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Diskurse der Wissenschaft Zwischen anything goes und rien ne va plus Renate Buchmayr u.a. September 2004

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Diskurse der Wissenschaft Zwischen anything goes und rien ne va plus

Renate Buchmayr u.a.

September 2004

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Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion

Heft 104

Herausgegeben von Arno Bamme, Peter Baumgartner, Wilhelm Berger, Ernst Kotzmann

ISSN 1028-2734

In dieser Schriftenreihe veröffentlicht das IFF, Arbeitsbereich Technik- und Wissen­schaftsforschung, Arbeitsmaterialien, Diskussionsgrundlagen und Dokumentationen, die nicht den Charakter abgeschlossener Forschungsberichte tragen, aber dem jeweils interessierten Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Beabsichtigt ist, neuere Forschungsresultate schnell, auch in vorläufiger Form, ohne aufwendige Aufarbeitung in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit der Zustimmung des Instituts gestattet.

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Diskurse der Wissenschaft zwischen anything goes und rien ne va plus

Inhalt:

1. Seminardesign

2. Diskurse der Wissenschaft

3. Biographieforschung

4. Pädagogikstudium: 15 Zugänge

5. Textauszüge

6. Biographien

Seminarleiterin: Buchmayr Renate

Seminarteilnehmerinnen:

Arnold Rosemarie

Lanzinger Rosa Maria

Filip Margit

Steiner Manuela

Mödritscher Peter

Horn-Hohenegg Susanne

Lutnik Bernadette

Bacher Gudrun

Rangetiner Manuela

Weissmann Silvia

Kautz Sabrina

Joun Patricia

Kocher Franz

Kampl Eveyn

Buchacher Diana

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1. Seminardesign

Dem Titel „Wissenschaft zwischen anything goes und rien ne va plus" gemäß wurde im Se­minar die Wissenschaftsentwicklung von der Euphorie der Moderne bis zur Skepsis der Postmoderne beleuchtet, wobei ein besonderes Augenmerk der gegenwärtigen Situation galt, die sich durch eine Egalisierung zwischen institutionell autorisierter Wissenschaft und zahl­reichen Alternativen in sämtlichen Wissenschaftsbereichen auszeichnet.

Anhand von Textauszügen sollte ferner evident werden, dass sich Wissenschaft über die Epo­chen hinweg nicht linear zum stetigen Fortschritt hin entwickelt hat, sondern dass Wissens­zuwachs sozusagen in Schüben erfolgte. Zwar ist die Erkenntnis, dass wir in einer sich stän­dig wandelnden Welt leben heute eine Selbstverständlichkeit, und Termini wie Phasenüber­gänge, Paradigmenwechsel, Chaos, Katastrophen und Revolutionen sind in der Wissen­schaftstheorie und in der Alltagssprache nur allzu gängig, allerdings wirken auch Begriffe wie evolutionärer oder technischer Fortschritt nur allzu nachhaltig. Über die Frage „Wie das Neue in die Welt kommt" (Huber 2000) und wie es sich dort etabliert bzw. wieder verworfen wird, kommt man im Diskurs auch unweigerlich zur Frage, welche Menschen hinter den wichtigen Ergebnissen der Wissenschaften stehen.

Seit Descartes rigoroser Subjekt-Objekt-Trennung war die Wissenschaft lange Zeit „ent­menschlicht", das heißt die Forschenden, denen der Erkenntniszuwachs zu verdanken war, wurden zunehmend unsichtbar. War vorerst der Grund dafür das Ringen um unumschränkte Objektivität, wurden später mit der Verbindung von Wissenschaft und Technik beide lukrativ und die Forschungsergebnisse das Eigentum von Großkonzernen. Erst das „Aberwitzige" der Quantenphysik, die Unmöglichkeit so zu denken und der Hang zur Selbstreflexion dieser Physikergeneration machten den Menschen in der Wissenschaft wieder sichtbar und stellte ein Gleichgewicht zwischen Subjekt und Objekt her.

Auf dieser Gedankengrundlage ergab sich die Aufgabenstellung für die Studierenden, einer­seits mit Textauszügen die Schwünge der abendländischen Wissenschaftsentwicklung nach-zuvollziehen, aber auch die eigene Biographie in Bezug auf Begegnung mit Wissenschaft zu reflektieren, die sich nicht selten ebenfalls zwischen anything goes und rien ne va plus be­wegt. So gesehen könnte man sagen, dass Vergleiche zwischen einer phylogenetischen und einer ontogenetischen Wissenschaftsentwicklung durchaus zulässig sind. Das heißt, dass wie die abendländische Erkenntnisgewinnung von einer magisch-mythischen Natursicht über eine dogmatische Wissensgesellschaft hin zu pluralistischen Weltanschauungen verläuft, sich auch im Individuum zumindest ansatzweise widerspiegelt.

Das Sich-Wiederfmden in diesen Entwicklungen gipfelte schließlich in der Idee, die eigene Wissenschaftsbiographie etwas näher zu durchleuchten.

2. Diskurse der Wissenschaft

Die Texte, die von den Studierenden zu bearbeiten waren und deren Auszüge sich im Anhang befinden sind so ausgewählt, dass sie einen Streifzug durch die abendländische Wissen­schaftsgeschichte darbieten.

„Wissenschaft und moderne Welt" (Whitehead 1988) bietet einen umfassenden Überblick und weckt das Verständnis für den „Geisteszustand" der einzelnen Entwicklungsepochen, für ihre Voraussetzungen und ihre Folgen.

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„Dem Logos zum Trotz" (Buchmayr 1999) hielt die Aufklärung nicht alle ihre Versprechun­gen, die Entzauberung der Natur und die Befreiung vom Aberglauben führte in die Abhängig­keiten von Bürokratie, Technokratie und Ökonomie. Die „Revolutionen des Wissens" (Fried/Süssmann 2001) bestanden vor allem in seiner Beschleunigung, die durch die elektro­nischen Mittel der Kommunikation gigantische Wissenssysteme entstehen ließ.

Wissenschaftskritik (Heuermann 2000) setzt dort an, wo das Humane aus dem Zentrum an die Peripherie gerückt ist und kann gleichermaßen als Erkenntnis-, Methoden-, Fortschritts- oder Ideologiekritik artikuliert werden. Die Gleichsetzung von Wissen mit Macht scheint unum­gänglich, Die Trennung von humanem Orientierungs- und Bildungswissen von sozialem Herrschaftswissen gibt es nach Foucault nicht.

Die Dynamisierung der Verbreitungsmöglichkeiten sorgt auch für die Möglichkeit „Diskursi­ver Dummheit" (Wirth 2001). Das Denken wird durch die Medien von „fast-thinkern" erle­digt, man arbeitet mit vorgefertigten Schablonen und Gemeinplätzen, Non-Stop-Unterhaltung verdrängt kritische Urteilskraft.

Wurde die Wissenschaft verraten und sind wir an den „Grenzen des Wissens" (Horgan 2000) angelangt? Mit dem „Ende der letzten großen Erzählung" (Rößler 2002) zeichnet sich die Wandlung vom akademischen zum postakademischen Wissen ab, die Hoffnung, dass wissen­schaftlicher Fortschritt mit sozialem einhergeht ist endgültig tot. Was bleibt, ist die Bereit­schaft, alles für möglich zu halten, alles zu glauben, weil nichts zu hoffen bleibt. In Zeiten unbegrenzter Informationsmöglichkeiten laufen wir Gefahr zu Wissenschaftsanalphabeten zu werden, die an die unumschränkten Möglichkeiten der Wissenschaften ebenso gerne glauben wie an moderne Mythen und den „Drachen in der Garage" (Sagan 1997), die nichts mehr in Frage stellen und sich höheren Mächten ausgeliefert fühlen wie einstens unsere Steinzeitvor­fahren.

Was von der Hoffnung auf unumschränkte objektive Erkenntnismöglichkeit bleibt, ist ein „Blick durchs Schlüsselloch" (Wurzer 1997), der uns die Welt als unser subjektives Konstrukt zeigt

3. Biographieforschung

Literatur: Gudjons Herbert, Pieper Marianne, Wagener Birgit: Auf meinen Spuren. Das Ent­decken der eigenen Lebensgeschichte. HAMBURG 1999 Psychologie Heute, Oktober 2003, S. 20 - 30

Mit der Rückkehr des Interesses am Subjekt erlebte auch die Biographieforschung eine be­merkenswerte Renaissance und ist, beobachtet man die einschlägigen Publikationen, gegen­wärtig wieder am Verebben, was die Annahme, dass es in den Wissenschaften ebenso Trends gibt wie im Marketingbereich, verstärkt.

Zudem wird es zunehmend schwerer, unter dem Druck der Forderung nach unentwegter Fle­xibilität so etwas wie Identität auszubilden und eine Biographie, vielfach wird von „Patch-work-Biographien" gesprochen, gleicht einem Überlebenskampf „von Tag zu Tag". Was für Großeltern und Eltern noch Gültigkeit hatte - Herkunft, Glaube, lebenslang gültige Berufs­wahl - ist heute kaum noch identitätsstiftend. Das geradlinige Durchlaufen der Lebensstatio­nen - Kindheit, Schulzeit, Ausbildung, Heirat, Familiengründung, Alter - zeigt heute zahlrei­che Brüche und Risse. Die Kindheit als Schutzzone wird immer kürzer, zugleich die Ausbil-

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dungszeit immer länger, auf Heirat und Familiengründung wird immer öfter zugunsten von Lebensabschnittspartnern verzichtet, immer mehr Berufsbilder verschwinden, Wissen veraltet immer schneller, das Hauptmerkmal des Lebens heißt permanente Verränderung, was aber zugleich permanente Verunsicherung bedeutet. Wie kann ein „Ich" Gleichheit und Kontinuität wahren, von der Erich Erikson noch 1959 sprach? Die Grauzonen werden einmal mehr von den Medien besetzt, Personalityshows erzeugen ein Scheingefühl von Besonderheit, aber oh­ne mediale Spiegelung bricht diese Identität zusammen. Das Internet erlaubt nochmals mehr eine Aufspaltung in beliebig viele Identitäten, erlaubt eine Erfindung und ein Verbergen des Ichs.

Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth und der Sozialpsychologe Harald Welzer setzen I-dentität in Zusammenhang mit dem „autobiographischen Ich" (Psychologie Heute 10/2003, S. 28). Für ein Gefühl der Ich-Identität spielt das Reden über sich selbst eine große Rolle, dabei fügen wir über das Gedächtnis unsere Erfahrungen zu einer Lebensgeschichte zusammen und es entsteht das Gefühl eines integrierten kohärenten Selbst. Im Prozess des Erzählens kon­struieren wir unsere Geschichte, konstruieren sie unter Umständen auch neu, Identität wäre demnach eine sich wandelnde narrative Konstruktion.

Der Satz Diltheys „was der Mensch ist, sagt ihm nur seine Geschichte" gilt demnach auch für die Frage nach der individuellen Persönlichkeit und Geschichte, aber die meisten Menschen sind, sollte es sich dabei nicht um eine Therapieform handeln, auf Zufälligkeiten und Alltags­kommunikation angewiesen. Die schon oben erwähnte Beschleunigung im Lebenswandel allerdings zwingt einerseits immer wieder zu biographischen Neuorientierungen, andererseits sehen sich die Menschen immer öfter gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber, die sich als unbeeinflussbar darstellen und zum Rückzug ins Private verleiten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte könnte auch hier helfen handlungsfähiger zu werden, denn das Durchschauen von Herrschaftsstrukturen im Mikrobereich setzt den Blick auch für den Mak-robereich frei.

Zum einen wird demnach bei einer biographischen Selbstreflexion der Versuch unternom­men, die Erfahrungen, die unsere Identität geprägt haben und in unser gegenwärtiges Handeln einfließen, transparent zu machen, zum anderen wird die gesellschaftliche Perspektive ins Blickfeld gerückt, und die subjektive Verarbeitung dieser Einflüsse betrachtet.

In diesem Kontext gewinnt biographische Forschung über die individuelle Bedeutung hinaus auch allgemeingültige, denn in jedem menschlichen Leben lassen sich Erfahrungen finden, die verallgemeinbar sind und das obwohl sich erinnern immer subjektiv gefärbte Deutungs­muster sind. Aber selbst eine geschönte Erinnerung enthält die Möglichkeit, dass sich das Subjekt am Material neu bestimmt und daran Zukunftsperspektiven entwickelt.

4. Pädagogikstudium: 15 Zugänge

Wissenschaft bzw. ihre Entwicklung inklusive der Theorie darüber zu emotionalisieren, sicht­bar zu machen, dass hinter Erkenntnissen menschliche Lebensschicksale stehen, war vorerst das eigentliche Seminarprogramm. Was oder wer sind aber Seminarteilnehmerinnen? Sie sind doch ebenfalls in eine wissenschaftliche Institution eingebunden, sind um Erkenntnis bemüht, haben eine Lern-Vorgeschichte und eine Alltagswelt, die sich durch den Kontakt mit Wissen­schaft sehr oft drastisch verändert. In ihrem Lebensweg und ihrer Entscheidung für oder ge-

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gen einen Weiterbesuch der Universität standen sie mehrmals zwischen anything goes und rien ne va plus.

Die Aufforderung sich selbst mit Wissenschaft in Verbindung zu bringen war vorerst für die Teilnehmerinnen etwas befremdlich, in diesem Kontext hatte man sich noch nie gesehen und immer wieder wurden Befürchtungen artikuliert „etwas falsch zu machen", was ein bezeich­nendes Bild auf Bildungserlebnisse in der Vergangenheit wirft, wenn den eigenen Empfin­dungen nicht mehr getraut werden darf. Als allerdings diese Hindernisse beseitigt werden konnten, kam ein Diskursfluss zustande, der so interessante Aspekte zutage förderte, dass eine Veröffentlichung in diesem Rahmen, so denke ich, gerechtfertigt ist und vielleicht Material für eine Weiterarbeit bietet.

In einer schriftlichen Seminarreflexion artikulierten die Arbeitsgruppen den Prozess folgend: „Die wissenschaftlichen Biographien zwangen (im positiven Sinn) uns, die Wissenschaft mit unserem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Dabei rüttelten uns die Impulse von Frau Dr. Buchmayr besonders wach. Sie führten zu einem starken inneren Monolog und zu vielen Diskussionen außerhalb der Lehrveranstaltung. Die Aufgabenstellung, deren Lösung uns an­fangs recht schwierig erschien, erwies sich schlussendlich als enorm wichtige Lebenswegbe­trachtung. Die Erkenntnisse sind für uns noch nicht abgeschlossen, denn mit der Beantwor­tung einer Frage werden viele neue aufgeworfen..." An anderer Stelle heißt es: „Durch die Anregungen während der Lehrveranstaltung ist uns Wissenschaft richtig bewusst geworden, man wird kritischer gegenüber Gehörtem und Gele­senem. Wissenschaft ist greifbarer geworden in allen Lebenssituationen und nicht nur auf der Akademikerebene. Man war sich nicht bewusst, dass man auch als Student Wissenschafter ist."

Die Biographien lassen je nach Interesse mehrere Auswertungsansätze zu, im folgenden wer­den einige Punkte herausgenommen, die immer wieder auftauchen bzw. mit besonderer Emo-tionalität behandelt werden. Es sind dies: => Das Elternhaus => Die ersten Schulerfahrungen => Schicksalsschläge bzw. schicksalhafte Begegnungen => Veränderungen durch das Studium

Das Elternhaus Das Elternhaus bzw. die Einstellung der Eltern zu Schule und Bildung und die soziale Stel­lung der Eltern wird in allen Biographien erwähnt und scheint für den weiteren Lebensweg eminente Bedeutung zu haben. Dabei ist bei weiblichen Biographien auffällig, dass zwar ent­gegen der bisherigen Familientradition Weiterbildung zugestanden wird, aber noch immer mit einem utilitaristischen Rollenverständnis: Lehrerin, Hauswirtschaftslehrerin, Kindergärtnerin, Diplomkrankenpflegerin usw.

Für „Traumberufe" wird wenig Verständnis aufgebracht, ein Aussteigen aus dem Schema wird mit Liebes- oder materiellem Entzug bestraft. Andererseits wird aber auch erwähnt, dass sich die Mütter für ihre Töchter einsetzen, damit diese den Sprung in eine andere soziale Schichte schaffen. Einmal wird auch erwähnt, dass eine „spätstudierende" Mutter und ihre damit verbundene Lebenszufriedenheit Anstoß für die Studienwahl war.

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Erste Schiderfahrungen Ob glücklich oder angstbesetzt, die ersten Schulerfahrungen hinterlassen auf alle Fälle blei­bende Eindrücke .Sich über gute Leistungen zu etablieren, jemand zu sein, scheint vor allem für Mädchen von großer Bedeutung. Fehler dürfen in diesem Kontext nicht vorkommen, es bleibt die Angst, „einmal etwas auszuprobieren," wie eine Studentin feststellt. Noch immer wird die Erfahrung gemacht, dass Wissensbereiche, wie z. B. Mathematik männlich determi­niert sind.

Als einschneidende Entscheidung wird auch die Schnittstelle Volksschule - Hauptschule oder Gymnasium gesehen. Die Wahl, so haben es einige der Verfasserinnen empfunden, hatte sehr viel mit der sozialen Herkunft der Eltern zu tun, und auch die Beratung der Volksschullehre­rinnen ging in diese Richtung. Wagte man es dennoch aus dem vorgegebenen Rahmen auszu-brechen und das Gymnasium zu besuchen, wurde das „Heimkommen" immer schwerer. Schulversagen wurde vorhergesagt, traf es ein, war die soziale Ordnung wiederhergestellt. Gegen den Besuch einer weiterführende Schule, nach der Hauptschule, die auf einen Beruf vorbereitet, war jedoch nichts einzuwenden, diese Schulwahl wurde von den Eltern unter dem Leistungsaspekt unterstützt. Hier sollte auch angefügt werden, dass praktisch aller Ver­fasserinnen bereits berufstätig sind.

Schicksalsschläge und schicksalhafte Begegnungen Erst als einige Wissenschaftskoryphäen es wagten, in ihren Biographien auf Ereignisse und Begegnungen in ihrem Leben hinzuweisen, die auch für ihre weitere wissenschaftliche Tätig­keit ausschlaggebend waren, ist diese Subjektivität in der science community gesellschaftsfä­hig geworden. Fördernde oder hemmende Begegnungen und Ereignisse gibt es wahrschein­lich in jedem menschlichen Leben, die Reaktionen und Verarbeitungsmuster sind allerdings gänzlich verschieden und wiederum biographieabhängig. Der Tod des Vaters , des Bruders, die Begegnung mit Behinderten, mit misshandelten Frauen, die eigene Erkrankung, Begeg­nungen mit fördernden oder hemmenden Lehrern, die studierende Mutter als Vorbild - das alles hinterlässt Spuren auch dort, wo im Diskurs vordergründig kein Platz dafür ist. Das Denken, auch das wissenschaftliche, wird dennoch davon beeinflusst und wesentlich dabei ist, sich dessen bewusst zu sein - der Mut zur Subjektivität bewahrt vor Scheinobjektivität.

Veränderungen durch das Studium Warum beginnt jemand, der bereits berufstätig ist ein Studium? Ein Grund liegt sicher in dem ständig steigenden Qualifikationsdruck, und das kommt auch in den Biographien vereinzelt zum Ausdruck. Ein Diplom bzw. ein akademischer Titel verleiht der oft jahrelangen Berufser­fahrung den nötigen Background. Allerdings ist das Einsteigen in eine wissenschaftliche Insti­tution vor allem für „Spätberufene" mit gewissen Ängsten und Zweifeln, was die eigene Qua­lifikation dafür betrifft, sowie mit bürokratischen Hürden besetzt. Häufig wird auch der Wunsch artikuliert, die bereits bestehende praktische Erfahrung mit Theorie zu untermauern. Das erscheint mit als sehr wesentlicher Aspekt, denn sehr oft wird -gerade im Schulbereich - die Effizienz von Theorie angezweifelt und die sog. Praxis in der Schule (oft mit Überleben verwechselt) als wesentlich erachtet. An dem Bedürfnis der wis­senschaftlichen Klärung von schulischen Alltagsphänomenen kann der Übergang von der Praxis zur Theorie, vom Alltagswissen zur Wissenschaft, vollzogen werden.

In Selbstwahrnehmung werden durch das Studium Veränderungen spürbar, es wirkt sich auf das Selbstbewusstsein positiv aus, beschleunigt aber auch Veränderungen, z.B. Brüche in der Partnerschaft.

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Abschließend und zum Weiterdenken wäre zu sagen, dass der geisteswissenschaftliche Be­reich der Klagenfurter Universität für Spätberufene, und hier wiederum vor allen für Frauen, eine eminente Chance bedeutet, ihren Lebensweg positiv zu verändern. Auch wenn sich der Erstzugang vielleicht durch Schwellenängste oder notwendige Studienberechtigungsprüfun­gen etwas schwieriger gestaltet, ist die Bindung an die Universität ungleich höher. „Es berührt mich auch, wenn ich nun, fast am Ende meines Studiums die Universität betrete und mich wie zu Hause fühle. Sie ist zu meiner Universität geworden, der ich mich immer verbunden fühlen werde.", schreibt eine Studentin.

Aus dieser Sicht wäre darauf zu achten, dass diese Möglichkeiten durch andere Schwerpunkt­setzungen in der Universitätsstruktur nicht eingeschränkt oder schlimmstenfalls sogar elimi­niert werden.

Renate Buchmayr

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Whitehead, A.: Wissenschaft und moderne Welt. Frankfurt 1968.

Wissenschaft und moderne Welt

Alfred North Whitehead wurde 1861 in East Kent in England geboren. Bis zu seinem 14. Le­bensjahr wurde er von seinem Vater, einem anglikanischen Geistlichen, zu Hause unterrichtet. Später studierte er Mathematik - damals gehörte auch Physik dazu - und unterrichtete dieses Fach von 1884-1910 in Cambridge. In dieser Zeit veröffentlichte er nur wenige Artikel, die ausschließlich die Mathematik betrafen. 1910 ging er nach London und erhielt dort 1914 sei­nen ersten Lehrstuhl für Mathematik. Er begann sich zunehmend mit Fragen der Erziehung zu beschäftigen. 1924 - mit 63 Jahren - bot man ihm einen Lehrstuhl für Philosophie in Harvard an und er verlies England. 1925 erschien das Werk „Wissenschaft und moderne Welt", das erste von drei großen philosophischen Werken. Seine letzte öffentliche Vorlesung hielt er 1941, die mit den Worten „die Genauigkeit ist ein Schwindel" endete. Whitehead starb 1947 im Alter von 86 Jahren.

Die Ursprünge der modernen Wissenschaft

Alfred North Whitehead beschäftigte sich in diesem Werk nicht mit Einzelheiten der wissen­schaftlichen Forschung, sondern er wollte die Entstehung eines Geistes-zustandes in der mo­dernen Welt darstellen. Eine lebendige Wissenschaft geht davon aus, dass es eine instinktive Überzeugung gibt, dass eine Ordnung der Dinge existiert und dass es vor allem auch eine Ordnung der Natur gibt, die sich in jedem einzelnen Vorkommnis nachweisen lässt. Wie kommt es aber zu diesem Glauben? Wir teilen alle diesen Glauben und gehen davon aus, dass wir deshalb daran glauben, weil es wahr ist. Aber die Entstehung einer allgemeinen Idee, wie eben die Idee der Naturordnung kann nicht darauf zurückgeführt werden, dass diese Idee wahr ist.

Wissenschaft entstand nicht plötzlich, sondern war das Ergebnis einer neuen Denkweise, die sich über viele Jahrhunderte hinweg vorbereitete. Viele Dinge geschehen, ohne dass man sich darüber Gedanken macht. Viele allgemeine Naturzustände wiederholen sich in groben Umris­sen immer wieder und die Natur hat sich an diese Wiederholungen angepasst. Aber nichts kehrt tatsächlich in allen Einzelheiten wieder. Weder zwei Tage noch zwei Winter sind iden­tisch. Daher erwartet man stets die Wiederkehr im Grossen, die Einzelheiten aber bleiben un­erforscht. Doch immer gab es Menschen die versuchten alle Phänomene als Folge einer Ord­nung der Dinge zu erklären, die bis ins Kleinste reicht. Um die Geschichte des Denkens zu verstehen muss man die Voraussetzungen kennen und die Folgen berücksichtigen.

Die wissenschaftliche Bewegung hat ihren Ursprung in Griechenland. Die Denkweise der griechischen Philosophen reichte aber noch nicht bis zu einer vollständigen wissenschaftli­chen Mentalität. Sie hielten sich streng an die deduktive Denkweise und waren auf der Suche nach allgemeinen Wahrheiten. Sie waren klare Denker, doch fehlte ihnen die Geduld zu minu­tiöser Beobachtung. Die Natur stellte für sie ein dramatisches Kunstwerk dar, in dem jedes Ding auf ein Ziel zustrebte. Eine Auffassung, die bis ins Mittelalter überliefert wurde. Aber auch die griechische dramatische Literatur hatte Auswirkungen auf das mittelalterliche Den­ken und war Wegbereiter für die wissenschaftlichen Phantasien. Die Kernaussage der griechi­schen Tragödie war, dass man seinem Schicksal nicht entkommen konnte. Im modernen Den­ken der Wissenschaft entspricht diese Aussage der Ordnung der Natur. Auch die moralische Ordnung war in der griechischen Dichtung von großer Bedeutung, woraus man schließen

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kann, dass dies eine Überzeugung dieser Zeit war. Das Konzept der Moralordnung und der Naturordnung wurden ins Mittelalter überliefert.

Der Aufstieg der europäischen wissenschaftlichen Mentalität ist aber auch auf die Berührung mit der byzantinischen Zivilisation im Ö.Jahrhundert zurückzuführen. Unter Justinian wurde Italien von der Gotenherrschaft befreit und somit vom byzantinischen Reich beeinflusst. Das römische Recht wurde schriftlich fixiert und galt als das Ideal einer Rechtsordnung. Und auch Konstantinopel spornte die westliche Kultur durch große Leistungen in der Kunst und in der Gelehrsamkeit an.

Zwei herausragende Männer des Ö.Jahrhunderts, die zum wissenschaftlichen Aufbau Europas beitrugen, waren der Heilige Benedikt und Gregor der Grosse. Sie beide waren Praktiker und verbanden ihre praktische Veranlagung mit ihren religiösen und kulturellen Aktivitäten. Vor allem Benedikt ist es zu verdanken, dass die Klöster zu einem Ort fur Landwirte, Heilige, Künstler und Gelehrte wurden. Im späteren Mittelalter führte diese Berührung zwischen den Klöstern und den Naturtatsachen zur Entstehung des Naturalismus.

Das Mittelalter war eine Epoche des geordneten Denkens, durch und durch rationalistisch. Der wichtigste Beitrag dieser Zeit für die wissenschaftliche Bewegung war, dass jedes einzel­ne Vorkommnis in einer völlig bestimmten Weise auf seine Vorgänger bezogen werden kann und die tiefe Überzeugung, dass es ein Geheimnis gibt, das man aufdecken kann. Wie war es möglich, dass sich diese tiefe Überzeugung so fest im europäischen Geist festsetzen konnte? Dafür scheint es nur eine Ursache zu geben: die Denkweise muss vom mittelalterlichen Be­harren auf die Rationalität Gottes kommen. Alles war überwacht und geordnet und über Jahr­hunderte hinweg herrschte ein unbezweifelter Glaube. Das Vertrauen, das in die Möglichkei­ten der Wissenschaft gesetzt wurde, lässt sich somit aus der mittelalterlichen Theologie herleiten. Die Idee der Naturordnung konnte sich aber erst am Ende des Mittelalters festsetzen. Es trat eine neue Gesinnung auf.

Im lö. und 17. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo plötzlich. Erfindungen regten das Denken an, physikalische Spekulationen wurden beschleunigt und aus den griechischen Ma­nuskripten entdeckte man das Wissen der Alten. Und obwohl Europa im Jahr 1500 weniger wusste als Archimedes, hatte Newton 1700 seine Principia geschrieben und man hatte den Eintritt ins moderne Zeitalter geschafft. Die moderne Wissenschaft wurde in Europa geboren, ihre Heimat ist aber die ganze Welt. Sie ist von Land zu Land übertragbar, wo immer man eine rationale Gesellschaft vorfindet.

Die wissenschaftliche Bewegung ging von Griechenland aus, aber Europa konnte diese Be­wegung mit einem konzentrierteren Interesse am Leben erhalten. Whitehead meint hier das kleinere Europa der Reformationszeit, welches durch Kriege und religiöse Streitigkeiten völ­lig zerrüttet war. Aber durch die große Zivilisation von Heiden, Christen und Mohammeda­nern wurde die Wissenschaft enorm bereichert. Die Wissenschaft blieb aber vor allem eine antirationalistische, empirische Bewegung, die auf einem naiven Glauben beruhte und deren Ausgangs-punkt die Idee war. Sie strebte nie danach ihren Glauben zu rechtfertigen oder ihre Bedeutung zu erklären. Der Glaube an die Naturordnung ist Ausdruck einer tiefen Überzeu­gung und hat das Wachstum der Wissenschaft ermöglicht.

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Das 19.Jahrhundert

Der Glaube des 19.Jahrhunderts wurde von drei Quellen beeinflusst: 1. Die romantische Bewegung: zeigte sich in der Kunst, der religiösen Erneuerung und

im politischen Aufschwung 2. Das Fortschreiten der Wissenschaft: man fand neue Wege des Denkens 3. Das Fortschreiten der Technik: es kam zu einer Änderung der menschlichen Lebens­

bedingungen

Der Veränderungsprozess im 19. Jahrhundert war schnell, bewusst und absehbar. Der Auf­schwung war enorm, aber die größte Erfindung war die Methode des Erfindens. Eine wissen­schaftliche Idee ist noch keine Erfindung. Die neue Methode bestand darin, dass man ent­deckte, wie man die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Idee und dem Endprodukt über­brückt. Die Industrielle Revolution ging von England aus, aber die Deutschen waren in der Lage, sich von den planlosen Forschungsmethoden zu lösen. Ihre Hochschulen und Universi­täten stellten den Übergang vom Amateur zum Profi dar.

Der disziplinierte Fortschritt ist der Rahmen für das Denken des 19. Jahrhunderts. Whitehead beschreibt vier große Ideen, die elementare Einflüsse auf das Denken hatten:

1. Das physikalische Wirkungsfeld: beinhaltet die Wellentheorie des Lichts und die The­orie des Elektromagnetismus

2. Der Atomismus: die gewöhnliche Materie wird als atomistisch aufgefasst. 3. Die Lehre von der Energie: liegt im Bereich der Physik 4. Die Evolutionstheorie: infolge von Veränderungen treten neue Organismen auf

Wenn man die Geschichte des Denkens untersucht, muss man zwischen einem tatsächlichen Strom, der eine Zeit bestimmt, und den wirkungslosen Gedanken unterscheiden. Die Kräfte, die sich aus diesen vier Ideen ergaben, führten zu einer Vielfalt von wissenschaftlichen Tri­umphen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im letzten Viertel dieses Jahrhunderts trat aber eine plötzliche Pause ein. Die große Bedeutung dieser späteren Zeit aber lag im Fortschreiten der biologischen Wissenschaften.

Die Wissenschaft war dabei eine neue Sichtweise anzunehmen, die weder rein physikalisch, noch rein biologisch war. Man untersuchte Organismen. Die Organismen der Biologie enthal­ten die kleineren Organismen der Physik als Bestandteile. Es stellte sich aber die Frage, ob es primäre Organismen gibt, die sich nicht weiter zerlegen lassen. Die Antwort darauf war: das Geschehnis ist die letzte Einheit eines natürlichen Vorkommens. Das Geschehnis ist mit allem was vorhanden ist verbunden und hat auch mit allen anderen Geschehnissen zu tun. Sie beein­flussen sich gegenseitig und dadurch kommt es zu einer Veränderung oder teilweisen Ent­wicklungsrichtung. Zum Begriff des Organismus gehört daher das Konzept der Interaktion von Organismen.

Rosemarie Arnold

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Whitehead, A.: Wissenschaft und moderne Welt. Frankfurt 1988.

Geschehnisse - Prozesse

Wirkliche Geschehnisse stellen eine Vollendung um ihrer selbst willen dar. Nicht alle Ein­zelwesen sind daran beteiligt. Empirisch betrachtet kann die Eigenschaft des Beitrages in ver­schiedenen Formen auftreten:

<=> in der Beharrung •=> in der Dauer •=> in der Wiederholung

Zeitabschnitte eines Prozesses, die ein dauerhaftes Muster aufweisen, täuschen eine trügeri­sche Gegenwart vor. Es entsteht eine Erinnerung an die frühere Lebensgeschichte des vor­herrschenden Musters, das in der früheren Umgebung ein Wertelement darstellte.

Die Untersuchung des Prozessflusses führt zur Analyse der zeitlosen Energie und zur Wesen­schau aller zeitlosen Gegenstände. (Grundlage für individualisierte Gedanken und Gedanken­aspekte, die in die Lebensgeschichte der feinen und komplexen dauerhaften Muster einbezo­gen werden).

Es entstanden drei Typen der Wesenschau: •=> Wesenschau der zeitlosen Gegenstände •=> Wesenschau von Wertmöglichkeiten für die Synthese der zeitlosen Gegenstän­

de <=> Wesenschau des wirklichen Sachverhalts und der Zukunftsperspektive. Durch

sie kann man die Gesamtsituation umfassend bearbeiten. In der Abstraktion der Wirklichkeit ist die zeitliche Aktivität vom Wert getrennt. Der Wert ist die Wirklichkeit.

Die Gesetze der Physik

Die Gesetze der Physik erklären •=> die Reaktion der Einzelwesen aufeinander •=> die Willkürlichkeit der Gesetze •=> die Modifikation der Einzelwesen durch ihre Umgebung.

Die Wesenschau bedeutet eine Abwägung von alternativen Werten und wird jenseits der phy­sikalischen Gesetze getroffen und mit Hilfe der Zwecksetzung dargestellt.

Theorie des organischen Mechanismus

Whitehead nennt in diesem Zusammenhang die unmittelbare Deduktion, die besagt: „Das individuelle Lebewesen, das mit seiner Lebensgeschichte Bestandteil eines grö­ßeren Musters ist, erfährt die Modifikation durch dieses Muster. Die Evolution von Naturgesetzen geht mit der Evolution dauerhafter Muster einher. Ziel der Evolutions­theorie ist es, Ursprung, Entwicklung und Vielfalt des Lebens auf der Erde zu erklä­ren. " (Whitehead 1988, S. 127)

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dauerhafte Organismen - Ergebnis der Evolution dauerhafte Dinge - Ergebnis eines zeitlichen Prozesses.

Für den Prozess sind zeitlose Dinge notwendig. Die Muster der Geschehnisse werden von äußeren Aspekten hergeleitet, die Dauer einer äußeren Tatsache ist von geringer Bedeutung. Entsteht das Muster aus Aspekten der zeitlichen Abschnitte des Geschehens - ist die Dauer eine wichtige Tatsache.

Physischen Dauer - der Prozess, der es möglich macht eine Identität des Charakters zu erben, die von Geschehnissen übertragen wird. Erachtet man das Material als grundlegend, ist die Dauer eine Tatsache, die auf dem Grund der Neuordnung beruht. Erachtet man den Organismus als grundlegend, so ist Dauer ein Resultat der Evolution.

Natur

Für den Bestand physischer Objekte ist eine günstige Umgebung sehr wesentlich. Die Natur weist enorme Beständigkeiten, z.B. die gewöhnliche Materie auf. Gesteinsformen sind in sich unverändert und unverändert in ihrer relativen Anordnung zueinander. Ursprünglich galt das Atom als unzerstörbar. Darauf folgen die scheinbar unzerstörbaren E-lektronen und das unzerstörbare Proton. Praktisch unzerstörbare Objekte sind einander sehr ähnlich. Z. B. Die Ähnlichkeit der Wasserstoffkerne. Ähnlichkeit stellt eine günstige Bedingung für Dauer dar. Organismen, die überleben wollen, müssen zusammenwirken. Den Schlüssel zum Evolutionsmechanismus stellen eine günstige Umgebung und dauerhafte Organismen mit großer Beständigkeit dar. Die einfachste günstige Form ist der Einfluss jedes Organismus auf die Umgebung für die Dauer anderer Organismen gleichen Typs. Dies gilt auch für die Entwicklung anderer Organismen desselben Typs.

Beweise: Grundorganismen, wie Elektronen oder Wasserstoffkerne, sowie Organismen höhe­ren Typs, wie Atome, Moleküle in kompakten Einheiten oder große Ansammlungen von Ma­terie. Lebewesen: Die Abgegrenztheit dieses Musters wird wieder hergestellt. Das Organische tritt in den Vordergrund, die charakteristischen Gesetze der anorganischen Materie können besten­falls als statistische Mittelwerte betrachtet werden. Moleküle: Die Untersuchung ist schwierig, da sie nicht'einzeln auftreten, sie sind nicht stän­dig beobachtbar

Die wechselseitige Förderung betrifft Angehörige derselben Spezies und Mitglieder assoziier­ter Spezies, wie z.B. Elektronen oder Wasserstoffkerne (Einfachheit der Zweierbeziehung, Fehlen der Konkurrenz)

Relativität

In der Zeit des 17. bis 19. Jh. wurden vor allem wissenschaftliche Untersuchungen - Fort­schritt des Denkens.

Im 19. Jh. zerfällt die Geschichte in 3 Teile: in den Kontakt zwischen der romantischen Bewegung und der Wissenschaft in die Entwicklung von Technik und Physik in die Evolutionstheorie und dem Vormarsch der biologischen Wissenschaft

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17- bis 19. Jh. stellt der Materialismus die Grundlage für die wissenschaftlichen Begriffe dar: Auseinandersetzung mit Material, Raum, Zeit und Energie - Skizze einer alternativen, organischen Naturtheorie Triumph des organisierten Menschenverstandes mittelalterliche Phantasien fallen weg der kartesianische Wirbel wurde ausgeblendet

Heute: Bessere Instrumente; die zur Forschung und Instrumentenplanung dienen, stehen zur Verfügung neuer Denkansatz Michelson und die deutschen Optiker schufen dafür die besten Voraussetzungen. Das Denken = Instrumentendenken. Fortschritte im Bereich der technischen Fertigungs­prozesse - Metallurgie - erzielten neue Forschungserkenntnisse.

Versuche von Galilei und Michelson:

Galilei (Anfang der wissenschaftlichen Bewegung) untersuchte das Gesetz des freien Falles, indem er Körper verschiedenen Gewichts von der Spitze des schiefen Turms von Pisa fallen ließ. Die für ihn interessanten Größen waren Gewicht und Fallge­schwindigkeit. Michelson Experimente verlangten den Vormarsch der Technik und sein experimen­telles Genie. Versuche mit Hilfe des Interferometers - 1881, 1887 und 1905 (Bestim­mung der Erdbewegung durch den Äther)

Rosa Maria Lanzinger

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Buchmayr, R.: Dem Logos zum Trotz. Identitätskonstruktion im Spannungsfeld von Wis-senschaft, Mythos und Marketing. Wien, München 1999.

Dem Logos zum Trotz

Der Text beschreibt eine unheimlich rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik, beginnend in der Neuzeit bis heute und beleuchtet recht kritisch die wirtschaftlichen, ökono­mischen und sozialen Folgen dieser Errungenschaften.

Durch das rasche Wachsen wissenschaftlicher Erkenntnisse, Zunahme technischer Errungen­schaften, die Entdeckungen anderer Völker und Kontinente, die Industrialisierung und Tech­nisierung wurde die Gegenwart zu einem bereits überholten Moment. Die anfänglich noch harmlosen technischen Spielereien entwickelten sich zu einer giganti­schen, kontrollierenden Ordnungsmacht zwischen Geist und Materie und werden damit schon wieder fast mystisch.

Die Autorin beschreibt Stationen in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die Mei­lensteine für diesen Fortschritt waren. Wie zum Beispiel Newtons Physik, die die Materie dynamisierte, die revolutionäre Erfindung der Dampfmaschine, die die Distanzen verkürzte, Mobilität ermöglichte und den technischen, ökonomischen und sozialen Fortschritt vorantrieb und rasant veränderte. Als „leise aber gefährliche Mobilität" wird die Erfindung des Buchdru­ckes erwähnt. Sie gibt den Auftakt zur Aufklärung, die die Geschichte der Naturwissenschaf­ten, der Kriege, der politischen Systeme und der marktwirtschaftlichen Ordnung schrieb. Es werden wissenschaftliche Erkenntnisse mit den gesellschaftlichen Interessen gekoppelt und für die Wirtschaft nutzbar und praktikabel gemacht.

Das Versprechen der Glückseligkeit, das die Aufklärung durch fortwährende Mobilität, Fort­schritt, Modernisierung, Rationalisierung und Emanzipation verhieß, konnte nicht unbedingt gehalten werden. Es dauerte lange, bis das Tabu von den Grenzen des Wachstums angespro­chen werden durfte, mit der Warnung vor unkontrolliertem Wachstum, der nicht zu noch grö­ßerer Glückseligkeit führt, sondern zum Untergang.

Fortschritt benötigt viel „Primärenergie" und Ressourcen, ist also energieintensiv und ener­gieraubend. Die Folgekosten sind heute deutlich anhand der ökonomischen Krisen sichtbar. Sie benötigen immer größere Anteile des Sozialproduktes um repariert oder bekämpft zu wer­den.

Der Mensch wollte sich von seinen Ängsten vor den Naturgewalten befreien, sie entzaubern, sich ihrer bemächtigen. Durch den Fortschritt hat er sich jedoch eine neue Herrschaft errich­tet. Er opferte seine „erste Natur" einer technisierten Maschinennatur. Er tauscht die Zwänge, die ihm die Natur auferlegt, gegen einen permanenten Zwang ein, die Natur und sich selbst beherrschen zu müssen. Wird ihm nämlich plötzlich die technische Nabelschnur gekappt, so steht er hilflos in seiner natürlichen Umgebung.

Das Schicksal des modernen Menschen scheint eine endlose Irrfahrt von Selbstfindung in einer Welle von Bürokratie, Technokratie und Ökonomie zu sein.

Wissenschaft und Technik sind heute Allerweltsbegriffe, wobei mit Wissenschaft immer die Naturwissenschaften gemeint sind. Zum Thema Technik haben alle Wissenschaften etwas zu sagen, jede Disziplin beleuchtet den Gegenstand auf ihre Art und Weise. War die Technik des

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19. Jahrhunderts Arbeitstechnik, so wurde sie im 20. Jahrhundert zur Kommunikationstech­nik. Durch die besondere Form von Digitalisierung aller Informationen durch den Computer gelangte die Technik bis heute schon in den Bereich der Nichtmaterialität. Hauptaugenmerk der technischen Disziplin liegt nicht mehr auf zweckgerichteter Umwandlung von Energie und Stoffen, der Computer wurde zur Universalmaschine.

Derzeit nimmt den größten Teil der Technikdiskussion sicherlich die Bio-Technologie mit der Gentechnik ein. Sie steht mit ihren Grenzen der Möglichkeit jenseits des Vorstellbaren. Ging es anfänglich um Haltbarmachen von Lebensmitteln, so sind wir heute beim Klonen und Er­zeugen von Mutanten gelandet. Der Prozess der Evolution steht heute beliebig zur Disposition frei.

Es scheint, als wolle sich die Menschheit endgültig von der Natur verabschieden. Und wie weit dafür die Tore geöffnet sind zeigt das große Interesse für gentechnische Reparaturtechnik und die Ohnmacht aller Instanzen, Kontrollsysteme zu installieren. Der Nährboden dieser biotechnologischen Revolution ist jedoch derselbe, aus der die industrielle Revolution wuchs - nämlich der Mythos, dass es möglich sei, die Produktion beliebig zu steigern, ohne dass die Rohstoffe je ausgingen.

Durch die wissenschaftlich gestützte Überzeugung von der beliebigen Verformbarkeit des Menschen entstand eine neue Technologie, mit der erst die fortschreitende Aneignung der Natur möglich wurde. Um den Menschen zu einer besser funktionierenden Maschine zu ma­chen, wird Disziplinierungseffizienz eingesetzt, deren Aufgabe die Human- und Sozialwis­senschaften übernehmen.

Interessant in diesem Text ist auch die Frage nach den Menschen, die hinter den Erfindungen stehen. Denn heute scheint es, als gäbe es statt der großen Genies, welche im 20. Jahrhundert Eigentum großer Konzerne wurden, nur noch anonyme Teams, die für einen bestimmten Auf­trag eingesetzt und nach dessen Erfüllung aufgelöst werden. Die technisch-wissenschaftliche Tätigkeit der anonymen Teams zeichnet sich durch ein hohes Maß an Arbeitsteilung aus, wo­bei der Einzelne keinen Überblick über das Ganze hat. Demnach kann er auch dafür keine Verantwortung empfinden oder tragen. Ein komplexes Verständnis für die Gesamtheit des Produktionsprozesses ist nur noch im gehobenen Management zu finden.

Bei diesen Aufträgen geht es immer um strategische und wirtschaftliche Vorteile am Markt. Für das Charisma des Einzelnen ist kein Platz. Auch für die Ergebnisse der Wirtschaft ist es unerheblich. Sieht man jedoch etwas zurück in die Wissenschaftsgeschichte so erkennt man, dass Persönlichkeitsstruktur, Vorlieben, Launen und Ängste des Forschers untrennbar mit dem Forschungsergebnis verbunden sind. Das heißt auch, dass an das Forschungsobjekt nicht immer nur mit objektiver Methodologie herangegangen wird.

In diesem Text wird auch der große Wirtschaftszweig „Geld" beleuchtet, der ein skrupelloses, gieriges und fortwährendes „immer Mehr" impliziert.

Die Gesellschaft hat sich heute zu einer 24-Stunden-Gesellschaft entwickelt, Maschinen und Geräte sind auf „Non Stopp-Kontinuität" konstruiert, Informationen gehen blitzartig um die Welt. Der menschliche Körper ist jedoch nicht unendlich belastbar und anpassungsfähig - er ist auf eine einfachere Lebensform eingestellt, er hat einen Schlaf- Wachrhythmus. Die Maschinen heute sind enorm zuverlässig geworden, während die Zuverlässigkeit des Menschen immer mehr abnimmt. Und menschliches Versagen immer mehr die Ursache für schwere Industrie- und Verkehrsunfälle ist.

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Das Risiko „Denken" ist jedoch immer noch maschinenorientiert, auf die Kontrolle der Gerä­te, statt umgekehrt auf die Optimierung der Wachsamkeit.

Margit Filip

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Fried, J. und Süssmann, J.: Revolutionen des Wissens - eine Einführung. In: Fried, J. und Süssmann, J (Hg.): Revolution des Wissens: Von der Steinzeit bis zur Moderne. München 2001, S. 7-21.

Revolutionen des Wissens

Dynamisch ist der Prozess der Wissenserzeugung, die Krisen und Probleme, die zur Generie­rung neuen Wissens führen.

Dynamisch sind die Inhalte, die eine Gesellschaft als Kulturwissen organisiert, dynamisch ist ihre Vergegenwärtigung.

Dynamisch wird in dem Zusammenhang auch der gesellschaftliche Gebrauch des Wissens, indem soziale Gruppen darauf zurückgreifen, es aktualisieren und/ oder auch umdeuten.

Durch diese Dynamik wirkt Wissen als Triebkraft sozialen Wandels. Umgekehrt wirkt der gesellschaftliche Wandel (durch Bevölkerungsverluste ebenso wie durch Bevölkerungswachs­tum, durch Migration, Begegnung und Abgrenzung, durch technische Innovation oder politi­sche Ereignisse, durch den Wechsel gesellschaftlicher Wertideen) ständig auf das Wissen einer Gesellschaft ein.

Wissen und die Arten seiner Weitergabe

Die Vermehrung des Wissens erfolgte sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Form. Beide Entwicklungen beruhten auf Veränderungen der Kommunikationsmittel (und deren Kontrolle).

1. Die Menschheit kann über den Spracherwerb definiert werden. 2. Den nächsten wichtigen Entwicklungsschritt brachte die alphabetische Schrift. 3. Die dritte Phase kam mit der Mechanisierung des Schreibens. Diese Veränderung war

insofern äußerst einflussreich, als sie dazu verhalf, mit der Zeit immer mehr Schulbil­dung, Schriftlichkeit und Gelehrsamkeit zu fördern, die Teilhabe an nationale Politik und Kultur zu verbreitern und vor allem ein wissenschaftliches Wissen zu entwickeln.

Der wachsende Einfluss dieser und nachfolgender Veränderungen der Kommunikationsmittel prägte das gesamte 18. und 19. Jahrhundert (zweite industrielle Revolution in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Aufkommen der allgemeinen Schulbildung, Ent­wicklung der Massenmedien und damit zu einem Anstieg der bezahlten Frauenarbeit).

4. All diese Entwicklungen kulminierten in der Dritten Industriellen Revolution der Nachkriegszeit mit der Erfindung von Computern und anderen neuen, elektronischen Mitteln der Kommunikation.

Jede diese Veränderungen der Kommunikationsmittel ging mit einer beträchtlichen Zunahme von Wissen einher, von dem nicht nur die Gesellschaft als Ganze, sondern auch immer mehr ihre individuellen Mitglieder profitierten, ungeachtet der Hemmnisse durch Herkunft, Alter und Geschlecht. - Eine Zunahme, die durch die Schrift gefördert, wenn nicht sogar hervorge­bracht wurde. Die damit unvermeidlichen Ungleichheiten können heute korrigiert werden, da die Wissenssysteme, zumindest in den westlichen Kulturen, immer mehr auch den Massen zugänglich gemacht werden.

Manuela Steiner

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Heuermann, H.: Wissenschaftskritik: Konzepte, Positionen, Problem. Basel 2000.

Wissenschaftskritik

Nach Horkheimer hat die Wissenschaft in den westlichen Industrienationen, gesellschaftspoli­tisch betrachtet, versagt. Auf die Vermehrung und Anwendung selbstproduzierter Erkenntnis­se fixiert, hat die Wissenschaft ihre Mitverantwortung für die gesellschaftliche Entwicklung vernachlässigt und die Mitverursachung von Problemen verschleiert.

Vier Jahre später formulierte Edmund Husserl einen anderen Versuch zur Wissenschaftskri­tik. Im Unterschied zu Horkheimer, dem es um Kritik am gesellschaftlichen Sein ging, ging es Husserl um die Analyse des menschlichen Bewusstseins. Die Eliminierung des Subjekts aus dem Tätigkeitsfeld von Forschern in den neuzeitlichen Wissenschaften führte zu einer Gleichgültigkeit von Fragen, in denen es um Sinn oder Sinnlosigkeit des menschlichen Da­seins geht. Husserl bringt es auf den Punkt und spricht vom Zerfall der ursprünglichen Einheit von Philosophie und Wissenschaft, von einem Fehlbetrag an Sinnhaftigkeit und Lebensbe­deutsamkeit.

70 Jahre danach hat sich nicht viel verändert, nein, die Probleme haben sich eher verschärft als gelöst. Auch heute noch besitzt die Wissenschaft weder ein konturierbares Menschen-noch ein definierbares Gesellschaftsbild. Die Wissenschaft weiß nicht, wie sie in ihrem hoch­differenzierten Kategoriensystem die Kategorie des Humanen bestimmen soll. Der Mensch, der in diesem System im Zentrum stehen müsste, steht effektiv an der Peripherie. Paradoxer­weise geht das imposante Wissen über die Dinglichkeit der Welt einher mit einem erschre­ckenden Nicht-Wissen über das Humanum in der Welt - das Humanum verstanden nicht als wissenschaftlicher Objektbereich (über den Menschen als Objekt wissen wir unglaublich viel) sondern als wissenschaftliche Aufgabe für eine Ermittlung der Bedingungen guten Lebens und der Arbeit an der Herstellung solcher Bedingungen.

Gibt es bestimmte Themen, die die Wissenschaft im Interesse der inneren Ruhe des Einzel­nen, der sozialen Harmonie oder der öffentlichen Sicherheit besser sein lassen sollte? Bedroh­lich für Kultur und Gesellschaft ist weniger die Wissenschaft an sich, als vielmehr die Be­triebsblindheit konkret handelnder Menschen, die meinen, der intellektuelle Adel der Wissen­schaft enthöbe sie der Pflicht zu humaner Rechenschaft.

Die Präsenz vieler Formen von Wissen lässt sich auf zwei Hauptformen zuspitzen: Auf dieje­nige, die von ihren Repräsentanten um ihrer selbst betrieben wird und für sie das Letzte, Höchste darstellt, dessen der Geist fähig ist, und diejenige, die für sich selbst nichts Letztes, Höchstes ist, die statt dessen als Dienerin fungiert, im Dienst des Menschen steht, der Welt und dem Leben also verpflichtet ist. Noch einmal auf den Punkt gebracht bedeutet das: Die Wissenschaft ist für die Menschen, nicht die Menschen für die Wissenschaft.

Wissenschaft- als Erkenntniskritik

Erkennen ist das erklärte Hauptanliegen aller Wissenschaftler, Erkenntnis das Basiskonzept der gesamten Wissenschaft, wobei erkennen (als Tätigkeit) in Erkenntnis (als Zustand) mün­det. Die Kardinalfrage hierbei lautet: Ob und wie ist es möglich, dass der Mensch, der als erken­nendes Subjekt selbst der Vielfalt, dem Wandel, dem Einmaligen in der realen Welt unter-

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liegt, imstande ist, durch das raum-zeitlich Gegebene hindurch dasjenige zu erfassen, das ob­jektiv besteht, ohne bloßes Spiegelbild der existierenden Vielfalt im Bewusstsein zu sein? Egal, welche epistemologische Variante zur Beantwortung der Kardinalfrage man heranzieht (Empirismus, Positivismus, Rationalismus, Pragmatismus, Realismus, Behaviorismus, Intui­tionismus, Utilitarismus, etc.) , so spricht des Autors kritisches Fazit eine eindeutige Sprache: Es spielt keine Rolle, wie viele Varianten herangezogen werden, im Grunde ist der Erkennt­nisgrund nicht auslotbar. Früher oder später gelangt der Wissenschaftler in eine Sackgasse des Denkens, wo er dem Zufall begegnet: Was ich sage ist wahr, weil ich es beweise, aber was beweist, dass mein Beweis wahr ist?

Die verschiedenen Theorien kritisieren und relativieren einander. Keine der skizzierten Theo­rien ist passe, und keine ist unangefochten präsent, aber keine kann Wissen ultimativ (nach­drücklich fordernd) begründen. Was uns geboten wird, ist also, abgesehen von großmäuligen Versprechungen und oberflächlichen Popularisierungen, eine Vielzahl von Paradigmen, beru­hend auf einer Vielzahl von Modellen und erfolgreich nur in beschränkten Gebieten. Will man im Spiel dieser geistigen Fließkräfte ein Zentrum schaffen, könnte der Mittelpunkt nur ein Humanismus sein, der das Ziel aller wissenschaftlicher Erkenntnis wieder auf den Menschen zurückwendet. Dies aber setzt voraus, dass sich etwas formt, was es nicht gibt: Ein begründungs- und konsensfähiges Menschenbild in der Wissenschaft.

Wissenschafts- als Methodenkritik

Formuliert man die Frage nach dem Erkenntnisgrund in die Frage nach dem Erkenntnisweg, stößt man auf das Problem der Methodik.

Viele Wissenschaftler, Epistemologen wie Philosophen haben gezeigt, dass es unsinnig ist, die Natur- und Menschenwelt durch Entwicklung „exklusiver" Methodologien zu trennen. Wilhelm Dilthey hat den Ansatz von Emil du Bois-Reymond weiter gedacht und zwischen Geistes- und Naturwissenschaften differenziert, indem er das methodologische Prinzip des Verstehens gegen das des Erklärens setzt. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" - das heißt nichts anderes als, dass Dilthey Erklären und Verstehen als zwei unabhängige Erkenntnisweisen bezeichnet, die auch nach unterschiedlichen Methoden verlangen. Das Ziel sollte den eingeschlagenen Weg bestimmen und es kommen immer mehr Wege für die Errei­chung eines Ziels in Frage —* Diese Tatsache zeigt einmal mehr die Unsinnigkeit einer me­thodologischen Fixierung. Die eventuelle Kombination von Methoden erhöht die Erfolgs­chancen. Es gibt keine Methode der Geisteswissenschaften, auch keine der Natur- oder Ge­sellschaftswissenschaften. Noch einmal auf den Punkt gebracht heißt das: Jede Verherrli­chung einer bevorzugten Methode birgt die Gefahr einer Verfehlung des deklarierten Ziels, denn das Ziel bestimmt den Weg und nicht umgekehrt.

Wissenschafts- als Fortschrittskritik

Die Frage nach dem Weg, also der Erkenntnismethodik setzt natürlich auch die Frage nach dem Ziel voraus. Allgemeine Zielsetzung der Wissenschaft ist Erkenntnisfortschritt, sprich Vermehrung, Verbesserung und Sicherung von Erkenntnis zum Zwecke der Perfektionierung der Menschheit. Thomas Kuhn hat den Glauben an den Erkenntnisfortschritt relativiert und spricht anstatt von Fortschritt von allgemein anerkannten wissenschaftlichen Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefert. Kuhn nennt das Paradigma und beschreibt auch einen ablösenden Paradigmenwechsel mit Umwäl­zungen im System einher gehend.

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Der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos widerspricht der Kuhnschen These und ersetzt Kuhns relativierenden Begriff des Paradigmas durch den objektivierenden Begriff des „wis­senschaftlichen Forschungsprogramms". Ein Forschungsprogramm hebt das andere auf, sprich es schreitet fort, so lange es neue Tatsachen mit einigem Erfolg vorhersagt. Fortschritt­lich ist ein Programm nur dann, wenn die von ihm generierten Theorien durch mehr Tatsa­chen gestützt werden als ihre Konkurrenten oder Vorgänger.

Der Philosoph Paul Feyerabend bezeichnet Fortschrittskonzepte egal welcher Art als intellek­tuelle Überheblichkeit. Nach Feyerabend gibt es keinen Fortschritt. Es gibt zwar von Wissen­schaftlern aufgegriffene Fragestellungen und angebotene Lösungen, die durchaus sinnvoll oder hilfreich sein können. Diese begründen in ihrer Summe aber keine Fortschrittsbewegung. Die Menge des in der Gegenwart verfügbaren Wissens ist nahezu bedeutungslos, liegt das Allermeiste davon doch nachweislich brach und wird nur teilweise aktiviert. Das aktuelle Wissen ist kein besseres oder adäquateres, es ist nur ein anderes Wissen, weil es situations-und kulturabhängig von anderen Voraussetzungen ausgeht und auf andere Fragen antwortet.

Um den Fortschritt bewerten zu können, müsste man Fortschritt realistisch definieren, sprich Beurteilungskriterien aufstellen und den Ausgangspunkt einer Fortschrittsbewegung benen­nen. Fortschritt ist heute entweder das, was Zukunftsoptimisten ganz einfach erwarten, oder das, was Forscher aus partikularem Interesse dazu erklären. Ein weiteres Problem stellt die Ambivalenz des Fortschritts dar: Wo Fortschritt stattfindet, muss man heute damit rechnen, dass er seinen Preis fordert. Wenn man beispielsweise die Entdeckung der DNS-Struktur (damit verbunden das Klonen etc.) heranzieht, kann aus innerwissenschaftlicher Perspektive zu Recht behauptet werden, einen biogenetischen Erkenntnisfortschritt erreicht zu haben. Aus außerwissenschaftlicher (Philosophen, Kulturkritiker, Politiker) Perspektive kann entgegnet werden, dass bestenfalls ein Erkenntniszuwachs, aber kein Fortschritt vorliegt, weil damit unkalkulierbare Gefahren und Risiken verbunden sind. Wenn diese Ambivalenzen unaufge­löst fortbestehen, sich sogar verstärken und die Folgen unabsehbar sind, kann der wissen­schaftliche Fortschritt jederzeit in einen kulturellen Rückschritt umschlagen.

Kann Erkenntniszuwachs, der sich in keine Legitimationspflicht gegenüber der Gesellschaft nehmen lässt, noch legitimierbar sein? Kann eine Wissenschaft, die in ihrem Erkenntnisdrang zu neuem Wissen rücksichtslos voranschreitet, überhaupt noch fortschrittlich sein?

Peter Mödritscher

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Wirth, U.: Diskursive Dummheit. In: Wertheimer, J. und Zima, P. (Hg.): Strategien der Verdummung: Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. München 2001, S. 46 - 58.

Diskursive Dummheit

„Dummheit zeigt sich daran, wie man über die Welt redet und wie man die Welt interpretiert - insofern ist sie ein diskursives Problem" womit der Begriff „diskursive Dummheit" einge­führt werden kann." (Wirth 2001, S. 46)

Die Ursachen diskursiver Dummheit

Auch Thomas HOBBES (1588-1679) führt die Dummheit auf ein mangelndes Vermögen, die Welt angemessen verstehen zu können, zurück. Für ihn ist die Dummheit ein methodisches Problem, nämlich die mangelnde Fähigkeit richtig zu denken und sich dieses Mangels be­wusst zu werden.

Immanuel KANT (1724-1804) definiert die Dummheit als „Mangel an Urteilskraft ohne Witz". Die Urteilskraft bestimmt, wie etwas zu verstehen ist, dabei spielen Vorwissen und bisherige Erfahrungen eine wesentliche Rolle. Laut Kant eröffnet der Witz neue Möglichkeiten des Verstehens. Demzufolge ist die Dumm­heit eine Mangelerscheinung, die die beiden Aspekte unseres Vermögens „angemessen zu verstehen" und „anders zu verstehen", betrifft.

Karl KRAUS (1874-1936) setzt Dummheit und Kultur in ein Verhältnis, das durch die Ge­schwindigkeit ausgezeichnet ist, mit der die Dummheit von der Kultur Besitz ergreift. Mit anderen Worten: Für Kraus ist nicht die Dummheit als solche das Besondere der Kultur, sondern die Dynamik und Geschwindigkeit mit der sie sich verbreitet.

Für den Psychologen Horst GEYER ist Dummheit ein Zustand, bei dem ein durchschnittlich begabter, erwachsener Mensch Antworten gibt, die zwischen Unwissenheit und Schwachsinn liegen und auf eine unfreiwillige Weise komisch wirken. Die Ursache dafür, dass die Dummheit „komisch" wirkt, ist das Erstaunen darüber, wie je­mand Fakten und Zusammenhänge nicht erkennen kann, die wir als selbstverständlich voraus­setzen.

Dummheit und die Ökonomie des Forschens

Der Prozess des Wissenserwerbs besteht darin, eigene Hypothesen aufzustellen und so zu formulieren, dass sie durch Experimente überprüft werden können.

Der amerikanische Philosoph Charles Sanders PEIRCE (1839-1914) entwickelte ein pragma­tisches Konzept wissenschaftlichen Hypothesen-Aufstellens, das er als „Abduktion" bezeich­nete. Dieser abduktive Prozess steht im Spannungsfeld zweier Überlegungen. Einerseits soll die Hypothese plausibel sein und andererseits soll das Testverfahren, mit welchem man die Hypothese überprüft, ein Höchstmaß an Effektivität garantieren. Peirce vergleicht den Prozess des Hypothesen-Aufstellens mit einem „Was bin ich?" - Spiel. Es geht darum, dass eine Partei mit Hilfe von zwanzig Ja-oder-Nein-Fragen einen Gegenstand erraten muss, den sich die andere Partei ausgedacht hat. Es geht weiters darum geschickt Fra­gen zu stellen, so dass immer nur ein kleiner Bestandteil der Hypothese riskiert wird und nicht

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die Gefahr besteht dass bei einem „Nein" die ganze Hypothese korrigiert werden muss. Beim Hypothesenaufstellen geht es darum, die Verlustchancen zu minimieren.

Als „wissenschaftliche Methode" bezeichnet Peirce das Auswahlkriterium für „gute Hypothe­sen", das den Forschungsaufwand in Relation zum erwarteten Resultat bringt. Er bezeichnet dieses Prinzip als „Ökonomie der Forschung" und versteht darunter den Aufwand an Geld, Zeit, Denken und Energie als die leitenden Überlegungen des abduktiven Prozesses. Peirce sieht im Vermögen der Menschen, nach vielen Versuchen die richtige Hypothese zu erraten, das ergänzende Gegenstück zur forschungsökonomischen Rationalität. Das Ziel wissen­schaftlichen Forschens liegt für ihn in der Ergänzung des natürlichen Instinktes und der öko­nomische Rationalität, wodurch Dummheit vermieden werden kann.

Für Peirce besteht das Erfolgsgeheimnis darin, dass es nicht schlimm ist wenn man sich irrt, solange man seinen Irrtum bemerkt", während das Misserfolgsgeheimnis der Dummheit darin besteht, „sich aufgrund anmaßender Blindheit des eigenen Irrtums gar nicht bewusst zu wer­den". Eine der offensichtlichsten Form von „gelehrter Dummheit" ist das starre Festhalten an fixen Ideen ohne einen möglichen Widerspruch in Betracht zu ziehen. Diese Form der Dummheit ist nicht auf eine mangelnde Intelligenz zurück zu führen sondern wohl eher auf deren Versagen.

Kurt Tucholsky liefert hierfür ein verblüffendes Beispiel mit seiner bekannten Psychologen-Satire In der Hotelhalle in welcher ein Psychologe mit seinem Urteilsvermögen prahlt. So sieht dieser z.B. in einem Nähmaschinenhändler eine fulminante Ähnlichkeit mit dem alten Kaiser Franz Joseph,.... Eigentlich wollte der Psychologe seine Intelligenz und seine „Einsicht in die Natur der Din­ge" demonstrieren, doch vernachlässigte er durch sein vorschnelles Urteilen und die interpre­tative Überheblichkeit das Ökonomieprinzip. Er „sparte sich den Aufwand seine Hypothesen vorsichtig zu formulieren und sie selbst einer kritischen Überprüfung zu unterziehen". Dieses Vorgehen führt zur selbstbeschleunigten Verstärkung der Dummheit.

Dummheit und psychischer Automatismus

Das Beispiel zeigt uns gleichzeitig, dass Dummheit eine hervorragende Quelle der Komik und der Schadenfreude ist, wobei unser Lachen Ausdruck „lustvoll empfundener Überlegenheit" ist.

Für FREUD liegt die Ursache der Dummheit in der unangemessenen Anwendung des Öko­nomieprinzips. Im Automatismus offenbart sich dieser Mangel an Urteilskraft und die damit verbundene Abweichung vom gesunden Menschverstand als Dummheit. Dummheit erscheint als eine Form der Abweichung von dem, was wir normalerweise erwarten. Wir erwarten, dass ein Fußgänger bei Rot stehen bleibt. Wenn dennoch jemand bei Rot über die Straße geht, ist das weder dumm noch komisch. Sein Verhalten weicht aber von der Norm ab. Bleibt aber ein Fußgänger um zwei Uhr morgens vor einer roten Ampel stehen obwohl kein Auto weit und breit zu sehen ist, wirkt das lächerlich und ist dumm. Wer sich dem Automatismus überlässt anstatt sich den Anforderungen der jeweiligen Situati­on anzupassen spart sich den Aufwand des Denkens und macht es sich leicht. „Die schnellste und einfachste Form des Denkens ist das Stereotype, der Gemeinplatz, die Phrase." (Wirth 2001, S.53)

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So geht es beim Erforschen, Interpretieren und Verstehen der Welt nicht mehr um die effek­tivste Form des Hypothesenaufsteilens, sondern um Schnelligkeit und Einfachheit. Im Auto­matismus versteckt sich also der geistige Leerlauf.

Diskursive Dummheit und Gemeinplatz

Glaubt man Pierre BOURD1EU (1930-2002), so liegt die rasante Verbreitung der Dummheit am Fernsehen, wobei er die Ursache dafür in der Struktur der Inhaltsvermittlung sieht. Im Fernsehen gibt es für das Denken keinen Platz, denn es gehorcht dem Gesetz des Gemein­platzes, um dem Zuschauer ein leichtes Verstehen zu ermöglichen. Das Denken wird, wie Bourdieu es nennt, von „fast-thinkem" erledigt. Sie arbeiten mit vorgefertigten Schablonen, mit Gemeinplätzen um der Ökonomie der medialen Unterhaltung gerecht zu werden.

Die Folgen diskursiver Dummheit

Eine wichtige Frage, die uns am Ende beschäftigt lautet „Wie entgeht man den Folgen der Dummheit?" Nicholas RESCHER hat zwei Antworten darauf, eine offensichtliche Antwort - „Gar nicht!" -und eine weniger offensichtliche „Macht aber nichts!"

Rescher behauptet, dass die gleichmäßige Verteilung von Dummheit und Instinkt eine wichti­ge Voraussetzung dafür ist, dass wir unsere Instinktsicherheit nicht überschätzen. „Erst dann, wenn wir an unsere eigenen Grenzen stoßen, kommen wir auf den Gedanken, mit anderen Menschen zu kooperieren - als 'Intelligenzbestie' dagegen hätten wir diese Koopera­tion mit der Gesellschaft gar nicht nötig." (Wirth 2001, S. 57)

Rescher betont, dass das gänzliche Fehlen der „Natürlichen Dummheit" fatale Folgen hätte. Diese lassen sich an der „künstlichen Intelligenz" beobachten. Während der Computer den Vorteil hat, dass er von „Natur aus" nicht dumm ist, hat er den Nachteil, dass er keinen „In­stinkt für das Relevante" besitzt. Die künstliche Intelligenz ist zwar in der Lage an sie gestell­te Fragen zu beantworten, doch sie vermag es kaum intelligente Fragen zu stellen, da die Art der Rezeption von Daten „instinktlos" ist.

Rescher liefert uns zwar eine Erklärung warum wir „von Natur aus" nicht klüger sind, doch damit wirft er neue Fragen auf. Wird unsere 'individuelle Dummheit' durch die Kooperation mit anderen wirklich kompensiert? Oder wird sie nicht vielmehr verstärkt?

Susanne Horn-Hohenegg

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Zima, P.: Wie man gedacht wird. Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne. In: Wertheimer, J. und Zima, P (Hg.): Strategien der Verdummung: Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. München 2001, S. 11 - 30.

Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne

Bekämpft wird der Feind, der bereits geschlagen ist, das denkende Subjekt. Horkheimer/Adorno (Dialektik der Aufklärung)

Sich denken lassen, statt selber nachzudenken, ist denkbar einfach. (Peter V. Zima)

Jürgen Becker schildert den Sachverhalt in Bezug auf das selbstständige Denken so, dass die meisten Menschen mit vorgefertigten Phrasen recht gut auskommen. Sie ersparen sich den Aufwand, selber Satzgefüge zu erstellen. Becker meint, nur noch ein Grüppchen von Intellek­tuellen zu finden, die Sprach- und Gesellschaftskritik für sinnvoll halten. Gedankenlose sind im anbrechenden 21. Jahrhundert nicht mehr in der Lage, simple Gedankengänge nachzuvoll-ziehen, weil sie „vom Spruchzeug der Medien- und Werbefachleute gesprochen werden".

Adorno sagt in „Kritik, Kleine Schriften zur Gesellschaft": „Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden; dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken."

Zugleich erinnert Adorno daran, dass es den französischen Kritikern der Moderne darum ging, Subjektivität als ideologische Illusion zu zerlegen. Intellektuelle, wie Leslie A. Fiedler tragen entscheidend zur Abwertung moderner Kritik bei und somit zu globaler Verdummung. Fiedler macht sich selbst zum Anwalt einer amerikani­sierten, eindimensionalen Gesellschaft. Eine zweite Dimension kann nicht benannt werden, weil „die Worte fehlen". Umberto Eco pflichtet ihm bei, und sagt, Fiedler wolle nur Schran­ken niederreißen, die zwischen Kunst und Vergnügen errichtet worden sind.

„Wer inmitten einer um sich greifenden sozialen Aphasie nicht mehr in der Lage ist, für sich zu sprechen, weil ihm im entscheidenden Augenblick nur noch das intermedial vermarktete Schlagwort einfällt, der ist zur politischen oder ästhetischen Willensbildung nicht mehr fähig und stellt als indifferenter, manipulierbarer Wechselwähler oder Konsument eine Gefahr für die Demokratie dar."

Zima wirft sogar ein, dass - wie man es etwa auf Zigarettenpackungen findet - Boulevard­blätter mit der Aufschrift SCHADET DEM INTELLEKT versehen werden sollten. Eine ana­lytische Inhaltsangabe könnte etwa so lauten: öO % hohle Phrasen, 20 % fehlerhafter Syntax, 5 % widersprüchliche Behauptungen usw.. Die drastische Reduktion von Komplexität ergibt, dass Zusammenhänge nicht mehr verstan­den werden und somit Wahlgrinsen oder Slogans für Entscheidungen ausreichen. Adorno warnt also, sich nicht „dumm machen zu lassen".

Dass es einen stillen Widerstand gibt, zeigt die Klage der Menschen von unterschiedlicher Herkunft in allen Ländern der EU über die Dummheit ihrer Fernsehprogramme. Lois Althusser fasst die Sprachproblematik eines Jahrhunderts zusammen: "Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an." Diskurse des Nationalsozialismus und des Faschismus haben

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sich der Individuen und der Gruppen bemächtigt und das „Ich" zu einer leeren Worthülse ge­macht. Menschen wurden vom Diskurs des NS zum Subjekt gemacht. Der Mensch ist, zu­mindest zeitweise, außerhalb dieses Diskurses außerstande selbständig zu denken und zu sprechen.

Diskurse, die sich der Subjekte bemächtigen, sollten zerlegt werden. Unsinnige Formen, wie „Mitgliederlnnen" fallen gar nicht mehr auf, was in zehn Jahren durch die „Strategien der Verdummung" wohl auch möglich sein wird. Dahinter steht die geballte Macht der Technolo­gie. Der Computer-Mythos stellt alles in den Schatten. Dieser Mythos suggeriert (hilflosen) Intellektuellen, dass die natürliche Intelligenz durch die künstliche potenziert werden kann. Auf diese künstliche Intelligenz fallen nicht nur Lernende, sondern auch Lehrende herein. Denn bereits Ende der 60er Jahre wurde angegeben, dass es nur mehr einen altersbedingten „Wissensvorsprung" gibt, weil auch Lehrer sich von dieser künstlichen Intelligenz betören ließen.

Die Wahl der Konnotation (lt. Duden: mit einem Wort verbundene tatsächliche Vorstellung) ist im Sprachgebrauch wesentlich:

„Fluggesellschaft": etwas schwerfällige Organisation „Airline " hingegen: jederzeit startklare Jets

„Schwimmbecken": es beinhaltet „bloß" Wasser „ Pool" hingegen: ein richtiges Erlebnis ist inkludiert

„ Schnäpschen ": erzeugt Kater „ Drink" hingegen: evoziert Hollywood

usw.

Wer sich dem Trend des „International English" widersetzt, wird mitleidig belächelt, weil er mit dem Relikt des 20 Jahrhunderts spricht. Wer sagt, dass er sich noch schnell einen Drink einschenkt und draußen am Pool wartet, denkt sich wahrscheinlich selbst nichts dabei, weil er die Sprachmechanismen nicht durchschaut, aber im Grunde will er sagen: „Schau, wie gut wir sind, was wir haben. ..." Die Sprache spricht für sich.

Strategien der Verdummung

Schon 1994 sprach der kalifornische Wissenschaftler Barry Sanders von negativen kulturellen und (gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Hauptursachen liegen vor allem am wachsenden Konsum elektronischer Medien, vor allem des Fernsehens. Die heutige Industriegesellschaft mit ihren Verflechtungen der Wirtschaft sind komplexe Strukturen. Sie setzt auf Menschen, die sich diesen Anforderungen gewachsen zeigen. Gleichzeitig sieht sie sich jedoch zunehmend dem Phänomen des kulturellen Niedergangs gegenüber. Fundamente, die uns zu einer Informationsgesellschaft hinführen sollen, brechen weg. Durch die Fernsehforschung wissen wir, dass der erreichte Fortschritt aufgefressen wird von dem selbst erzeugten Rückschritt.

Wertheimer/Zima bezeichnen Fernsehen als organisierte Sprachlosigkeit. Am Beispiel eines James Bond Filmes wird aufgezeigt, dass die Kontrollgruppe der Zuseher dem Inhalt des Fil­mes ohne Probleme folgen kann, auch wenn der Ton während der Vorführung abgedreht wird. „Action" reicht aus, um das Publikum in Bann zu halten und garantiert hohe Einschalt-

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quoten. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Entspannung vor dem Bildschirm vom sprachlosen Fremdarbeiter oder vom Intellektuellen gesucht wird. Der Zuseher wird von Schock zu Schock, von Sequenz zu Sequenz mitgeschliffen, bis er am banalen Happy-End ankommt. Im Vergleich dazu sind Schockerlebnisse im Epischen Theater ein Anlass gewesen, kritisch nachzudenken. Interessant ist, dass diese Produkte der kommerzialisierten Kultur von der Mehrheit gut ge­heißen werden. Sie werden eher halbbewusst, fast unwillkürlich aufgenommen. Der heteronome Intellektuelle Leslie A. Fiedler sagt, dass kommerzialisierte Kulturformen subversiv seien, also im Untergrund entgegenwirkend. Doch wogegen soll diese subversive Kraft sich richten? Sicherlich nicht gegen die amerikanische Konzern Wirtschaft...

Patzlaff (2001, S. 24 ) beschreibt diese passive, unbewusste Haltung des Menschen auch aus biologischer Sicht. Das Auge ist bemüht, tausende winzige Rasterpunkte zu fixieren. Der Blick erstarrt jedoch zu dem bekannten Fernseh-Blick. Patzlaff bezeichnet ihn auch als „der gefrorene Blick". Die sonst so lebhafte Augentätigkeit ist sinnlos geworden und weicht einer hochgradigen Passivität. Durch das Fernsehen findet nicht nur eine Aktivitätsverhinderung statt, sondern auch ein Willensstau und damit eine Ich-Verhinderung.

Beim Fernsehen finden wir Gegensätze. Komplementär zu Action-Filmen, in denen die Spra­che eine Randerscheinung ist, verhält sich die Talk - Show, in der die Sprache zu Geschwätz verkommt. In dieser Form wird der Voyeurismus angestachelt, denn der Zuseher bekommt Einblick in die Indiskretionen und Privatsphäre der Plaudernden. Die ungeschminkte Darstel­lung von Lebenserfahrungen nimmt oft extreme Formen an und verkommt sehr schnell zum Schmuddel-Talk. Ein deutscher Privatsender zeigt jedoch auf, dass Zuseher doch mit Unmut auf gewisse Talkstars reagierten und Beschwerde einlegten. Die freiwillige Selbstkontrolle funktioniert demnach, macht aber auch deutlich, dass das Angebot im Großen und Ganzen dennoch der Nachfrage entspricht.

Die psychotechnische Behandlung, die Massen auf die Spitze treibt, indem sie sie die nerv­lich-psychischen Reflexe jedes einzelnen unmittelbar anspricht, ist keine Ausnahme, sondern tagtägliche „Realität" im Fernsehen. Schlägt man das Fernsehprogramm auf, so findet sich beispielsweise ein Actionfilm, der mit vier Sternen ausgezeichnet ist (Bewertung: Sehr se­henswert) wie folgt beschrieben: „Leon - der Profi": Ein kleines nettes Mädchen und ein netter Mörder bilden das dynamische Duo in einem ultra­harten Designerkrimi. Gemeinsam kämpfen sie gegen den Rest der Welt, wobei das Böse interessanterweise von der Polizei verkörpert wird. „Leon - Der Profi" ist ein mörderisches Melodram. Cool, exzentrisch, trendy, aber trotz allem wunderschön. Eine Zweckgemeinschaft im Großstadtjungel: Matilda lehrt Leon das Lesen. Er bringt ihr das Töten bei. Und das Blut, das dabei fließt, kommt direkt aus dem Herzen, (tele, Das Österreichische Fernsehmagazin, Nr. 4/2004, S. 29)

Bernadette Lutnik

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Horgan, J.: An den Grenzen des Wissens. Frankfurt 2000.

An den Grenzen des Wissens

Im 20. Jahrhundert verbreitete sich die Vorhersage, dass wir möglicherweise bald alles wissen werden, was man wissen kann. Jedoch kamen gleichzeitig Zweifel auf, ob wir irgend etwas mit Sicherheit wissen können.

1987 unterzogen zwei bekannte britische Physiker Theocharis und Psimopoulos diese skepti­sche Auffassung der Kritik. In einem Artikel im britischen Wirtschaftsmagazin zweifelten sie die Naturwissenschaften an und nannten sie „Verräter der Wahrheit". Gemeint waren:

Karl Popper, Imre Lakatos, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend

Feyerabend beispielsweise nannten sie den schlimmsten Feind der Wissenschaft. Sie schrieben auch der Wissenschaft mehr Macht zu als sie gegenwärtig besaß. Der Amerika­ner Charles Sanders Peirce definierte die absolute Wahrheit folgendermaßen: „Sie ist das, was die Wissenschaftler nach Abschluß ihrer Bemühungen als absolute Wahrheit postulierten." Zu Beginn des 20.Jahrhunderts war der logische Positivismus nur dann wahr, wenn er logisch oder empirisch bewiesen werden könne.

Karl Popper

Er war ein großer Skeptiker, seine philosophische Lehre ging aus seinen Bemühungen hervor, pseudowissenschaftliche Theorien wie z.B. die Astrologie oder die Freud'sche Psychoanalyse von echter Wissenschaft wie etwa der „Einstein'schen Relativitätstheorien zu unterscheiden.

Popper war ein großer Philosoph und lebte in London. Er glaubte an die Kraft des menschli­chen Geistes. Er kämpfte in seiner Laufbahn gegen die Lehre vom naturwissenschaftlichen „Determinismus", da sie seines Erachtens nicht vereinbar war mit der Kreativität und Freiheit des Menschen.

DETERMINISMUS - die Lehre, dass der Mensch in seinem Willen durch äußere und innere Ursachen letztendlich genötigt und nicht frei sei.

Er glaubte nicht, dass wir jemals wissen können, ob eine Theorie wahr sei. Die Suche nach der Wahrheit war für Popper das, was das Leben lebenswert macht.

Das Streben nach der Wahrheit ist eine Art von Religion. Das Streben nach der Erkenntnis dürfte niemals enden.

Popper war auch überzeugt, dass die Wissenschaft niemals Fragen nach dem Sinn und Zweck des Universums beantworten könne.

Er sagte: „Der Ursprung des Lebens wird sich vermutlich niemals wissenschaftlich überprü­fen lassen. Selbst wenn es gelingen sollte, Leben künstlich im Labor zu erzeugen, könnten wir niemals sicher sein, dass sich die Entstehung des Lebens tatsächlich auf gleiche Weise vollzo­gen habe."

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Popper starb im Jahre 1994. In seinem Nachruf wurde auch auf eine Autobiographie hinge­wiesen, wo Popper erwähnt, dass seine Eltern österreichische Juden gewesen seien, die zum Protestantismus übergetreten seien. Er glaubte ja, dass zahlreiche Juden eine fehlende Bereit­schaft hatten, sich an die deutsche Kultur anzupassen, und somit auch Mitschuld an ihrer Si­tuation hätten. Es fehlte nicht viel und Popper hätten den Juden selbst die Schuld am Holo­caust gegeben.

Thomas Kuhn

Ihm verdanken wir den modischen Begriff des Paradigmas und die Einsicht, dass Persönlich­keiten und Politik in der Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen.

PARADIGMA - kommt aus dem griechischen und ist ein Begriff für ein Denkmuster, das die wissenschaftliche Orientierung einer Zeit prägt.

Die Wissenschaftler können niemals zu einer wahren Erkenntnis kommen, sich nicht einmal untereinander klar verständigen. Er führte seine Wissenschaftskonzeption auf ein Schlüsselerlebnis zurück als er in Harward an seiner Dissertation in Physik arbeitete. Als er die Physik des Aristoteles las, wunderte er sich darüber, wie falsch sie war. Aristoteles verstand beispielsweise unter dem Begriff „Be­wegung" nicht nur Ortsveränderungen, sondern auch andere Veränderungen wie z.B. das Rotwerden der Sonne.

Die meisten Wissenschaftler stellten das Paradigma nie in Frage. Kuhn nannte diese Aktivität „Aufräumungsarbeit" bzw. normale Wissenschaft. Anhänger verschiedener Paradigmen können endlos miteinander streiten, weil sie Grundbegriffen wie Bewegung, Teile, Raum und Zeit unterschiedliche Bedeutungen beimessen. Kuhn behauptet: Nur weil die moderne Physik Computer und CD-Spiele hervorbringt, bedeu­tet es nicht, dass sie wahrer sei als die Aristotelesche Physik. Am Ende seines Buches stellte er die These auf, dass sich die Wissenschaft wie das Leben auf der Erde nicht auf etwas hin, sondern nur von etwas weg-entwickle. Unsere Paradigmen verändern sich mit dem Wandel der Kultur. Verschiedene Gruppen kön­nen unterschiedliche Erfahrungen machen und bis zu einem gewissen Grad in unterschiedli­chen Welten leben.

Auch die SPRACHE, so Kuhn, ist kein universelles Werkzeug. Es ist nicht der Fall, dass man alles was sich in einer Sprache sagen lässt, auch in einer anderen Sprache ausdrücken lässt. Kuhn sagte im Gegensatz zu Popper, dass der wissenschaftliche Fortschritt, selbst unter nor­malen Umständen, möglicherweise nicht ewig währt.

„ Die Wissenschaft hatte einen Anfang. Wir sollten nicht behaupten, wir wüssten heute, wie die Welt wirklich ist. "

Paul Feyerabend

Feyerabend war ein Anarchist (politische Lehre, die jede staatliche Gewalt ablehnt, und das menschliche Zusammenleben rein vom Willen und der Einsicht des Einzelnen her bestimmt) und bezeichnete sich selbst als einen spöttischen Menschen, Großmaul und nannte sich faul. Er behauptete von sich, er habe keinen Standpunkt weil dies etwas zu „Festgeschraubtes" sei.

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Sein erstes Buch: „Wider dem Methodenzwang" erschien 1975 und wurde in 16 Sprachen übersetzt. Darin behauptet der Autor, dass sich aus der Erkenntnistheorie keine bestimmte Methodik erarbeiten lasse. Wissenschaftler erarbeiten und verteidigen wissenschaftliche Theorien, sie können und müssen das tun was jeweils erforderlich sei, um Erkenntnisfortschritte zu ma­chen. Er fasste sein anarchistisches Kredo in einem Schlagwort zusammen:

Anything goes!

Feyerabend verglich die Wissenschaft mit Voodoo, Zauberei und Astrologie. Seine Eintra­gung in das „Who's who" in Amerika endete mit folgender Bemerkung:

„ Mein Leben war das Ergebnis von Zufällen, nicht von Zielen und Grundsätzen. Liebe und persönliches Verständnis sind sehr viel wichtiger. "

Feyerabend attackierte die Wissenschaft, weil er ihre Macht und ihre Fähigkeit, die Vielfalt des schöpferischen Denkens und der menschlichen Kulturen zu vernichten, erkannte.

1987 erschien sein Buch: „Irrwege der Vernunft". Dort enthüllte er, wie tief sein Relativismus reicht. (Lehre dass es im Erkennen Denken, Handeln kein unbedingtes Absolutes gibt)

Er sagt, dass es nicht nur eine wissenschaftliche Methode gibt. Man hat bestimmte Hypothe­sen, doch dann taucht eine neue Situation auf und man probiert etwas anderes aus. Die Wissenschaft liefert faszinierende Geschichten über das Weltall. Die Wissenschaftler seien sich bei zahlreichen Fragen jedoch selbst nicht einig. Deshalb sollen die Leute es nicht hinnehmen wenn ein Wissenschaftler sagt: „Alle müssen uns auf diesem Weg folgen."

Feyerabend wies auch darauf hin, dass viele nicht industrialisierte Völker ohne Wissenschaft ausgekommen sind. Die Afrikaner überleben beispielsweise in einer Umwelt, in der jeder westliche Mensch umkommen würde, da primitive Völker mehr über ihren Lebensraum wis­sen, als vermeintliche Experten. Aus diesem Grund sollen Kinder von klein auf unterschiedliche Denkweisen kennen lernen, sodass sie dann frei wählen können.

Der Mensch könne wissenschaftlich nicht alles herausbekommen. Es kann nicht sein, dass das Universum mit einem Riesenknall entstanden ist und sich dann ausdehnt. Eine Fülle von Fra­gen wird noch entstehen um das herauszubekommen. Sein 1995 erschienenes Buch "Zeitverschwendung" erschien noch vor seinem Tod.

Auf den letzten Seiten seines Buches erwähnte er, dass die Liebe das einzige sei, was im Le­ben zählt.

Gudrun Bacher

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Rößler, E.: Das Ende der letzten großen Erzählung. In: Fischbeck, H.-J. und Schmidt, J. (Hg.): Wertorientierte Wissenschaft: Perspektiven für eine Erinnerung der Aufklärung. Berlin 2002, S. 93 -107.

Das Ende der letzten Großen Erzählung Von akademischer zu post-akademischer Wissenschaft

Die zentrale Frage des Autors: „Ist die Wissenschaft als Manifestation einer organisierten Vernunft wirklich so unveränderlich, wie einst geglaubt? "

Im Wissenschaftsbetrieb ändert sich vieles und zwar mit großer Geschwindigkeit. Diese Ver­änderungen zeigen uns, dass es immer weniger möglich ist, einen harten Kern der Wissen­schaft auszumachen. Das was wir unter „guter Wissenschaft" verstehen, muss einer histori­schen Epoche zugeordnet werden. Die Wissenschaftler beschreiben meistens ihre Ideale, aber kaum, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert. Es offenbart sich eine zunehmende Diskre­panz zwischen den, von Vertretern der Wissenschaft geschaffenen traditionellen Bildern von Wissenschaft und den tatsächlichen Praktiken. Man geht von der Vorstellung aus, dass wis­senschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt ein untrennbares Paar ist. Aber gerade dieser Teil deutet die Dekonstruktion der letzten von der postmodernen Kritik noch verschonten „Großen Erzählung" an.

Die wissenschaftliche Methode

Wissenschaft produziert gesichertes Wissen, ein Wissen, worauf sich die Öffentlichkeit ver­lassen kann. Um zu diesem Wissen zu kommen, wendet die Wissenschaft verschiedene Me­thoden an: Beobachten von Dingen und Ereignissen: Das naive Beobachten entwickelt sich zu genauem Messen und Klassifizieren Gezielt geplante Experimente müssen reproduzierbar sein und ihre Beschreibung muss frei von subjektiven Einflüssen sein.

Das heißt, man geht empirisch vor und sucht intersubjektive Überprüfbarkeit. Hypothesen, Modelle und Theorien müssen verifiziert werden.

Dieses Bild verbreiten Wissenschaftler gern in der Öffentlichkeit. Die Wissenschaft als eine Methode, die zu unangreifbarer Kompetenz führt. Nur sie erzeugt verlässliches Wissen.

Ernst Rößler spricht davon, dass Wissenschaft eine soziale Institution darstellt. Die Wissen­schaft hat sich im Laufe der Zeit Normen geschaffen.

Diese Normen: • allgemeine Zugänglichkeit • Allgemeingültigkeit • Neutralität, keinem Interesse folgend • Erkenntnisfortschritt • Erkenntnisprozess nie abgeschlossen

sind im Wissenschaftsbetrieb institutionalisiert worden und prägen als soziale Praktiken das Ethos der Wissenschaft. Die Wissenschaft, die sich diesen Normen verpflichtet fühlt, nennt sich „academic science". Ziel ist es, die Tätigkeit der vielen einzelnen Wissenschaftler zu einem kohärenten Wissen zu transformieren. Akademische Wissenschaft strebt also danach,

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Objektivität durch Konsens in einem kollektiven Prozess zu erzielen. Das heißt, wir verlassen uns auf Wissenschaft als eine funktionierende soziale Institution.

Von akademischer zu post-akademischer Wissenschaft

Wie hat sich Wissenschaft verändert?

Dazu einige Schlagworte: Wissenschaft wird eine kollektive Anstrengung. Probleme können nur in Teamarbeit angegangen werden. Großforschung und Transdisziplinarität sind gefragt. Grenzen des Wachstums sind absehbar. Spezialisierung dringt immer tiefer. Wir sind kaum in der Lage, die Arbeit unserer Kollegen zu beurteilen. Herausgeber von wissenschaftlichen Zeitschriften weigern sich die Verantwortung für das Publizierte zu übernehmen. Möglichkeit, das Fehler entdeckt werden, reduziert sich mit zunehmender Ausdünnung Es wächst der finanzielle Bedarf für die Forschung ins Grenzenlose. Wissenschaftler konkurrieren um Geldgeber - daher Abhängigkeit; Glaubwürdigkeit wird in den Hintergrund gedrängt. Potenzielle Entdeckungen werden nach außerwissenschaftlichen (kommerziellen) Kriterien beurteilt. Forschergruppen transformieren sich in Unternehmen. Zunahme des finanziellen Bedarfs führt zur Privatisierung.

Diese Aufzählung macht deutlich, dass einige Grundfeste der „academic science" untergraben werden. Es ist somit die „post-academic science" entstanden. Man sieht, dass die vorherge­nannten Normen zum Teil gar nicht mehr angestrebt werden.

Vormoderne kulturelle Praktiken und postmoderne Epistemologie

„Academic science" weist Anzeichen einer vormodernen sozialen Struktur auf: Sie vertraut auf persönliche Autorität und Kompetenz; es gibt ein berufliches Ethos. Dies zeigt eine Ähn­lichkeit mit historisch überholten Institutionen wie Kirchen oder Handwerkszünften. Dies hat anscheinend keinen Platz mehr in der heutigen Zeit. Im Wissenschaftssystem vollzieht sich ebenfalls der Übergang in die Postmoderne.

1. Wissenschaft erweist sich offenbar so Undefiniert und offen, dass sie prob­lemlos diese Transformation mitmacht.

2. Wissenschaft fand schon immer in einem Kontext statt. 3. Kontextualisierung (= erhöhte soziale Kontrolle) ist aber gerade das Gegen­

teil von Interesselosigkeit.

Das heißt, die Arbeitsprinzipien der Wissenschaft müssen als postmodern angesehen werden.

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Wissenschaft im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen

Ursachen des Wandels: Um die Ursachen zu erklären, ist es notwendig, die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes zu betrachten. Die Wissenschaft etablierte sich mit der Entwicklung des Kapitalismus. Der Kapitalismus war staatlich protegiert, d.h. es gab einen stark zentralisierten Staat, der die Entwicklung der Wissenschaft gefördert hat. Es gab eine Trennung zwischen Wissenschaft, Handel und Wirtschaft. Somit entstand ein autonomes Subsystem, gleichzusetzen mit der „a-cademic science".

Es kam zur Globalisierung. Diese neue Phase ist gekennzeichnet durch weltweite Deregulie­rungen des Wirtschaftslebens (Abbau von politischen Regulierungen). Eine weitere Folge war das zunehmende Desinteresse an akademischer Wissenschaft. Öffentliche Armut und privater Reichtum sind typisch für unsere Zeit: jeder muss schauen, wo er bleibt! Es breitet sich Unübersichtlichkeit, Ungewissheit und Risiko aus - die Postmo­derne entsteht. Mit diesem Umschwung kam auch die Wissenschaft, die jeden ein Stück Wohlstand versprach, ins Wanken.

Die akademische Wissenschaft ist Teil dieser letzen „Großen Erzählung". Darunter versteht man die Behauptung, dass Wissenschaft etwas Besonderes sei und sich von anderen mensch­lichen Aktivitäten unterscheide, nämlich, dass die Wissenschaft verlässliches Wissen und damit Wohlstand mitbringe. Nun geraten Vertreter der „academic science" infolge der Postmoderne und der Globalisie­rung unter Druck - es entstehen Wissenschaftskriege.

Spätestens jetzt wird deutlich, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen wissen­schaftlichem und menschlichem Fortschritt gibt.

Chancen und Gefahren der post-akademischen Wissenschaft

Schlussfolgerungen: 1. Sowohl der Erfolg von Wissenschaft und Technik als auch die Globalisierung erzwin­

gen eine verstärkte gesellschaftliche Einwirkung auf die Wissensproduktion. 2. Gleichzeitig endet die „Große Erzählung", die besagt, dass wissenschaftlicher Fort­

schritt mit sozialem einher geht.

Herausforderungen: Verlässliches Wissen zu schaffen, ein Wissen, das sozial robust ist, von dem die Gesellschaft als Ganzes profitieren kann, wäre eine Solche.

Ich möchte noch den Begriff „Re-thinking Science" erwähnen. Diese These geht davon aus, dass das produzierte Wissen umso verlässlicher wird, je mehr soziale Kontrolle die Wissen­schaft zulässt. Also genau das Gegenteil zur „academic science".

Rößler meint, um ein Überleben der Menschheit zu gewährleisten, braucht die Gesellschaft Wissenschaften, die Komplexitäten nicht reduzieren, sondern Handlungsspielräume eröffnet. „Academic science" kann dies nicht leisten, denn ihr reduktionistischer Ansatz ist nicht adä­quat für eine globalisierte Welt. Die Zukunft gehört, laut Autor, der „post-academic science". Einer Wissenschaft, die

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• keine Autonomie für sich fordert, • die sich freiwillig den gesellschaftlichen Belangen öffnet und • ihre Ängste vor sozialer Kommunikation überwindet.

Abschließend ist zu sagen: Skeptisches Denken muss den reduktionistischen Rahmen spren­gen und die Welt muss als Ganzes erfasst werden.

Rangentiner Manuela

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Sagen, C: Der Drache in meiner Garage oder die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu ent­larven. München 1997.

Wissenschaft - Pseudowissenschaft

Wir haben einen natürlichen Wissensdurst, meist ist aber alle Wissenschaft bereits herausge-filtert worden, ehe sie uns erreicht. Die Wissenschaft vermag ein mächtiges Gefühl des Stau­nens zu erwecken, aber das gelingt auch der PSEUDOWISSENSCHAFT. Pseudodokumentati-onen, auf die Leichtgläubige hereinfallen, gibt es in Hülle und Fülle. Skeptische Darstellun­gen lassen sich viel schwerer finden. Skepsis verkauft sich nicht gut. Ein intelligenter und wissbegieriger Mensch, der sich ausschließlich auf pseudowissenschaftliche Beiträge verlässt, wird wahrscheinlich hundert- oder tausendmal öfter auf eine unkritisch übernommene Sage stoßen als auf eine nüchtern und ausgewogen urteilende Darstellung. Spärliche und schlechte populärwissenschaftliche Darstellungen lassen ökologische Nischen frei, welche die Pseudo­wissenschaft ausfüllt. Wäre es allgemein bekannt, dass Tatsachenbehauptungen entsprechen­de Beweise erfordern ehe man sie akzeptiert, hätte die Pseudowissenschaft keine Chance.

Begriff: „ Wissenschafts-Analphabeten" (95% der Amerikaner) - hat in unserer Zeit gefährli­che Folgen - es ist einfach gefährlich, wenn der Normalbürger nicht Bescheid weiß über die globale Erwärmung, die Abnahme der Ozonschicht, die Luftverschmutzung, über Giftmüll, .... Auch Arbeitsplätze und Löhne sind von Wissenschaft und Technik abhängig. Wenn unsere Nation nicht mehr qualitativ hochwertige und preisgünstige Produkte herstellen kann, die Menschen kaufen wollen, dann werden sich weiterhin ganze Industriezweige verlagern und anderen Teilen der Welt etwas mehr Wohlstand angedeihen lassen. Wie können wir die Poli­tik unseres Landes beeinflussen, oder auch nur intelligente Entscheidungen in unserem eige­nen Leben treffen, wenn wir die eigentlichen Probleme nicht begreifen?

Statt zuzugeben, dass wir auf vielen Gebieten nichts wissen, neigen wir dazu, Dinge zu sagen wie: das Universum sei vom Unnennbaren durchdrungen. Einem Gott der Lücken wird die Verantwortung für das zugeschrieben, was wir noch nicht verstehen.

Hippokrates hat die Medizin aus dem Dunkelkreis des Aberglaubens heraus ins Licht der Wissenschaft gebracht.

In der Krankheitsdiagnose führte er Elemente der wissenschaftlichen Methodik ein. Er be­stand auf sorgfältiger und exakter Beobachtung: „ Überlasse nichts dem Zufall. Übersieh nichts. ..."

Krankheiten, die einst tragischerweise zahllose Säuglinge und Kinder hinweggerafft hatten, wurden nach und nach von der Wissenschaft gelindert und geheilt - durch die Entdeckung der Bakterien und über die Einsicht, dass Ärzte und Hebammen sich die Hände waschen und ihre Instrumente sterilisieren sollten, Antibiotika, Impfstoffe, ...

Wissenschaft und Technik haben die Welt nicht nur mit segenreichen Gaben beglückt:

• Entwicklung von Kernwaffen

• Nervengas

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• Die Verschmutzung von Luft und Wasser • Die Auslöschung von Arten, sowie mächtige Industrien, die das Klima des Plane­

ten zerstören können.

Die technischen Gefahren, die die Wissenschaft mit sich bringt, ihr immanentes Infragestellen überkommener Überzeugungen und die Schwierigkeit, sie zu verstehen, sind die Gründe, wa­rum manche Menschen ihr misstrauen und ihr aus dem Weg gehen.

Sind wir wirklich noch an dem interessiert, was wahr ist? Spielt es noch eine Rolle?

Es ist bedrückend, wenn man beispielsweise entdeckt, dass Politiker korrupt und inkompetent sind - aber ist es besser, darüber nicht Bescheid zu wissen? Es stellt sich die Frage, wessen Interesse dient die Unwissenheit?

Welche Einstellung eignet sich besser für unser langfristiges Überleben? Welche verschafft uns mehr Einfluss auf unsere Zukunft? Und wenn dabei unser naives Selbstvertrauen ein we­nig untergraben würde - wäre das denn wirklich ein Verlust? Haben wir nicht allen Grund, dies als eine Erfahrung des Reiferwerdens und der Persönlichkeitsbildung zu begrüßen?

Ob es uns nun passt oder nicht, die Wissenschaft werden wir nicht mehr los.

Doch Aberglaube und Pseudowissenschaft stehen dem auch weiterhin im Weg. Pseudowis­senschaft ist leichter zu betreiben als Wissenschaft, weil jene die unangenehmen Konfrontati­onen mit der Wirklichkeit lieber vermeidet. Im Zentrum eines Teils der Pseudowissenschaft steht die Idee, dass Wunsch gleich Wirklichkeit sei.

Die Pseudowissenschaft findet in exakt dem gleichen Maße Anhänger, wie die echte Wissen­schaft missverstanden wird. Wenn Sie noch nie etwas von Wissenschaft gehört haben, werden sie kaum merken, dass Sie der Pseudowissenschaft anhängen. Sie denken einfach auf eine der Arten, wie es Menschen immer schon getan haben. Religionen sind oft die staatlich geschütz­ten Brutstätten der Pseudowissenschaft, obwohl es keinen Grund dafür gibt, warum die Reli­gion diese Rolle spielen muss. In gewisser Weise ist die Pseudowissenschaft ein Artefakt aus längst vergangener Zeit. In manchen Ländern glaubt fast jeder an Astrologie und Vorahnun­gen...

Die wissenschaftliche Bildung der Öffentlichkeit ist in den letzen Jahren verkümmert. Gleich­zeitig finden Aberglaube und Unwissenheit ein stetig wachsendes Betätigungsfeld, und immer häufiger treten Fälle von Antiwissenschaft und Pseudowissenschaft auf.

So amüsant uns die Pseudowissenschaft zum Teil erscheinen mag, so sicher wir uns vielleicht sind, dass wir niemals so leichtgläubig wären, uns von einer derartigen Irrlehre mitreißen zu lassen, wissen wir doch, dass sie überall herumspukt.

Pseudowissenschaft unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Irrtum. Wissenschaft gedeiht ja gerade auf Irrtümern, indem sie sie nacheinander beseitigt. Falsche Schlussfolgerungen werden ständig gezogen, aber sie gelten ohnehin nur als vorläufig.

Der vielleicht schärfste Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft besteht darin, dass die Wissenschaft ein viel innigeres Verständnis für die Unvollkommenheit und Fehlbarkeit des Menschen hat als die Pseudowissenschaft.

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Der Drache in meiner Garage

Nehmen wir an, eine Person behauptet, dass in ihrer Garage ein Feuer speiender Drache lebt, welcher körperlos und unsichtbar ist. Sieht man jedoch in die Garage hinein, sieht man nie­manden.

Nun stellt sich natürlich die Frage, ob Menschen Dinge oder Geschehnisse glauben können, wenn es dafür keine Beweise gibt. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er für derartige Phänomene einen oder mehrere Beweise sehen will. Er fängt an zu lauschen, forschen und zu beobachten.

Nehmen wir an, dass alle Möglichkeiten einen Beweis zu bekommen nicht funktionieren. Wir müssen dieser Person Glauben schenken, denn nur weil es keine Beweise gibt, heißt es nicht, dass sie gelogen hat. Wichtig ist, dass Behauptungen die nicht überprüft werden können, in Wahrheit wertlos sind.

Wir Menschen sind sehr leicht beeinflussbar und lassen uns von Meinungen anderer zu sehr lenken. Wir dürfen zwar an Geschehnisse glauben, wenn es dafür noch keine Beweise gibt, jedoch sollten wir vorsichtig mit unserer Meinung sein. Es ist okay mit dem eigenen Urteil zu warten, bis die Beweise vorliegen. Wir dürfen Zweifel haben!

Ein Zitat nach James Oberg: "Offenheit und Aufgeschlossenheit ist eine Tugend, jedoch sollte man nicht so offen sein, dass einem das Gehirn herausfällt". Natürlich müssen wir bereit sein, unsere Meinung zu ändern, wenn es neue Beweise gibt. Aber sie müssen natürlich eine ent­sprechende Beweiskraft besitzen.

Antiwissenschaft

Wissenschaftler sind voreingenommen - sie nehmen die vorherrschenden Vorurteile aus un­serer Umgebung an. Beispiele:

• Wissenschaftler haben bei einer Vielzahl von schädlichen Lehren geholfen, z.B. ein Geschlecht über das andere stellen, aufgrund von Messungen der Gehirngröße oder durch IQ Tests.

• Wissenschaftler greifen ungern Reiche und Mächtige an. Jedoch befinden sich auch unter ihnen Betrüger und Diebe.

• Einige haben ohne Skrupel für die Nazis gearbeitet. • Viele Wissenschaftler sind auch voreingenommen in Bezug auf den menschlichen

Chauvinismus und unsere intellektuellen Grenzen. • Aber in den meisten Fällen sind es die Wissenschaftler, die uns vor Gefahr warnen. • Wissenschaft hat gegenüber der Geschichte einen deutlichen Vorzug: wir können in

der Wissenschaft Experimente durchführen. Bei offenen Fragen in der Wissenschaft können wir den Vorgang wiederholen und eine ganze Reihe von Hypothesen testen.

Die Wissenschaft unterscheidet sich von vielen anderen menschlichen Unternehmungen. Menschen die Wissenschaft betreiben:

• engagieren sich für die Bildung überprüfbarer Hypothesen, • suchen nach definitiven Experimenten (die Ideen bestätigen oder widerlegen), • führen einen lebhaften stichhalten Diskurs,

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• sind bereit, Ideen aufzugeben, die sich als unzulänglich erwiesen haben.

Wenn wir uns unserer Grenzen nicht bewusst wären, wenn wir nicht nach weiteren Daten suchen würden, wenn wir nicht bereit wären, kontrollierte Experimente durchzuführen, wenn wir die Beweiße nicht respektieren würden, dann kämen wir bei unserer Suche nach der Wahrheit nicht sehr weit.

Silvia Weissmann

Sabrina Kautz

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Wurzer, J.: Der Blick durchs Schlüsselloch: Erkenntnis im Zeitalter der Postmoderne. Würzburg 1997.

Der Blick durchs Schlüsselloch

Es ist eine uralte philosophische Frage: Gibt es eine objektive Erkenntnis? Kann es sie über­haupt geben? Und wenn: Wie lässt sie sich feststellen? Skeptiker meinen, dass das, was als Erkenntnis genannt wird, nur eine maskierte Meinung darstellt. Sie meinen des weiteren, dass es nur verschiedene Perspektiven von subjektiv erleb­ten Sachverhalten gebe.

Eine Linie in der Philosophiegeschichte bildet eine schrittweise Entwicklung, die vom Skepti­zismus über den Idealismus bis hin zum Konstruktivismus führt. Die Welt, von der wir siche­res Wissen zu haben glauben, ist in Wirklichkeit unser eigenes Konstrukt. Naturgesetze sind demnach Spiegelbild eines verengten Denkens in Kausalitäten.

Unser Alltag zeigt unsere Umwelt, so wie wir sie erleben. Aber unsere Wahrnehmung bezieht sich nur auf einen überlebensdienlichen Ausschnitt der Wirklichkeit - falls es eine geben soll­te.

Weil unsere Wahrnehmung so ausschnitthaft ist, lässt sich der Mensch auch leicht täuschen.

Ende 1994 waren 3D-Bilder besonders in. Wer den Bogen erfasst hat, dem eröffnet sich mit den Bildern eine dreidimensionale Welt. Ist diese real? Oder ist sie lediglich Schein? Was wir sehen, kann doch nicht falsch sein? Es ist doch nicht aus der Luft gegriffen?

Wenn unsere Wahrnehmung eine Interpretationsleistung ist, nach welchen Kriterien läuft sie ab? Welche Beziehung besteht zu einer wie auch immer verstandenen Wirklichkeit?

Thomas Samuel Kuhn

Die Wissenschaft entwickelt sich nicht streng nach einer Methode. Sie entwickelt sich auch nicht dadurch, dass Wissen angehäuft und archiviert wird. Vielmehr gibt es Sprünge. Sprün­ge, die ganz neue Ansätze liefern, veränderte Koordinatensysteme wissenschaftlichen Den­kens. Das ist die Entdeckung von Thomas Samuel Kuhn, der dafür den Begriff „Paradigmen­wechsel" einführte. Unter Paradigmen „verstehe ich allgemeine anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Prob­leme und Lösungen liefern."

Und diese Sprünge haben zumindest einen kontingenten Aspekt. Sie lassen sich nicht aus ei­ner Wissenschaftsgeschichte deduzieren.

Der Begriff „Wahrheit" taucht bei dieser Definition nicht auf. Für Kuhn besitzen die Para­digmen keinen objektiven Erkenntniswert. Überhaupt sei es schwer, alte Vorstellungen und Theorien von der Welt als Mythos oder Aberglaube abzuqualifizieren. Ein Paradigma bestimmt für eine bestimmte Zeit die von Kuhn so bezeichnete „normale Wis­senschaft".

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Sie hat laut Kuhn drei Aufsahen:

1. Bestimmung bedeutsamer Tatsachen 2. Gegenseitiges Anpassen der so herausgestellten Fakten mit den Theorien 3. Artikulierung und Verfeinerung bestehender Theorien

Die wissenschaftliche Diskussion und Forschung soll dabei das bestehende Paradigma präzi­sieren. Das heißt auch, dass noch nicht bekannte Folgerungen offengelegt werden.

Die Thesen von Thomas Kuhns Paradigmentheorie zeigen uns, dass Wissenschaft nicht im­mer so rational und konsequent methodisch ist, wie oft noch angenommen. Sie ist vielmehr von einer anerkannten Praxis anderen Forschungsstätten bestimmt, die eine vorbehaltlose Forschung ausschließt. Heißt das nun, dass eine objektive Erkenntnis nicht möglich ist? Zu­mindest kennt Kuhn noch einen rationalen Theorievergleich, den Feyerabend bereits ablehnt.

Paul Feyerabend

Er meint, dass der Wissenschaftsbetrieb einer mittelalterlichen, dogmatischen Kirche ähnle.

Feyerabend betont, dass Experten auch nur Menschen sind, die oft Fehler machen und das die Quelle ihres Wissens nicht so unzugänglich ist, wie sie vorgeben. Jeder Laie kann sich durch Studium in nur wenigen Wochen die zum Verständnis und zur Kritik einer bestimmten wis­senschaftlichen Aussage nötigen Kenntnisse aneignen.

Der Unterschied zum Mythos sei gar nicht so groß, wenn wir die Wissenschaftlichkeit unserer Theorien an ihrem Erfolg messen. Denn Erfolg haben auch Mythen und esoterische Praktiken zu verzeichnen.

Umberto Maturana

Nicht minder kritisch ist der chilenische Biologe Umberto Maturana, wenn es um unsere Per­spektiven für eine objektive Erkenntnis geht. Nach seiner Forschung laufen wir wie bei dem Kinderspiel „Blinde Kuh" durch unsere Welt. Das Bild, das wir uns von ihr machen, ist das Ergebnis gehirninterner Vorgänge. Es gibt keinen Informationsfluss zwischen Gehirn und Umwelt durch unsere Sinnesdaten. Maturana bezeichnet die Sinneswahrnehmungen als äuße­re Störeinflüsse eines autopoietischen (griech. selbst, tun) Systems, dem Charakteristikum für Organismen.

Leben realisiert sich als Produkt eigener Operationen. Ein molekulares Netzwerk das den Or­ganismus bildet, erzeugt sich auf Grund seiner Strukturmerkmale selbst. Alle äußeren Ein­flüsse gelten als Störungen, die von innen her wieder ausgeglichen werden müssen und dazu zählen auch die Sinneswahrnehmungen. Durch diesen Prozess findet in gewissem Maße eine Anpassung an die Umwelt statt.

Maturana bezeichnet diese Umwelt als „Medium des Organismus".

Unsere Wahrnehmung ist strukturdeterminiert, d. h., wir nehmen nur das wahr, worauf unser Organismus mit seinen Sensoren ausgelegt ist. Was wir zu erkennen glauben, scheint in höchstem Maße vorbestimmt zu sein.

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Der beschriebene Strukturdeterminismus bedeutet für Maturana, dass wir nie zwischen einer Sinnestäuschung und einer „richtigen" Wahrnehmung unterscheiden können. Es hat keinen Sinn, überhaupt von einer Realität zu sprechen.

Maturana sagt: „Sieht man nämlich ein, dass die Wissenschaft prinzipiell überhaupt nichts beobachterunabhängig erklären kann, dann spielen Realitätsannahmen in ihr keine Rolle mehr; sie sind sogar vollkommen überflüssig. "

Maturana meint, es ist keine adäquate Erkenntnis von Wirklichkeit möglich. Es sind nicht nur Paradigmen, willkürlich ausgewählte Theorien, gewachsene Begriffsapparate, die gegen eine objektive Erkenntnis sprechen, sondern nun auch die biologisch determinierte Wahrnehmung. Sogar die Realität als solche scheint fraglich.

Die Notwendigkeit eines Wissens bzw. einer sicheren Erkenntnis ergibt sich aus drei Überle­gungen:

1. Es gibt nur eine tatsächliche Wirklichkeit, wenn es auch verschiedene Perspektiven und deren Apperzeption gibt. Theoretisch kann man alles bezweifeln - auch die Identität der Wirklichkeit mit sich selbst - aber in der Praxis kommt man nicht drum herum, eine Kontinuität der Wirklichkeit anzunehmen. Eine Referenz des Wissens ist also, wenn auch zeitlich begrenzt, nur mit einer kontinuierli­chen eindeutigen Wirklichkeit denkbar.

2. Wie wir die Möglichkeit von Erkenntnis und deren Beurteilung einschätzen, ist für unser Weltbild entscheidend. Es hat letztlich Folgen für unser Handeln, wie wir unser eigenes Wis­sen bzw. unsere Überzeugung einschätzen. Das zeigt, dass die Frage nach dem Erkenntnisho­rizont keine philosophische Spitzfindigkeit ist sondern durchaus handlungsrelevant ist.

3. Ohne einen Konsens über Erkenntnis und Grundgegebenheiten der Welt ist Kommunikati­on nicht möglich. Wenn zwei Partner miteinander kommunizieren wollen, muss eine gemein­same Basis vorliegen, um eine Verständigung zu ermöglichen. Um zu einer Erkenntnis zu gelangen ist ein gleicher Wissensstand eine unabdingbare Voraussetzung.

Patricia Joun

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Heuermann, H.: Wissenschaftskritik: Konzepte, Positionen, Problem. Basel 2000.

Verlust der Legitimation; Wissenschafts- als Gesellschaftskritik

Das Programm der Aufklärung

Die Aufklärung ist ein Resultat wachsenden Ungenügens an die aristokratisch-höfische Ge­sellschaftsstruktur, der klerikal geprägten Mentalität und der späthumanistischen Metaphysik. Die Universitäten waren in der Krise. Philosophisch ausgerichtete Gelehrsamkeit wurde durch wissenschaftliche, sprich theoretisch-argumentative und experimentell-explorative For­schungstätigkeit abgelöst. Nicht die Weitergabe von Lehrmeinungen, sondern die systematische Vermehrung von Wis­sen trat in den Mittelpunkt des universitären Alltages. Die Aufklärung definierte den Men­schen universell als autonomes Wesen, mit Vernünftigkeit ausgestattet, auf Nützlichkeit aus­gelegt, zur Freiheit und Mündigkeit berufen. Dieses Wesen ist erkenntnisfähig, bildungsfähig, sprach- und kritikfähig. Die Wissenschaft und die daraus resultierende Menschenbildung sollten zu einem klaren, ra­tional begründenden Welt- und Selbstverständnis verhelfen. Wissen galt als Instrument der Bildung und Bildung der Ertrag des Wissen.

Das Programm des Neuhumanismus

Die Aufklärung erwies sich nicht als die universelle Geisteskraft. Die Romantiker erkannten, dass sich der Mensch nicht so leicht ummodeln und zur reinen Vernunft bekehren lässt. Im späten 18. Jh. verblasste allmählich das Konzept der Aufklärung. Humboldt stellte den Gedanken der geistigen Bildung des Menschen in den Mittelpunkt einer neuhumanistischen Konzeption. Das eigentliche Ziel einer humanistischen Bildung war nicht die absolute Herrschaft der Vernunft, sondern die volle Entfaltung des Menschen, sprich eine Synthese aus sprachlicher, wissenschaftlicher, sittlicher, ästhetischer und praktischer Befähi­gung. Ebenso wie die Einheit von Erkennen und Bilden, Denken und Handeln, Theorie und Praxis. Dieses Konzept zeichnet sich durch drei Aspekte aus:

1. Den Versuch alles aus einem ursprünglichen Prinzip abzuleiten. 2. Alles auf ein Ideal hin auszurichten. 3. Das Prinzip und das Ideal in einer Synthese für das geistige und praktische Leben

der Nation zu verknüpfen.

Zu Beginn des 19. Jh. begann sich aber die Wirkung von den Zentrifugalkräften der Dezentra­lisierung, Pluralisierung (Nationalismus) bereits abzuzeichnen.

Das Programm der Emanzipation

Das von der Aufklärung gesetzte Versprechen der Mündigkeit als auch die neuhumanistische Idee der Veredelung des Menschen durch Bildung, scheiterte am Geschichtsverlauf (Revolu­tion). Es waren Illusionen der Frühphase der industriell- bürgerlichen Gesellschaft. Die Wis­senschaft musste erkennen, dass der Mensch nur bedingt aufklärungsfähig und bedingt bil­dungsfähig ist. Es kam zu einer Rationalisierung der Welt, die eine Verwissenschaftlichung ihrer selbst zur Folge hat. Zu Beginn des 17. Jh. traten die Experimentalwissenschaften in Erscheinung . Da-

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mit tritt auch der Opernationalismus ins Zentrum wissenschaftlicher Aktivitäten. Sie bilden einen Teil der ökonomischen Weltordnung und wurden zunehmend zu einem Produktions­und Machtfaktor. In dem Maße in dem sich der Bildungsbegriff im Rückzug befindet, in dem Maße ist der Wissens- und Informationsbegriff im Vormarsch. (Francis Bacon: „Wissen ist Macht") Nach Odo Marquard sollten Geisteswissenschaften zur Kompensation dienen, aber die Geis­teswissenschaften sollen etwas ganz anders aussagen, nämlich die Wahrheit und nicht zuletzt die Wahrheit über Machtkonstellationen.

Wenn aus Wissen Macht wird: Wissenschafts- und Ideologiekritik

Nicht nur eine Gesellschaft, sondern auch die Wissenschaft ist empfänglich für Machtgelüste. Grundsätzlich überall dort, wo die Wissenschaft neue Erkenntnisse schafft, schafft sie auch potentiell neue Machtverhältnisse. Wissenschaftler treiben ein Spiel mit der Macht und sind deshalb auch Ideologie anfällig. Seit Karl Marx wird der Begriff Ideologie definiert als falsches Bewusstsein: „Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewusstsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewusstsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. " Durch bewusste oder unbewusste Verhüllung des Tatbestandes dessen wahre Erkenntnis nicht im Interesse des anderen liegt. Die Inhalte bedeuten nicht das, was sie vorgeben zu bedeuten, sondern verschleiern etwas. Hinter der Ideologie steht der Eigennutz als Motivator der Gedanken. Macht ist das seelische Fundament zum gedanklichen Gebäude der Ideologie. Durch die untrennbare Verbindung von Wissen und Macht schreibt John Acton of Altenham: „Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. " (USA)

Foucault begreift Wissenschaft essentiell als Tätigkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis unter dem Gesichtspunkt der sozialen Machtgewinnung erschlossen und so erklärt werden muss - ganz gleich, ob mittelbar politische, ökonomische oder andere Ziele damit verfolgt werden. Die Bedingungen möglicher Objektivität von wissenschaftlichen Erkenntnissen sind durch den Zweck der sozialen Unterwerfung von Individuen festgelegt; außerhalb dieser Be­ziehung erfüllt methodisch gewonnenes Wissen keinen abgebbaren Sinn. Humanes Orientie-rungs- oder Bildungswissen, getrennt von sozialen Herrschaftswissen, gibt es nicht.

Die Hybris des Homo thechnologicus: Wissenschafts- als Technologiekritik

techne = Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit + logos = Verstand, Vernunft Technologie = Theoretisches Regelwerk um manipulative Möglichkeiten der Lebensgestal­tung zu erweitern. Ende des 18. Jh. tritt die Industrialisierung in den Vordergrund. In Verbund mit der Idee des kapitalistischen Unternehmertums kommt es zu einer Symbiose von Wissenschaft und Tech­nologie, die sich potenziert durch die Symbiose von Technik und Ökonomie. Die Allianz von Technik und Kapital etabliert die Herrschaft der Maschinen. Sie bedingt eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft und unterwirft schließlich eine ganze Kultur. Die Erfindung der Uhr lässt den Menschen nicht mehr ihren gewohnten Lebenszyklus folgen, die Maschine be­stimmt nunmehr den Rhythmus des Lebens. Alfred North Withehead schreibt: „ Wenn wir unsere heutige Epoche verstehen wollen, können wir alle einzelnen Veränderun­

gen (Erfindungen) außer acht lassen. Wir müssen uns auf die Methode konzentrieren; Sie ist das tatsächlich Neue, das die Grundlagen der alten Zivilisation aufbrach. "

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Die Methode also, mit der der Mensch gelernt hat etwas zu erfinden, etwas Neues zu entde­cken, ist das eigentlich Neue, doch die Frage wozu man etwas erfindet verlor zunehmend an Gewicht. Nämlich einmal etwas Erfundenes, kann nicht wieder wegerfunden werden. Es bleibt in der Welt. Damit bekommt die Sachlage eine Eigendynamik, der die Menschheit nicht mehr Herr ist. Die Technologie die uns einst eine vermeintliche Freiheit gebracht hat, beherrscht uns nunmehr und wandelt uns zu einer neuen Form der Verfallenheit der Mensch­heit (Technikabhängigkeit).

Kocher Franz

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Von Wissenslust und Leid

Es war 1989 als ich meinen ersten Computer kaufte. Schwitzend und mit großer körperlicher Anstrengung brachte ich ihn in meine Wohnung, denn sein Gewicht war enorm. In meinem Bekanntenkreis gab es damals schon einige Personen, die auch privat einen besaßen, aber es gab noch genauso viele, die sich noch keinen Computer angeschafft hatten. So sehr ich mich damals über meine fortschrittliche Anschaffung auch freute, so hatte ich gleichzeitig auch ein eher ablehnendes Gefühl dabei, wenn ich mit ihm arbeiten sollte. Ich ließ mir genauestens beschreiben was ich machen musste, wenn ich ein Schriftstück verfassen wollte und hielt mich strengstens an diese Vorgaben. Und doch geschah es manchmal, dass etwas verschwand und nicht mehr wieder zu finden war. Mein Computer von 1989 ist längst entsorgt und viele Verbesserungen und Entwicklungen haben seither auf diesem Gebiet stattgefunden. Mein Zugang blieb aber weiterhin sehr oberflächlich und eher abwehrend.

Als ich im Jahre 2003 an die Universität kam um zu studieren, prallte ich gegen die Entwicklungen der letzten zehn Jahre. Ich wollte mich zu den Seminaren anmelden, doch das war ohne Computer gar nicht mehr möglich. Um ein Buch in der Bibliothek zu finden und zu entlehnen, ist ebenfalls die Verwendung des Computers unerlässlich geworden. Um sich gegenseitig Informationen, die für verschiedene Gruppenarbeiten nötig sind zukommen zu lassen, wird die Nutzung des Internets und des Computers vorausgesetzt. Ich war entsetzt über diese massive Abhängigkeit und fühlte mich, als hätte ich gerade in ein anderes Jahrhundert übergewechselt. Eines war mir aber klar. Wenn ich tatsächlich die Universität besuchen wollte, so musste ich mich endlich intensiver mit dem Computer und dem Internet auseinandersetzen. Ich musste meine Ängste und Hemmschwellen abbauen. Daher kaufte ich mir einen neuen Computer und bat einen Bekannten, mir einige Dinge zu erklären. Wie ich es schon früher getan hatte, schrieb ich genauestens mit was er sagte, um später auch alleine alles exakt nachvollziehen zu können. Doch meine Angst selbst etwas zu versuchen, konnte ich noch nicht überwinden.

Als mein Bekannter mir wieder einmal zeigte, welche Möglichkeiten ich mit Hilfe des Computers und des Internets hätte, war ich schon sehr fasziniert. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland und konnte manchmal kaum fassen, was ich alles machen könnte. Da meinte er ganz selbstverständlich, ich sollte mich doch zum Computer hinsetzen und selbst einfach alles ausprobieren. Sollte dabei etwas schief gehen, so wäre das überhaupt kein Problem, denn er könnte das bestimmt wieder in Ordnung bringen. Für mich stellte das eine ungeheuer große Sicherheit dar, und ich begann mich zu fragen, warum ich all die Jahre versucht hatte an diesen Entwicklungen vorbeizugehen. Was war geschehen, dass ich mich nicht entspannt zum Computer hinsetzen kann um auszuprobieren welche Möglichkeiten ich damit habe?

Als ich über mich nachzudenken begann erkannte ich, dass es für mich besonders wichtig ist zu wissen was, wie und warum ich etwas mache. Ich mag es, wenn ich für alles eine Erklärung habe und bin sehr verunsichert, wenn ich nicht genauestens über ein Thema Bescheid weiß über das ich sprechen soll. Auch kann ich mich nur schwer in Diskussionen einbringen, wenn ich meine Argumente nicht auch belegen und untermauern kann. Um etwas „einfach auszuprobieren", etwas zu versuchen, muss ich mich schon sehr überwinden. Aber vielleicht gibt es auch Erlebnisse in meiner Geschichte, die als Auslöser dafür gesehen werden könnten.

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Ich wuchs in einem kleinen Dorf in Kärnten auf und besuchte dort auch die Volksschule. Als Kind habe ich mich schon sehr früh auf die Schule gefreut. Bereits mit vier Jahren nahm ich eine alte Schultasche meiner Geschwister und wollte mich auf den Weg dorthin machen. Immer wieder kam es vor, dass mich meine Mutter suchen musste, da ich wieder einmal zur Schule gegangen war. Die Zeit bis zum Schulanfang war für mich schier endlos und die Freude war groß, als es dann endlich so weit war.

In unserem Dorf waren die Schüler der Volksschule aber nicht nur entsprechend ihrem Alter in Klassen eingeteilt, sondern auch innerhalb der Klassen gab es eine klare Zuteilung je nach Herkunft und Vermögensverhältnisse der Eltern. Ich befand mich, wie die meisten anderen Kinder auch, im mittleren Bereich. Es gab allerdings auch einige Abweichungen nach oben als auch nach unten hin. Dieses System wurde auch auf die Beurteilung von uns Kindern übertragen und angewendet.

Schon sehr bald wusste jeder von uns, dass die Kinder eines bestimmten kleinen Nachbarortes entweder nach einigen Monaten „zurückgestellt" wurden, oder spätestens in der 2. Klasse in die Sonderschule wechseln würden. Und es war auch völlig klar, dass Bauernkinder und die Kinder der Gutsbesitzer immer sehr gute Noten bekamen.

Meine Eltern, vor allem meine Mutter, hatte schon einige Erfahrungen mit der Direktorin und den anderen Lehrern unserer Volksschule gemacht, da meine drei älteren Geschwister diese schon besucht hatten. Auch kannte sie viele Probleme die andere Familien mit der Direktorin der Schule hatten. So wurde einigen Kindern der Besuch einer höheren Schule ohne ersichtlichen Grund verwehrt, es wurden Kinder vom Gymnasium ohne das Wissen der Eltern wieder abgemeldet und die Anmeldungen in den zweiten Klassenzug der Hauptschule konnten nicht immer mit den erbrachten Leistungen der Schüler in Zusammenhang gebracht werden. Die Lehrer der Volksschule, allen voran die Direktorin, hatten also eine ganz besondere Stellung in unserem Dorf eingenommen. Nur wenige wagten es, sich gegen sie zu stellen um sich für die eigenen Kinder vehement einzusetzen. Die meisten warteten einfach darauf, dass diese Zeit vorüber gehen würde, denn nach der Hauptschule hatte man ja auch noch viele Möglichkeiten eine weiterführende Schule zu besuchen. Jene Kinder, die in die Sonderschule kamen, hatten es aber schon um einiges schwerer diesen „Makel" wieder los zu werden.

So wurde meine Freude die Schule zu besuchen durch so manch unschönes aber auch ungerechtes Erlebnis doch wesentlich beeinträchtigt. Meine Mutter wollte aufgrund ihrer bisherigen negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Volksschule und den dort praktizierenden Pädagogen nicht mehr still sein, und gehörte damals zu den ganz wenigen Elternteilen, die sich gegen die ungerechte Beurteilung wehrten. Sie ging in die Schule und drohte der Direktorin weitere Schritte zu unternehmen, wenn sich diese Ungerechtigkeiten fortsetzen sollten. Das Ergebnis war klar. Ich bekam eine besondere Zuwendung und wurde vor der Klasse regelrecht vorgeführt. Man stellte mir verschiedene Aufgaben, die ich teilweise nicht lösen konnte um damit mir und allen anderen in der Klasse zu zeigen, dass die durchschnittliche Beurteilung doch gerechtfertigt wäre. Ein anderes Erlebnis war, dass ich einige mathematische Aufgaben auf eine Art und Weise gelöst hatte, die wir nicht gelernt hatten. Auch hier musste ich in der Schule wieder an verschiedenen Beispielen zeigen, dass ich dies alleine geschafft hatte. Denn es kann doch nicht sein, was nicht sein soll. Als ich die Volksschule hinter mich gebracht hatte, war ich wie viele andere auch, erleichtert. Ich besuchte das Gymnasium.

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Jeder von uns hat etwas in sein weiteres Leben aus dieser Volksschule mitgenommen. Für mich ist es vielleicht das Bedürfnis immer alles genau wissen zu wollen und eine Angst davor, etwas „einfach auszuprobieren".

Arnold Rosemarie

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Mein „wissenschaftliches" Aha-Erlebnis

Einleitend möchte ich festhalten, dass ich mich im Grunde bis zum Besuch dieses Seminars auf der Universität nicht als Wissenschafterin erlebt habe. Meine Rolle war für mich klar die der Studentin, wenn auch bereits mit etwas beruflichem Background. Mein Bild von Wissenschaftern beschränkte sich - auch an der Universität - auf Personen, die tatsächlich „forschten", d.h. in erster Linie Professoren, die mit Forschungsaufträgen oder Projekten betraut waren und deren Ergebnisse im Zuge von Lehrveranstaltungen präsentiert wurden.

Eine Lehrveranstaltung gab es jedoch, an die ich mich auch sofort erinnerte, als an uns Studenten die Rolle von Wissenschaftern übertragen wurde. Damals fühlte ich mich zwar nicht als Wissenschafterin, doch schon ein bisschen als Forscherin. Zu diesem Zeitpunkt unterrichtete ich an einer Sonderschule eine mehrstufige Klasse mit Schülern im Alter von 12 bis 15 Jahren. Bevor ich in diese Klasse kam, hatte ich gerade mal drei Jahre Berufserfahrung auf dem Rücken. Mein Berufseinstieg gestaltete sich eigentlich auf sehr angenehme Art und Weise, da ich diese ersten drei Jahre Teamwork erleben durfte und dies als besondere Bereicherung empfand. Zum einen weil ich von meinen - meist erfahreneren Kolleginnen -einiges lernen konnte, zum anderen weil ich dadurch auch bezogen auf mein Verhalten (sowohl im sozialen Bereich als auch im methodisch-didaktischen Vorgehen) immer wieder wertvolle Rückmeldungen erhielt.

Als ich nun also zum ersten Mal alleine in der Klasse stand, fehlte mir das Arbeiten im Team unglaublich. Ich fühlte mich hinter diesen „verschlossenen" Türen nicht wirklich wohl und es war mir von Beginn an wichtig, die Klassentüre nach Möglichkeit offen zu halten. Ich konnte nicht nachvollziehen, dass sich ein hoher Prozentsatz meiner Kolleginnen dermaßen bewusst in ihren Klassen „versteckt" hielten und sehr darauf bedacht waren, dass möglichst niemand Einblick in das Geschehen nehmen konnte.

Umso dankbarer war ich von der besagten Lehrveranstaltung, in der es um „Aktionsforschung" ging. Feuer und Flamme von der Idee, mich unter den gegebenen Umständen mehr oder weniger alleine bzw. selbst zu reflektieren, probierte ich unterschiedliche Möglichkeiten aus. Unter anderem schrieb ich über einen bestimmten Zeitraum ein so genanntes „Forschungstagebuch", stellte in unterschiedlichen Situationen eine Videokamera in die Klasse, nahm Unterrichtssequenzen auf Tonband auf und setzte mich vermehrt mit einer Kollegin in Verbindung, um mich mit ihr über die Schüler zu besprechen.

All diese Möglichkeiten, sich selbst zu reflektieren ohne auf einen Partner bzw. Kollegen angewiesen zu sein, nahm ich damals sehr dankbar auf. Beim Umgang mit der Videokamera fiel mir vor allem auf, dass man sich zu Beginn des Einsatzes relativ unnatürlich verhält -ebenso die Schüler. Nach und nach vergisst man jedoch dass die Kamera mitläuft und es ergeben sich interessante Resultate. Bezogen auf die Videokamera waren vor allem Resultate der Körpersprache, also Mimik und Gestik, sehr aufschlussreich. Ebenso die Positionen, die ich jeweils einnahm, egal ob beim Frontalunterricht, beim Erklären eines Problems für einen einzelnen Schüler (welche Unterschiede man z.B. bezogen auf die Nähe und Distanz macht) oder beim offenen Unterricht.

Mein Forschungstagebuch setzte ich vor allem bei bestimmten Situationen ein, z.B. um Beobachtungen vor und nach der Pause zu machen (d.h. hier lag der Fokus eher auf der sozialen Ebene zwischen den Schülern untereinander) bzw. notierte ich vorwiegend in offenen Lernsituationen, wenn ich von der Pflicht des typischen Frontalunterrichts entbunden

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war. Hier musste ich vor allem feststellen, dass ich die Schüler mit dem Einsatz des offenen Unterrichts bzw. mit der Form dieses Unterrichts zu Beginn überfordert hatte, da ich zu schnell und zu umfassend eingestiegen bin. Mit Hilfe des Forschungstagebuches wurde mir erst bewusst, dass ich langsam und in vereinzelten Unterrichtsstunden mit dieser Unterrichtsform beginnen musste - immerhin betrug das Alter der betroffenen Schüler dreizehn bis fünfzehn Jahre und es war ihnen diese Art des Lernens noch nicht bekannt.

Mein eindruckvollstes Erlebnis bzw. meine erstaunlichste Erkenntnis gewann ich jedoch aus einer Tonbandaufnahme. Ich kann zwar heute nicht mehr sagen, welche Unterrichtsstunde ich mir dafür ausgesucht hatte, doch spielt das jetzt nicht wirklich eine entscheidende Rolle. Nachdem die Sonderschule ja auch von „verhaltensauffälligen" Schülern besucht wurde, beschäftigte mich ein Junge immer wieder besonders aufgrund seines Benehmens und Umgangs mit den anderen Schülern bzw. während der Unterrichtssituation. Eindruckvoll war also die Erkenntnis, der Aufzeichnung, dass ich den verhaltensauffälligen Schüler ständig ermahnte, während ein sehr guter Schüler - der ständig (!!) den Mund offen hatte und immer nur kurze Sequenzen ruhig arbeiten konnte - keine einzige Ermahnung meinerseits erhielt, obwohl ihm die anderen (laut Tonbandaufzeichnung) Schüler bereits zu verstehen gaben, dass er sie in Ruhe lassen sollte. Ich fragte mich, ob ich mich tatsächlich von dessen guten Ergebnissen dermaßen blenden habe lassen, dass ich ihm ein solches Verhalten durchgehen ließ und den anderen Jungen ständig ermähnte, obwohl sich dieser, laut Aufzeichnung, kaum ohne gefragt zu werden, äußerte.

Damals hatte ich also tatsächlich zum ersten Mal seit Beginn meines Universitätsbesuches das Gefühl, zu forschen. Wenn ich in erster Linie auch „nur" mich erforschte. Natürlich muss ich mir auch eingestehen, dass mit dem Ende des damaligen Seminars (was ja beinahe mit Schulferien gleichzusetzen ist, zumindest zeitlich) auch mein Forschergeist wieder abnahm und mehr oder weniger vom Schulalltag geschluckt wurde.

Aufgrund dieses „beeindruckenden" Aha-Erlebnisses setze ich auch heute in Beratungsgesprächen - mittlerweile unterrichte ich nicht mehr in der Sonderschule sondern in einem beruflichen Rehabilitationszentrum für Erwachsene - mit Teilnehmern, die eher unstrukturiert sind und gezielten Fragestellungen gekonnt und oft ausweichen, Tonbandaufnahmen ein, um in Erfahrung zu bringen, wo im Gespräch „Knackpunkte" sein könnten bzw. ich etwas überhört haben könnte, was für ein konstruktives Weiterarbeiten wichtig wäre.

Carmen Steiner

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Die Faszination an Mathematik

Die Vorlesung hat bereits begonnen und wieder einmal ziehen die, an der Tafel im Hörsaal hinterlassenen Rechnungen irgendwelcher Studenten meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich beginne die einzelnen Rechnungsschritte zu verfolgen, keine Ahnung was hier gerechnet wurde. Bald aber erkenne ich einzelne Rechenoperationen, es handelt sich um Varianzanalysen.

Warum ist das aber so? Haben Zahlen mich immer schon fasziniert? Ich versuche mich an die Schuljahre zurück zu erinnern. Viele Erinnerungen an die Volksschulzeit sind mit den Jahren verblasst. Doch eines habe ich bis heute nicht vergessen. Jede richtig und ordentlich geschriebene Mathematik Hausübung wurde vom Lehrer mit einem roten Punkt honoriert. Selten kam es bei mir vor, dass am Ende der Hausübung ein „G", für „gesehen" stand. Hatte man zehn rote Punkte (zehn ordentliche und fehlerfreie Hausübungen!) gesammelt, brauchte man eine Hausübung nicht zu schreiben. Natürlich wurden die roten Punkte vom Lehrer mit einem Strich entwertet, ja, es hatte alles seine Richtigkeit. Ich war eifrig am Sammeln und ließ meine Punkte nur selten entwerten. Hausübungen im Fach Mathematik empfand ich nie als Belastung und das Sammeln dieser kleinen roten Punkte wurde sehr wichtig für mich. Mathematik zählte zu meinen Lieblingsfächern. Es faszinierte mich zu berechnen, wie viel eine einzelne Kartoffel kostet wenn meine Mama einen 5 kg Sack davon kaufte, und ich verglich die berechneten Preise mit anderen Waren. Manchmal reihte ich Zahlen aneinander und behauptete eine neue Rechnung erfunden zu haben.

Auch in der Hauptschule hatte ich im Rechnen keine großen Schwierigkeiten. Trotzdem war es anders. Hausübungen wurden selten vom Lehrer überprüft und schon gar nicht mit einem roten Punkt honoriert. Er merkte nicht einmal, wenn eine Hausübung fehlte. Zum Rechnen an der Tafel wurden stets schwache Schülerinnen aufgefordert oder die „guten" Schüler. Ich unterließ es bald mich freiwillig zum Rechnen an der Tafel zu melden. Es fiel dem Lehrer nicht einmal auf, wenn ich bei der Schularbeit nicht nur meine, sondern auch einige Rechnungen meiner Sitznachbarin ausrechnete. Sie war nie gut im Rechnen, doch ihre Schularbeiten waren auf diese Weise immer positiv. Wie sie dies schaffte, blieb ein Geheimnis zwischen uns beiden. Wie pflegte mein Lehrer doch stets zu sagen: „Sehr gut bin ich und ihr seid höchstens gut!"

Wenn ich heute daran denke, kann ich nur noch den Kopf schütteln. Damals hingegen war mir nicht zum Lachen zumute und ich wusste sofort, Mathematik zählte ab jetzt nicht mehr zu meinen Lieblingsfächern.

In der vierten Hauptschule standen meine Leistungen im Halbjahr zwischen gut und befriedigend. Mein Lehrer stellte mich vor die Wahl: Entweder im Halbjahreszeugnis einen guten Dreier, dafür im Jahreszeugnis eine Zwei, oder im Halbjahr ein schlechtes Gut, dafür im Schlusszeugnis einen guten Dreier. Die Entscheidung fiel mir sehr schwer, denn ich war in keinem Fall mit einem Befriedigend einverstanden. Nach langem überlegen einigten wir uns darauf, dass in meinem Jahreszeugnis eine Zwei stehen sollte, schließlich musste ich mich mit diesem Zeugnis in der nächsten Schule anmelden.

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Mein damaliger Lahrer hat sein Versprechen nicht gehalten, ich wurde im Jahreszeugnis in Mathematik mit einem Befriedigend abgeschlossen und musste aus diesem Grund eine Aufnahmsprüfung an der neuen Schule absolvieren. Die Prüfung stellte für mich kein Problem dar, ich konnte alle Rechnungen lösen und wurde in die neue Schule aufgenommen. Ein gutes Jahr später traf ich meinen Lehrer zufällig wieder. Wir unterhielten uns kurz und ich erzählte ihm von meiner gut gelungenen Aufnahmsprüfung. Darauf meinte er nur „Ich hab mir eh nichts anderes von dir erwartet, schließlich warst du immer sehr gut im Rechnen!"

Nach diesem Gespräch ging ich meinem Lehrer bewusst aus dem Weg. Die Zeit liegt jetzt schon so viele Jahre zurück, doch die empfundene Wut und Enttäuschung sind mir noch sehr vertraute Gefühle. Meinen damaligen Berufswunsch Mathematik-Lehrerin zu werden legte ich noch während der Hauptschulzeit ad acta.

Während meiner Berufsausbildung zur Kindergärtnerin war Mathematik ein Fach wie jedes andere auch. Ich hatte selten Schwierigkeiten und half gerne meiner Sitznachbarin positive Schularbeitenergebnisse zu bekommen. Heute noch lachen wir über unser gutes Teamwork bei so mancher Schularbeit.

Nach fünfzehn Jahren im Beruf entschloss ich mich die Matura nachzuholen. Am WIFI bereitete ich mich auf die Mathematik-Matura vor. Ich freute mich auf jede einzelne Stunde und war von jeder neuen Rechenaufgabe fasziniert. Gerne war ich bereit meinen Kollegen und Kolleginnen die Rechnungen am Ende des Kursabends erneut zu erklären. Ich erklärte sie solange, bis sie von jedem verstanden wurden. Ich traf mich an den Wochenenden mit Kolleginnen um die Hausübungen zu vergleichen und um gemeinsam zu üben. Während meine Kolleginnen manchmal verzweifelten gefiel es mir immer besser. Manchmal setzte ich mich nach dem Abendkurs um 22.00 Uhr zuhause zum Tisch und rechnete weiter. Ich rechnete viel in dieser Zeit und es machte Spaß. Nachdem ich die Matura mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden hatte überlegte ich kurze Zeit Mathematik zu studieren. Schon als kleines Kind hatte ich diesen Wunsch oft verspürt. Doch es blieb bei den Überlegungen und ich widmete mich weiterhin meiner Arbeit im Kindergarten.

Manchmal werde ich von Bekannten gebeten ihren Kindern Rechnungen zu erklären und ich bin gerne bereit dazu. Bezahlte Nachhilfestunden biete ich nach wie vor keine an. Meine Tochter besucht die vierte Klasse im Gymnasium und bei Problemen in Mathematik kommt sie stets zu mir. Wir rechnen dann gemeinsam und vergleichen unsere Ergebnisse. Somit macht ihr das Üben mehr Spaß und ich bin glücklich dabei.

In meiner Arbeit als Kindergärtnerin kommt mir das logische Verständnis vor allem dann zugute, wenn es darum geht Zeit- bzw. Vertretungspläne für unser Team zu erstellen. Oft muss ich lachen, wenn Kolleginnen so kompliziert denken, und während die eine oder andere beim Denken den Durchblick verliert, habe ich schon alles berechnet und kann mit Lösungsvorschlägen aufwarten. Wenn es darum geht für die jährliche Statistik die Daten zu erheben und diese anschließend zu berechnen, dann wird diese Aufgabe automatisch mir zugeteilt und ich freue mich darüber.

Im Rahmen meines Pädagogikstudiums besuchte ich im vergangenen Semester eine Statistik-Lehrveranstaltung. Auch hier holte mich meine Begeisterung für Zahlen und Rechnungen

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erneut ein. Ich konnte den Ausführungen des Vortragenden gut folgen und hatte Freude daran Daten zu erheben und diese zu berechnen.

Vor kurzem wurde ich in einer Lehrveranstaltung gefragt warum ich nicht Mathematik studiere, spontan konnte ich keine Antwort darauf geben. Wenn ich meine Erfahrungen reflektiere, dann wird mir doch eines bewusst. In der Hauptschulzeit wurde mir deutlich gezeigt, dass ausschließlich Buben zu sehr guten Leistungen in Mathematik fähig sind, während Mädchen maximal gut sind.

Mag sein, dass mich diese Erkenntnis daran hindert den Mut aufzubringen um ein Studium in Mathematik zu beginnen.

Susanne Horn - Hohenegg

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Biographie-Reflexion

1. Einleitung

In meiner folgenden Reflexion möchte ich gerne darüber schreiben, warum und durch wen ich den Weg zum Studium und meinem Berufswunsch gefunden habe. Ich werde zuerst allgemein auf meine Schulzeit zurückblicken, dann genauer auf die 4. Klasse HBLA eingehen und anschließend eine persönliche Erfahrung schildern, die mich „eigentlich" zu meinem Wunsch, Psychologie zu studieren, geführt hat. Am Ende meiner Reflexion möchte ich noch meine Berufs- und Lernlaufbahn als Diagramm darstellen, in dem ich meine Biographie noch einmal zusammenfassend darstellen werde.

2. Allgemeines zur Schulzeit

Ich besuchte die Volks- und Hauptschule in St.Veit/Glan. Ich war immer eine Person, die gerne in die Schule ging (auch bei Krankheit) und es bevorzugte, gleich nach dem Mittagessen die Hausübung zu machen, anstatt mit Freunden spielen zu gehen. Meine Eltern unterstützten mich dabei und halfen mir so gut sie konnten. Nach der 4. Klasse Hauptschule, entschied ich mich, die 5 jährige Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe, damals HBLA, in St.Veit/Glan zu besuchen. Ich wählte den Schwerpunkt Umweltökonomie und fühlte mich in dieser Schule sehr wohl. Die ersten drei Jahre absolvierte ich gut, hatte gute Noten und es machte mir Freude immer etwas Neues dazuzulernen.

Im Alter von 18 Jahren änderte sich meine Einstellung zur Schule von einem Moment auf den anderen. Meine Lust die Schule zu besuchen wurde immer geringer, ich blieb öfters von der Schule fern und bereitete mich auf Tests und Schularbeiten kaum vor. Meine guten Noten wurden immer schlechter und ich hatte im Halbsemester einige 4-5 Prüfungen. Meine Eltern machten sich um mich Sorgen und wussten nicht, wie sie mir helfen konnten. M., die noch heute meine Freundin ist, hatte dieselbe negative Einstellung wie ich und so konnten wir uns nicht gegenseitig aus dieser Lage „herausretten".

Im zweiten Halbjahr habe ich mir vorgenommen, mein Verhalten zu ändern und meine Noten wieder auszubessern. Ich habe selbst eingesehen und verstanden, dass ich so nie einen guten Schulabschluss erreichen werde. Ich habe das 4. Schuljahr gut beendet und habe auch die Matura leicht geschafft. Es war zwar nicht einfach für mich, aber heute bin ich sehr froh darüber, dass ich meine schulische Laufbahn gut abgeschlossen habe.

Anschließend kam die große Frage: Was werde ich nach der Matura machen? Soll ich eine Arbeit beginnen oder studieren anfangen? Es war für mich einfach, diese Frage zu beantworten. Es war schon immer mein Wunsch ein Studium zu beginnen. Jedoch die Entscheidung zwischen Psychologie und Pädagogik war für mich sehr schwer. Folgende persönliche Begegnung mit einer Frau half mir, mich zu entscheiden:

3. Die Begegnung mit der geschlagenen Frau

Es war an einem sonnigen Nachmittag. Ich saß in meinem Auto und wartete vor dem Haus meiner Freundin. Eine Frau vom Nachbarhaus kam auf mich zu und klopfte an die Fensterscheibe. Sie sah mich mit blauen Flecken im Gesicht an und hatte Tränen in den Augen. Ein kleiner Bub versteckte sich hinter ihr. Sie fragte mich, ob ich eine Zigarette für sie

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habe. Ich sah sie erschrocken an und sagte, dass es mir leid tue, aber ich eine Nichtraucherin sei. Sie entschuldigte sich bei mir und ging zurück in das Haus. Ich sah ihr nach und bemerkte, dass sie am rechten Fuß kaum auftreten konnte. Ihr Sohn, der etwa 5 Jahre alt war, half ihr zu gehen. Kurz danach kam meine Freundin und ich habe sie auf ihre Nachbarin angesprochen. Sie erzählte mir, dass ihr Mann jeden Tag betrunken nach Hause kommt und seine Familie schlägt.

An diesem Tag und auch weitere Tage danach saß ich oft stundenlang zu Hause und dachte über diese Frau nach. Sie tat mir furchtbar leid und ich suchte nach einem Weg, um ihr helfen zu können. Ich erfuhr, dass es in Klagenfurt ein Frauenhaus gibt. Es ist eine Schutzeinrichtung für bedrohte und misshandelte Frauen und deren Kinder. Schon damals dachte ich mir, dass ich nach dem Studium gerne in einer solchen Hilfseinrichtung arbeiten würde. So entschied ich mich für das Psychologiestudium an der Universität Klagenfurt.

4. Studium an der Uni Klagenfurt

Das Psychologiestudium bereitete mir auch sehr viel Freude. Der inhaltliche Aufbau des Studium, die Lehrveranstaltungen, die Professorinnen,...alles war so, wie ich es mir erhofft hatte. Ich machte einige Freifächer in Pädagogik, welche mich auch sehr interessierten. Dort lernte ich Studentinnen kennen, die mich über das Pädagogikstudium aufklärten. Einerseits zweifelte ich nicht daran, dass ich mich für Psychologie entschieden habe, andererseits wollte ich auch Pädagogik studieren.. Ich entschied mich beides zu versuchen. Ich bin nun im 6. Semester Psychologie und im 4. Semester Pädagogik und bereue meine Entscheidung nicht. Natürlich ist es oft nicht einfach die Lehrveranstaltungen zeitlich zu vereinbaren, aber ich versuche dieses Problem so gut wie möglich zu lösen.

5. Die ehrenamtliche Mitarbeit im Kärntner Frauenhaus

In der Zeit, in der ich mich dazu entschied Pädagogik als zweites Studium zu belegen, sah ich an der Uni eine Stellenausschreibung für eine Stelle im Kärntner Frauenhaus. Ich bewarb mich gleich am selben Tag als ehrenamtliche Mitarbeiterin und bekam die Stelle. Seitdem sind schon 2 Jahre vergangen. Natürlich ist es nicht leicht, sich abzugrenzen, Schicksale nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen und keine privaten Ratschläge zu geben, aber ich weiß, dass es die Arbeit ist, die ich schon immer machen wollte. Ich kann mir auch leicht vorstellen nach dem Studium als hauptamtliche Mitarbeiterin im Frauenhaus zu arbeiten.

Nun am Ende meiner Reflexion möchte ich meine bisherige Schul- und Studiumslaufbahn in einem Diagramm zusammenfassend darstellen:

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6. Meine Berufs- und Lernlaufbahn

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V

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3. HBLA ^ = >

Probl. Schul

V

BRÜCKE: Familie, Freunde

2. HS

STUDIUM PSYCHOLOGIE UND PÄDAGOGIK,

MITARBEIT IM FRAUENHAUS

A

Auszug von zu Hause

Sabrina Kautz

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Und sie bewegt mich doch. . .

Während meiner ersten zehn Lebensjahre wurde ich mit wissenschaftlichen Fragen nur am Rande des Alltags konfrontiert. Sie begegneten mir, einer sehr begeisterten Naturbeobachterin zum Beispiel im Zusammenhang mit den Witterungsverhältnissen. Während des Viehhütens hatte ich genügend Zeit meine Umgebung zu beobachten. Märchen und Sagen haben meine Kindheit begleitet. Entsprechend spannend und mystisch empfand ich diese Naturvorgänge. Wolken wurden sehr schnell zu Fantasiefiguren, die den Himmel bevölkerten. Schon bald war es aber wichtig, zu erkennen, welche Vorzeichen schlechtes Wetter bedeuteten. Zum einen musste ich mich selbst schützen können, zum anderen musste ich die Tiere, die mir anvertraut waren, rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen, damit sie nicht vom Blitz erschlagen wurden. Darüber hinaus war es wichtig zu lernen, den Sonnenstand einzuschätzen. Er war für mich die einzige Möglichkeit der zeitlichen Orientierung. Ein Uhr besaß ich, wie die meisten Kinder damals nicht. Geprägt war mein Weltbild durch die Erziehung und die Religion. Zum einen war dadurch der Rahmen des Denkens sehr eng gesetzt, zum anderen bot mein Weltbild ein hohes Maß an Sicherheit. Es war nicht notwendig, lange darüber nachzudenken, was erlaubt war oder nicht, da die Fülle der Ge- und Verbote einen sicheren Weg aufzeigten. In Wirklichkeit begegnete ich während meiner Kindheit wissenschaftlichen Ansätzen häufiger. Allerdings ist mir diese Tatsache erst während meiner biografischen Forschungen bewusst geworden. Es war zum Beispiel Teil unseres Alltags eine Milchzentrifuge so zusammensetzen zu können, dass sie auch funktionierte. Die Zentrifugalkraft lernte ich erst im Physikunterricht kennen. Wenn ich mich richtig erinnere, wurden damals kaum praktischen Zusammenhänge hergestellt.

Als Kind war ich auf Grund meiner kleinen Hände besonders gut geeignet, die Zündkerzen des Traktors zu reinigen. Nach und nach konnte ich bereits die Anzeichen für verrußte Kerzen erkennen. Meine Ohren sagten mir schon beim ersten Startversuch, wann es nutzlos war, es weiter zu versuchen. Es galt zuerst, die Kerze freizulegen, alle Spünde und Schrauben gut zu verwahren, die Reinigung vorzunehmen und den Traktor wieder richtig zusammen zu setzen. Nur wenn ich alles richtig gemacht hatte, konnte der Traktor wieder gestartet werden. Ich glaube nicht, dass mein Zugang zur Technik über dieses Detailwissen hinausgegangen ist, wenn man davon absieht, dass ich sehr bald wusste, dass Treibstoff notwendig ist, um den Motor in Gang zu halten. Die Motoren meiner Autos waren mir später immer suspekt - ich war froh, dass Fachleute und nicht ich herausfinden mussten, welche Fehler vorlagen, wenn sie streikten.

Die Gespräche meiner Kindheit, die ich mit Erwachsenen führte, würde ich als in erster Linie pragmatisch bezeichnen. In den meisten Fällen handelte es sich um Anweisungen und Befehle, nur ganz selten fand meine Mutter Zeit, etwas zu erzählen. Unsere Tage war angefüllt mit viel Arbeit, am Abend fielen wir meist todmüde ins Bett und haften keine Lust mehr, uns lange zu unterhalten. Dazu muss man auch wissen, dass die Gesprächskultur in meiner Kindheit anders geregelt war als heute. Zuhören durften auch wir Kinder. Wenn wir leise waren, und nicht störten, hatten wir Gelegenheit, den Erwachsenengesprächen zu folgen. Daneben gab es eine Reihe von Schweigegeboten für uns Kinder: Bei Tisch, in der Kirche, wenn Erwachsene sprachen, am Abend vor dem Einschlafen, um nur die wichtigsten zu nennen. Meine Kommunikationsfähigkeit war aus diesem Grund nicht sehr gut entwickelt. Dieses Manko wurde mir erst im Gymnasium bewusst. Immer wieder hatte ich den Eindruck, von den anderen Mitschülerinnen in Bezug auf die Reaktionsgeschwindigkeit beim Antworten überflügelt zu werden.

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Mein Start in das Schulleben war, bedingt durch die sehr schmerzhafte Erziehung zur Rechtshändigkeit nicht dazu angetan, eine selbstbewusste Schülerin aus mir zu machen. Die Ausbildung in der Volksschule habe ich vor allem als Dressurakte in Erinnerung. Je angepasster und fleißiger wir waren, umso eher konnten wir vor der Willkür mancher Lehrer sicher sein. Selbst die Eltern fanden es richtig, dass unsere Lehrer mit körperlichen Strafen arbeiteten. Über Gerechtigkeit wurde erst gar nicht diskutiert. Auch zu Hause galt die Regel, dass die älteren Geschwister für die jüngeren verantwortlich waren. Funktionierte die Aufsicht nicht, so handelte man sich die Strafe dafür ein. In der Schule waren selbstbewusste, kritische Schülerinnen unbequem. Je ruhiger wir uns verhielten und je angesehener unsere Eltern im Dorf waren, umso einfacher gestaltete sich der Schulalltag. In dieser Hinsicht war es mit unserem Ansehen nicht weit her. Mein Vater, der schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt war, musste sich oft anhören, wie verantwortungslos es sei, als Kriegsversehrter eine Familie zu gründen.

Für mich überraschend, erklärte meine Klassenlehrerin am Ende der 4. Klasse Volksschule, dass ich fähig sei, das Gymnasium zu besuchen. Diese Schulform war mir bis dahin kaum bekannt, mein Ziel war der Besuch des ersten Klassenzuges der Hauptschule gewesen. Die Meinung meiner Eltern war geteilt. Während Vater meinte, dass die Finanzierung einer höheren Bildung vor dem Hintergrund, dass ich ohnehin bald heiraten würde, reine Geldverschwendung sei, war meine Mutter von der Idee sehr angetan und erwirkte meine Zulassung zur Aufnahmeprüfung.

Auch in der Verwandtschaft wurde diese Entscheidung unterschiedlich beurteilt. Immerhin war ich die erste, die das bis dahin bewährte Ausbildungssystem verlassen wollte. In Bezug auf die Bildung fand in unserer Familie sozusagen ein Paradigmenwechsel statt. Dies ist erstaunlicherweise auch so geblieben. Wir, die Kinder der etwas „verrückten Mutter; die mit ihren Kindern so hoch hinaus wollte", wurden während unserer Ausbildung daher sehr kritisch beobachtet.

Die erste Zeit in der neuen Klasse am Gymnasium war anstrengend. Abgesehen vom langen Schulweg und meinen Pflichten, die ich zu Hause erledigen musste, war ich nicht wortgewandt wie meine Mitschülerinnen und verfügte auch nicht über das Maß an Allgemeinbildung, das bei meinen Kolleginnen vorhanden war. Während ich fieberhaft damit beschäftigt war, diese Rückstände aufzuholen, wendete ich auch viel Energie dafür auf, meine Wissenslücken zu vertuschen.

Gleichzeitig bemühte sich vor allem meine Großmutter, mir die typisch weiblichen Tugenden beizubringen: Sauberkeit, Ordnung, Achtung vor den Männern, Zurückhaltung, Diplomatie, Anpassungs- und Belastungsfähigkeit. Während die schulische Ausbildung darauf ausgerichtet war, mir in Zukunft eine gehobene berufliche Position zu ermöglichen, wurde ich zu Hause nach der alten Tradition erzogen. Auch von mir wurde erwartet, dass ich einen netten Mann finden sollte, mit dem ich nach einigen Jahren der Berufstätigkeit eine Familie gründen konnte. Eine Frau, der es nicht gelang, einen Mann zu finden, galt in der Gesellschaft als bedauernswerte „Übriggebliebene". Noch heute grüble ich darüber nach, wie ich mir meine persönliche berufliche und private Zukunft vorgestellt habe. Vergeblich! Es scheint so, als sei mir die Gegensätzlichkeit meiner Situation nicht bewusst gewesen.

Mit vier Schwestern aufgewachsen und unter strenger Aussicht meiner Eltern hatte ich kaum die Möglichkeit, ein entspanntes unverbindliches Verhältnis zu meinen männlichen Altersgenossen zu entwickeln. Sicher war das mit ein Grund dafür, dass ich mich im ersten Mann, mit dem ich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollte, besonders täuschte. Als sich

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mein Sohn ankündigte, löste er unsere Verbindung. Wider Willen war ich zur Alleinerzieherin geworden. Ich habe lange Zeit unter der Tatsache gelitten, meinem Sohn keine komplette Familie bieten zu können. Das erlernte Beziehungsmuster habe ich auch in meiner zweiten Beziehung übernommen und wähnte mich lange Zeit sehr glücklich. Mein Studium hat mich gelehrt, mein Leben auch mit kritischer Distanz zu betrachten. Erst als ich mir selbst eingestanden hatte, wie sehr sich meine Überzeugungen von der gelebten Praxis unterschieden, konnte ich versuchen, kleine Veränderungen herbei zu führen. Am Ende bin ich damit gescheitert. Mein Partner hat zwar belustigt zugehört, wenn ich Vorschläge machte, hat sich aber nicht zur geringsten Veränderung bereit erklärt. Daran ist letztendlich die Beziehung gescheitet. Den entscheidenden Schritt habe ich gesetzt, obwohl mir klar war, dass ich damit auch einen Teil meiner Sicherheit aufgebe. Heute weiß ich, dass es gut war. Ich lebe wieder eigenbestimmt, gestalte mein Freizeitprogramm nach meinen Wünschen und Interessen und bin nicht einsamer, als in meiner Beziehung.

Im Rückblick betrachtet, wurde ich vor allem in den vier Jahren am Gymnasium in Lienz sehr umfassend gebildet. Die praktischen Versuche in Physik, Chemie und Biologie sind bis heute im Gedächtnis haften geblieben. Sogar der Mathematikunterricht hat Spaß gemacht, bis ein Professor an die Schule kam, der davon überzeugt war, dass Mädchen keine „mathematische Intelligenz" besäßen. In meiner späteren Ausbildung konnte ich zwar zusätzlich praktische Kenntnisse erwerben, aber die Wissenschaftlichkeit des Gymnasiums fand ich nicht wieder. Vor allem während meines Studiums stellte ich immer wieder fest, wie oft ich auf die Kenntnisse, die ich im Gymnasium erworben habe, zurückgreifen konnte.

Beeinflusst durch den Bildungsberater an unserer Schule wechselte ich mit einigen Kolleginnen an die Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe in Villach. Was mich damals am Schulwechsel gelockt hatte war zum einen die Option, auch praktische Kenntnisse erwerben zu können - das war ein Gebiet, auf dem ich mich sehr sicher fühlte, zum anderen die Distanz zum Heimatort, in dem es zu dem Zeitpunkt brodelte, weil meine Eltern beschlossen hatten, sich scheiden zu lassen. Die Menschen teilten sich in zwei Lager und hielten sich beim Erforschen der Ursachen dieses, im Ort erstmaligen Ereignisses, an uns Kinder. Die „Flucht" nach Villach hat mir die Möglichkeit gegeben, diese unerfreuliche Situation immer wieder zu verdrängen.

Das erste Jahr an der HLW in Villach war für mich sehr prägend. Die Reaktion meiner zukünftigen Mitschülerinnen auf meine, am Gymnasium erworbene Ausdrucksweise war so vernichtend, dass ich mich in meinem Bedürfnis, mich anzupassen, sprachlich sehr rasch akklimatisierte. Ich wurde von meinen Kolleginnen erst anerkannt, als ich „ihre" Sprache sprach. Mein Wille zur Anpassung war durch mein schwaches Selbstbewusstsein begründet. Die Freundschaften, die bis heute bestehen, sind aber trotzdem in dieser Zeit entstanden. Vor allem die Internatszeit ist mir als besonders unbeschwert im Gedächtnis haften geblieben. Wir hatten so viel Spaß miteinander und konnten uns bestens unterhalten.

Im November des ersten Schuljahres wurde ich zusammen mit drei Mitschülerinnen auf dem Heimweg von der Schule auf einem Zebrastreifen überfahren. Bedingt durch meinen monatelangen Krankenhausaufenthalt war der Wiedereinstieg in den Schulalltag sehr schwierig. Abgesehen davon, dass ich schwach und gehbehindert war, hatte ich mit enormen Wissenslücken zu kämpfen. Mein Wunsch, das erste Schuljahr freiwillig zu wiederholen, wurde mir von meinen Eltern abgeschlagen.

Jedes Jahr kämpfte ich nun also um den Aufstieg in die nächste Klasse und erkannte im vierten Jahr schließlich, dass ich die Matura nur schaffen würde, wenn ich das vierte

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Schuljahr freiwillig wiederholte. Diesen Entschluss teilte ich dem Direktor mit und hatte damit erstmals eine Entscheidung getroffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.

Der Sturm aus dem Elternhaus folgte und endete damit, dass mich meine Mutter, die besonders impulsiv ist, vor die Tür setzte. Ein Jahr lang musste ich beweisen, dass ich für mich allein sorgen konnte. Mit Babysitten, Putzen und diversen Aushilfejobs in meinem Praxisbetrieb konnte ich mich aber ganz gut über Wasser halten.

Die Gelegenheit, Versäumtes aufholen zu können, zeigte mir endlich, wie schön Unterricht sein konnte. Erstmals nach vielen Jahren ging ich wieder ohne Furcht zur Schule, das Lernen machte mir Spaß. Je mehr ich aufholte, umso mehr entstand in mir das Gefühl, selbst steuern zu können, wie und in welchem Ausmaß ich Wissen erwerben konnte. Besonders schön fand ich den Deutschunterricht in der neuen Klasse. Unsere Deutschprofessorin führte uns zu einer eigenständigen Literaturwahl, war bereit, über alle Themen zu sprechen, brachte neue Ideen mit, machte uns neugierig und zeigte uns, welchen Bildungsauftrag die Schule eigentlich wahrnehmen sollte: Uns zu eigenständigen, kritischen Menschen zu erziehen, die in der Lage waren, ihre Sicht der Dinge zu begründen und eigenständig weiter zu forschen.

Politische Aktivitäten wurden von uns in diesen Jahren kaum verlangt. Trotzdem haben wir uns sehr eifrig ausgetauscht, wenn es um brennende Themen, wie die Abstimmung über den Paragraphen 144 oder über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes Zwentendorf ging. Begeistert haben wir an allen Demonstrationen teilgenommen. Wir haben uns mit diesen Themen sehr leidenschaftlich auseinander gesetzt und konnten erstmals ernsthaft mit Erwachsenen über Themen sprechen, die unsere Zukunft bestimmen sollten. Hinzu kam, dass wir uns allmählich gegen die Zwänge der erlebten Erziehung aufzulehnen begannen.

Beratungen durch Bildungsbahnberater waren in den 70er Jahren noch nicht vorgesehen. Niemand hatte die Idee nach unseren besonderen Eignungen und Vorlieben zu fragen. Ein technisches Studium galt für uns Mädchen als so gut wie ausgeschlossen. In späteren Jahren war ich einmal als Helferin beim Vermessen eines Almgeländes eingeteilt. Das wäre ein Beruf nach meinem Herzen gewesen: Wissenschaftliche Tätigkeit in der freien Natur... Meine Wahl fiel, wie auch bei anderen meiner Kolleginnen auf das Lehramtsstudium für die Unterrichtsgegenstände Französisch und Geografie, das wir in Wien beginnen wollten. Zusammen mit meiner Freundin war ich schon eifrig auf der Suche nach einer Unterkunft, als mein Vater schwer erkrankte. Ein Studium wurde aus finanziellen Gründen unmöglich, ich musste mir einen Arbeitsplatz in der Wirtschaft suchen. Mein Maturazeugnis bescheinigte mir zwar, nicht nur die Matura bestanden zu haben, sondern auch die Berechtigung für die Ausübung von dreizehn verschiedenen Berufen zu besitzen, aber in der Realität stellte sich bald heraus, dass die erworbenen Berechtigungen in der Wirtschaft das Papier, auf dem sie geschrieben waren, nichts wert waren. Ich saß nun also in einem Baubüro, schrieb Offerte über diverse Bauaufträge und wusste schon bald, dass dies nicht meine Welt sein würde. Der finanzielle Zusammenbruch der Firma führte zwar dazu, dass wir alle plötzlich arbeitslos waren, machte mir eine rasche Veränderung aber leichter.

Den Wunsch, später junge Menschen zu unterrichten, hatte ich noch nicht aufgegeben. Mir war aber klar, dass ich mich für eine kurze Ausbildung entscheiden musste. Im Vordergrund stand die Notwendigkeit, so bald als möglich auf eigenen Beinen zu stehen. Besonders gerne wäre ich Lehrerin für den landwirtschaftlichen Fachbereich geworden. Es zeigte sich aber bald, dass diese Ausbildung die Matura einer landwirtschaftlichen Lehranstalt erforderte.

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Die Alternative zur landwirtschaftlichen Fachausbildung stellte die Ausbildung zur Hauswirtschaftlehrerin an der berufspädagogischen Akademie in Wien dar. Meine Eltern konnte ich mit meiner Wahl nicht begeistern. „Schneller, als du glaubst, wirst du wieder zu Hause sein!", meinte mein Vater und hat damit erreicht, dass ich mein Ziel verbissen verfolgte und wie in Villach, von der Hand in den Mund lebte.

Während der vier Semester an der BPA in Wien wurden wir fachlich sehr intensiv gebildet. Auf der Strecke blieb für unsere Begriffe die pädagogische Ausbildung. Sie erschöpfte sich in der Bearbeitung einer Reihe von Fallbeispielen, die mit dem praktischen Schulalltag nur am Rande zu tun hatten. Die Lehrauftritte zeigten uns sehr bald unsere Grenzen, wenn es darum ging, über das Fachlich-Didaktische hinaus aktiv zu werden. Die aufgeweckten Wiener Schüler liebten unsere Stunden - sie konnten tun was sie wollten und machten uns deutlich, was sie von unserer Autorität hielten.

Ganz so schlimm wie erwartet, wurde es an unserer Fachschule in Döllach nicht - die Schülerinnen waren unheimlich folgsam, so konnte ich während der ersten Berufsjahre auch ein gewisses Maß an pädagogischer Praxis entwickeln. Sichere Hinweise und Quellen für pädagogisch korrektes Handeln besaß ich nicht. Ich konnte mich an das halten, was mir meine Kolleginnen vorlebten und mich daran erinnern, was ich selbst als Schülerin erlebt hatte. Pädagogische Arbeit professionell zu reflektieren habe ich erst an der Universität gelernt. Viel lieber arbeite ich im übrigen mit den lebhaften Schülerinnen von heute. Sie machen erst eine Reflexion möglich, auch wenn wir manchmal ziemlich hart aufeinander prallen. Die Tatsache, dass ich mit dem Lehramtsprüfungszeugnis in der Hand automatisch als Expertin für Erziehungsfragen betrachtet wurde, beunruhigte mich. Viel zu oft war ich selbst unsicher und handelte eher instinktiv als professionell. Bedingt durch die Veränderungen an unserer Schule, vor allem die Aufnahme der Integration im 9. Pflichtschuljahr in unseren Lehrplan schien es mir immer wichtiger zu sein, mich fortzubilden. Eine Karenzierung war weder aus finanziellen, noch aus dienstrechtlichen Gründen möglich, so blieb für mich nur die Universität mit ihrem Bildungsangebot übrig. Dieses Angebot wollte ich nützen.

Am Anfang war ich nicht sehr sicher, ob ich ein Studium schaffen würde. Bereits die Inskription war ein unendlicher Hürdenlauf. Da ich mir keine Blöße geben wollte, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als jemanden nach den gängigen Modalitäten zu fragen. Lange Zeit behielt ich meine neue „Freizeitbeschäftigung" für mich, um im Falle eines Scheiterns nicht erst viele Fragen beantworten zu müssen. In der Anonymität der ersten Vorlesungen konnte ich Sicherheit gewinnen und allmählich stellten sich auch die ersten Erfolge ein. Ich selbst hatte bezweifelt, dass ich im hohen Alter von 36 Jahren noch in der Lage sein würde, Prüfungen zu bestehen. Manchmal schien es, als müsste ich das Studium an den Nagel hängen. Kollegen erkrankten, nach zwei Jahren musste ich einen Studienlehrgang für Wirtschaftsinformatik belegen. Sehr oft waren Seminarplätze dünn gesät und der Stundenplan für das laufende Schuljahr längst erstellt, wenn das Lehrveranstaltungsverzeichnis zum Kauf angeboten wurde. So hat es sich gezeigt, dass ich in besonders angespannten Zeiten effizienter arbeiten und die Mehrbelastung schaffen konnte. Je häufiger Hindernisse auftauchten, umso mehr wünschte ich mir, den Abschluss zu schaffen.

Besonders erstaunt hat mich, wie sehr mein Denken sich im Laufe des Studiums veränderte. Nie zuvor war mir so deutlich bewusst geworden, dass auch ich viele alte, männlich geprägte Denkweisen übernommen habe, die natürlich auch mein Verhalten im allgemeinen und meine

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Partnerschaft im besonderen prägten. Selbst in der Erziehung erwischte ich mich immer wieder bei Aussagen, deren Inhalt ich zuvor nicht bewusst wahrgenommen habe. Oft hatte ich während des Studiums das Gefühl, als würde man mir einen Spiegel vorhalten. Das war oft sehr unbequem, weil ich gezwungen war, mich mit mir selbst kritisch auseinander zu setzen. Ich lernte mich selbst aber besser kennen und konnte nach und nach die Eigenheiten, Schwächen und Verhaltensweisen meiner Mitmenschen, die mich manchmal sehr belastet haben distanzierter betrachten. Immer wieder entdeckte ich, dass viele meiner pädagogischen Erfahrungen, die ich im Schulalltag gesammelt hatte in der Theorie bestätigt wurden. Zudem lernte ich Neues hinzu und hatte das Glück, die Erkenntnisse auch praktisch anwenden zu können.

Längst schon ist das Studium nicht mehr nur ein Teil meiner Pflicht, ich kann aus der Fülle des Angebotes an Lehrveranstaltungen wählen und mein persönliches Programm zusammenstellen. Sogar die erzwungenen Lehrläufe, die durch die Studienreform entstanden waren, boten die Möglichkeit, das Wissen zu vertiefen, in dem ich die Gelegenheit nützte, Veranstaltungen zu besuchen, auf die ich unter anderen Umständen hätte verzichten müssen. Immer wieder haben sich Themenbereiche aufgetan, die ich unbedingt näher beleuchten wollte. Die Geschichte der Pädagogik wissenschaftlich zu erarbeiten, Forschungsarbeiten zu erstellen, Vergleiche anzustellen, Qualitätsprofile zu erarbeiten macht mir besondere Freude. Einen hohen Stellenwert messe ich auch dem Austausch von Erfahrungen unter Studienkolleginnen bei. Ich hätte niemals so viele Menschen kennen gelernt, die ähnliche Ziele verfolgen wie ich, wäre ich nicht als Studentin an der Universität in Klagenfurt.

Das Studium hat mir auch gezeigt, welche Interessen und Kräfte in mir schlummern, wie viel ich noch kennen lernen möchte, wie wichtig lebenslanges Lernen ist - vor allem dann, wenn man mit jungen Menschen arbeitet. Ich finde es so wahnsinnig interessant, den wissenschaftlichen Hintergrund zu erforschen, die geschichtlichen Zusammenhänge zu erkennen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Wissenschaft, sie bewegt mich also doch. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ich viele Jahre lang davon überzeugt war, dass mein Können für wissenschaftliche Arbeit nicht reicht ist das eine befreiende Erkenntnis.

Das Studium hat mich selbstbewusster gemacht. Es hat mich manchmal besonders berührt, wenn ich bei Kolleginnen und Lehrenden Erkenntnisse wiedergefunden habe, die ich in meiner praktischen Tätigkeit gewonnen habe, wenn sich spontan Gespräche ergeben haben, die mir gezeigt haben, wie wichtig es auch ist, Erfahrungen auszutauschen, zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen. Besonders an der Universität Klagenfurt studieren Menschen unterschiedlicher Altersklassen. Ich habe diese Tatsache immer als Bereicherung empfunden, weil es nie schwierig war, die Kommunikation in Gang zu bringen. Ernsthafte Gespräche mit Männern habe ich erst und fast ausschließlich an der Universität geführt. Es berührt mich auch, wenn ich nun, fast am Ende meines Studiums die Universität betrete und mich wie zu Hause fühle. Sie ist zu meiner Universität geworden, der ich mich immer verbunden fühlen werde.

Die Aufgabe, meinen Lebensverlauf zu beleuchten, schien mir nicht schwer zu sein. Erstaunlicherweise hat mich diese Arbeit sehr viel mehr beschäftigt, als ich es ursprünglich erwartet hätte. Immer wieder ging mir meine Geschichte durch den Kopf, hat mich vor dem Einschlafen beschäftigt, hat die Erinnerung an angenehme und unangenehme, oft nur verdrängte Abschnitte meines Lebens zurück gebracht. Zum ersten Mal war ich gezwungen, manche meiner Entwicklungsschritte von Anfang bis zum Ende zu reflektieren. In der Rückschau bin ich auch in der Lage, meinen verworrenen Bildungsweg so zu betrachten, wie er entstanden ist. Zum einen Teil, aus der Not meiner persönlichen Verhältnisse heraus, zum

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Teil bedingt durch mein fehlendes Selbstvertrauen. Ich habe auch entdeckt, dass es nutzlos ist, über entgangene Chancen zu weinen. Viel zu leicht kann man darüber vergessen, mit Vertrauen nach vorne zu schauen und neugierig auf all das, was das Leben für mich noch bereit hält zu warten.

Rosa Lanzinger

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Biographie - biographische Selbstreflexion

Wo habe ich mein Leben aktiv gestaltend verändert?

Ich bin im ländlichen Bereich auf einem Bauernhof, als älteste von fünf Kindern aufgewachsen. Als Erstgeborene musste ich schon sehr früh die Vorbildrolle für meine jüngeren Geschwister übernehmen und immer einen Schritt voraus sein. Erworbenes Wissen wurde dabei den Jüngeren weitergegeben. Die manuelle Tätigkeit hatte in diesem Umfeld einen großen Stellenwert, wobei die Zusammenarbeit groß geschrieben wurde. Gegenseitige Hilfeleistung im Rahmen der Schulausbildung, sowie zur Absolvierung der täglichen Arbeiten war für uns sehr wichtig. Ich wurde auch sehr geschlechtsspezifisch erzogen, die Aufgabenbereiche zwischen mir und meinen Brüdern wurden dem Rollenbild entsprechend teilweise sehr unterschiedlich aufgeteilt (z.B. Mädchen sind für die Hausarbeit zuständig).

Schon sehr früh prägten mich Eigenschaften wie: • helfen wollen/müssen • andere (z.B. Eltern) entlasten • Verantwortung übernehmen • stark bzw. stärker sein als andere • andere unterstützen (durch bereits erworbenes Wissen) • fürsorglich sein

Wer/Was hatte auf meine Ausbildung Einfluss?

Ich ging sehr gerne in die Schule und mein erster Berufswunsch war der, einer Volksschullehrerin. Die Lehrerin war für mich zu dieser Zeit ein großes Vorbild. Da meine „soziale Ader" von Kind an sehr ausgeprägt war, habe ich mich schon danach frühzeitig für einen sozialen Beruf interessiert. Somit entschloss ich mich nach Beendigung der dafür notwendigen Pflichtschulausbildung (10 Schuljahre) zur Absolvierung der Krankenpflegeschule, welche ich mit dem Diplom für allgemeine Krankenpflege abschloss.

Meine Eltern haben mir jede Ausbildung offen gehalten, jedoch erfuhr ich keine Unterstützung von ihnen bei der Berufswahl. Gute schulische Leistung war für sie sehr wichtig, ich bekam aber selten Lob dafür. Als Leitspruch diente meinen Eltern: „Was immer du beginnst, musst du auch zu Ende bringen!" Nachdem mir meine Eltern keine Vorgaben für die Schulauswahl gaben, orientierte ich mich auch am Ausbildungsweg meiner damaligen Freundinnen.

Nach dem Einstieg in das Berufsleben und dem baldigen Übergang zum Berufsalltag, drängte sich bei mir der Wunsch nach Weiterbildung auf. Im Rahmen der Spezialausbildung zur Diabetesberaterin entdeckte ich dann die Freude und das Interesse zur pädagogischen Tätigkeit.

Mein Wunsch zum Einstieg in ein Universitätsstudium wurde mir durch eine Arbeitskollegin schmackhaft gemacht und somit beschloss ich im ersten Schritt einmal die Studienberechtigungsprüfung abzulegen. Mein erster Kontakt mit der Universität wurde vorerst durch zahlreiche Formalitäten überschattet. Nach dem Überspringen dieser bürokratischen Hürden bekam ich langsam

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Einblick in den Studienalltag. Ich hatte vorerst das Gefühl, dass jeder in diesem Gebäude über alles bescheid weiß und hatte Angst durch Fragen als „Nichtswissende" dazustehen. Nachdem ich nun die notwendigen Voraussetzungen besaß, inskribierte ich die Studienrichtung Pädagogik.

Dieses Studium absolviere ich seither neben meiner beruflichen Tätigkeit. Im Rahmen des Studiums habe ich die Möglichkeit mit Menschen außerhalb meines bisherigen Berufsumfeldes zu kommunizieren. Aufgrund der vielfältigen mir gestellten Aufgaben, bekam ich neue Sichtweisen für verschiedenste Dinge und bin damit auch weltoffener geworden. Obwohl ich auch in meinem Beruf als DGKS (dipl. Gesundheits- und Krankenschwester) Anerkennung erhalte, gibt mir das Studium ein erhöhtes Selbstwertgefühl.

Meine Begegnung mit Wissenschaft

Im Laufe meines Lebens lernte ich in den unterschiedlichsten Bereichen Wissenschaften zu entdecken. Waren es zu Beginn einfache Dinge für das tägliche Leben so erweiterte sich der Wissensstand ständig. Vom Aufstellen der Bauklötze über das erste gelesene Buch bis zum Verfassen dieser Arbeit, lernte ich die Wissenschaft aus den verschiedensten Bereichen, größtenteils unbewusst, kennen. Den bewussten Umgang mit dem Begriff der Wissenschaft lernte ich erst im Laufe meines Studiums kennen. Kindliche Eigenschaften wie z.B. Neugier, Entdeckungsdrang, Wissensdurst, ... sind auch für den „Wissenschaftler" eine wichtige Voraussetzung. Diese angeborenen Fähigkeiten, welche wir im Laufe des Erwachsenwerdens teilweise ablegen bzw. von unseren Lehrern im Rahmen des Schulsystems unterdrückt werden, müssen nun an der Universität mit neuem Leben erfüllt werden.

Menschen die gebildet sind, sind Menschen vor denen ich Respekt empfinde. Durch Wissen erweitert sich der persönliche Horizont, man wird offener für das „Andere" und es nimmt einem die Angst vor dem Unbekannten. Wissen bedeutet für mich unter anderem:

• Nichtverstandenes verstehen zu lernen • Nichts einfach als gegeben hinnehmen • Dinge zu hinterfragen, zu erforschen • Erkenntnisse aufzuarbeiten • Stärkung und Bereicherung meiner Person

Nach Abschluss meines Studiums möchte ich mein erworbenes Wissen an andere weiter geben, ich fühle mich aber auch weiterhin verpflichtet meinen Wissensstand ständig zu erweitern und somit der Wissenschaft auch in Zukunft bewusst verbunden zu bleiben.

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Silvia Weissmann

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Vom Käfer zur Universität

Ich denke die ersten Schritte eines jeden Menschen in Richtung Wissenschaft beginnen im Säuglingsalter:

Meine kleine Tochter ist jetzt sechs Monate alt und sie entdeckt jeden Tag etwas Neues. Im ersten Monat lernte sie ihre Umgebung kennen und war mehr oder weniger stiller Beobachter ihres Umfeldes. Im zweiten Monat war ihre Freude sehr groß, als sie ihre Finger kennen lernte, die von Tag zu Tag geschickter wurden bzw. werden. Es ist faszinierend, wie genau sie ihre Finger beobachtet und ausprobiert, zu was diese wohl zu gebrauchen wären. Vor einem Monat kam dann die nächste Überraschung - die Füße. Man kann mit ihnen strampeln, turnen und die Zehen passen sogar in den Mund. Leider kann man sich an diese Augenblicke nicht mehr erinnern, doch die Entdeckung des eigenen Körpers ist sicherlich die erste unbewusste Begegnung mit Wissenschaft.

Meine erste bewusste Auseinandersetzung mit Wissenschaft erfolgte mit 5 Jahren. Ich habe sehr junge Eltern (beide 42) und erinnere mich daher noch sehr genau an die Studienzeit der beiden. Mein Vater studierte an der Universität für Bodenkultur in Wien und zu seinen Forschungsgebieten zählten unter anderem eine Vielzahl von Käferzuchten. Von Zeit zu Zeit nahm er mich mit auf die Uni und ich konnte die kleinen Tierchen in ihren Glaskästen beobachten. Natürlich war ich sehr neugierig und löcherte meinen Vater immer mit 1 OOOenden von Fragen. Er erklärte mir, dass diese Käfer für Forschungszwecke seien (was ich aber nicht ganz verstand) und seine Aufgabe es sei, gut auf diese Krabbeltierchen aufzupassen. Von diesem Zeitpunkt an wollte ich auch Tierforscher sein, jedoch für meiner Meinung nach „sinnvolle" Tiere. Ich konnte mir gut vorstellen Hunde- und Pferdeforscher zu werden und dieses Ziel begleitete mich dann recht lange.

Der nächste Schritt zur Wissenschaft erfolgte dann in der Volksschule. Mir wurde immer mehr bewusst, dass Wissen unendlich ist. Auf einmal wurden aus meinen „Malereien" Buchstaben und Worte und die Zeitungen und Bücher bestanden nicht ausschließlich mehr aus Bildern. Auch die vielen interessanten Dinge die wir im Sachunterricht erfuhren, beeindruckten mich sehr. Kurz gesagt, ich liebte die Volksschule über alles.

Ich denke, dass sich mit dem Schulbeginn zugleich ein Tor in eine neue Welt öffnet. Mit einem Schlag wird man sich bewusst, dass das Leben nicht nur aus spielen besteht.

Über meinen weiteren Lebensweg brauchte ich mir bis zum Studium keine Gedanken machen, denn diesen bestimmten meine Eltern. Ich hätte gerne die Musikhauptschule besucht weil dies viele meiner Volksschulfreundinnen taten, doch für meine Eltern stand eine Hauptschule nicht zur Diskussion. Aus diesem Grund ging ich dann ins Gymnasium und merkte recht bald, dass sich eine Kluft zwischen mir und meinen alten Freundinnen bildete. Ich kann mich noch gut erinnern, dass unsere damaligen Lehrer sehr oft unterschwellige Bemerkungen gegenüber der Hauptschule äußerten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, wurde die Hauptschule, inklusive derer die sich besuchten, als minderwertig eingestuft. Bei meinen „neuen" Freundinnen ging es dann immer nur um die Gesprächsthemen: Wer hat wann und wo Ballettunterricht? - Spielst du Geige oder Klavier? - Welchen Käfig hast du für dein Meerschweinchen? Abgesehen davon, dass ich Ballett als lächerlich empfand, ein Meerschweinchen auf Grund seiner kleinen Größe nicht als Haustier sah, fügte ich mich diesen Gesprächsthemen um nicht als Außenseiter dazustehen. Ich ging auch brav, wie es sich für eine junge Gymnasiastin

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gehörte, zum Geigenunterricht, jedoch überlegte ich mir auf dem nach Hause Weg jedes Mal, ob ich die Geige nicht einfach schnell in der Glan versenken könnte. Ich machte mir jedes Mal Gedanken darüber, was wohl meine Eltern dazu sagen würden, kam aber immer wieder zu dem Entschluss, dass sie mir einfach eine neues Musikinstrument kaufen würden, ohne lange darüber zu diskutieren. Wenn ich mich so zurückerinnere, waren Diskussionen über die Sinnhaftigkeit gewisser Dinge in unserer Familie nicht üblich. Ich wurde auch nicht nach meinen späteren Berufswünschen oder besser gesagt überhaupt nach meinen Wünschen gefragt.

In meiner Nachbarschaft gab es einen Bauernjungen der mein bester Freund war. In der Volksschule durfte ich ihn auch noch oft besuchen gehen, was aber im Laufe der Zeit immer weniger wurde. Insgeheim konnte ich mir gut vorstellten Bäuerin zu werden, denn dies ließe sich gut mit meinem damaligen Wunsch Tierforscherin zu werden verbinden. Meine Eltern belächelten diesen Berufswunsch immer und teilten mir mit, dass ich nach meinem Wirtschafts- oder Medizinstudium alles machen könnte, wozu ich Lust hätte. Ich glaube, dass mich die Freundschaft zu diesen Jungen sehr prägte, denn er war der einzige der mit mir mein Tierhobby teilte.

Nach dem Gymnasium empfanden meine Eltern, dass die Handelsakademie am besten für mich wäre und so besuchte ich diese mit regem Interesse. Mir wäre ja viel lieber eine landwirtschaftliche Fachschule gewesen, die aber laut meinen Eltern nur was für Bauernkinder sei.

Im Laufe meiner Zeit an der Handelsakademie suchten meine Eltern schon eifrig nach einer Eigentumswohnung in Wien für mich, wo ich mein späteres Studium beginnen sollte. Wenn ich so darüber nachdenke, machte ich mir zu dieser Zeit auch wenig Gedanken über meine Zukunfts- bzw. meine Studienpläne. Ich wusste nur, dass ich nach der Matura nach Wien siedeln würde.

Der entscheidende Einschnitt in meinem Leben war dann der Sommer nach der Matura, wo ich meinen jetzigen Mann kennen lernte. Am Anfang verriet er mir nur, dass er die HTL besuchte und nun in einer großen Firma arbeite. Nach einiger Zeit erfuhr ich dann aber noch von seinem größten Hobby - eine Landwirtschaft die er vor einigen Jahren erbte. Zu diesem Zeitpunkt war es dann um mich geschehen und die Zukunftspläne die meine Eltern für mich erstellt haben, wurden abgehackt. Für mich war dies der Start in ein eigenes, nach meinen Wünschen gestaltetes Leben.

Zu dieser Zeit erfuhr ich dann auch aus seinem Bekanntenkreis vom Pädagogik- und Psychologiestudium in Klagenfurt. Wenige Tage später war ich dann auch schon inskribiert und bereue es bis heute nicht. Auf der Universität erfolgte dann auch die bewusste Begegnung mit Wissenschaft. Mir wurde klar, dass alles zitiert werden müsse, neue Erkenntnisse bewiesen werden mussten, usw. Wissen empfinde ich als etwas unschätzbar Wertvolles, was einem niemand nehmen kann und deshalb empfinde ich gebildete Menschen interessanter als jeden Roman.

Zusammengefasst kann ich sagen, dass im Leben sicherlich noch viele Hindemisse zu überwinden werden, doch mittlerweile sehe ich sie nicht mehr als Gegner sondern als Herausforderung.

Diana Buchacher

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Wissenschaftsinstitutionen und meine Erfahrungen im Zusammenhang mit Bildung und Macht

In meiner wissenschaftlichen Biografie ist es mir natürlich nicht möglich, den Blick auf das ganze Leben zu werfen, sondern lediglich auf einen Bestandteil, der sich - wohl in veränderter Form - immer wieder finden ließ und lässt. Da ich den Umgang mit Menschen liebe, er tagtäglicher Bestandteil meiner Arbeit ist und ich letztendlich auch in meiner Freizeit immer wieder mit unterschiedlichsten Menschengruppen zu tun habe, fokussiere ich meine Erinnerungen auf meine eigene Person in einer Gruppe, bzw. in einem System.

Da wir von Anfang an Beziehungswesen sind, ein Kind ja ohne Beziehung nicht lebensfähig ist und wir uns zur Menschwerdung brauchen, ist die Basis meines Lebens, auf die ich mit viel Dankbarkeit zurückblicke, meine Familie. Dass ich mich in diesem Mikrosystem bewegen kann, experimentieren darf und Grenzen und Muster finde, war mir als kleines Kind natürlich noch nicht bewusst. Doch als ich etwas älter war und bereits die Welt um mich erforschte, Freunde besuchte und in anderen Haushalten Einblick bekam, machte ich schon die Erfahrung, dass sich gewisse Muster in diesen MikroSystemen abhoben. Was in einem Hause erlaubt war, war im anderen verpönt, was mir anerzogen wurde, war wo anders nicht wichtig. Der Lebensbereich in dem sich mein System befand, war mir vertraut, gab mir Halt und Grenzen und befriedigte mein Bedürfnis nach Sicherheit.

Dennoch war ich immer jemand, den das andere, das Fremde interessiert, wenn ich wusste, ich kann zu jedem Zeitpunkt in meinen sicheren Hafen zurück. So entwickelte ich mich zur neugierigen Forscherin, die das Essen, den Geruch, die Anordnung von Möbeln, die Sprache, die Ordnungen in anderen Häusern erkundete. Dabei versuchte ich mir bei den jeweiligen Mitgliedern der Familie eine gute Stellung zu sichern.

Da ich den Kindergarten auf meinem Weg durch die Institutionen ausgelassen habe, war das erste Mesosystem die erste Klasse der Volksschule . Nun sollte der Ernst des Lebens beginnen und ich erinnere mich noch daran, dass ich trotz Vorfreude auf die Schule auch ein unangenehmes Gefühl empfand. Mir schlug eine gewisse Fremdheit entgegen, in der auch ich glaubte, mich ändern zu müssen. Ich sollte sauber sein und ruhig, die Räume waren rein und glänzten, der Geruch von Putzmittel lag in der Luft und vor allem waren da viele Kinder. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen würde, um die Lehrerin zu werben, damit sie mich als etwas Besonderes, als etwas Wichtiges, als jemanden anderen als all die anderen wahrnahm. So begann die Phase der stürmischen Kontaktwerbung. Ich befand mich mitten in dieser Fremdheitsphase, in der sich Hemmungen und Neugierde breit machten. Um mir ein wenig Sicherheit zu geben, setzte ich mich neben meine Nachbarin, die mir als Anker diente und bei der ich wusste, woran ich war. Dies Schritte setzte ich bewusst, um von einem sicheren Platz aus agieren zu können. Nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass ich es eigentlich nur mit Fleiß und guten Leistungen schaffen würde, mir Anerkennung und Sicherheit zu erarbeiten und vor allem die Liebe zu meiner Lehrerin. Ich suchte und fand ganz bewusst erste Situationen, in denen ich mich mehr und mehr Menschen aus dem neuen System nähern konnte.

Neben dem Lehrstoff der Schule war und ist also das Leben in einer Gruppe immer mit sozialen Lernen ausgefüllt. Das soziale Ein-, Unter- und Überordnen muss erfahren und gelernt werden wie das kleine lxl . Mir lag in der Volksschule sehr viel daran, ein Alphatyp zu sein und ich schaffte es in unserer Schule, in der die erste und zweite Schulstufe zusammen

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unterrichtet wurden, immer wieder, die Lehrerin in ihrer Lehrtätigkeit bei den Schwächeren zu unterstützen. Das brachte mir eine gute Stellung im Mesosystem ein. So hatte ich bald einen anerkannten Platz in der Gruppe, der registriert wurde. Da aber auch die „Konkurrenz" nicht schlief, sprich - meine Freundin war ebenso tüchtig, kam es immer wieder auch zu Rollenveränderungen. Sich seine Rolle zu fixieren war nicht so einfach und es kam auch zu Spannungen und subtilen Kämpfen, die jedoch nicht ausgesprochen wurden.

Meine Rolle blieb mir natürlich nicht meine ganze Schulzeit erhalten. Mit den Schulleistungen, die vor allem im mathematischen Bereich fürwahr nicht immer glänzten, stürzte ich auch gehörig ab. Ich musste erfahren, dass sich die Regeln des Miteinanders veränderten, wenn man sich längere Zeit in einem Tief befindet. Ich akzeptierte diesen veränderten Umgang meiner Klassenkollegen auch ungefragt, da es die Sprache war, die unsere Klasse sprach. Schwächere Schüler waren nicht vorne dabei - und das war die Norm. Auch Lehrer waren wohl damals nicht in diese Richtung geschult und von sozialer Erziehung war noch nicht die Rede. So erlebte ich meine „Vertrautheitsphase" in allen möglichen Rollen, die mir zugeschrieben wurden, bzw. die ich mir selbst auferlegte. Die Schule als Bildungssystem zeigte sich mir somit auch als Machtsystem. Ich lernte, dass ich in dieser Schule und unter dieser Führung nur mit viel Wissen auch viel Macht erreichen könnte. Sich Wissen anzueignen, diente nicht (nur), den Hunger nach Wissen zu stillen, Interessantes zu erfahren, sondern zum größten Teil wohl darin, im Machtsystem nicht ausgeschlossen zu werden. Die Gesichtspunkte, wonach bei diesen Prinzipien gehandelt wurde, erlebte jeder, der Leistung erbrachte oder eben nicht erbrachte.

In meiner nächsten Schule, die sich in Klagenfurt befand, war der Konformitätsdruck auf Grundprinzipien, Verhaltensweisen und Anschauungen so gelegt, dass sie für mich leicht durchschaubar und mit meinen eigenen Empfindungen leicht vereinbar waren. Die sozialen Erwartungen für mich als Mitglied einer Institution waren - wohl auch dank meiner Schulleistungen - angenehm. Die Maßstäbe, die hier herrschten, konnte ich auf meine Lebensorientierung beziehen. Die Pädagogen dieser Schule konnten Bedürfnisse der Klasse erkennen und ihre Grundeinstellung war Großteils so, dass im Zusammenleben Raum für Wachstum und Entfaltung gegeben war. Nun war die Leistung mit der Stellung im System nicht unbedingt deckungsgleich. Es herrschte wieder ein anderes Weltbild. Ich staunte, welches Selbstbewusstsein auch Schulkolleginnen an den Tag legten, die in einem oder mehreren Gegenständen keine Leistung erbrachten. Jetzt wird mir im Nachhinein bewusst, dass es ihr Recht war, trotzdem selbstsicher zu sein und den Glauben an sich selbst oder andere Stärken aufrecht zu erhalten. Mir selbst gelingt dies selten... Das Verhältnis von Leistung und der Stellung im System hat sich sehr fest gebrannt. Anderen kann ich mit viel Toleranz entgegentreten - mir selbst fällt dies oft schwer.

Wenn ich jetzt auf mich selbst als „Forschungssubjekt" zurücksehe, erkenne ich auch die dringende Notwendigkeit, mich mit Kindern, die sich in einer entwickelnden Gruppe befinden oder mit Kindern, die Hilfestellungen bei Rollenfixierungen brauchen, zu beschäftigen. Manchmal muss eine Führung, eine besondere Struktur oder ein kommunikatives Netz mit Hilfe anderer verändert werden. Auf jeden Fall muss der Mensch, seine Emotionen, sein Charakter von den Leistungen, die er erbringt, getrennt werden. Der beträchtliche Einfluss der Gruppe auf jeden einzelnen kann Ziele weiter wegrücken oder viel leichter erreichbar machen.

Bernadette Lutnik

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Meine Biographiereise

Meine Biographiereise beginnt mit meinem Eintritt in die Schule. Nach der Volksschule besuchte ich die Hauptschule, da ein Gymnasiumsbesuch aufgrund der schlechten Infrastruktur nicht möglich war. Ich war eine begeisterte Schülerin, die immer gerne zur Schule ging.

Nach der Hauptschule ging ich in die Handelsakademie - alle meine Freundinnen machten das und außerdem war diese Schule in der nächsten Stadt. Ich merkte bald, dass die Wirtschaft nicht meine Sache war, beendete trotzdem diesen Schultyp. Nach der Matura stellte ich mir die große Frage: „Was nun?"

Berufswünsche hatte ich viele während meiner Schulzeit - angefangen von Säuglingsschwester, Mechanikerin, Sekretärin, Bankangestellte und Archäologin. Mein besonderes Interesse lag im Lesen von Kriminalromanen. Damals schüttelte schon jeder seinen Kopf, wenn sie mich, in diese Bücher vertieft, sahen. Es faszinierte mich immer, wie ein Verbrecher aufgeklärt wurde und welche Konsequenzen es gab.

Dennoch entschloss ich mich nach der HAK für einen sozialen Beruf. Ich machte die Aufnahmeprüfung im PAKIPÄD und wurde genommen, doch der Lehrgang sollte erst in einem halben Jahr beginnen. Daher meldete ich mich kurzerhand in der PÄDAK an. Dort gefiel es mir so gut, dass ich das Lehramt für die Volksschule machte. Anschließend musste ich auf eine Anstellung als Lehrerin warten. In der Zwischenzeit machte ich noch den Integrationslehrer dazu und begann in einem Kindergarten als Helferin zu arbeiten - am Vormittag im Kindergarten, am Nachmittag im Hort. Die Arbeit machte mir Spaß, doch ich wollte mehr Verantwortung.

Also übernahm ich in einer Kindergruppe die Leitung für 25 Kinder und 5 Mitarbeiter. Obwohl mir diese Tätigkeit sehr lag, strebte ich nach mehr. Ich inskribierte an der UNI. Als Lehrer schrieb ich mich natürlich für Pädagogik ein. Ich machte mir darüber eigentlich gar keine Gedanken. Neben der Arbeit in der Kindergruppe und dem Studium begann ich meine Ausbildung zum Fahrschullehrer. Bis heute habe ich nicht als Fahrschullehrer gearbeitet, aber wer weiß für was es gut ist. Ich machte auch noch eine Zusatzausbildung in Motopädagogik.

Nach einiger Zeit bekam ich eine Anstellung im Schuldienst. Das Studium wurde weitergeführt, denn was ich beginne, mache ich auch fertig. Die Arbeit im Schuldienst erfüllt mich jeden Tag mit Freude.

Aber ich glaube, dass da noch mehr auf mich wartet. Ich habe viel gelernt, angewandt und wieder beiseite gelegt. Aber im Laufe der letzten beiden Wochen fragte ich mich immer wieder, was oder wer hat mich in meinem bisherigen Leben besonders berührt oder fasziniert?

Es gibt zwei Gebiete, die mich damals wie heute beeindrucken. Das ist einerseits die Archäologie und andererseits die Rechtswissenschaft. Das Interesse an der Archäologie habe ich noch immer, aber ich weiß, dass ich in diese Richtung nichts weitermachen werde, da ich mich für eine Familie entschieden habe - und das bereue ich auf gar keinen Fall.

Bei genauerem Betrachten hat mein Interesse an den Rechtswissenschaften mir Aha-Erlebnisse bereitet. Nicht nur das Lesen von Kriminalgeschichten brachte mich darauf, sondern das Schicksal löste dieses besondere Interesse aus.

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Mein Vater verunglückte bei einem Reitunfall tödlich. Beteiligt war auch ein Autofahrer, dessen Auto danach Totalschaden hatte. Es lief daraus hinaus, dass der Lenker uns Hinterbliebene auf Schadenersatz verklagte. Auf eine Verhandlung folgte die nächste usw. Obwohl der gegnerische Anwalt bereits zu Beginn sagte: „Gewinnen werde sowieso ich!", versuchten wir alles Mögliche, um zu unserem Recht zu kommen. Es ging bis zur 2. Instanz nach Graz. Dort mussten wir einsehen, dass alle Einwände vergebens waren. Unser Vater wurde uns weggenommen und für die Kosten des Schadens des Autos (Es war keine geringe Summe!) mussten wir ebenfalls aufkommen.

Es hört sich vielleicht komisch an, aber ich setze mich seither öfters in Gerichtsverhandlungen und verfolge die Urteilsverkündung mit großem Interesse. Ich musste einige Male feststellen, dass nicht immer die Gerechtigkeit siegte.

Ich werde mein Pädagogikstudium auf alle Fälle fertig machen, aber danach werde ich mich wahrscheinlich mit den Rechtswissenschaften befassen. Ob daraus ein Beruf wird,...?

Manuela Rangetiner

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Auf meinen Spuren In memoriam

Vom Seminar der Wissenschaftstheorie habe ich in der Folge meine eigene Wissenschaft erforscht.

Was ist mit mir passiert? Wo stehe ich hier in der Wissenschaft?

Dazu eine kurze Erzählung:

Noch nicht richtig orientiert kam ich als 15 jähriges Mädchen nach meiner Hauptschulzeit in die Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Frauenberufe. Ich fühlte mich in dieser Schule sehr wohl, hatte aber bis zu meiner Matura kein bestimmtes Ziel einer Berufsergreifung. Meine Mutter wollte immer dass ich Lehrerin werde. Nach Abschluss der HBLA konnte ich mich doch mit dieser Berufsbildung nicht auseinandersetzen und wollte unbedingt Geld verdienen. So kam ich über eine Zeitungsannonce in eine Facharztpraxis, eigentlich ein Berufszweig den ich mir nie vorstellen konnte, mir aber immer mehr gefiel. Die Kommunikation mit den kranken Menschen erfüllte mich und ich dachte nicht mehr an Weiterbildung. So verkürzte ich diese Ausbildung indem ich „nur einen sogenannten Ordinationsgehilfenkurs" besuchte.

Nach mehreren Dienstjahren verspürte ich immer mehr den Drang nach „mehr", trat aber an der Stelle, da es immer wieder hieß es fehle mir ein Diplom.

In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet und meine Tochter großgezogen und so fiel es mir nicht auf dass meine Ausbildung für so manche zu wenig war. Erst als meine Tochter schon das Gymnasium besuchte verspürte ich wieder den Wunsch in meiner Freizeit eine Weiterbildung zu absolvieren. Auf der Suche nach geeigneter Fortbildung war mein Erstgedanke die Krankenpflegeschule, doch im Hintergrund war es doch schon das gleiche was ich machte.

Dann kam ein neues Bild zustande. Ich liebäugelte mit einem Studium wobei ich zuerst nicht so recht wusste in welche Richtung. Wo stand ich jetzt in meiner Bildungssituation? Wie viel kann ich schaffen? Ich wusste, ohne weitere Ausbildung kann ich keine bessere Position im Berufsleben erlangen. Nach einigen Bewerbungen im Berufsleben wo mir immer wieder dieses Wort „nur" unterkam (also kein Diplom), stellte sich mir bald die Frage was nun?

Ich kämpfte mit dem Gedanken die Universität zu besuchen weil ich viele Jahre des Lernens vor mir sah und mir nicht vorstellen konnte, dies neben dem Beruf und der Familie gestalten zu können. Ich bewunderte meinen Bruder, der lange Zeit berufstätig war und hier an der Universität den 2. Bildungsweg einschlug. Doch dieses Blatt wendete sich. Im Jahr 1998 erkrankte er schwer, und kämpfte noch 2 Jahre gegen den Krebs. Kurz vor der Diplomarbeit verstarb Udo an seiner schweren Krankheit.

Tieftraurig ordnete ich bald darauf seine Studienunterlagen und ich kann dieses Gefühl kaum beschreiben. Dies war der „Aufwecker" für mich etwas Angefangenes zu vollenden.

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So inskribierte ich auf der Universität, wusste dann dass es Pädagogik sein soll und ging mutig voran. Im Laufe der vielen Semester freute ich mich immer mehr an dem Wissen dass ich mir aneignete und so drang es wieder in mir durch doch noch den akademischen Grad erreichen zu können um mir in der beruflichen Position mehr Anerkennung zu verschaffen.

Heute, kurz vor Beendigung des 2. Abschnittes und die Vorbereitung für meine Diplomarbeit, freut es mich meine Stellung im Leben etwas höher heben zu können.

Gudrun Bacher

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Auf der Suche nach Wissen „Ich weiß, dass ich nichts weiß!"

Ich bin Jahrgang 1954, also eher eine „Altberufene Studentin". Mein Drang zur Wissenschaft entstand erst vor gut fünfzehn Jahren und entwickelte sich langsam, den jeweiligen Anforderungen meines Berufes entsprechend. Das Studium heute ist für mich keine unbedingte Notwendigkeit um mich beruflich zu verändern oder weiterzuentwickeln, ich habe einen Beruf, der mir viel Spaß macht. Das fertige Studium ermöglicht mir keinen Gehaltssprung, der Titel reizt mich wenig. Nein, bis vor Einführung der Studiengebühren, war es für mich die günstigste Variante meine Gehirnzellen rege zu halten und mich aus der Praxis in die Theorie zu begeben. Seit der Studiengebühren, pflücke und zupfe ich jedes Semester Gänseblümchen - „..ich mache weiter, ich hör auf..." - überprüfe meinen Kontostand, denn mit kostspieliger Ausbildung ist eigentlich meine Tochter dran, sie ist zwanzig und will ein Medizinstudium starten.

Ich hab heute noch meine Eltern in den Ohren - die Margit muss studieren, soll es besser haben als wir, soll mindestens eine Frau Doktor, Professor etc. werden - kein Wunder, sie waren als Kriegs- und Nachkriegskinder geprägt. AHS mit Matura war also ihr geringstes Ziel für mich. Die Mittelschule empfand ich als eine Qual bis zur vierten Klasse, ab der Vierten als unendliche Qual. Ich sah meine Talente eher in meinen Händen, nicht im Kopf und wünschte mir die Graphikschule in Graz zu besuchen. Da war aber das Geld, was das alles kostet und ob sie wohl dort dann ordentlich lernen wird, so weit weg von zu Hause, sie ist doch so schlecht in der Schule und ihre Freunde die sie hat, da gibt es dann keine Kontrolle, wer weiß?

Ich denke man bezeichnet die, dann rasch aufeinander folgenden Ereignisse, als Familientragödien. Sie warfen mich letztendlich ab dem 17. Lebensjahr vollends aus einer geradlinigen, so genannten „normalen" Lebenslaufbahn und machten auch ein Verfolgen meiner eigenen Ziele und Ideen bis auf Weiteres unmöglich. In dieser wichtigen Lebensphase, in der es darum geht die Schienen für sein weiteres Leben zu legen und sich auch langsam vom Elternhaus zu lösen, stellte mir das Leben sozusagen eine andere Aufgabe. Ich sollte verstehen lernen, wieso mein Vater langsam in eine schwere psychische Krise geriet, ich war ca. sechzehn und hatte bis dato nur die „heile Welt" meiner Eltern gesehen. Ich sollte auch verstehen lernen, dass er zunehmend psychotisch wurde, also für mich anders wurde, so anders, dass ich es nicht mehr einordnen konnte, was mit ihm passierte. Die Krankheit als solche war damals ein großes Tabuthema, das hatte man einfach nicht. Meine Großeltern bezeichneten es als „Kopfgrippe" meine Mutter war Krankenschwester, aber ebenso hilflos und wortlos.

Ich sollte auch verstehen lernen, wieso er sich just an dem Tag, mit einem Abschiedsbrief in dem er seinen Suizid ankündigte, spurlos verschwand, an dem mich meine Mutter endlich von der AHS offiziell abmeldete und dann zu einem Schulpsychologen schleppte, obwohl ich doch realistische Ziel und Pläne für mich hatte. In weiterer Folge musste ich auch verstehen lernen, dass meine Wünsche und Ziele nicht mit den Vorstellungen meiner Mutter übereinstimmten und dass diese Wünsche nun in die begonnene Familientragödie nicht mehr passten. Ich musste damals auch erkennen, dass man mit siebzehn Jahren noch nicht frei entscheiden kann und darf und sich den Umständen anpassen muss.

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Mein Vater hat sich tatsächlich suizidiert, wurde jedoch erst ein halbes Jahr später gefunden, auch das musste erst einmal von mir verstanden werden. Mit dem Tag meiner Volljährigkeit kündigte ich meinen sicheren Magistratsjob, den mir meine Mutter verschafft hat, die Bürolehre war schon seit einem Jahr abgeschlossen. In letzten drei Jahre hatte ich sozusagen ihre Berufswünsche, die sie für mich hatte, erfüllt und versuchte daneben noch immer zu verstehen wieso sich mein Vater das Leben nahm und mich einfach „sitzen ließ". Nun mit zwanzig sah ich den Zeitpunkt gekommen, mich von meiner Mutter zu lösen und mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Mich quälte schon lange ein unsagbares Fernweh und ich wollte für mich endlich den Sinn dieser Existenz erfassen. In der Enge von Klagenfurt, der gesellschaftlichen Normen und Vorgaben die ich hier sah und in der Enge meiner familiären Prägungen hatte ich das Gefühl zu ersticken. Die Wirtschaft florierte, der Fortschritt zeigte damals weltweite ungeahnte Möglichkeiten, ich hatte keine Angst, nicht überall auf der Welt, wo immer ich wollte und wann immer ich wollte, irgendeinen Job zu bekommen. Meine Suche nach dem Sinn unseres Daseins zog mich nach Asien und nach drei Monaten wieder zurück nach Österreich, voller neuer Erfahrungen und neuer Pläne. Doch nun war da noch mal die Aufgabe, alle neuen Ideen wieder über den Haufen zuwerfen, denn meine Mutter war inzwischen tödlich verunglückt und bereits begraben, die Nachricht hatte mich im Ausland nie erreicht. Wieder stand ich vor einem großen Abgrund und konnte den Sinn nicht erkennen. Auf meiner Suche nach Antworten „taumelte" ich die nächsten zehn Jahre sprichwörtlich durch die Welt. Immer wieder zog es mich nach Asien, ich entwickelte mich zur „Überlebenskünstlerin". Verkauf und Kunsthandwerk zum Lebenserwerb, aber mein wirkliches Ziel war es den Sinn des Lebens endlich begreifen zu lernen. Gesellschaftliches Ansehen bedeutete mir nichts, Geld oder andere materielle Güter sah ich eher als Ballast an, ich wollte Wissen erwerben, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich dies an irgendeiner Schule oder Universität erlangen könnte. Ich entwickelte mich zum Autodidakt in jeder Hinsicht, für meinen Lebenserwerb versuchte ich mich in den unterschiedlichsten Techniken des Kunsthandwerks. Für meine Suche nach dem Sinn des Lebens experimentierte ich mit allen erhältlichen Drogen, um Erfahrungen zu machen, las dieses und jenes und beschäftigte mich mit den unterschiedlichsten Philosophien und Religionen.

Bis ich zu dem Schluss kam, dass ich weder über Drogen die Erkenntnis oder Wissen finden werde, noch über Religionen, noch über irgendwelche teuren Seminare. Wenn die Wahrheit Geld kostet, dann will ich sie nicht wissen, das kann es nicht sein. Ich war bei dem Punkt angelangt, überhaupt niemandem und nichts mehr zu glauben, ich verwarf alles bisher erfahrene, gelesene, gelernte und wusste dass ich noch immer nichts weiß! Dies war anscheinend der richtige Moment, mein damaliger Lebensgefährte, später Vater unserer Tochter, überredete mich zu einem buddhistischen Meditationskurs. Buddhismus war die einzige Philosophie mit der ich mich nicht beschäftigt hatte, ich war skeptisch, erwartete mir nichts, war aber doch neugierig, da es etwas war, das ich bis dato ausgelassen hatte. Der Kurs wurde in einem kaum verständlichen Englisch und in italienischer Übersetzung gegeben, ich verstand also nur die Anleitung zur Technik, die ohne irgendein anderes Wissen ihre Wirkung tat. Es war wie ein großes „Aha-Erlebnis", so einfach, wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen, das war es, das hab ich immer gesucht und die Philosophie, mit der ich mich erst später auseinander zu setzen begann, beantwortete mir langsam letztendlich alle meine Fragen. Ich habe alles Wissen nach dem ich suchte in mir und benötige dafür keine bewusstseinserweiternden Drogen und muss nicht tausende von Kilometern fahren, brauche auch keine Gurus oder Götter, ich muss dieses Wissen mir nur selbst erschließen.

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Das Leben in seinen kausalen Zusammenhängen, so wie es die buddhistische Philosophie beschreibt, habe ich mehr als intensiv zu spüren bekommen. Der Weg aus diesen kausalen Zusammenhängen wird über eine gute Technik klar. Der Sinn des Lebens in dieser Existenz hat sich für mich damit auch erklärt, ich war am Ziel meiner jahrelangen Suche nach einem ganz bestimmten Wissen.

Der Umgang mit weitern Life-Events, von denen noch einige folgten, war für mich aufgrund dieses klaren Wissens nicht unbedingt leichter, doch hatte ich immer das Gefühl, dass ich verstand worum es geht und wieso etwas geschieht. Fragen die diesbezüglich auftauchten konnte ich mir selbst beantworten und Entscheidungen die anstanden, waren klar zu treffen. Kein Suchen und kein Irren mehr.

Durch die Geburt meiner Tochter kam ich in die Situation nicht nur für mich selbst Verantwortung zu tragen sondern auch für sie. Dazu musste ich mir auf einer anderen Ebene nun doch noch Wissen aneignen, wozu ich bis dato keine Zeit hatte und für mich alleine keine Notwendigkeit sah - es ging um eine gute materielle Basis für uns beide, ich war ab ihrem zweiten Lebensjahr Alleinerzieherin. Gleichzeitig entwickelte sich bei mir auch der Wunsch mich beruflich zu verändern und mit den Anforderungen der Zeit zu gehen. Die wirtschaftliche Situation hat sich verändert, Kunsthandwerk war zwar auf selbständiger Basis, doch unsicher und unregelmäßig was Gewinn und Zeitaufwand anbelangt. Mit der Verantwortung für ein Kind fühlte ich mich dabei überfordert. Die Büroausbildung war die Geschichte meiner Mutter, nicht meine. Ich wollte mich weiterentwickeln und dort ansetzen, wo mich die wilden Wogen meines Lebens aufgehalten haben. Meine Intention, so viel wie möglich aufzuholen und nachzuholen was bis dato nicht wichtig war, war nun umso größer.

Dies war sozusagen der Motor für meinen Sprung in die Wissenschaft, Lebenspraxis und Erfahrung hatte ich genügend, es mangelte am theoretischen Wissen und an Zeugnissen. Heute kann ich sagen, dass ich einen Beruf (Lebens- und Sozialberatung, psychosoziale Betreuung und Krisendienst) ausübe der uns beide gut ernährt, der mir sehr viel Freude macht, in dem ich sowohl meine Talente, wie auch Erfahrungen einbringen kann, der abwechslungsreich, lehrreich und spannend ist. Die Wissenschaft war mir bis zu einem gewissen Grad hilfreich „nachzureifen", mir fehlte vorwiegend theoretisches Wissen. Doch sehe ich auch ihre Grenzen und habe immer ihre „Kopflastigkeit" kritisiert, mache ich übrigens noch immer. Speziell dieses Pädagogik-Studium ist für meine Begriffe, trotz „Pädagogik-Neu" entsetzlich veraltert, „kopflastig" und leider bis auf wenige Veranstaltungen (ich konnte sie während des ersten Studienabschnittes auf fünf Fingern abzählen) stink-langweilig. Nun fragen Sie sich zurecht, wieso mache ich dann nicht ein anderes Studium? Ja, Psychologie wäre natürlich das Studium meiner Wahl gewesen, zumal ich das „Psychotherapeutische Propädeutikum" bereits ohne Studienberechtigung, mit Zulassung des Bundesministeriums und mit viel Interesse und Freude absolviert habe. Doch zu meinem Wunschstudium fehlte mir die Mathematik in der Studienberechtigung. Nicht alles war leicht nachzuholen was ich zur rechten Zeit versäumt habe. Ich musste Abstriche machen und mich mit Kompromisslösungen zufrieden geben, dies ist aber immer noch besser als gar keine Lösungen. Vielleicht erfülle ich aber nur ganz brav den Auftrag meiner Eltern, wer weiß...

Da ich, wie bereits Eingangs erwähnt, studiere um meinen Kopf rege zu halten und da ich das Geld, das mich jedes Semester kostet durch meine Berufstätigkeit gar nicht wie ein Vollstudent nützen kann, lasse ich mir ein Weiterführen des Studiums immer wieder offen.

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Ich habe vor zehn Tagen die Diagnose Brustkrebs bekommen, wieder eine neue Aufgabe des Lebens die mir nun volle Aufmerksamkeit abverlangt. Hier scheint wieder „Wissen" zu warten, dass ich bis heute eher nur von der Ferne sah oder gar besser gesagt, nicht sehen wollte. Vielleicht nimmt mir dieses Ereignis das „Gänseblümchen pflücken und zupfen" für das nächste Semester ab

Margit Filip

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Ich und die Wissenschaft

Die Frage, wann ich zum ersten mal Wissenschaft begegnet bin, lässt sich nicht so ohne weiteres beantworten. Während meiner ersten fünf Lebensjahre begegnete mir Wissenschaft doch eher relativ unbewusst. Ich habe mich, so wie wahrscheinlich jedes Kind, mit heißem Wasser verbrannt, bin im Winter auf einer Eisplatte ausgerutscht und habe nach einem Sommerregen Nebelschwaden aufsteigen gesehen. Zu diesem Zeitpunkt aber war mir natürlich noch nicht bewusst, dass dies schon ein erster Zugang zur Wissenschaft war. Erst viel später in der Schule wurde mir klar, dass es sich hierbei um physikalische Vorgänge, nämlich, der drei Aggregatzustände des Wassers handelt.

Abgesehen von solchen Ereignissen beschäftigte und begeisterte ich mich für das Weltall. Mich faszinierten die verschiedenen Himmelskörper. Oftmals lag ich mit meinen Nachbarkindern im Gras und zählte die Sterne in der Hoffnung den Großen Wagen zu finden. Dieses Vorlieben teilte ich mit meinem Vater, mit dem ich auch bis spät in die Nacht durch sein Fernrohr das Geschehen am Himmel verfolgte und der mir auch die verschiedensten Sternbilder erklärte.

Mit dem Eintritt in die Volksschule lernte ich die Wissenschaft schon deutlicher kennen. Abgesehen davon, dass mich weder Mathematik noch Sachunterricht, Werken und Malen interessierte, konnte ich es kaum erwarten den nächsten Buchstaben zu erlernen, um dann, als ich das ganze Alphabet beherrschte, ein Buch nach dem anderen verschlingen zu können. Ich las den ganzen lieben langen Tag. Meine Eltern machten sich schon Sorgen um mich, da sie glaubten ich mache nicht den richtigen Entwicklungsgang eines Kindes durch. Aus diesem Grund waren sie auch froh, als später auch bei uns zu Hause das Zeitalter des Computers eintrat. Bei diesem ersten Computer handelte es sich um einen Amiga 500, auf dem ich mich wiederum in einer anderen Facette der Wissenschaft befand. Mit voller Begeisterung lernte ich in diesen jungen Jahren die Computerwelt kennen, was mir auf meinem weiteren Lebensweg sehr hilfreich war. Meine Leidenschaft lag darin verschiedene Lernspiele und Quizspiele für Kinder zu spielen, welche zu einem eifrigen Wettstreit mit meinem älteren Bruder geführt haben.

Da ich eine gute Schülerin war, stellte sich gegen Ende der Volksschule die Frage, ob ich in ein Gymnasium übertreten sollte. Mit vielerlei Rücksprachen meiner damaligen Klassenlehrerin, die für den Besuch eines Gymnasiums war, entschieden sich meine Eltern jedoch dagegen. Dies lag wahrscheinlich daran, dass beide Elternteile nur eine geringe Schulbildung hatten, nämlich die achtjährige Volksschule.

An meiner Hauptschule gab es erstmals den Versuch einer Integrationsklasse, welche ich besuchte. In dieser Zeit lernte ich sehr viel zwischenmenschliche Eigenschaften kennen und merkte, dass man auch mit beeinträchtigten Menschen sehr viel erleben und unternehmen kann, was mir bisher vollkommen unbekannt war. Ich bin zwar vorher schon ab und zu einem behinderten Menschen begegnet und hab ihn von der Feme betrachtet, jedoch hatte ich mit ihnen nie etwas zu tun. In dieser Klasse legte ich jedoch die Scheu gegenüber meinen neuen Mitschülern ab und half ihnen wo es nur ging.

Da ich auch die Hauptschule mit einem durchschnittlich gutem Zeugnis, jedoch nicht mit dem besten, abschloss, trat ich in die Handelsakademie über, sehr zur Verärgerung meiner Eltern. Der Grund für den Besuch dieser Schule war mein Bruder, der auch die HAK besuchte und sich bis zur fünften Schulstufe sehr leicht tat. Deshalb glaubte ich, mit dem geringstmöglichen Aufwand auch dorthin zu kommen. Meine Eltern wollten, dass ich den Polytechnischen

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Lehrgang besuchte und mir nach dem neunten Pflichtschuljahr eine Lehre als Bürokauffrau suche mit dem Argument: „So gut bist du auch nicht, dass du eine höhere Schule besuchen kannst." Dieser Satz begleitete mich durch all die nächsten fünf Jahre.

Zuerst wollte ich es allen beweisen, dass dem nicht so ist, bis mich dann andere Interessen vom Lernen abhalten sollten - Musik und Freundinnen, Liebeskummer und Haarschnitte nach dem letzten Schrei, Tränenausbrüchen nach dem Friseurbesuch und Ängsten hier zuviel und dort zuwenig zu haben. Dieses pubertierende Verhalten führte somit zu einigen Problemen im Schulunterricht. Sobald ich eine schlechte Note präsentierte, was zu diesem Zeitpunkt nicht wenig oft vorkam, war zu hören: „Wir habens' dir doch gleich gesagt! Brich die Schule ab und such dir eine Lehre!" Allerdings schaffte ich es jedes Jahr bis zum Schulschluss mit Druck von Seiten der Schule (Mahnungen, Frühwarnsysteme, ...) meine schlechten Noten auszubessern, um dann lächelnd und siegessicher vor meinen Eltern das positive Zeugnis zu präsentieren. Somit habe ich auch trotz geringer Erwartung seitens meines Elternhauses die Matura bestanden. Ob meine Eltern nun doch etwas stolz auf ihre Tochter waren, kann ich nicht genau sagen, ich glaube, sie waren einfach nur froh, das dieser für sie schwierige, fünfjährige Hürdenlauf zu Ende war und ich mir nun endlich einen Job suchen würde.

Ich suchte tatsächlich, schrieb Bewerbungen und konnte auch bei einigen Unternehmen zu arbeiten beginnen. Doch der Zufall wollte es anders. Ich lernte einen Erzieher für schwer erziehbare Menschen kennen, der mich mit einem im Rollstuhl sitzenden Mädchen bekannt machte. Die Eltern dieses Mädchens suchten privat eine Person, die sich um das Mädchen kümmert und mit ihr etwas unternimmt. Ich muss gestehen, dass ich diese Arbeit zuerst nur annahm, weil ich relativ gut dafür bezahlt worden bin. Doch mit der Zeit hat sich daraus ein tiefe Freundschaft entwickelt, die bis heute anhält.

Diese, für mich sehr lehrreiche Aufgabe brachte mich zu dem Entschluss, das Pädagogik- und Psychologiestudium zu beginnen, was in Folge zu meiner bisher intensivsten Begegnung mit Wissenschaft geführt hat. Der Wunsch ein Studium zu beginnen, traf meine Eltern wie ein Schlag ins Gesicht. Der Standardsatz war: „Wie willst du ein Studium bis zum Ende vollziehen, wenn du mit Ach und Krach grad mal die Matura geschafft hast?" Ein weiterer und wohl der größte Diskussionspunkt war die finanzielle Unterstützung. Man war zu Anfang nicht bereit, mich finanziell zu unterstützen und so musste ich mir nebenbei eine Arbeit suchen, die ich in einem Lernhilfezentrum fand und der ich bis heute nachgehe. Mein Aufgabengebiet liegt dabei in der Lernbetreuung für Kinder mit besonderem Augenmerk auf konzentrationsschwache und beeinträchtigte Kinder. Dies sehe ich auch als meine Aufgabe in weiterer Zukunft, wobei mich das Studium mit all ihrer vielfältigen Wissenschaft unterstützen soll.

Zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit sind mir „theoretische" Aussagen für die „praktische" Arbeit recht zweifelhaft erschienen. Ich konnte zu Anfang wissenschaftliche Theorien nicht mit meiner eigenen Erfahrung verbinden. Jedoch bei genauerer Auseinandersetzung und im Laufe des Studiums merkte ich, dass Theorie und Realität doch sehr eng beieinanderliegen. Wissenschaft begleitet einen durch das ganze Leben, vom Säuglingsalter bis zum Tod. Wir werden nicht aufhören für uns neue Erkenntnisse zu entdecken, auch wenn uns Steine oder vielleicht auch Felsen in den Weg gelegt werden.

Evelyn Kampl

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Ein langer Weg

Anfangs bin ich lange einfach nur dagesessen und habe darüber nachgedacht, wie ich denn mein Leben im Sinne einer Reflexion biographisch darstellen könnte, ohne aber, und das war für mich die Schwierigkeit an der Sache, den Standpunkt der Wissenschaft nicht außer Acht zu lassen.

Ich war nie ein guter Schüler. Abgesehen von den ersten vier Volksschuljahren war ich, was schulische Leistung und dazugehörige Benotung betrifft, immer im hinteren Mittelfeld zu finden, nie jedoch akut gefährdet, eine Klasse wiederholen zu müssen. Das minimalistische Lernprinzip hat mich „erfolgreich" durch weitere vier Jahre Gymnasium und anschließende fünf Jahre Handelsakademie gebracht. Erwähnenswert finde ich dabei, dass ich bereits in der vierten Klasse Volksschule wusste, die Handelsakademie als letzte Station meines schulischen Bildungsweges absolvieren zu wollen - eine Entscheidung, die ich bis heute noch nicht bereut habe. Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht mehr genau - ich weiß nur, dass mich damals wie heute auch der wirtschaftswissenschaftliche Standpunkt interessiert, dazu aber später mehr.

Um noch einmal auf das minimalistische Lemprinzip zurück zu kommen - „erfolgreich" bezeichnet in diesem Zusammenhang nur die Tatsache, dass ich nie eine Klasse wiederholen musste und nicht mein allgemeines Bildungsniveau, das sich im Rahmen der Schulzeit nicht merklich erhöht hat (zumindest nicht in dem Maße, wie man sich das vorstellt).

Man wird natürlich in Auseinandersetzung mit Schule/Lehrer bereits mit Wissenschaft konfrontiert. Einerseits in Form der Lehrbücher, die mit verschiedenstem Lehrstoff bestückt werden müssen, andererseits in Form der Lehrkörper selber, die sich im Rahmen ihres Studiums als Wissenschafter betätigen mussten bzw. durften. Allgemein bin ich der Ansicht, und das hat sich im Laufe meines Studiums nur verstärkt, dass sich wissenschaftliche Themengebiete und Standpunkte didaktisch so aufbereiten lassen, dass sie für Zielgruppen unterschiedlichsten Alters interessant und lernenswert erscheinen - was in meinem Fall den meisten Lehrern leider vorbehalten blieb. Insofern ist mir erst relativ spät klar geworden, dass unser Bildungssystem durch zahlreiche gravierende Fehler geprägt ist, die es auszumerzen noch einiges an Zeit, Geld und Weisheit brauchen wird. Und genau in diesem Bereich lässt sich eine der großen Aufgaben der zukünftigen Pädagoginnen feststellen.

Nach der Matura folgte das Zivildienstjahr - ein Jahr der Orientierung und Suche - eine für mich ungemein wichtige Zeit. Anfänglich bestand meinerseits die Tendenz, ins Berufsleben einzusteigen und die nähere Zukunft in der Sparte des Außendienstes zu verbringen. An dieser Stelle bin ich dem Schicksal und meiner fehlenden Berufspraxis dankbar, denn nach zahlreichen Bewerbungen erwarteten mich (Gott sei Dank) nur zahlreiche Absagen. So blieb mir nichts anderes übrig, als über die Möglichkeit eines Studiums nachzudenken und das auch in die Realität umzusetzen. So entschied ich mich für das Studium der Pädagogik und nebenbei auch der angewandten Betriebswirtschaft, warum , das möchte ich folgend näher hinterfragen.

Schon zu Schulzeiten habe ich die Verhaltensweisen einiger Lehrkräfte pädagogisch hinterfragt und, meiner Meinung nach zu Recht, als durch und durch unpädagogisch tituliert, was mir, seitens der besagten Lehrkräfte neben einigen anderen Problemen die Bezeichnung „der Pädagoge" einbrachte (was ich übrigens damals schon als Kompliment auffasste).

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Hier muss ich aber anmerken, dass mich mein ausgeprägtes Gerechtigkeitsbewusstsein wie auch mein „Revoluzzerdasein" zu diesem Verhalten veranlasst haben, ich aber diese Tatsache nicht, zumindest nicht direkt, mit der Wahl des Studiums in Verbindung bringen kann.

Vielmehr in Zusammenhang zu bringen ist da die Lebensweise, das Schaffen und Wirken meiner Mutter: Aufgewachsen bin ich als einer von fünf Söhnen in einer nach heutigem Standard gemessen, Großfamilie. Meinen Eltern war es immer extrem wichtig, dass alle ihre Kinder zumindest den Maturaabschluss erlangen, sie haben aber nie ein weiterführendes Studium vorausgesetzt. Das heißt, es wurde uns ermöglicht, frei zu entscheiden, wobei jede Entscheidung von Seiten der Eltern mitgetragen wurde. Wie bereits erwähnt habe ich vier Brüder, wobei einer bereits das Doktorat in Jus abgeschlossen hat, ein zweiter gerade bei der Beendigung des Medizinstudiums ist, ein weiterer Architektur studiert und der Jüngste noch das Martyrium Matura vor sich hat. Aufgrund der Heterogenität der Studien prallen innerhalb unserer Familie verschiedenste wissenschaftstheoretische Ansätze aufeinander, was meiner Meinung nach die Spannung erhöht und den epistemologischen Weitblick schärft.

Mein Vater, der zu seiner Schulzeit die Möglichkeit nicht wahrnahm, die Matura abzuschließen ist heute als Handelsreisender tätig und ein vielbeschäftigter Mann. Meine Mutter, die noch mit Kinderwagen und dazugehörigem Kind die Matura absolvierte, war als wohlgemerkt erfolgreiche Mutter und Hausfrau tätig und entschloss sich, nach einer mehr als zwanzig jährigen Tätigkeit im „domestikalen" Bereich für das Studium der Pädagogik/Psychologie (damals noch Fachkombination) an der Universität Klagenfurt, das sie nach vier Jahren erfolgreich abschloss. Nun hatten wir eine „diplomierte" Mutter, was uns Söhne zu Recht mit Stolz erfüllte. Noch schöner war es anzusehen, wie sich meine Muter im Rahmen der aktiven Auseinandersetzung mit der Wissenschaft persönlich weiterentwickelte und Zug um Zug die praktischen Abläufe des bisherigen Lebens als Mutter bzw. Hausfrau theoretisch zu verstehen und hinterfragen begann. Nach der Beendigung des Studiums bekam sie vom katholischen Bildungswerk die Chance, ihre theoretischen Kenntnisse und Fähigkeiten nun gegen Bezahlung in der Tätigkeit der Regionalreferentin umzusetzen. Es war und ist nach wie vor ein Vergnügen, meiner Mutter bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit zuzusehen, die sie noch immer und mehr denn je mit Freude und Motivation erfüllt und ihren persönlichen Entwicklungsprozess stetig vorantreibt.

Ziehe ich im Vergleich dazu die berufliche Tätigkeit meines Vaters heran, so wird immer deutlicher, dass es sich hier mehr um Mittel zum Zweck, als Mittel zur Selbstverwirklichung bzw. „Selbstbefriedigung" im übertragenen Sinne handelt.

Bei meiner Auswahl des Studiums hat mich nicht bzw. nur bedingt die Studienrichtung meiner Mutter beeinflusst. Nein, vielmehr hat mich die Zufriedenheit und der persönliche Entwicklungsprozess beeindruckt, den die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft mit sich gebracht hat. Meiner Meinung nach kann man guten Gewissens behaupten, das die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft in welcher Form auch immer die „Augen öffnet" -und das in vielerlei Hinsicht. Dies konnte ich auch in meinem Fall beobachten: Noch nie hatte ich fachspezifisch aber vor allem persönlich so viel und so unbeschreiblich wichtige Dinge dazu gelernt, wie in der Zeit seit dem Beginn des Studiums. Und das wäre mir wahrscheinlich verwehrt geblieben, hätte ich nach dem Zivildienst eine Anstellung im Außendienst bekommen. Übrigens habe ich

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während meines Studiums ein Semester lang im Außendienst gearbeitet und eine unglaublich wichtige Erfahrung gemacht: Eine Tätigkeit im Außendienst ist absolut nichts für mich.

Was mir am Studium der Pädagogik sehr gefällt, ist der interdisziplinäre Aspekt und die Freiheit, die einem in Form der hohen Anzahl an freien Wahlfächern gegeben wird. So wird es mir ermöglicht, wirtschaftliche, gruppendynamische und historische Akzente in das Studium mit einfließen zu lassen.

Auf der anderen Seite habe ich miterlebt, wie es vielen meiner Kommilitoninnen schwer fällt, aufgrund der Interdisziplinarität eine, ich nenn es mal „wissenschaftliche Identität,, zu entwickeln. Viele erwarten sich nach Beendigung des Studiums ein fertiges Berufsbild, wie es beispielsweise in der Medizin, Juristerei etc.. der Fall ist. Und genau da sehe ich meine Stärke - ich weiß, dass ich mich selber spezialisieren muss, darüber hinaus vielseitig einsetzbar bin und sich die Wahrscheinlichkeit, dem „Fachidiotentum" zu verfallen, im Rahmen meines Studiums eklatant verringert.

Wenn ich mir meine Berufs- und Lernlaufbahn als Fluss vorstelle, komme ich zu dem Schluss, dass ich meine Schulzeit mit einem kleinen Rinnsal vergleichen kann, das hin und wieder aufgrund starken Wassermangels auszutrocknen drohte. Dieses Rinnsal schwoll mit Beginn meines Studiums zu einem großen Fluss an, in den zusätzlich noch andere Flüsse münden, was den Bau eines gewaltigen Staudammes berechtigte. Gleich einer Sisyphusarbeit wird es mir ein Vergnügen sein, diesen gewaltigen Stausee im Laufe meines Lebens zu füllen und dabei die Wasserqualität so hoch als möglich zu halten.

Peter Mödritscher

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Auf meinen Spuren: Das entdecken der eigenen Lebensgeschichte

„Oh du fröhliche"...!

Wir kennen es alle: Das Bild von der erwartungsvollen Familie zur besinnlichen Weihnachtszeit. Die Vorfreude auf den ersten Ton, den tausende Sprösslinge mit ihren Blockflöten, Klarinetten, Akkordeons und Gitarren jedes Jahr vor der Bescherung zum Besten geben müssen, ob sie wollen oder nicht, man möchte doch schließlich wissen, ob sich die Ausgaben für die Musikschule auch gelohnt haben. Auch ich erinnere mich noch genau, wie ich mit roten Wangen und verschwitzten Händen aufgeregt vor dem Notenblatt meinen Platz einnahm, und die mühevoll erlernten Melodien für die stolzen Familienmitglieder zum Besten gab. Jeder erlernte Griff wurde perfekt ausgeführt, das Musikstück fehlerfrei interpretiert, weil keine Fehler vorkommen durften und nur Perfektion in Vollendung erwartet wurde. Mit dieser Perfektion würde ich heute Konzertsäle füllen, doch es sollte anders kommen:

Es hat schon im Alter von 10 Jahren begonnen, da absolvierte ich nämlich die Aufnahmeprüfung für die Musikschule, um das Instrument Gitarre zu erlernen. In der Annahme, diesen schwierigen Eignungstest nicht bestanden zu haben, wurde ich allerdings eines Besseren belehrt. Ich hatte eines der besten Resultate geschafft und alle waren von meinen musikalischen Fähigkeiten begeistert. Meine Eltern freuten sich und waren sehr stolz, und so begann ich auf meine Karriere als zukünftige Konzertgitarristin hinzuarbeiten. Ich machte gute Fortschritte und übte aus eigenem Antrieb, waren die Vorgaben und Übungen auch noch so schwierig. Keine Aufgabe war für mich zu schwer und ich übte sogar über das Maß hinaus, denn es bereitete mir Freude, dieses Instrument so gut zu beherrschen. Anstatt mit Freundinnen im Hof zu spielen, zupfte ich lieber an der Gitarre und wollte noch mehr und noch schneller immer besser werden. Meine Musiklehrerin sah meine Fortschritte und forderte immer mehr und mehr. Bald darauf stagnierten meine Erfolge und ich konnte den Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Meine Mutter bemerkte, dass meine Sicherheit am Instrument ins Wanken geriet. Sie glaubte, dass ich meine Aufgaben nur mehr nachlässig erfüllte und drängte mich, noch mehr zu üben. Aber was ich auch tat: Obwohl ein mehr fast nicht mehr möglich war. Die Leistungen wurden nicht besser, und Fortschritte stellten sich so gut wie keine mehr ein. Daraufhin begann mich meine Gitarrenlehrerin zu kritisieren da sie glaubte, dass ich zu Hause zu wenig übte. Sie beschimpfte mich und sagte, ich wäre faul und müsse meine Einstellung ändern. Sie wurde richtiggehend aggressiv, fegte die Notenblätter vom Ständer, griff zur Nagelschere, packte meinen Zeigefinger und schnitt mir den Fingernagel richtiggehend blutig, damit alle Griffe perfekt ausgeführt werden konnten. Ich war geknickt, demoralisiert und verließ von Woche zu Woche demotivierter die Musikstunde. Aus dieser Situation heraus überfiel mich eine gewisse Lustlosigkeit. Auch meine Mutter bemerkte, dass ich immer seltener zum Instrument griff. Sie ließ es sich nicht erklären, wodurch meine Demotivation begründet war.

Durch meinen nicht zu verkennenden Enthusiasmus für dieses Instrument begann meine Musiklehrerin allmählich, mir immer schwierigere Stücke aufzugeben, die ich nicht mehr bewältigen konnte. Meine Frustration stieg immer mehr und meine Mutter ergänzte sich prächtig mit meiner Musiklehrerin, indem mich beide demütigten und zur Verzweiflung brachten. Ich war nach einiger Zeit so verunsichert und verängstigt, dass ich mich schließlich von meiner großen Leidenschaft, der Gitarre und der Musik, verabschiedete. Es klingt paradox, aber die Verantwortung für diese Unterbrechung lag sicher nicht bei mir, aber im Schatten zweier dominierender Frauen, die mich immer kleiner werden ließen, fühlte ich mich ständig überfordert. Im Normalfall sollten Eltern ihren Kindern doch das Werkzeug in die

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Hand geben, mit dem sie die Schwierigkeiten des Lebens meistern können, mir wurde jedoch ein wichtiges Werkzeug, nämlich das Selbstbewusstsein, etwas aus eigener Kraft heraus zu schaffen, aus den Händen gerissen. Die hohen Erwartungen meiner „Vorgesetzten" wurden von mir nicht erfüllt, ich konnte mich ihrer Macht nicht unterordnen und erlag einem Leistungsdruck, dem nicht stand zu halten war. Ich hatte die Wahl, das Instrument Gitarre aufzugeben oder verrückt zu werden. Ich entschied mich gegen die Verrücktheit. Ich wollte mich von den Fesseln, die mich so kunstvoll umwickelten, befreien. Und dazu brauchte ich nur meine eigene Kraft. Mehr als es diese Geschichte über mich zeigt ist sie doch eine Bewusstwerdung und ein Schritt aus der Gefangenschaft, eine Flucht, die es mir ermöglicht hat, die langen Lehrjahre in der Musikschule hinter mir zu lassen und mich in eine Richtung zu begeben, ohne Druck und hoher Erwartungshaltung an meine, leider sehr kleine und schüchtern angepasste, Persönlichkeit.

Dennoch haben mich die harten Lehrjahre geprägt, und meine Berufsentscheidung wurde -rückblickend gesehen - von ihr bestimmt. Mein Werdegang wurde von mir so gewählt, dass ich nach der Pflichtschule in die Handelsakademie wechselte, da sie zu meiner Zeit als eine von wenigen Schulen galt, wo keine Musikstunden angeboten wurden. Nach der Matura brachen in mir die alten Wunden der Musikschule wieder auf und ich entschloss mich, Lehrerin für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu werden. Ich wollte den schwächsten der Schwachen helfen, ich wollte nicht zulassen, dass es jemandem so ergehen wird wie mir. Während dieser Ausbildung wurde mir sehr viel bewusst über Erziehungswissenschaft und somit auch über meine eigene Erziehung. Heute arbeite ich als Integrationslehrerin und es macht mir sehr viel Spaß, mit den Kindern zu arbeiten. Auf Grund meiner eigenen Erfahrungen in der Musikschule und die damit verbundenen Schläge während meiner Kindheit gelingt es mir sehr gut, mich mit den Kindern zu identifizieren und ihnen die nötige Motivation für ihre Erfolge zu geben. Dennoch vernachlässige ich den Musikunterricht ein wenig, nur in äußerst seltenen Fällen traue ich es mir zu, meine Gitarre bei Schulaufführungen in die Hand zu nehmen und einfache Begleitungen zu spielen. Und wenn dies der Fall ist, dann passiert mir sogar ein Missgeschick und ich vergreife mich am Instrument, sodass niemand jemals erfahren wird, dass ich eigentlich eine große Begabung für dieses Instrument habe. „Oh du fröhliche, Oh du selige" ... Mein innerliches Bild von der trauten Weihnachtszeit mit den stolzen Eltern trage ich noch mit mir herum. Doch seit damals habe ich den Wünschen meiner Eltern, doch wieder einmal etwas zu spielen, nicht mehr gerecht werden können. Durch meine Reise in das Innere und meine Recherchen über dieses Thema verstehe ich jedoch viel mehr, was die Gründe waren und ich habe für mich gelernt, mich in dieser Form niemals mehr „klein" machen zu lassen. Ob ich allerdings wieder „gerne" und aus Leidenschaft Gitarre spielen werde, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

Patricia Joun

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