. Waller: Der Zusammenbruch von Staaten und die Revolutionen im

sowjetischen Block: Welche Theorien machten zutreffende Voraussagen?, in:Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: SoziologischeAnalysen, 1993: 302-325.

Collins, R.: Prediction in Macrosociology: The Case of Soviet Collapse, in: AmericanJournal of Sociology, Vol. 100, 1995: 1552-93.

Colomer, J. M.: Transitions by Agreement; Modeling the Spanish Way, in: AmericanPolitical Science Review, Vol. 85, 1991: 1283-1302.

Colomer, J. M.: Gametheorie and the Transition to Democracy; The Spanish Model,Hamshire, 1995.

Crawford, B. / A. Lijphart (Hg.): Liberalization and Leninist legacies: Comparativeperspectives on democratic transitions, Berkeley, 1997.

Croissant, A. / H.-J. Lauth und W. Merkel: Zivilgesellschaft und Transformation: eininternationaler Vergleich, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 5,Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen, 2000: 9-50.

Czada, R. / A. Windhoff-Héritier: Political Choice: Institutions, Rules and the Limitsof Rationality, Frankfurt/M., 1991.

Dahl, R.: Poliarchy, New Haven/Yale, 1971. Dahl, R.: Dilemmas of Pluralist Democracy, New Haven, 1982.

Page 309: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 304

Dahl, R.: Democracy and ist Critics, New Haven, 1989. Deutsch, K. W.: Politische Kybernetik, Modelle und Perspektiven, Freibung i. B., 1969. Denzin, N. K.: Whose Sociology is it?; Comment on Huber, in: American Journal of

Sociology, Vol. 102, 1997: 1416-29. Deppe, R. / H. Dubiel und U. Rödel: Demokratischer Umbruch in Osteuropa,

Frankfurt/M., 1991.DGS-Sektion Soziologische Theorien: Berichte aus den Sektionen, in: Soziologie,

1998: 87-89.Diamond, L.: The Paradoxes of Democracy, in: Journal of Democracy, Vol. 3, 1990:

48-60.Diamond, L.: Towards Democratic Consolidation, in: Journal of Democracy, Vol. 3,

1994: 4-17.Di Palma, G.: Legitimation from the Top to Civil Society. Politico-Cultural Change in

Eastern Europe, in: World Politics, Vol. 43, 1991: 49-80.Downs, A.: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen, 1968.Easter, G. M.: Personal Networks and Postrevolutionary State Building, Soviet Russia

Reexamined, in: World Politics, Vol. 48, 1996: 551-578.Easton, D.: A System Analysis of Political Life, Chicago and London, 1979.Edeling, T. / W. Jann und D. Wagner (Hg.): Institutionenökonomie und Neuer

Institutionalismus; Überlegungen zur Organisationstheorie, Opladen, 1999.Edeling, T.: Einführung: Der Neue Institutionalismus und die Theorie politischer

Institutionen, in: ders. / W. Jann und D. Wagner (Hg.): Institutionenökonomie undNeuer Institutionalismus; Überlegungen zur Organisationstheorie, Opladen, 1999:7-16.

Eisen, A.: Institutionenbildung und institutioneller Wandel im Transformationsprozeß,Theoretische Notwendigkeiten und methodologische Konsequenzen einerVerknüpfung struktureller und kultureller Aspekte des institutionellen Wandels,in: ders. / H. Wollmann (Hg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland. Zwischenexterner Steuerung und Eigendynamik, Opladen, 1996: 33-62.

Eisen, A./ H. Wollmann (Hg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland. Zwischenexterner Steuerung und Eigendynamik, Opladen, 1996.

Eisenstadt, S. M.: The Breakdown of Communist Regimes, in: Daedalus, Band 121,1994: 21-41.

Ekiert, G.: The State Against Society. Political Crisis and Their Aftermath in EastCentral Europe, Princeton, 1996.

Elster, J.: The Multiple Self. Cambridge, 1985.Elster, J.: Rational Choice, New York, 1986.Elster, J.: Subversion der Rationalität, Frankfurt/New York, 1987.

Page 310: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 305

Elster, J.: Introduction, in: ders. / R. Slagstad (Hg.): Constitutionalism and Democracy,Cambridge, 1988: 1-18.

Elster, J.: Consequences of constitutional choice: Reflections on Tocqueville, in: ders. /R. Slagstad (ed.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge, 1988a: 81-102.

Elster, J.: Arguments for Constitutional Choice: reflections on the transition tosocialism, in ders. / R. Slagstad (ed.): Constitutionalism and Democracy,Cambridge, 1988b, 303-326.

Elster, J.: Nuts and Bolts for the Social Science, New York, 1989.Elster, J.: The Cement of Society: A study of social order, New York, 1989a.Elster, J.: Solomonic Judgements: Studies in Limitations of Rationality, New York,

1989b.Elster, J.: The Necessity and Impossibility of simultaneous Economic and Political

Reform, in: Ploszajski, P. (Hg.): Philosophy of Social Choice, Warsaw, 1990:309-316.

Elster, J.: Rationality and Social Norms, in: Arch. europ. sociol., XXXII, 1991: 109-129.

Elster, J.: Local Justice, New York, 1992.Elster, J.: Die Schaffung von Verfassungen: Analysen der allgemeinen Grundlagen, in:

Preuß, U. K. (Hg.): Zum Begriff der Verfassung – Die Ordnung des Politischen,Frankfurt, 1994: 37 - 57.

Elster, J.: Introduction, in: ders. (Hg.), The Roundtable Talks and the Breakdown ofCommunism, Chicago, 1996.

Elster, J. / R. Slagstad (Hg.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge, 1988.Elster, J. / C. Offe and U. Preuss: Institutional Design in Post-communist Societies,

Rebuilding the Ship at Sea, Cambridge, 1998.Eörsi, I.: Der Schock der Freiheit, in: Bayer, J. / R. Deppe (Hg.): Der Schock der

Freiheit; Ungarn auf dem Weg in die Demokratie, Frankfurt/M., 1993: 67-76.Erdmenger, K.: Restriktionsanalyse als reflexive Modernisierungstheorie, in: Politische

Vierteljahresschrift, 1995: 286-293.Esser, H.: Soziologie: Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/New York, 1993.Esser, H.: Die Definition der Situation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und

Sozialpsychologie, Jg. 48, 1996: 1-34.Finer, S.E. / V. Bogdanor und B. Rudden: Comparing Constitutions, Oxford, 1995.Fischer, S.: Privatization in the East European Transformation, in: Clague, C. / G.C.

Rausser (Hg.): The Emergence of Maket Economies in Eastern Europe, Oxford,1992: 227-244.

Fishman, R. M.: Rethinking State and Regime, in: World Politics, Vol. 26, 1990: 422-440.

Page 311: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 306

Föhlich, S.: Verfassungsreformprozesse in Mittel- und Osteuropa; Typologie desmodernen Verfassungsstaats, in: Internationale Politik, Jg. 5, 1997: 25-30.

Foster, R.: Nation Making: Emergent identities in postcolonial Melanesia, Ann Arbor,1995.

Friedman, J. (Hg.): The Rational Choice Controversy; Economic Models of PoliticsReconsidered, New Haven and London, 1995.

Fukuyama, F.: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München, 1992.Fukuyama, F.: Ich oder die Gemeinschaft, in: Die Zeit, Nr. 46., 1999.Gabanyi, A. / G. Hunya: Vom Regimewechsel zur Systemtransformation: Rumänien,

in: Pradetto, A. (Hg.): Die Rekonstruktion Ostmitteleuropas, Opladen, 1994: 77-112.

Gabrisch, H.: Die Entwicklung der Handelsstrukturen der Transformationsländer, in:Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa,Berlin, 1996: 193-220.

Ganßmann, H.: Die nichtbeabsichtigten Folgen einer Wirtschaftsplanung; DDR-Zusammenbruch, Planungsparadox und Demokratie, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.):Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 172-193.

Gebethner, S.: Proportional Presentation Versus Majoritarian Systems, Free Electionsand Political Parties in Poland, 1989-1991, in: Lijphard, A. / C. H. Waisman(Hg.): Institutional Design in new Democracies; Eastern Europe and LatinAmerica, Boulder, 1996: 59-76.

Geddes, B.: Initiation of new Democratic Institutions in Eastern Europe and LatinAmerica, in Lijphard, A. / C. H. Waisman (Hg.): Institutional Design in newDemocracies; Eastern Europe and Latin America, Boulder, 1996: 15-42.

Gibbons, R.: Game Theory for Applied Economists, Princeton, 1992.Giddens, A.: Theorie und Gesellschaft, Frankfurt / New York, 1988.Gläßner, G. –J.: Am Ende des Staatssozialismus – Zu den Ursachen des Umbruchs in

der DDR, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR:Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 70-92.

Gläßner, G. –J.: Demokratie nach dem Ende des Kommunismus; Regimewechsel,Transition und Demokratisierung im Postkommunismus, Opladen, 1994.

Göhler, G. / R. Kühn: Institutionenökonomie, Neo-Institutionalismus und die Theoriepolitischer Institutionen, in: Edeling, T. / W. Jann und Dieter Wagner (Hg.):Institutionenökonomie und Neuer Institutionalismus; Überlegungen zurOrganisationstheorie, Opladen, 1999: 17-42.

Goldstone, J. A.: Is Revolution Individually Rational? Groups and Individuals inRevolutionary Collective Action, in: Rationality and Society, Vol. 6, 1994: 139-166.

Page 312: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 307

Gordon, L. A. / A. K. Nazimova: Die Arbeiterklasse in der UdSSR; Tendenzen undPerspektiven der sozial-ökonmischen Entwicklung, in: Sozialwissenschaftliche /gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 40, 1987: 205-208.

Green D.P. / I. Shapiro: Pathologies of Rational Choice Theory; A Critique ofApplications in Political Science, New Haven and London, 1994.

Gunther, R. / N. Diamandouros und H.-J. Puhle (Hg.): The Politics of DemocraticConsolidation, Baltimore, 1995.

Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, 1981.Habermas, J.: Die nachholende Revolution, Frankfurt, 1990.Habermas, J.: Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des

demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M., 1992.Habermas, J.: Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in:

Preuß, U. K. (Hg.): Zum Begriff der Verfassung – Die Ordnung des Politischen,Frankfurt/M., 1994: 83-94.

Haraszti, M.: Decades of the handshake transition, in: East European Politics andSocieties, Vol. 13, 1999: 288-292.

Harberger, A.: Strategies for the Transition, in: Clague, C. / G.C. Rausser (Hg.): TheEmergence of Maket Economies in Eastern Europe, Oxford, 1992: 297-300.

Hausner, J. / B. Jessop und K. Nielsen (Hg.): Strategic Choice and Path-Dependencyin Post-Socialism. Institutional Dynamics in the Transformation Process,Aldershot, 1995.

Hechter, M.: Introduction: Reflections on Historical Profecy in the Social Sciences,American Journal of Sociology, Vol. 100, 1995: 1520-27.

Hempel, C. G. / P. Oppenheim: Studies in the logic of explanation, in: Philosophy ofScience, 15, 1948: 135-175.

Hirschman, A. O.: Exit, Voice and Loyality: responses to decline in firms,organizations, and states, Cambridge, 1972.

Hirschman, A. O.: A bias for hope, Cambridge, 1972.Hirschman, A. O.: Engagement und Enttäuschung: Über das Schwanken der Bürger

zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt/M., 1988.Hirschman, A. O.: Exit, Voice, and the Fate of the German Democratic Republic. An

Essay on Conceptual History, in: World Politics, Vol. 45, 1993: 173-202.Hitzler, R.: Perspektivenwechsel; Über künstliche Dummheit, Lebensweltanalyse und

Allgemeine Soziologie, in: Soziologie, 1997: 5-18.Holmes, L.: The End of Communist Power, Anti-Corruption Campains and

Legitimation Crisis, Cambridge, 1993.Holmes, S.: Gag rules or politics of omission, in Elster, J. / R. Slagstad (Hg.):

Constitutionalism and Democracy, Cambridge, 1988: 19-58.

Page 313: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 308

Holmes, S.: Precommitments and the paradox of democracy, in Elster, J. / R. Slagstad(Hg.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge, 1988a: 195-240.

Holzer, J.: Stabilisierungserfolg und Gefahr der Unregierbarkeit: Polen, in: Pradetto, A.(Hg.): Die Rekonstruktion Ostmitteleuropas, Opladen, 1994: 143-156.

Hondrich, K. O.: Systemveränderungen sozialistischer Gesellschaften - EineHerausforderung für die soziologische Theorie, in: Zapf, W. (Hg.): DieModernisierung moderner Gesellschaften, 1990: 553-557.

Horský, V.: Die samtene Revolution in der Tschechoslowakei, in: Deppe, R. / H.Dubiel und U. Rödel: Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M.,1991: 281-300.

Huinink, J. / K. U. Mayer: Lebensverläufe im Wandel der DDR-Gesellschaft, in: Joas,H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen,Frankfurt/M., 1993: 151-171.

Hüttig, C.: Das Ende des Ost-West-Konflikts als Problem der Theorie internationalerBeziehungen, in: Politische Vierteljahresschrift, 1991: 663-670.

Huntington, S. P.: Political Developement and Political Decay, in: World Politics, 17,1965: 386-430.

Huntington, S. P.: Political Modernization: America versus Europe, in: World Politics,18, 1966: 378-414.

Huntington, S. P.: Political Order in Changing Societies, New Haven / London, 1968.Huntington, S. P.: Will more Countries become Democratic?, in: Political Science

Quarterly, 1984: 193-218.Huntington, S. P.: How Countries Democratize, in: Political Science Quarterly,

Vol.106, 1991-92: 579-616.Huntington, S. P.: The Third Wave; Democratization in the Late Twentieth Century,

Norman, 1991.Ishiyama, J. T.: Communist Parties in Transitions; Structures, Leaders, and Processes

of Democratization in Eastern Europa, in: Comparative Politics, Vol. 27, 1995:147-166.

Janos, A. C.: Social Science, Communism, and the Dynamics of Political Change, in:World Politics, Vol. 43, 1991: 81-111.

Jarosz M. / B. Weber: Privatization und Reprivatization According to the Plan ofLeszek Balcerowisz an His Fellows, in: Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.):Öffentliche Konfliktdiskurse um Restitution von Gerechtigkeit, politischeVerantwortung und nationale Identität, Berlin, 1996: 259-272.

Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen,Frankfurt/M., 1993.

Page 314: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 309

Joas, H. / M. Kohli: Der Zusammenbruch der DDR: Fragen und Thesen, in ders. (Hg.):Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 7-28.

Johnson, C.: Preconception vs. Observation, or the Contribution of Rational ChoiceTheory and Area Studies to Contemporary Political Science, in: Political Science& Politics, 1997: 170-174.

Jordan, G.: How Bumble-bees Fly: Accounting for Public Interest Participation, in:Political Studies, 1996: 668-85.

Juchler, J.: Osteuropa im Umbruch; Politische, wirtschaftliche und gesellschaftlicheEntwicklungen, 1993.

Kahnemann, D. / A. Tversky: Judgement under Uncertainty, in: Science 185, 1974:1124-1130.

Kahnemann, D. / A. Tversky: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk,in: Econometrica, Vol. 47, 1979: 263-291.

Kamenitza, L.: The Process of Political Marginalization; East German Movementsafter the Wall, in: Comparative Politics, Vol. 30, 1998: 313-333.

Kappelhoff, P.: Soziale Interaktion als Tausch: Tauschhandlung, Tauschbeziehung,Tauschsystem, Tauschmoralität, in: Ethik und Sozialwissenschaften 6, 1995: 3-67.

Karl, T. L. / P. C. Schmitter: Modes of Transition in Latin America, Southern andEastern Europe, in: International Social Science Journal, Nr. 43, 1991: 269-284.

Kasapovic, M. / D. Nohlen: Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa, in:Merkel, W. / E. Sandschneider und D. Segert (Hg.): Systemwechsel 2, DieInstitutionalisierung der Demokratie, Opladen, 1996: 213-260.

Kelle, U. / C. Lüdemann: „Grau Freund, ist alle Theorie...“ Rational Choice und dasProblem der Brückenannahmen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie, 1995: 249-267.

Kersting, W.: John Rawls zur Einführung, Hamburg, 1993.Kiser E. / M. Hechter: The Debate on Historical Sociology; Rational Choice Theory

and Its Critics, in: American Journal of Sociology, Vol. 104, 1998: 785-816.Klein, D.: Grenzen der Entwicklung des Staatssozialismus - die globalen Probleme, in:

Brie, M. / ders. (Hg.): Zwischen den Zeiten. Ein Jahrhundert verabschiedet sich,Hamburg 1992.

Kollmorgen, R. / W. Reißig und Johannes Weiß (Hg.): Sozialer Wandel und Akteurein Ostdeutschland, Opladen, 1996.

Kolorova, R. / D. Dimitov: The Roundtable Talks in Bulgaria, in: Elster, J. (Hg.): TheRoundtable Talks and the Breakdown of Communism, Chicago/London, 1996:178-212.

Page 315: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 310

Kopecky, P. / C. Mudde: What has Eastern Europea taught us about thedemocratisation literature (and vice versa) ?, in: European Journal of PoliticalResearch, Vol. 37, 2000: 517-539.

Kraus, P. A.: Elemente einer Theorie postautoritärer Demokratisierungsprozesse imsüdeuropäischen Kontext, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 21, 1990: 191-213.

Kraus, P. A.: Nationalismus und Zivilgesellschaft in Transformationsprozessen, in:Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 5, Zivilgesellschaft und Transformation,Opladen 2000: 71-88.

Krickus, R. J.: Democratization in Lithuania, in: Dawisha, K. / B. Parrott (Hg.): Theconsolidation of democracy in East-Central Europe, Cambridge, 1997: 290-333.

Kuran, T.: Now Out Of Never. The Element of Surprise in the East EuropeanRevolution of 1989, in: World Politics, Vol. 43, 1991: 7-48.

Kuran, T.: The Inevitability of Furture Revolutionary Surprises, American Journal ofSociology, Vol. 100, 1995: 1528-51.

Lalman, D. / J. Oppenheimer und P. Swistak: Formal Rational Choice Theorie: ACumulative Science of Politics, in: Finifter, A.W. (Hg.), Political Science: TheState of the Discipline II, 1993: 77-104.

Lawson, S.: Conceptual Issues in the Comparative Study of Regime Change andDemocratization, in: Comparative Politics, Vol. 25, 1993: 183-205.

Lehmbruch, G.: Die ostdeutsche Transformation als Strategie desInstitutionentransfers: Überprüfung und Antikritik, in: Eisen, A./ H. Wollmann(Hg.): Institutionenbildung in Ostdeutschland. Zwischen externer Steuerung undEigendynamik, Opladen, 1996: 63-78.

Lepsius, M. R.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen, 1990.Lepsius, M. R.: Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre

in der Ära Honecker, in: Pirker, T. / ders. / R. Weinert und H. H. Hertle (Hg.): DerPlan als Befehl und Fiktion, Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen, 1995: 347-362.

Lepsius, M. R.: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Nedelmann, B. (Hg.):Politische Institutionen im Wandel, Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen, 1995a: 392-403.

Lijphard, A.: Presidentialism and Majoritarian Democracy, in: Szoboszlai, G. (Hg.):Democracy and political Transformation, Budapest, 1991: 75-93.

Lijphard, A. / C. H. Waisman: Institutional Design in new Democracies; EasternEurope and Latin America, Boulder, 1996.

Lindenberg, S.: An Assessment of the New Political Economy: Its Potentials for theSocial Sciences and for Sociology in Particular, in: Social Theorie, 3, 1985: 99-114.

Page 316: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 311

Lindenberg, S.: homo oeconomicus, in: Journal of Institutional and TheoreticalEconomics, 1990: 727-748.

Lindenberg, S.: Die Methode der abnehmenden Abstraktion: TheoriegesteuerteAnalyse und empirischer Gehalt, in: Esser, H. / H.G. Troitzsch / M. Kluik undH.P. Ohly (Hg.): Modellierung sozialer Prozesse, Bonn, 1991: 29-78.

Lindenberg, S.: Die Relevanz theoriereicher Brückenannahmen, in: Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie, 1996: 126-140.

Linz, J. J.: The Perils of Presidentialism, in: Journal of Democracy, 1, 1990: 51-69.Linz, J. J.: The Virtues of Parlamentarism, in: Journal of Democracy,1, 1990a: 84-91.Linz, J. J. / A. Stepan und R. Gunther: Democratic Transition and Consolidation in

Southern Europe, with Reflections on Latin America and Eastern Europe, in:Gunther, R. / N. Diamandouros und H.-J. Puhle (Hg.): The Politics of DemocraticConsolidation, Baltimore 1995: 77-123.

Linz, J. J. / A. Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation:Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore andLondon, 1996.

Lipset, S. M.: Some Social Requisits of Democracy; Economic Development andPolitical Legitimacy, in: American Political Science Review, 53, 1959: 69-105.

Lipset, S. M.: Political Man, The Social Basis of Politics, Baltimore, 1981.Lipset, S. M. / S. Rokkan (Hg.): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National

Perspectives, New York, 1967.Lötsch, M.: Der Sozialismus – eine Stände- oder Klassengesellschaft?, in: Joas, H. / M.

Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen,Frankfurt/M., 1993: 115-124.

Lohmann, S.: The Poverty of Green and Shapiro, in: Friedman, J. (Hg.): The RationalChoice Controversy; Economic Models of Politics Reconsidered, New Haven andLondon, 1996: 127-154.

Lohmann, S.: The Dynamics of Informational Cascades. The Monday Demonstrationsin Leipzig, East Germany, 1989-91, in: World Politics, Vol.47, 1994: 42-101.

Lowenthal, A. F.: Foreword, in: O´Donnell, G. / P. C. Schmitter und L. Whitehead:Transitions from Authorian Rule; Prospects for Democracy, Baltimore, 1986.

Luce, R.D. / H. Raiffa: Games and Decisions, New York, 1957.Luhmann, N.: Soziologische Aufklärung 2, Opladen, 1975.Luhmann, N.: Soziale Syteme, Frankfurt/M., 1984.Luhmann, N.: „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“; Die zwei Soziologien

und die Gesellschaftstheorie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, 1993: 245-260.Luhmann, N.: Soziologische Aufklärung 4, Opladen, 1994.Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.): Lebensstile und Kulturmuster in sozialistischen

Gesellschaften, Köln, 1990.

Page 317: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 312

Mänicke-Gyöngyösi, K.: Bürgerbewegungen, Parteien und „zivile“ Gesellschaft inUngarn, in: Deppe, R. / H. Dubiel und U. Rödel: Demokratischer Umbruch inOsteuropa, Frankfurt/M., 1991: 221-233.

Mänicke-Gyöngyösi, K.: Konstituierung des Politischen als Einlösung der„Zivilgesellschaft“ in Osteuropa?, in Heuer, B. / M. Prucha (Hg.): Der Umbruchin Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt/M., 1995.

Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.): Öffentliche Konfliktdiskurse um Restitution vonGerechtigkeit, politische Verantwortung und nationale Identität, Berlin, 1996.

Mänicke-Gyöngyösi, K.: Ost- und ostmitteleuropäische Gesellschaften zwischenautonomer Gestaltung und Adaption westlicher Modernisierungsmodelle, in:Wollmann, H. / H. Wiesenthal und F. Bönker (Hg.): Transformationsozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviatan, Sonderheft 15,Opladen, 1995b: 30-53.

Mansfeldovà, Z.: Privatisierungsstrategie, institutionelle Konfliktregelung undSymbolisierung im Tschechischen ökonomischen Diskurs, in: Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.): Öffentliche Konfliktdiskurse um Restitution vonGerechtigkeit, politische Verantwortung und nationale Identität, Berlin, 1996:241-258.

Mansfeldovà, Z. / M. Szabò: Zivilgesellschaft im Transformationsprozeß Ost-Mitteleuropas: Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei, in: Merkel, W. (Hg.):Systemwechsel 5, Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen 2000: 89-114.

March, J. G.: Bounded rationality, ambiguity and the engeneering of choice, in: BellJournal of Economics, 9, 1978: 587-608.

March, J. G. / J. P. Olsen: Rediscovering Institutions; The Organizational Basis ofPolitics, New York, 1989.

Masters, R. D.: Evolutionary Biology and Political Theory, in: American PoliticalScience Review, Vol. 84, 1990: 195-210.

Maturana, H. R.: Erkennen; Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit,Braunschweig, 1985.

Mayntz, R.: Naturwissenschaftliche Modelle, soziologische Theorie und das Mikro-Makro-Problem, in: Zapf, W. (Hg.): Die Modernisierung modernerGesellschaften. Verhandlungen des 25 Deutschen Soziologentages in Frankfurtam Main, Frankfurt/M. / New York, 1991: 55-68.

Mayntz, R.: Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einerTheorie, in: von Beyme, K. / C. Offe (Hg.): Politische VierteljahresschriftSonderheft 26., Politische Theorien in der Ära der Transformation, 1995: 148-168.

Mayntz, R. / F. W. Scharpf: Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren,in: dies. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung,Frankfurt/M. / New York, 1995: 9-38.

Page 318: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 313

Mayntz, R. / F. W. Scharpf: Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in:dies. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung,Frankfurt/M. / New York, 1995a: 39-72.

Meissner, B.: Die „Breshnew-Doktrin“. Das Prinzip des „proletarisch-sozialistischenInternationalismus“ und die Theorie von den „verschiedenen Wegen zumSozialismus“, Köln, 1969.

Melone, A. P.: Bulgaria’s National Roundtable Talks and the Politics ofAccommodation, in: International Political Science Review, Vol.15, 1994: 257-273.

Merkel, W.: Struktur oder Akteur, System oder Handlung: Gibt es einen Königsweg inder sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung? in: ders. (Hg.):Systemwechsel 1, Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen, 1994.

Merkel, W.: Theorien der Transformation: die demokratische Konsolidierungpostautoritärer Gesellschaften, in: von Beyme, K. / C. Offe (Hg.): Theorie derPolitik im Zeitalter der Transformation, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft26/ 1995.

Merkel, W.: Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratien in Osteuropa,in: ders. / E. Sandschneider und D. Segert (Hg.): Systemwechsel 2, DieInstitutionalisierung der Demokratie, Opladen, 1996: 73-112.

Merkel, W.: Einleitung, in ders. / E. Sandschneider (Hg.): Systemwechsel 3, Parteienim Transformationsprozeß, Opladen, 1997: 9-22.

Merkel, W.: Parteien und Parteiensysteme im Transformationsprozeß, eininterregionaler Vergleich, in ders. / E. Sandschneider (Hg.): Systemwechsel 3,Parteien im Transformationsprozeß, Opladen 1997a: 337-372.

Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 5, Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen2000a.

Merkel, W. / A. Croissant: Formale und informale Institutionen in defektenDemokratien, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 1, 2000: 3-30.

Merkel, W. / E. Sandschneider (Hg.): Systemwechsel 3, Parteien imTransformationsprozeß, Opladen, 1997.

Merkel, W. / E. Sandschneider und D. Segert: Einleitung: Die Institutionalisierungder Demokratie, in: ders. (Hg.): Systemwechsel 2, Die Institutionalisierung derDemokratie, Opladen, 1996: 9 - 36.

Meuschel, S.: Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichenInterpretation, in: Zapf, W. (Hg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften,Frankfurt/m. / New York, 1990: 558-576.

Meuschel, S.: Revolution in der DDR; Versuch einer sozialwissenschaftlicherInterpretation, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR:Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 93-114.

Page 319: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 314

Michta, A. A.: Democratic consolidation in Poland after 1989, in: Dawisha, K. / B.Parrott (Hg.): The consolidation of democracy in East-Central Europe, Cambridge,1997: 66-108.

Moore, B.: Social Origins of Dictatorship an Democracy, Toronto, 1966.Morlino, L. / J. R. Montero: Legitimacy and Democracy in Southern Europe, in:

Gunther, R. / N. Diamandouros und H.-J. Puhle (Hg.): The Politics of DemocraticConsolidation, Baltimore, 1995: 231-260.

Müller, H.: Internationale Beziehungen als kommunikatives Handeln, in: Zeitschrift fürinternationale Beziehungen, Heft1, 1994.

Münch, R.: Zahlung und Achtung; Die Interpenetration von Ökonomie und Moral, in:Zeitschrift für Soziologie, Jg.23, 1994: 388-411.

Murphy, J. B.: Rational Choice Theorie as Social Physics, in: Friedman, J. (Hg.): TheRational Choice Controversy; Economic Models of Politics Reconsidered, NewHaven and London, 1996: 155-174.

Nash, J. F.: The Bargaining Problem, in: Econometrica, Band 18, 1951: 155-162.Nash, J. F.: Two-Person Cooperative Games, in: Econometrica, Band 21, 1953: 128-

140.Nedelmann, B. (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Kölner Zeitschrift für

Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen, 1995.Nedelmann, B.: Vorwort, in: dies. (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Kölner

Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen, 1995:7-14.

Nedelmann, B.: Gegensätze und Dynamik politischer Institutionen, in: dies. (Hg.):Politische Institutionen im Wandel, Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen, 1995: 15-40.

Nee, V. / P. Lian: Sleeping with the Enemy: A dynamic model of declining politicalcommitment in state socialism, in: Theory and Society, No. 23, 1994: 253-96.

Neidhardt, F. / D. Rucht: Auf dem Weg in die „Bewegungsgesellschaft“? Über dieStabilisierbarkeit sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Vol. 44, 1993: 305-326.

Nohlen, D.: Sistemas de gobierno, perspectivas conceptuales y comparativas, in: ders. /M. Fernández (Hg.): Presidencialismo versus Parlamentarismo, Caracas, 1991:15-36.

Nohlen, D. / M. Kasapovic: Wahlsysteme und Seystemwechsel in Osteuropa, Opladen,1996.

Nolte, H.: Annäherungen zwischen Handlungstheorien und Systemtheorien, Ein Reviewüber einige Integrationstrends, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 28, 1999: 93-113.

North, D. C.: The Institutional Economics, in: Journal of Instituional and TheoreticalEconomics, Vol. 142, 1986: 230-37.

Page 320: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 315

North, D. C.: Institutions and Credible Commitments, in: Journal of Instituional andTheoretical Economics, Vol. 149, 1993: 11-23.

O’Donnell, G.: Modernization and Bureaucratic Authorianism, Berkley, 1973.O’Donnell, G.: Introduction to the Latin American Cases, in: ders. / P. C. Schmitter und

L. Whitehead (Hg.): Transitions from Authorian Rule; Prospects for Democracy,Baltimore 1986: Part II, 3-18.

O’Donnell, G.: Horizontal Accountability in New Democracies, in: Journal ofDemocracy, Vol. 3, 1998: 112-126.

O’Donnell, G. / P. C. Schmitter: Tentative Conclusions about uncertain Democracies,in: ders. (Hg.): Transitions from Authorian Rule; Prospects for Democracy,Baltimore 1986: Part IV.

Offe, C.: Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der Transformation im NeuenOsten, Frankfurt/M. / New York, 1994.

Offe, C.: Wohlstand, Nation, Republik. Aspekte des deutschen Sonderwegs vomSozialismus zum Kapitalismus, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.): DerZusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 282-301.

Offe, C.: Wenn das Vertrauen fehlt, in: Die Zeit, Nr. 50, 1999: 12-14.Olson, M.: Die Logik des kollektiven Handelns - Kollektivgüter und die Theorie der

Gruppen, Tübingen, 1968.Olson, D. M.: Paradoxes of Institutional Developement: The New Democratic

Parliaments of Central Europe, in: International Political Science Review, Vol. 18,1997: 401-416.

Olson, M.: The Logic of Collective Aktion, Public Goods and the Theory of Groops,Cambridge, 1965.

Olson, M.: Aufstieg und Niedergang von Nationen, Tübingen, 1985.Olson, M.: The Hidden Path to a Successful Economiy, in: Clague, C. / G.C. Rausser

(Hg.): The Emergence of Maket Economies in Eastern Europe, Oxford, Blackwell,1992.

Olson, M.: Why Poor Economic Policies must Promote Corruption: Lessons from theEast for All Countries, in: Rivista di Politica Economica, March 1996: 9-52.

O´Neil / H. Patrick: Revolution from within: Institutional Analyses, Transitions fromAuthorianism, and the Case of Hungary, in: World Politics, Vol. 48, 1996: 579-603.

Opp, K. -D.: DDR `89. Zu den Ursachen einer spontanen Revolution, in: KölnerZeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1991: 302-321.

Opp, K.-D.: Dissident Groops, Personal Networks and spontaneous Cooperation. TheEast German Revolution of 1989, in: American Sociological Review, 1993: 659-80.

Page 321: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 316

Opp, K.–D. / W. Roehl: Der Tschernobyl-Effekt. Eine Untersuchung über die UrsachenPolitischen Protests, Opladen, 1990.

Opp, K.-D.: Repression and Revolutionary Action: East Germany in 1989, in:Rationality and Society, Vol. 6, 1994: 101-138.

Opp, K.-D. / C. Lüdemann: Theoriereiche Brückenannahmen? Eine Erwiderung aufSiegwart Lindenberg, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,48, 1996: 542-545.

Ordeshook, P.C.: Engineering or Science: What is the Study of Politics?, in: Friedman,J. (Hg.): The Rational Choice Controversy; Economic Models of PoliticsReconsidered, New Haven/London, 1996: 175-188.

Osiatynski, W.: The Roundtable Talks in Poland, in: Elster, J. (Hg.): The RoundtableTalks and the Breakdown of Communism, Chicago/London, 1996: 21-68.

Pappi, F. U.: Zur Anwendung von Theorien rationalen Handelns in derPolitikwissenschaft, in: von Beyme, K. / C. Offe (Hg.): PolitischeVierteljahresschrift Sonderheft 26. Politische Theorien in der Ära derTransformation, 1995: 236-252.

Parsons, T.: The Social System, New York, 1951.Parsons, T.: Das Problem des Strukturwandels; eine theoretische Skizze, in: Zapf, W.

(Hg.): Theorien des Sozialen Wandels, Köln, 1969a: 35-54.Parsons, T.: Evolutionäre Unversalien der Gesellschaft, in: Zapf, W. (Hg.): Theorien

des Sozialen Wandels, Köln, 1969b: 55-74.Parsons, T.: Das System moderner Gesellschaften, Weinheim u.a., 1972.Parsons, T.: Der Begriff der Gesellschaft; Seine Elemente und ihre Verknüpfungen, in:

Jansen, S. (Hg.): Talcott Parsons zur Theorie sozialer Systeme, Opladen, 1976:121-137.

Pfaff, S.: Collective Identity and the Informal Groups in Revolutionary Mobilization:East Germany 1989, in: Social Forces, 1996: 91-118.

Pirker, T. / M. R. Lepsius / R. Weinert und H. H. Hertle (Hg.): Der Plan als Befehlund Fiktion, Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen, 1995.

Pirker, T.: Kommunistische Herrschaft und Despotismus, in: ders. / M. R. Lepsius / R.Weinert und H. H. Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion,Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen, 1995: 363-376.

Plakans, A.: Democratization and political participation in postcommunist societies: thecase of Lativa, in: Dawisha, K. / B. Parrott (Hg.): The consolidation of democracyin East-Central Europe, Cambridge, 1997: 245-289.

Pollak, D.: Religion und gesellschaftlicher Wandel. Zur Rolle der evangelischen Kircheim Prozeß des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR, in: Joas, H. / M. Kohli(Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, Frankfurt/M.,1993: 246-266.

Page 322: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 317

Pollack, D.: Das Ende einer Organisationsgesellshaft. Systemtheoretische Überlegungenzum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg.19,1990: 292-307.

Popper, K.: Logik der Forschung, Tübingen, 19848.Powell, W. W. / P. J. DiMaggio (Hg.): The Institutionalism in Organizational Analysis,

Chicago, 1991.Preuss, U. K.: The Roundtable Talks in the German Democratic Republic, in: Elster, J.

(Hg.): The Roundtable Talks and the Breakdown of Communism,Chicago/London, 1996: 99-134.

Preuß, U. K.: Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: ders.(Hg.): Zum Begriff der Verfassung – Die Ordnung des Politischen, Frankfurt/M.,1994: 7-36.

Przeworski, A.: Democracy as a contingent outcome of conflicts, in: Elster, J. / R.Slagstad (Hg.): Constitutionalism and Democracy, Cambridge University Press,1988: 59-80.

Prezeworski, A.: Democracy and the Market; Political and Economic Reforms inEastern Europe and Latin America, Cambridge, 1991.

Pridham, G.: The international dimension of democratisation: Theory, practice andinter-regional comparisons, in: ders. / E. Herring und G. Sanford (Hg.): Buildingdemocracy? The international dimension of democratisation in Eastern Europe,London, 1997: 7-29.

Pridham, G.: Revisiting the international dimension of regime change: Ten years afterin East-Central Europe, in: Budapest Papers on Democratic Transition 256, 1999.

Prosch, B. / M. Abraham: Die Revolution in der DDR; Eine strukturell-individualistische Erklärungsskizze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie, Nr. 43, 1991: 291-301.

Pye, L. W.: Political Science and the Crisis of Authoritarianism, in: American PoliticalScience Review, Vol. 84, 1990: 3-19.

Raun, T.U.: Democratization and political development in Estonia 1987-1996, in:Dawisha, K. / B. Parrott (Hg.): The consolidation of democracy in East-CentralEurope, Cambridge, 1997: 334-374.

Rawls, J.: Justice as Fairness in: Höffe, O. (Hg.): Gerechtigkeit als Fairneß, Freiburg1977.

Reckwitz, A.: Kulturtheorie, Systemtheorie und das sozialtheoretische Muster derInnen-Außen-Differenz, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, 1997: 317-336.

Reißig, R.: Das Scheitern der DDR und des realsozialistischen Systems – EinigeUrsachen und Folgen, in: Joas, H. / M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch derDDR: Soziologische Analysen, Frankfurt/M., 1993: 49-69.

Page 323: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 318

Riese, H.: Transformation als Oktroi von Abhängigkeit, in: Bönker, F. / H. Wiesentalund H. Wollmann (Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Endedes Anfangs, Leviatan, Sonderheft 15, 1995: 163-179.

Riggs, F.W.: Presidentialism versus Parliamentarism: Implications forRepresentativeness and Legitimicy, in: International Political Science Review,Vol. 18, 1997: 253-278.

Riker, W.H.: The Theory of Political Coalitions, New Haven, 1967.Riker, W.H.: Applications of Political Theory in the Study of Politics, in: International

Political Science Review, 1992: 5-6.Riker, W.H. / P.C. Ordeshook: A theory of calculus of voting, in: American Political

Science Review, 1968: 25-42.Ritzer, G.: Sociology: A Multiple Paradigm Science, Boston, 1975.Rodes, R. A. W.: The New Governance. Gouverning without Gouvernement, in:

Political Studies, 1996.Róna-Tas, Á.: The First Shall Be Last? Enterpreneurship and Communist Cadres in the

Transition from Socialism, in: American Journal of Sociology , Vol. 100, No.1,1994: 40-69.

Rose, R. / W. Seifert: Materielle Lebensbedingungen und Einstellungen gegenüberMarktwirtschaft und Demokratie im Transformationsprozeß. Ostdeutschland undOsteuropa im Vergleich, in: Bönker, F. / H. Wiesental und H. Wollmann (Hg.):Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviatan,Sonderheft 15, 1995: 277-298.

Rüb, F. W.: Die Herausbildung politischer Institutionen inDemokratisierungsprozessen, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 1, Theorien,Ansätze und Konzeptionen, Opladen, 1994: 111-140.

Rüb, F. W.: Schach dem Parlament! – Über semipräsidentielle Regierungssysteme ineinigen postkommunistischen Gesellschaften, in: Leviatan 22, 1994a: 260-92.

Rüb, F. W.: Die drei Paradoxien der Konsolidierung der neuen Demokratien in Mittel-und Osteuropa, in: Bönker, F. / H. Wiesental und H. Wollmann (Hg.):Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviatan,Sonderheft 15, 1995: 509-537.

Rudolph H. (Hg.): Geplanter Wandel, ungeplante Wirkungen; Handlungslogiken und --ressourcen im Prozeß der Transformation, Berlin, 1995.

Rüland, J.: Theoretische, methodische und thematische Schwerpunkte derSystemwechselforschung zu Asien, in Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 1,Opladen 1994: 271-302.

Rueschemeyer, D. / E. H. Stevens und J. D. Stephens: Capitalist Developement &Democracy, Cambridge, 1992.

Page 324: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 319

Ryan, J. J.: The Impact of Democratization on Revolutionary Movements, in:Comparative Politics, Vol. 27, 1994: 27-44

Sajó, A.: The Roundtable Talks in Hungary, in: Elster, J. (Hg.): The Roundtable Talksand the Breakdown of Communism, Chicago/London, 1996: 69-98.

Sandschneider, E.: Stabilität und Transformation politischer Systeme, Opladen, 1995.Sandschneider, E.: Systemtheoretische Perspektiven politikwissenschaftlicher

Transformationsforschung, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel 1, Theorien,Ansätze und Konzeptionen, Opladen, 1994: 23-46.

Sartori, G.: Comparative Constitutional Engeneering, An Inquiry into Structures,Incentives and Outcomes, Basinstoke, 1994.

Sartori, G.: Parties and party systems, A framework for analysis, Cambridge, 1976.Scharpf, F. W.: Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher

Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26, 1985: 323-356.Scharpf, F. W.: Verhandlungssysteme, Verteilungskonflikte und Pathologien der

politischen Steuerung, in: Schmidt, M. G. (Hg.): Staatstätigkeit, International undhistorisch vergleichende Analysen, Opladen, 1988: 61-87.

Scharpf, F. W.: Decision Rules, Decision Styles, and Policy Choices, Discussion Paper88/3, Köln: MPI für Gesellschaftsforschung, 1988a.

Scharpf, F. W.: Politische Steuerung und politische Institutionen, in PolitischeVierteljahresschrift, 30, 1989: 10-21.

Scharpf, F. W.: Games Real Actors Play; Actor-Centered Institutionalism in PolicyResearch, Oxford, 1997.

Schedler, A.: What is democratic consolidation?, in: Journal of Democracy, Vol. 9,1998: 91-107.

Schelling, T.C.: The Strategy of Conflict, Cambridge, 1963.Schimank, U.: Politische Steuerung und Selbstregulation des Systems organisierter

Forschung, in: Mayntz, R. / F. W. Scharpf (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelungund politische Steuerung, Frankfurt/M. / New York, 1995: 101-139.

Schimank, U.: Was ist Soziologie?, in: Soziologie, 1999: 9-22.Schimank, U.: Handeln und Strukturen; Einführung in die akteurtheoretische

Soziologie, Weinheim und München, 2000.Schlögel, K.: Soziokulturelle Wandlungsprozesse in Osteuropa, Leben in der

Übergangsgesellschaft, in: Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomischeTransformation in Osteuropa, Berlin, 1996: 221-240.

Schmitter, P. C.: An Introduction to Southern European Transitions from AuthoritarianRule: Italy, Greece, Portugal, Spain, and Turkey, in: ders. / G. O`Donnell und L.Whitehead: Transitions from Authorian Rule; Prospects for Democracy,Baltimore, 1986: Part I, 3-10.

Page 325: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 320

Schmitter, P. C.: Von der Autokratie zur Demokratie; Zwölf Überlegungen zurpolitischen Transformation, in: Internationale Politik, Vol. 50, 1995: 47-52.

Schmitter, P. C.: Organized Interests and Democratic Consolidation in SouthernEurope, in: Gunther, R. / N. Diamandouros und H.-J. Puhle (Hg.): The Politics ofDemocratic Consolidation, Baltimore 1995a: 284-314.

Schmitter, P. C. / J. Santiso: Three Temporal Dimensions to the Consolidation ofDemocracy, in: International Political Science Review, Vol. 19, 1998: 69-92.

Schumpeter, J.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 19805.Schweißfurth, T. / R. Alleweldt: Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteuropa, in:

Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa,Berlin, 1996: 41-90.

Scrubar, I.: War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellenBestimmung, in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 43,1991: 415-432.

Segert, D.: Aufstieg der (kommunistischen) Nachfolgeparteien?, in: Bönker, F. / H.Wiesental und H. Wollmann (Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften:Am Ende des Anfangs, Leviatan, Sonderheft 15, 1995a: 459-474.

Segert, D.: Die Transformationsanalyse Osteuropas. Denkanstöße, theoretischeFortschritte und Defizite, in: Internationale Politik, 1996: 29-35.

Segert, D.: Institutionalisierung der Demokratie am balkanischen Rand Osteuropas, in:Merkel, W. / E. Sandschneider und D. Segert (Hg.): Systemwechsel 2, DieInstitutionalisierung der Demokratie, Opladen, 1996: 113 - 143.

Segert, D.: Parteien und Parteiensysteme in der Konsolidierung der DemokratienOsteuropas, in Merkel, W. / E. Sandschneider (Hg.): Systemwechsel 3, Parteienim Transformationsprozeß, Opladen, 1997: 57-100.

Selznick, P.: TVA and the Grass Roots, Berkeley, 1949.Shapiro, I.: Can the Rational Choice Framework Cope with Culture?, in: Political

Science & Politics, 1998: 40-42.Simon, G.: Die Russen und die Demokratie, Zur politischen Kultur in Rußland, in:

Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa,Berlin, 1996: 113-130.

Simon, H.: A behavioral theory of rational choice, in: Quarterly Journal of Economics,Vol. 69, 1954: 99-118.

Simon, H.: Invariants of Human Behavior, in: Annual review of Psychology, Vol. 41,1990, 1-19.

Simon, J.: Electoral Systems and Democracy in Central Europe, 1990-1994, in:International Political Science Review, Vol. 18, 1997: 361-379.

Solnik, S. L.: The Breakdown of Hierarchies in the Soviet Union and China; ANeoinstitutional Perspective, in: World Politics, Vol. 49, 1996: 87-105.

Page 326: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 321

Stark, D. / L. Bruszt: Postsocialist pathways: Transforming politics and property inEast Central Europe, Cambridge, 1998.

Stepan, A. / C. Skach: Constitutional Frameworks and Democratic Consolidation;Parliamentarianism versus Presidentialism, in: World Politics, Vol. 46, 1993: 1-22.

Stichweh, R.: Systemtheorie und Rational Choice Theorie, in: Zeitschrift fürSoziologie, Jg.24, 1995: 395-406.

Szabó, M.: Soziale Bewegungen, Mobilisierung und Demokratisierung in Ungarn, in:Deppe, R. / H. Dubiel und U. Rödel: Demokratischer Umbruch in Osteuropa,Frankfurt/M., 1991: 206-220.

Szabó, M.: Vom kommunistischen „Reformwunder“ zur relativen Stabilität imPostkommunismus: Ungarn, in: Pradetto, A. (Hg.): Die RekonstruktionOstmitteleuropas, Opladen, 1994: 25-76.

Sztompka, P.: Vertrauen: Die fehlende Ressource in der postkommunistischenGesellschaft, in: Nedelmann, B. (Hg.): Politische Institutionen im Wandel,Opladen 1995: 254-276.

Tanase, S.: Changing societies and elite transformation, in: East European Politics andSocieties, Vol. 13, 1999: 358-363.

Tatur, M.: Zur Dialektik der „civil society“ in Polen, in: Deppe, R. / H. Dubiel und U.Rödel: Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M., 1991: 234-255.

Tatur, M.: Interessen und Norm. Politischer Kapitalismus und die Transformation desStaates in Polen und Rußland, in: Bönker, F. / H. Wiesental und H. Wollmann(Hg.): Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs,Leviatan, Sonderheft 15, 1995: 93-116.

Tatur, M.: „Politik“ im Transformationsprozeß. Aspekte des politischen Diskurses inPolen 1989-1992, in: Mänicke-Gyöngyösi, K. (Hg.): Öffentliche Konfliktdiskurseum Restitution von Gerechtigkeit, politische Verantwortung und nationaleIdentität, Berlin, 1996: 39-56.

Thaa, W.: Die Wiedergeburt des Politischen – Zivilgesellschaft undLegitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen, 1997.

Thibaut, B.: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Opladen, 1996.Tilly, C.: To Explain Political Processes, in: American Journal of Sociology, Vol. 100,

No.6, 1995: 1594-1610.Tietzel, M. / M. Weber / O. F. Bode: Die Logik der sanften Revolution. Eine

ökonomische Analyse, Tübingen, 1991.Tietzel, M. / M. Weber: The Economics of the Iron Curtain and the Berlin Wall, in:

Rationality and Society, Vol. 6, 1994: 58-78.

Page 327: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 322

Tökés, R. L.: Party politics and political participation in postcommunist Hungary, in:Dawisha, K. / B. Parrott (Hg.): The consolidation of democracy in East-CentralEurope, Cambridge, 1997: 109-149.

Tullock, G.: The Paradox of Revolutions, in: Public Choice, Vol. 11, 1971: 89-99.Tversky, A. / D. Kahneman: Rational Choice and the Framing of Decisions, in:

Journal of Business, Vol.59, 1986.Ullmann-Margalit, E.: The Emergence of Norms, Oxford, 1977.Vachudová, M.A. / T. Snyder: Are transitions transitory? Two types of political

change in Eastern Europe since 1989, in: East European Politics and Societies,Vol. 11, 1997: 1-35.

Varga, L.: Geschichte in der Gegenwart – das Ende der kollektiven Verdrängung undder demokratische Umbruch in Ungarn, in: Deppe, R. / H. Dubiel und U. Rödel:Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M., 1991: 167-181.

Walder, A. G.: The decline of communist power: Elements of a theory of institutionalchange, in: Theory and Society, No.23, 1994: 297-326.

Wallerstein, I.: Social Science and the Quest for a Just Society, in: American Journal ofSociology, Vol. 102, 1997: 1241-57.

Walsh M. / M. Bahnish: The Politics of Political Theorising in the New Millennium,unveröffentlichte Abhandlung, vorgetragen auf der Konferenz der AmericanPolitical Science Association (August 31 bis September 3, 2000).

Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, 1972.Weede, E.: The Impact of Interstate Conflict on Revolutionary Change and Individual

Freedom, (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) Berlin, 1992.Weinert, R.: Intermediäre Institutionen oder die Konstruktion des „Einen“; Das

Beispiel der DDR, in: Nedelmann, B. (Hg.): Politische Institutionen im Wandel,Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen,1995a: 237-253.

Weinert, R.: Wirtschaftsführung unter dem Primat der Parteipolitik, in: Pirker, T. / M.R. Lepsius / R. Weinert und H. H. Hertle (Hg.): Der Plan als Befehl und Fiktion,Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen, 1995b: 285-308.

Wehler, H.–U.: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen, 1975.Welfens, P. J. J.: Privatisierung, Wettbewerb und Strukturwandel im

Transformationsprozeß, in: Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomischeTransformation in Osteuropa, Berlin, 1996: 163-192.

Welsh, H. A.: Political Transition Processes in Central and Eastern Europe, in:Comparative Politics, Vol. 26, 1994: 379-394.

Welzel, C.: Sytemwechsel in der Globalen Systemkonkurrenz; Einevolutionstheoretischer Erklärungsversuch, in: Merkel, W. (Hg.): Systemwechsel1, Opladen 1994: 47-80.

Page 328: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 323

Wendt, A.: Der Internationalstaat: Identität und Strukturwandel in der internationalenPolitik, in: Beck, U. (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M., 1998:381-406.

Widmaier U. / A. Gawrich und U. Becker: Regierungssysteme Zentral- undOsteuropas, Ein einführendes Lehrbuch, Opladen, 1999.

Wielgohs, J. / H. Wiesenthal (Hg.): Einheit und Differenz. Die TransformationOstdeutschlands in vergleichender Perspektive, Berlin, 1997.

Wiesenthal, H.: Rational Choice: Ein Überblick über Grundlinien, Theoriefelder undneuerer Themenaquisition eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas, in:Zeitschrift für Soziologie, Jg. 16, 1987: 434-449.

Wiesenthal, H.: Sturz in die Moderne. Der Sonderstatus der DDR in denTransformationsprozessen Osteuropas, in: Brie, M. / D. Klein (Hg.): Zwischenden Zeiten. Ein Jahrhundert verabschiedet sich, Hamburg 1992.

Wiesenthal, H. (Hg.): Einheit als Privileg. Vergleichende Perspektiven auf dieTransformation Ostdeutschlands, Frankfurt/M. / New York, 1996.

Wiesenthal, H.: Probleme der Transformationssteuerung – eine Perspektivepolitikwissenschaftlicher Forschung, in: Wielgohs, J. / ders. (Hg.): Einheit undDifferenz. Die Transformation Ostdeutschlands in vergleichender Perspektive,Berlin, 1997: 239-254.

Wiesenthal, H.: Transformationsforschung als Paradigmentest, in: Berliner OsteuropaInfo, 13, 1999: 5-7.

Willke, H.: Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozialenSteuerungstheorie, Königstein, 1983.

Willke, H.: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften; Dynamik und Riskanz modernergesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim / München, 1989.

Willke, H.: Ironie des Staates, Frankfurt/M., 1992.Willke, H.: Theoretische Verhüllungen der Politik - der Beitrag der Systemtheorie, in:

von Beyme, K. / C. Offe (Hg.): Theorie der Politik im Zeitalter derTransformation, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 26/1995: 131-147.

Wollmann, H.: Institutionenbildung in Ostdeutschland: Rezeption, Eigenentwicklungoder Innovation?, in: Eisen, A./ ders. (Hg.): Institutionenbildung inOstdeutschland. Zwischen externer Steuerung und Eigendynamik, Opladen, 1996:79-114.

Wollmann, H. / H. Wiesenthal und F. Bönker (Hg.): Transformation sozialistischerGesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviatan, Sonderheft 15, Opladen, 1995.

Zapf, W.: Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: ders. (Hg.): DieModernisierung moderner Gesellschaften; Verhandlungen des 25. DeutschenSoziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt/M., 1991: 23-39.

Page 329: Die Transformation Osteuropas · Ziel ist es, mit einer Methode, die unterschiedliche theoretische Perspektiven integrieren kann, zum Verständnis der Transformation beizutragen und

Literatur 324

Zapf, W.: Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorieder Modernisierung, Berlin, 1992.

Zapf, W.: Die DDR 1989/1990 – Zusammenbruch einer Sozialstruktur?, in: Joas, H. /M. Kohli (Hg.): Der Zusammenbruch der DDR: Soziologische Analysen, 1993:29-48.

Zapf, W.: Modernisierungstheorien in der Transformationsforschung, in von Beyme, K./ C. Offe (Hg.): Theorie der Politik im Zeitalter der Transformation, PolitischeVierteljahresschrift, Sonderheft 26, 1996: 169-181.

Zartman, W.: Conflict and Order: Justice in Negotiations, in: International PoliticalScience Revue, Vol.18, No.2, 1997.

Ziemer, K.: Politischer Wandel in Osteuropa, Die maßgeblichen innenpolitischenKräfte, in: Brunner, G. (Hg.): Politische und ökonomische Transformation inOsteuropa, Berlin, 1996: 9-40.