Dokumentation über die Tätigkeit des IKRK zugunsten der in den dt. KZs inhaftierten Zivilpersonen

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DIE TÀTIGKEIT DES IKRKZUGUNSTEN DER IN DEN DEUTSCHENKONZENTRATIONSLAGERNINHAFTIERTEN ZIVILPERSONEN(1939-1945)INTERNATIONALES KOMITEE VOM ROTEN KREUZGENFOriginal (Frz.) von 1947Dt. Übersetzung von 1974

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DIE TÀTIGKEIT DES IKRK

Z U G U N S T E N D E R IN D E N D E U T S C H E N

KONZENTRATIONSLAGERN

INHAFTIERTEN ZIVILPERSONEN

( 1939- 1945)

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BIBLIOTHEQUE DU CICR

17, av. de la Paix, 1211 GENEVE tél. 022/34 60 01 int. 2424 'Prêt limité à 1 mois Prolongation possible PAR ECRIT

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IN T E R N A T IO N A L E S K O M IT E E VOM R O T E N K R E U Z

DOKUMENTATIONüber die Tàtigkeit des Internationalen

Komitees vom Roten Kreuz zugunsten der in den deutschen Konzentrationslagern

inhaftierten Zivilpersonen

(1939- 1945)

BIBLIOTHEQUE • CICR ■to AV. DE LA PAIX

1202 GENEVE

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© Internationales Komitee vont Roten Kreuz

E rsch ienen in fran z ô sisc h er S p ra ch e iin A p ril 1947 Ü b erse tz t vom In te rn a tio n a le n S u ch d ien st A ro lsen 1974

N a c h d ru c k im Ja h r 1985

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DOKUMENTATION

iiber die Tatigkeit des Internationale!! Komitees vom Roten Kreuz zugunsten der in den Konzentrationslagern Deutschlands inhaftierten

Zivilpersonen (1939-1945)

E R ST E R T E IL

V O R W O R T

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mochte verschiedene Fragen beantworten, die ihm von Regierungsstellen, nationalen Rot- kreuz-Gesellschaften, Vereinigungen und Einzelpersonen gestellt wor- den sind. Dazu halt es die Verbffentlichung einer Reihe der wichtigsten Dokumente aus seinen Archiven fiir erforderlich, die dazu geeignet sind, die von ihm wàhrend des Krieges entfaltete Tatigkeit zugunsten der in Feindeshand befindlichen Zivilpersonen und besonders der H aft- linge, die in deutschen Konzentrationslagern1 festgelialten wurden, zu beschreiben.

Es erscheint notwendig, diesen Dokumenten eine kurze Einführung voranzuschicken, aus der die allgemeine Situation der in Feindeshand befindlichen Zivilpersonen wàhrend des Ersten Weltkrieges sowie die Entwicklung wàhrend des letzten Krieges hervorgeht. Das Regime, welchem diese Zivilpersonen ausgesetzt waren, begann m it relativer Freiheit, ging dann iiber zu Internierung und schliesslich zu Inhaftie- rung in Konzentrationslagern. Diese Einführung beschreibt gleichfalls die Bemühungen des Internationalen Komitees, a u f Grund seines In- itiativrechts in humanitüren Angelegenheiten diesen Zivilpersonen ei­ne n gewissen Schütz zu sichern und ihr Los zu erleichtern.

Bei seinem Einsatz fiir die in Konzentrationslagern Inhaftierten - worauf sich die M ehrzahl der von uns hier veroffentlichten Dokumente bezieht - stiess das Internationale Komitee a u f ganz ausserordentliche, manchmal unüberwindbare Schwierigkeiten. Es gab tatsàchlich keinen

1 Siehe Seitc 29.

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Vôlkerrechtsvertrag, der diesen Haftlingen einen wirksamen Schütz zugesichert oder ein Einschreiten des Roten Kreuzes zu ihren Gunsten gerechtferligt hatte.

Andererseits entfaltete das Internationale Komitee in Deutschland wie in den meisten anderen Landern im Einklang m it seiner urspriingli- chen Aufgabe eine bedeutende Tatigkeit zum Wohle zahlreicher in diesem Lande internierter Kriegsgefangener. Da diese Tatigkeit von den kriegfiihrenden M àchten a u f Grund einer vorbehaltlosen Gegensei- tigkeit a u f Basis der von den beteiligten Staaten unterzeichneten inter- nationalen Vereinbarungen anerkannt wurde, war sie besonders erfolg- reich.

Im grossen und ganzen konnte das Internationale Komitee seine Tatigkeit fiir die Kriegsgefangenen in Deutschland in zufriedenstellen- der Weise durchführen. Diese M ôglichkeit durfte es nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass es zwingende Forderungen zugunsten der Zivilperso- nen stellte, die die deutschen Behôrden a u f Grund ihrer bekannten allgemeinen Haltung sowieso als unzumutbar abgelehnt hâtten. Es musste sogar die mehrfach von diesen Behôrden erhobene Drohung beriicksichtigen, die Anwendung der Konvention von 1929 iiber die Behandlung der Kriegsgefangenen einzustellen.

Da das Internationale Komitee nicht die M achtvollkommenheit besitzt, die man ihm zuzuschreiben geneigt ist, konnte es also nur die M ittel geduldiger Überzeugungsversuche und seiner moralischen Kraft anwenden.

Es hat iiberdies bei zahlreichen Gelegenheiten feststellen müssen, dass die manchmal von der ôffentlichen M einung geforderten Proteste leider ergebnislos sind und sogar môglicherweise das gefahrden kôn- nen, was das Rote Kreuz sonst an Hilfe zu bringen vermag. Demzufol- ge erachtet es es als seine vorrangige Pflicht, überall dort helfend einzuspringen, wo praktischer und wirksamer Beistand moglich ist.

Darum handelte das Internationale Komitee in seinem Bemiihen, den in den Konzentrationslagern Deutschlands Inhaftierten zu helfen, je ­wel Is entsprechend den Umstanden. Es verfolgte sehr genau die Ent- wicklung der politischen Situation, um keine Gelegenheit ungenutzt zu lassen und aus allen sich ihm bietenden Môglichkeiten Vorteile zu ziehen, um greifbare Ergebnisse zu erreichen. Waren es zum Vergleich zu den Missstànden, die es zu bessern gait, auch noch so geringfiigige Residíate, so ist das Internationale Komitee vielleicht das einzige

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gewesen, das sie erzielen konnte. A u f diese Weise hat es allmahlich die Verhandlungen vorbereitet, die seinen Delegierten und L K W s wahrend der Endphase der Kampfhandlungen die Tore bestimmter Konzentra- t ions lager ôffneten.

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Erster Weltkrieg

Bis in die jüngere Vergangenheit waren nach einem G rundsatz des Kriegsrechts militárische O perationen au f die bewaffneten Streit- kràfte beschrânkt, und die Zivilbevôlkerung genoss eine allgemeine Im m unitat. Diese Auffassung w ar so weit verbreitet, dass die Konfe- renz in Den H aag 1907 d arau f verzichtete, dem Règlement über Landkriegsrecht und -brauch einen Passus mit dem W ortlaut hinzu- zufügen, wonach «die au f Feindgebiet w ohnhaften S taatsangehóri- gen eines Kriegsgegners nicht zu internieren sind». M an w ar der M einung, dieser G rundsatz stünde ausser Frage.

D er Krieg von 1914 ànderte jedoch die herkôm m liche Vorstellung gründlich. Bei Eroffnung der Feindseligkeiten schlossen effektiv die meisten S taaten ihre Grenzen, hielten aile A uslànder au f ihrem T erritorium fest und internierten die Zivilpersonen feindlicher Staatszugehorigkeit.

Das In ternationale K om itee àusserte sich in dem der X. In terna- tionalen R otkreuzkonferenz vorgelegten Bericht dazu folgender- massen:

«Zivilpersonen sahen sich von einer Stunde au f die andere Krim i- nellen gleichgestellt. Sie w urden in K onzentrationslager oder m ehr oder weniger im provisierte Lager eingewiesen, die vóllig unzurei- chend waren. H ier fanden sich M anner, Frauen, K inder und K ran- ke, M enschen aller Bevôlkerungsschichten in einem beklagenswerten D urcheinander zusam m engepfercht und jeden K om forts beraubt. Sie mussten erleben, dass dieses Provisorium zu einem D auerzustand wurde, w áhrend m an ihnen gleichgültig, wenn nicht m it H ass und D rohungen, begegnete. A nfangs schienen diese M assnahm en der Sicherheit des Staates zu dienen und dadurch gerechtfertigt zu sein, jedoch un ter der Voraussetzung, dass sie nur vorübergehenden Cha- rak ter hatten. Sie verw andelten sich aber bald in M ittel zu Repressa- lien und Vergeltungen. D urch sie w urden die gefangenen Zivilperso­nen zu blossen Geiseln in den H ânden der Gew ahrsam sm acht. In diesen S taaten selbst schien m an keine Vorkehrungen getroffen zu haben, um die Lebensbedingungen der internierten Zivilpersonen ertràglich zu gestalten.»

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Demzufolge háuften sich in G enf seit Kriegsbeginn im Jahre 1914 die Gesuche um A uskünfte iiber Zivilpersonen und um V erm ittlung zu ihren G unsten. Das In ternationale Kom itee w ar gerade mit dem A ufbau der In ternationalen Zentralstelle fiir Kriegsgefangene (Agence in ternationale des prisonniers de guerre) beschàftigt, als sich ihm unvorhergesehen diese neue Aufgabe stellte. Ohne zu zô- gern, richtete es jedoch im R ahm en der Agence eine A bteilung ein, die dam it betrau t wurde, N achrichten über internierte, evakuierte und deportierte Zivilpersonen zu beschaffen. Das w ar eine schwere Aufgabe. W ahrend der Agence regelmàssig Listen über Kriegsgefan­gene überm ittelt wurden, w aren Verzeichnisse über internierte Zivil­personen weder vorhanden noch vorgesehen. E rst a u f G rund wie- derholter Schritte des In ternationalen Kom itees erklârten sich einige Regierungen bereit, die internierten Zivilpersonen in die Gefange- nenlisten aufzunehm en. Andere weigerten sich und beantw orteten nicht einmal die entsprechenden Erm ittlungsgesuche, so dass die Familien in grôssten Àngsten schwebten.

Die Zivilabteilung der Agence in G enf bem ühte sich, bei den Gewahrsam sbehôrden für die Internierten die E rlaubnis zu erhalten, ihren in Feindgebiet oder im vom Gegner besetzten T erritorium wohnhaften V erw andten Benachrichtigungen zukom m en zu lassen. Diese sollten den Em pfangern durch die Agence entw eder als kurz- gefasste Originalbriefe oder au f Spezialform ularen der Agence zuge- stellt werden.

Ausserdem organisierte das In ternationale Kom itee in den zivilen Internierungslagern Besuche durch seine Delegierten oder Beauf- tragte aus neutralen Làndern. A ber bei allen diesen Verm ittlungen konnte sich das In ternationale K om itee nicht au f einen einzigen positiven Gesetzestext stützen.

Eigens zu diesem Zweck wurden jedoch für die D auer des Krieges einige besondere V ereinbarungen getroifen. Erste Absprachen fan- den unter der Schirm herrschaft des In ternationalen Kom itees im Jahre 1917 in G enf zwischen V ertretern des Bulgarischen und Serbi- schen Roten Kreuzes statt. A ber die meisten konnten durch Verm itt­lung der Regierungen neutraler S taaten, insbesondere der Schweizer Regierung, erzielt werden. Diese zur Zeit der K am pfhandlungen getroffenen V ereinbarungen verloren nach Abschluss des Wafifen- stillstandes von 1918 ihre Gültigkeit.

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Die Zeitspanne von 1918 bis 1939

N ach Beendigung der Feindseligkeiten priifte das In ternationale Kom itee die M oglichkeiten, die W iederholung einer solch tragischen Situation zu vermeiden. Zu diesem Zweck schlug es 1921 der in G enf1 zusam m engetretenen X. In ternationalen R otkreuzkonferenz vor, den W ortlaut einer V ereinbarung zum Schütz der Zivilpersonen befeindeter S taaten und der Bevôlkerung in besetzten Gebieten zu- sam m en m it dem Status der Kriegsgefangenen zu untersuchen. D er von ihm in diesem Sinne vorgelegte Bericht sollte als G rundlage fur einen «Kodex fur Kriegsgefangene, D eportierte und Flüchtlinge» dienen und ausser den Verfügungen bezüglich des Kriegsgefange- nenstatus auch Bestimmungen in bezug au f die Zivilbevôlkerung der in Feindeshand gefallenen Gebiete enthalten. Diese A rtikel sollten in erster Linie das Recht der Besatzungsm acht zu D eportationen und Evakuierungen der Bevôlkerung sowie zu Geiselnahm en be- schránken.

Die V ertreter der nationalen R otkreuz-Gesellschaften und Regie- rungen, die an der X. Konferenz teilnahm en, billigten die Vorschlage des In ternationalen Kom itees einstimmig. Sie beauftragten es, un- verzüglich den W ortlaut eines Vertragsentwurfes gemâss den aufge- führten G rundsâtzen auszuarbeiten. Die Arbeiten fiihrten jedoch schliesslich zur A ufstellung zweier getrennter Entwürfe, da die Ver- fasser die Aufgliederung der Them en in zwei genau umrissene Gebie­te beschlossen: einen über den Kriegsgefangenenstatus (V orentw urf der K onvention von 1929), den anderen über den Status der Zivil­personen (Skizze des sogenannten Tokio-Entw urfes, von dem spáter noch die Rede sein wird).

Das In ternationale Kom itee tra f in A usftihrung seines A uftrags sofort alle notwendigen Vorkehrungen, um die Beschlüsse der X. Konferenz zu verwirklichen. Jedoch w ar es ihm dam ais noch nicht môglich, seine Vorstellungen in die T at umzusetzen. Tatsach- lich wollten viele der M oglichkeit eines weiteren Krieges nicht ins

1 D ie In te rn a tio n a le R o tk re u z k o n fe re n z , d ie d ie V e r tre te r a lle r n a tio n a le n R o t­k reu z-G ese llsch a fte n , des In te rn a tio n a le n K o m itees , d e r L iga d e r R o tk reu z -G ese ll­sc h aften u n d d e r R e g ie rungen zu sam m en fass t, ist d ie h ô ch s te b e ra te n d e Stelle des R o ten K reuzes. Sie tr it t g ru n d sá tz lich alle v ier Ja h re zu sam m en .

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Auge sehen und setzten ihre ganze Hoffnung in den G edanken der allgemeinen A brüstung der N ationen. Verschiedene Personlichkei- ten des offentlichen Lebens führten beim Internationalen Kom itee ins Feld, es sei ein ungeeigneter Zeitpunkt, den Regierungen die Aus- arbeitung eines Status für Zivilpersonen in Kriegszeiten vorzuschla- gen, ja , dass ein solches Vorgehen sogar ais ein schlechter Dienst an der vom V ólkerbund unterstützten Friedensidee angesehen werden konnte. Die E inführung eines weiteren, au f der M óglichkeit einer Kriegsausdehnung au f nicht kriegführende M áchte basierenden Ka- pitels in das in ternationale Recht schien kaum vereinbar mit den derzeitigen Bemühungen, sogar den Begrifif «kriegführende M achí» selbst enger zu fassen.

Aus diesem G rund beschaftigte sich die im Jahre 1929 vom schweizerischen B undesrat einberufene D iplom atische Konferenz entgegen dem W unsch des In ternationalen Kom itees lediglich mit dem Schicksal der Kriegsgefangenen. Zu ihren G unsten wurde die Konvention über ihre Behandlung au f G rund des vom In ternationa­len Kom itee ausgearbeiteten Entw urfs beschlossen1. A uf Ersuchen des In ternationalen Kom itees wurde jedoch folgender W unsch in die Schlussakte aufgenommen:

«Die Konferenz übernim m t die einstimmigen Beschlüsse ihrer beiden H auptausschüsse. Sie gibt dem W unsch A usdruck, dass der Abschluss eines internationalen A bkom m ens über die Stellung und den Schütz von Zivilpersonen befeindeter Staatszugehôrigkeit au f dem G ebiet einer kriegführenden M acht oder au f dem von ihr besetzten G ebiet gründlich geprüft wird.»

Die XIV. In ternationale R otkreuzkonferenz tra t 1930 in Briissel zusammen. Sie bestátigte dem Internationalen Kom itee den Auf- trag, sich für den Schütz der Zivilpersonen befeindeter Staaten ein- zusetzen.

Eine vom In ternationalen K om itee aufgestellte K om m ission ar- beitete dann im R ahm en der von den vorherigen Konferenzen fest- gelegten Richtlinien den E n tw urf aus. Er wurde der im Jahre 1934

1 Es sei e rw iih n t, d ass cine d ip lo m a tisc h e K o n fe re n z eine V ersam m lu n g bevoll- m âch tig te r V ertre te r d e r S ta a te n ist. Ih r Z iel b es teh t v o r allem in d e r B esch lussfassung und in d e r R ev ision in te rn a tio n a le r K o n v en tio n en .

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in Tokio zusam m engetretenen XV. In ternationalen R otkreuz- konferenz vorgelegt und ist un ter der Bezeichnung «Tokio- Entwurf» bekannt. Dieser V ertragsentw urf bestâtigte und entwik- kelte die vom Internationalen Kom itee von 1920 bis 1925 immer vertretenen G rundsàtze, nam lich die Beschrankung der Internierung au f wehrpflichtige oder verdàchtige Zivilpersonen; die M oglichkeit zur R iickkehr ins H eim atland fiir diejenigen, die es wünschen; die Abschaffung von M assenevakuierungen und E inzeldeportationen, die nicht durch pràzise, festumrissene G ründe zu vertreten wàren; die M oglichkeit, dass im Gebiet des Feindes verbleibende Zivilperso­nen ihre Freiheit behalten, vorbehaltlich eventuell fïir nôtig befunde- ner K ontroll- und Sicherheitsm assnahmen; schliesslich eine minde- stens ebenso gute Behandlung der gegebenenfalls internierten Zivil­personen wie fur die Kriegsgefangenen, wobei die G enfer Konven- tion analog in dem M asse anzuw enden ware als ihre Bestimmungen au f Zivilpersonen anw endbar sind. D er E ntw urf sah fiir die kiinftige K onvention dieselben K ontrollm assnahm en vor wie die K onvention von 1929 fiber die Behandlung Kriegsgefangener.

Die in Tokio abgehaltene XV. K onferenz nahm den E n tw urf des In ternationalen Kom itees sofort als G rundlage fiir diplom atische Verhandlungen an. Sie beauftragte das In ternationale Kom itee, sich schnellstens m it der Schweizer Regierung in V erbindung zu setzen, um baldigst eine ahnliche diplom atische K onferenz wie im Jahre 1929 zusam m enzurufen, die seinerzeit die K onvention iiber die Be­handlung Kriegsgefangener aufstellte. Es hing leider nicht vom In ­ternationalen Kom itee ab, dass diese K onferenz nicht innerhalb kurzer F rist stattfand. D a m an die M oglichkeit eines unm ittelbar bevorstehenden Krieges nicht ins Auge fasste, w ar m an weit davon entfernt, den dringlichen C harak ter einer solchen K onferenz zu erkennen. Die A ntw orten au f die Einladung der Schweizer Regie- rung Hessen also au f sich warten. E rst im Laufe des Jahres 1939 gaben die eingeladenen S taaten ihre Zustim m ung, so dass m an den Konferenzbeginn au f A nfang 1940 in G enf festsetzen konnte.

Wie allgemein bekannt ist, verhinderte die Eroffnung der Feindse- ligkeiten die D urchfiihrung dieses Planes.

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Zweiter Weltkrieg

M an kann bei dem Bemühen des In ternationalen Kom itees, den Zivilpersonen befeindeter S taaten w âhrend des letzten Krieges zu helfen, verschiedene Phasen unterscheiden.

Die erste Phase (von Septem ber 1939 bis F rüh jahr 1940) ist von den allgemeinen Versuchen des In ternationalen Kom itees gekenn- zeichnet, die kriegführenden M achte zu Beginn des Konflikts zur zeitweiligen A nnahm e des Tokio-Entw urfes zu veranlassen oder andernfalls die Anwendung der Bestimm ungen der K onvention von 1929 bezüglich der Kriegsgefangenen au f die internierten Zivilperso­nen zu erreichen. Die V erm ittlungsversuche des Kom itees wâhrend dieser Zeitspanne wirken sich günstig aus. D adurch werden fühlbare Erfolge zugunsten der au f G rund ihrer S taatszugehôrigkeit von den beiden kriegführenden G ruppen internierten oder überw achten Z i­vilpersonen erzielt.

Die zweite Phase (1940-1943) stim m t m it der Zeit überein, in welcher der grôsste Teil E uropas durch die A chsenm àchte besetzt ist. A uf diese Weise fallen M illionen von Zivilpersonen in die Mande einer einzigen kriegführenden M àchtegruppe. Das Gleichgewicht der gegnerischen K ràfte ist somit gebrochen. D a das Prinzip der Gegenseitigkeit so kaum noch seinen m àssigenden Einfluss geltend machen kann, sehen sich diese Zivilpersonen im mer m ehr der Will- kür der Besatzungsbehôrden ausgesetzt. Das In ternationale Kom i- tee sieht sich bei seiner Tâtigkeit für die Zivilpersonen mit wachsen- den Schwierigkeiten konfrontiert.

Die dritte Phase erstreckt sich au f die Zeit von 1943 bis 1945. Die allgemeinen und offiziellen Interventionen des In ternationalen K o­mitees zugunsten der Zivilhàftlinge enden jeweils erfolglos. So be- müht es sich, ihr Los zu erleichtern, indem es im mer wieder prakti- sche, lokalgebundene A ktionen durchführt.

A uf G rund der Entwicklung der politischen und militàrischen Lage entschliessen sich die deutschen Behôrden im Jahre 1944 end- lich, nach Besetzung eines kleinen Teils deutschen Gebietes durch die alliierten K ràfte, gewissen Erleichterungen zuzustim m en, und zwar erlauben sie vor allem die Verschickung von Liebesgaben in die

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K onzentrationslager, zunáchst in einzelnen Paketen und spâter in kollektiver Form .

Entscheidende Zugestàndnisse der deutschen Regierung wàhrend der letzten drei K riegsm onate charakterisieren die vierte Phase (1945). V or allem schliesst der Pràsident des In ternationalen Kom i- tees vom R oten K reuz in D eutschland einen Vertrag ab, der den Delegierten des Kom itees zum ersten M ale die K onzentrationslager ôffnet.

Erste Phase1

Bei A usbruch des Zweiten W eltkrieges im Septem ber 1939 befan- den sich H underttausende von Zivilpersonen au f Feindgebiet ohne jeglichen Schütz durch die G enfer K onventionen.

Wie bereits im Jahre 1914 bem iihte sich das In ternationale Komi- tee unverzüglich, diesen Zivilpersonen einen gewissen Schütz zu sichern. D urch unerm üdliche Bem ühungen erreichte es, dass die meisten kriegführenden Staaten gewissen M indestgarantien zu ihren G unsten zustim mten.

Die Zivilpersonen, die es zu schützen gait, gehôrten zwei genau unterscheidbaren K ategorien an:

1. die Zivilpersonen befeindeter N ationalitât, die sich zu Be- ginn der K am pfhandlungen au f dem Hoheitsgebiet eines Kriegs- teilnehmers befanden;

2. die Zivilpersonen, die einem vom Feind besetzten Land an- gehórten2.

In diesem Zusam m enhang ware hervorzuheben, dass das In terna­tionale Kom itee sich stets an den G rundsatz gehalten hat - und es hat ihn im mer durchzusetzen versucht - , dass alien Zivilpersonen ohne Ansehen der Person, ohne U nterschied der Rasse, der Konfes- sion oder politischen M einung A nspruch au f dieselben G arantien zustehen muss. W enn das Kom itee mangels eines Vertragstextes in der Praxis m anchm al unterschiedliche Behandlung gelten lassen

1 S iehe Seite 30.2 D ie Z iv ilp erso n e n eines b efe in d c ten S taa te s , die in einem besetz ten L an d w oh-

nen , dem sie jc d o c h n ich t an g e h ô re n - w ie z. B. d ie Z iv ilp erso n e n b ritisch c r S taa tsz u - g eh o rig k e it im bese tz ten F ra n k re ic h - , k o n n en d e r ersten K a teg o rie zu g eo rd n c t w erden . Sie w u rd en iib rigens au ch so b eh an d e lt.

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musste, so nur, weil sie von der G ew ahrsam sm acht aufgezwungen wurde.

W âhrend sich jedoch die Zivilpersonen der zweiten Kategorie au f den sehr unzureichenden Schütz der Artikel 44 ff. ans A bschnitt III des Anhangs zur IV. H aager K onvention aus dem Jahre 1907, die iiber die «militàrische Gewalt a u f besetztem feindlichem Gebiet» handeln, berufen kônnen, sind die zur ersten K ategorie gehórenden Zivilpersonen vollkom m en schutzlos.

W are der T okio-E ntw urf rechtzeitig angenom m en worden, so hàtte er den Zivilpersonen beider K ategorien wenigstens den glei- chen Schütz gewâhrleistet, wie er durch die K onvention vom 27. Juli 1929 den Kriegsgefangenen zugesichert wurde.

Gestützt au f die grundsàtzliche Zustim m ung, die der Vertragsent- w urf in Tokio erhielt, schlug das In ternationale Kom itee den Regie- rungen der kriegfiihrenden S taaten gleich am 4. Septem ber 1939 vor, auf der Basis dieses Entwurfes einen allgemeinen Status zu schaffen, nach dem beide K ategorien Zivilpersonen befeindeter Staaten - d .h. diejenigen, die sich au f dem Gebiet dieser Staaten befinden, und diejenigen, die aus welchem G rund auch immer, in einem besetzten Gebiet wohnen, der Souverànitàt dieser Staaten unterstellt wiirden. Es regte in diesem Zusam m enhang entweder den Abschluss bilatera- ler Vertràge eigens zu diesem Zweck oder in Vorw egnahm e einer endgiiltigen Regelung eine a u f die D auer des derzeitigen Konflikts beschrankte A nw endung der Bestimmungen des Tokio-Entw urfs an 1.

Durch seine Denkschrift vom 21. O ktober 1939, in der es seine Vorschlàge vom 4. Septem ber wiederholte, legte das In ternationale Komitee den Regierungen ausserdem die A nnahm e einer Zusatzlô- sung zugunsten der Zivilpersonen, die sich bei Erôffnung der K am pfhandlungen au f Feindgebiet befanden, nahe. Falls sie inter- niert wiirden, sollten die Bestimmungen der K onvention von 1929 iiber die Behandlung Kriegsgefangener auch au f diese internierten Zivilpersonen A nwendung finden, soweit sie nicht ausschliesslich das M ilitar betrafen2. Die Folgen dieser Gleichstellung wàren: die Übergabe von N am enlisten iiber die internierten Zivilpersonen durch den G ew ahrsam sstaat an die Zentralstelle fiir Kriegs-

1 Siche Seitc 30.2 Siche Scitc 33.

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gefangene, A uskünfte über sie (Artikel 77 und 79 der K onvention) sowie der Besuch ihrer Lager durch Delegierte des Internationalen Kom itees vom R oten K reuz oder der Schutzm âchte.

Parallel zu seinen V orsprachen bei den Regierungen der kriegfüh- renden S taaten beauftragte das In ternationale Kom itee seine Dele- gierten im A usland mit ausgedehnten N achforschungen über die Lage der Zivilpersonen au f Feindgebiet.

Die betroffenen Regierungen gaben fast alle dieser Zusatzlosung den Vorzug, die so zu Beginn des Krieges zugunsten von Zivilperso­nen befeindeter N ationalitat, die sich bei der Eroffnung der Feindse- ligkeiten au f dem Gebiet der kriegführenden S taaten befanden, ak- zeptiert und in die Praxis um gesetzt wurde.

Diesen Zivilpersonen wurde unter dem V orbehalt von Abm a- chungen au f Gegenseitigkeit - vorausgesetzt, dass sie einen diesbe- züglichen W unsch àusserten und der T ransport sich technisch er- moglichen liess - das Recht a u f Heim schaffung zuerkannt; falls sie eine bedingte Freiheit genóssen, sollten sie ihrer Tàtigkeit nachgehen konnen; der Schütz der diplom atischen V ertretungen der neutralen M acht, die m it der W ahrung ihrer Interessen beauftragt ist, sollte ihnen zustehen; sie sollten Besuche der V ertreter dieser M acht oder der Delegierten des In ternationalen Kom itees em pfangen dürfen.

Ferner erreichte das Kom itee eine portofreie Befôrderung der K orrespondenz der internierten Zivilpersonen wie sie auch den Kriegsgefangenen zusteht. Es unternahm ebenfalls aus eigener In ­itiative Schritte zur Zusam m enführung der Fam ilien Internierter im selben Lager. Es w ar bestrebt, fiir die internierten Zivilpersonen, die unter der U ntâtigkeit und ihren dem oralisierenden Folgen leiden und nicht wie Kriegsgefangene der Arbeitspflicht unterliegen, die Erlaubnis zu erwirken, Tatigkeiten auszuüben, die nicht durch A rti­kel 31 und folgende der K onvention von 1929 verboten sind. Es beschaffte ihnen Bûcher und die für die A rbeiten notwendigen M ate- rialien. Für die internierten K inder w urden Schulen eingerichtet. Die Delegierten des In ternationalen Kom itees erleichterten die Einrich- tung medizinischer und zahnàrztlicher Fürsorge in den Zivilinternie- rungslagern, insbesondere in den überseeischen Lândern.

Wie m an sieht, ermôglichte die Gleichstellung der Zivilpersonen der ersten K ategorie m it den Kriegsgefangenen durch die Gewahr- sam sm àchte dem Internationalen Kom itee und den Schutzm achten

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Kontrollen der für diese Zivilpersonen vorgesehenen Behandlung, denen so in Erm angelung eines vôlkerrechtlich ratifizierten Abkom - mens die für Kriegsgefangene vorgesehenen M indestrechte zugute kamen.

Leider sah es für die Zivilpersonen der zweiten K ategorie anders aus (Zivilpersonen aus einem vom Feind besetzten Land). Die Be- stimmungen von Titel III des Tokio-Entw urfs konnten nicht in Kraft treten, da die meisten Regierungen im Hinblick au f den am 4. Septem ber 1939 vom Internationalen K om itee1 unterbreiteten Vorschlag ihre Stellungnahm e zurückhielten oder ihn stillschwei- gend ablehnten. Diese Zivilpersonen waren also nur durch die un- vollkommenen und veralteten Bestimmungen des V erordnungsan- hangeszur IV. H aager K onvention vom 18. O ktober 1907 geschützt.

Zweite Phase2

Die Besetzung m ehrerer L ander durch D eutschland Hess die tragi- schen Folgen dieser Lücke im V olkerrecht klar zutage treten: Tau- sende von Zivilpersonen sahen sich «verwaltungsmâssigen Evakuie- rungen», M assen- oder E inzeldeportationen, Geiselnahm en oder der Internierung in K onzentrationslagern ausgesetzt; alie diese M ass- nahmen waren Folgen des sich im m er m ehr ausweitenden totalen Krieges.

Veranlasst durch die über die K onzentrationslager kursierenden Geriichte sowie durch Bitten um A uskunft, die es von ôffentlichen oder privaten O rganisationen wie auch von Privatpersonen erhielt, wandte sich das In ternationale Kom itee bereits ab 1941 m ehrm als an die Reichsbehórden und das Deutsche R ote Kreuz, um Auskünf- te über das Schicksal der deportierten Zivilpersonen, ihre H aftstat- ten und die ihnen zuteil werdende Behandlung zu erhalten3. Seine Nachforschungsm ôglichkeiten w aren àusserst begrenzt: die Sorge, seinen sich aus den K onventionen ergebenden Tatigkeiten nur ja nicht zu schaden, und sein G rundsatz, offen zu handeln, verboten ihm ein Zurückgreifen au f heimliche N achforschungsm ittel. Ande- rerseits wurde dem Internationalen Kom itee durch die Erfahrung

1 N u r d ie d eu tsch e R eg ie ru n g e rk la rte sich bere it, d en A b sch lu ss e in er K o n v e n ­tion a u f G ru n d la g e des T o k io -E n tw u rfs zu b esp rechen (siehe Seite 32)

2 Siehe Seite 41.3 Siehe Seite 43.

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schnell klar, dass es von offiziellen Schritten in einem Bereich Ab- stand nehmen musste, der gewisse Em pfindlichkeiten reizen kônnte und von keinem internationalen Gesetzestext gedeckt war. Diese w unden Punkte zu beriihren, hiess G efahr laufen, dass sich Türen schliessen w ürden, die seinen Delegierten noch oflenstanden. Wie m an sieht, w ar es eine àusserst verwickelte und heikle Situation, voll von Schwierigkeiten.

Allein au f G rund seines hum anitàren Initiativrechts bat das In ter­nationale Kom itee darum , die Zivilinternierten in den K onzentra- tionslagern in den Genuss der M indestgarantien kom m en zu lassen, die zu Beginn der Feindseligkeiten au f deutschem Gebiet lediglich den wegen ihrer N ationalità t festgenommenen Zivilpersonen befein- deter Staaten zuerkannt w orden waren, d .h . den eigentlichen Zivil­internierten (erste K ategorie des Tokio-Entw urfs). Das In ternatio ­nale Kom itee plàdierte dafiir, dass sie vor allem das Recht erhalten sollten, ihren Fam ilien N achricht zu geben, Pakete und Briefe zu em pfangen, dass sie von Delegierten des In ternationalen Komitees besucht und ihre N am en in offiziellen Listen oder Personalienkartei- karten der Zentralstelle für Kriegsgefangene bekanntgegeben wer- den sollten.

Das In ternationale K om itee stützte sich dabei au f das Prinzip der Gegenseitigkeit. Es m achte sich den universalen C harak ter seiner Tàtigkeit zunutze, die es in gleicher Weise in den Dienst aller Krieg- führenden stellte. So konnte es der deutschen Regierung fiber Inter- ventionen seiner Delegierten zugunsten von in Feindeslandern inter- nierten deutschen Staatsangehôrigen berichten sowie au f seine in G rossbritannien, N ordafrika und den iiberseeischen Làndern - in den Vereinigten Staaten, in Brasilien, in N iederlândisch-G uinea, Venezuela usw. - erzielten Erfolge verweisen, wo seine Delegierten im allgemeinen die Erlaubnis erhielten, die «aus Sicherheitsgründen» Inhaftierten zu besuchen1.

Alie diese schriftlichen oder mfindlichen Vorstellungen endeten m it einem M isserfolg, da die deutschen Behôrden eine abschlàgige A ntw ort gaben. Sie behaupteten, die in den K onzentrationslagern inhaftierten Personen würden nicht allein au f G rund ihrer befeinde- ten S taatsangehórigkeit festgehalten, sondern auch aus verschiede-

1 Siehe Seite 49.

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nen G ründen «im Z usam m enhang m it der Sicherheit der Gew ahr- sam sm acht»1, so dass sic folglich weder den Kriegsgefangenen noch den eigentlichen Zivilinternierten gleichgestellt werden kônnten. Sie warden ais «Kriminelle» and «Staatsfeinde» angesehen, die einzig and allein der Politischen Polizei anterstanden.

M an kann im R ahm en dieser Verôffentlichnng kaam Rechen- schaft über die Vielfâltigkeit der am R ande von offiziellen Interven- tionen anternom m enen Bem ühangen, die meist nicht einmal doka- mentarische Sparen hinterlassen haben, ablegen: Versache des Her- antastens, O rientierangsarbeiten, Sondierangen, personliche Vor- sprachen, U nterhaltangen, deren Zweck es war, die aagenblickliche psychologische Stim m ang za sondieren, den P an k t za erfahren, bis za welchem m an gewisse Anliegen ohne G efàhrdnng der gesamten Verhandlang vorantreiben konnte. Es gait aach, die Beziehangen bis za dem Tag aafrechtzaerhalten , an dem eine günstigere Lage der Dinge es ermôglichen würde, Zagestàndnisse za erhalten.

Andererseits kom m t m an za keinem gerechten Urteil über die Tàtigkeit des IK R K , wenn m an nicht berücksichtigt, dass sein Ge- spràchspartner ein S taat war, dessen M acht sich za diesem Zeit- pankt über fast ganz E aropa erstreckte. W enn er es für richtig erachtete, konnte ihn nichts hindern, jede V erbindang mit einer Institation abzabrechen, deren ganze Starke lediglich a a f ihrer hn- m anitâren T radition and ihrem m oralischen Ansehen beraht.

Dr it te Phase2

Das Internationale Kom itee kam dennoch beharrlich im mer dann aa f dieses Them a zarück, wenn es das für môglich hielt3. Es war entschlossen, vor allem za versachen, den H àftlingen in K onzentra- tionslagern darch A asnatzang des einzigen Zagestândnisses za hel- fen, das das Reich gem acht hatte. A a f eine D em arche beim deat- schen A assenm inisteriam hin erhielt die Delegation des Internatio-

1 D ie deu tsch en B e h ô rd en n a n n te n d iese H âftlin g e «S chu tzh aftlin g e» .2 Siehe Seite 52.3 A m 9. D ezem b er 1944 sch lug d as In te rn a tio n a le K o m itee dem R eichsaussenm i-

n isterium wie au ch d en a n d e re n R eg ie ru n g en noch eine Z u sa m m e n k u n ft bevoll- m ach tig tc r V ertre te r d e r in te ress ie rten R eg ie ru n g en in G e n f v o r, um - in A n w en d u n g von A rt. 83 d er G en fe r K o n v e n tio n - e inen p ra k tisc h e n V ertra g üb er aile F rag en h insichtlich d e r in F e in d esh an d b cfind lichen Z iv ilp erso n e n d u rc h z u b rin g e n (siehe Seite 75).

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nalen Kom itees in Berlin tatsàchlich im Laufe des Jahres 1943 die N achricht, dass den Zivilpersonen in den K onzentrationslagern Le- bensm ittelpakete zugeschickt werden diirften. V oraussetzung war, dass sie direkt und nam entlich an nicht-deutsche Staatsangehôrige gerichtet würden.

Es w ar eine trügerische, ja sogar widerspriichliche Erlaubnis, da m an ja dem K om itee die au f G rund des deutschen Entscheids erfor- derlichen N am ensangaben verweigerte. Das In ternationale Kom itee konnte jedoch trotzdem eine H ilfsaktion unternehm en, obwohl es zu diesem Zeitpunkt lediglich sehr wenige N am en und Adressen von H àftlingen besass. Es setzte aber alies in Bewegung, um sie sich zu beschaffen.

Seine Delegierten belagerten sozusagen die K onzentrationslager, die sie nicht betreten durften, und liessen keine Gelegenheit unge- nutzt, um A uskünfte zu erhalten. Sie nahm en V erbindung zu den L agerkom m andanten, zu den untergeordneten Angestellten oder m anchm al sogar zu Hàftlingen auf, die in der K om m andan tur be- schaftigt waren. Sie versuchten, bis in die Biiros, in denen sich die Lagerkarteien befanden, vorzudringen. Bei diesen Versuchen wur- den die Delegierten des In ternationalen Kom itees m anchm al unter Bedrohung mit der Schusswaffe abgewiesen. Sie nahm en mit entflo- henen K L-H àftlingen Fühlung auf. Sie priiften bei Besuchen von Kriegsgefangenenlagern aile A uskünfte über «Schutzháftlinge»1. Tausende von N am en und Adressen von Hàftlingen erreichten so das In ternationale Kom itee, das nun den «Paketdienst für die K o n ­zentrationslager» («service des colis aux cam ps de concentrations», genannt C CC-D ienst) errichtete. Dieser D ienst gewann allm âhlich einen über E rw arten grossen Umfang.

Das Ergebnis der ersten Sendung von Einzelpaketen ü b ertra f bei weitem die Voraussagen. Einige W ochen spàter gingen beim CCC- D ienst bereits Em pfangsbestàtigungen mit der eigenhândigen U nter- schrift der Em pfànger ein.

Diese Belege erwiesen sich als eine neue Inform ationsquelle: aus- ser der U nterschrift des Em pfângers enthielten sie hâufig noch meh- rere andere U nterschriften von Hàftlingen, denen der G edanke ge- kom m en war, ihre N am en und ihre Hàftlingsnum m er au f die Emp-

1 O ft w aren A rb e itsk o m m a n d o s an s K rieg sg efan g en en lag e rn m it K o m m a n d o s a n s K o n z e n tra tio n s la g e rn in den B ctrieben gem isch t.

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fangsbestàtigung eines K am eraden zu schreiben, um nun ihrerseits eine Sendung zu erhalten. D a diese U nterschriften zumeist ein erstes Lebenszeichen des D eportierten waren, konnten sie andererseits auch die Sorgen seiner Fam ilie ein wenig mildern. Ausserdem batte Genf den Haftling «vorgemerkt». Selbst wenn er zu der am meisten bedrohten K ategorie - den sogenannten N N -H âftlingen1 - gehôr- te, batte er nun eine, wenn auch noch so geringe Chance, nicht so ohne weiteres zu verschwinden.

So vergrosserte sich in G enf die D eportationskartei, die noch auf andere Weise zunahm , im mer mehr. Die N achricht über die A nkunft der ersten Pakete hatte sich in den Lagern verbreitet. Die Haftlinge mit Schreiberlaubnis unterrichteten ihre Fam ilien darüber. Der CCC-Dienst erhielt vor allem aus dem besetzten N orw egen und Polen zahlreiche Briefe mit N am en und A dressen von Zivildeportier- ten, an die Lebensmittel gesandt werden sollten. Andere Listen gelangten heimlich aus den Lagern oder aus den von deutschen Truppen besetzten Lândern nach Genf. D as bedeutete die Überwin- dung einer ersten Schwierigkeit: N am en und Adressen von Hàftlin- gen gingen ein. D er C CC -D ienst konnte ihnen folglich Einzelpakete schicken.

Nun entstand aber ein weiteres Hindernis. D a die Delegierten des Internationalen Kom itees nicht die Erlaubnis zum Betreten der K onzentrationslager erhielten, konnten sie nicht - wie in den Kriegs- gefangenenlagern üblich - die Verteilung der Pakete kontrollieren. Ohne diese K ontrollen erlaubten die alliierten Behôrden, denen die Blockademassnahmen oblagen, dem Internationalen Kom itee je- doch trotz seiner zahlreichen Interventionen nicht die E infuhr von Waren nach Europa für die Zivilpersonen in den K onzentrationsla- gern. Diese Behôrden liessen auch nicht die Überweisung von Mit- teln zu, die den K au f von H ilfsgütern für diese Zivilpersonen in Europa selbst erm ôglicht h â tten 2.

Der CCC-D ienst musste sich also in Zusam m enarbeit m it der gemischten Hilfskom m ission des In ternationalen R oten Kreuzes

1 N ach t-u n d -N eb e l-H aftlin g e .2 D as In te rn a tio n a le K o m itee v e rfü g t b e k a n n tlic h n ich t ü b e r finanzielle M itte l,

die ihrn H ilfsak tio n en erm ô g lich en . D ie von d en G e b e rn b ezeichne ten E m pfiinger e rhalten lcdiglich d u rc h V erm ittlu n g des K o m itees von d en R e g ie ru n g en , den n a tio - nalen R o tk reu z -G ese llsch a ften u n d p riv a te n S tellen z u r V erfü g u n g gestellte S pendcn .

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bem ühen - das In ternationale K om itee und die Liga der R otkreuz- gesellschaften batten diese Dienststelle zum A nkauf, Verpacken und Verteilen von H ilfsgütern an zivile Kriegsopfer geschaffen - , um innerhalb der Blockadezone in einem erschôpften und teilweise aus- gehungerten E uropa die W aren zu beschaffen, die die unzureichen- den R ationen der H àftlinge in den K onzentrationslagern aufbessern sollten. Das IK R K konnte in R um ànien und vor allem in U ngarn und der Slowakei bedeutende M engen an Fleischkonserven, Bis- kuits, M arm elade, Zucker usw. erwerben, die im G enfer Zollfrei- hafen gesammelt und neu verpackt wurden. So w ar es môglich, bis zu 9000 Pakete pro Tag fertigzustellen.

Es fehlte aber noch an Geldern. Das In ternationale Kom itee bem iihte sich, m it Hilfe von Vertretern der interessierten Regierun- gen und R otkreuz-G esellschaften sowie verschiedener nationaler und auslandischer H ilfsorganisationen in der Schweiz die notwendi- gen finanziellen M ittel in der Schweiz zu sammeln. Diese umfassen- den Beihilfen erm oglichten ihm, Tausende von Tonnen von Paketen in die K onzentrationslager zu senden.

Erreichten diese Pakete überhaupt alie ihre Em pfanger? Das Feh- len jeglicher K ontrolle durch die Delegierten des Internationalen Kom itees iiber die Verteilung schloss ein gewisses Risiko ein, wel­ches das K om itee aber, ohne zu zogern, einging. Um die W ahrheit zu sagen: das In ternationale Kom itee erfuhr in der Regel sehr bald, wenn in bestim m ten Lagern M issbrauch getrieben oder Pakete be- schlagnahm t wurden. In solchen Fallen sperrte es dann sofort die Sendungen fur die betreffenden Lager. D as tra f besonders au f das Lager M authausen zu. Jedoch erwies sich diese H ilfsaktion in zahl- reichen anderen Fallen als wirksam. Bestimmte Lagerkom m andan- ten erleichterten sie sogar ein wenig. E rklárungen entflohener H àft­linge und Briefe, die es aus den K onzentrationslagern erreichten, lieferten dem Internationalen Kom itee die notwendigen Beweise iiber A nkunft und Verteilung von Hilfspaketen.

So konnte ein H àftling aus O ranienburg dem CCC-D ienst regel- màssig die genaue A nzahl der wohlbehalten eingegangenen oder gestohlenen Pakete mitteilen. Wie dem auch sei, es steht ausser Zweifel, dass diese Pakete - selbst wenn ein Teil davon die Em pfan­ger nicht erreichte - doch Tausende von M enschenleben gerettet haben. Ein H àftling schrieb: «Die Pakete stellten einen unschàtzba-

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ren W ert dar. In m anchen Fallen genügte ein einziges Paket, um die Kranken wieder aufzurichten, die vor H unger schon fast im Sterben lagen.»

Wenn auch au f diesem G ebiet der H ilfsaktion zufriedenstellende Erfolge erzielt w urden, so konnte das In ternationale Kom itee ande- rerseits das Regime der K onzentrationslager noch im mer in keiner Weise beeinflussen, um die M isshandlungen, denen die Hàftlinge ausgesetzt waren, zu beenden. Seine H ilfsaktionen wurden eher von den Lagerkom m andanten geduldet als von der zustándigen Zentrale ofFiziell erlaubt.

T rotz des Um fangs der vom Internationalen Kom itee errichteten K artei hatte das System der individuellen Paketversen- dung den Nachteil, dass die A nzahl der Em pfànger beschrânkt blieb. Es war darum wichtig, diesen Kreis so weit wie moglich auszu- dehnen.

So beschloss das In ternationale Kom itee im Laufe des Sommers 1944, Sam m elsendungen von Paketen in die K onzentrationslager zu schicken, ohne Rücksicht darauf, dass sich die deutsche Erlaubnis lediglich au f Einzelsendungen bezog.

Zu dieser Zeit bot die Entw icklung der politischen und militàri- schen Lage einem solchen U nternehm en geradezu Erfolgschancen an, die vorher nicht bestanden hatten.

Obwohl die K ontrollm ôglichkeiten iiber den Em pfang dieser Pa- kete noch geringer als bei den Einzelpaketen zu sein versprachen, hielt das In ternationale Kom itee diesen Versuch fiir seine Pflicht. In der T at bestanden zu dieser Zeit die interessierten Regierungen darauf, die Zahl der Sendungen um jeden Preis zu erhôhen. Das Internationale Kom itee stellte nun dringende Gesuche, um die al- liierten Behórden zur M ilderung der B lockadehàrten zugunsten der Hàftlinge in den K onzentrationslagern zu bewegen, wie sie es ja auch fiir die Kriegsgefangenen handhabten. D er «W ar Refugee Board» (Ausschuss fiir Kriegsfliichtlinge) begriff, dass die Pakete des In ter­nationalen Kom itees zahlreiche D eportierte vor dem Tode bewahr- ten, und ergriff die Initiative, um dem C CC -D ienst Lebensmittel zur Verfiigung zu stellen. Dieser Beitrag w ar um so wertvoller, als die Einkaufsm oglichkeiten in E uropa im mer geringer wurden und aus dem noch besetzten Frankreich und Belgien keine Lebensmittelsen- dungen eingehen konnten.

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Die am erikanischen Lebensmittellieferungen erfolgten in grôsse- ren M engen erst gegen Ende 1944. Sie ermôglichten es, Tausenden von Háftlingen in den K onzentrationslagern im Laufe der letzten K riegsm onate zu helfen. Ausserdem iiberliess im Septem ber 1944 der «W ar Refugee Board» dem Internationalen Kom itee mit Einver- stàndnis des A m erikanischen und K anadischen R oten Kreuzes die geborgene Ladung des gesunkenen D am pfers «Cristina». Die H àft- linge w aren über die verrosteten, aber für den G ebrauch einwand- freien Konserven begliickt.

Die Form ulare für Em pfangsbestàtigungen, die den Em píangern die Angabe ihres N am ens ermóglichen sollten, begleiteten sowohl die Sam m elsendungen ais auch die Einzelpakete. M it diesem System wurde die Bedeutung der K artei m erklich vergrossert. Am 1. M àrz 1945 kannte der CCC-D ienst die Ñ am en und H aftorte von 56 000 Háftlingen.

In m anchen Lagern verboten die K om m andanten die Rücksen- dung der den Sam m elsendungen beigefügten Em pfangsbestàtigun­gen an das In ternationale Kom itee, in anderen - insbesondere in D achau - gestattete m an es jedoch.

Wie bereits gesagt wiesen die nach G enf zurückkom m enden Quit- tungen meist m ehrere Ñ am en auf, und zw ar bis zu fünfzehn au f einer einzigen Em pfangsbestatigung. Sie w urden sofort nach Staatsange- horigkeit geordnet und den K arteien des CCC-D ienstes und der Zentralstelle einverleibt.

Haftlinge gaben weiterhin nützliche A uskünfte über die Zahl der in den Lagern Inhaftierten. N un mussten diese A uskünfte «inter- pretiert» werden. Erhielt das In ternationale K om itee z.B. die N achricht, dass sich sieben Polen in einem Lager ein Paket geteilt hatten, so schloss m an in G enf daraus, dass die A nzahl der an die Polen dieses Lagers verschickten Pakete mit sieben m ultipliziert werden musste, um a u f die ungefahre Gesam tzahl der H aftlinge zu kommen.

Ausser den Lcbensmitteln konnte der C CC -D ienst des In ternatio ­nalen Kom itees den Lagern eine bestim mte M enge Kleidung zukom - men lassen. D a er immer noch durch die Blockade au f dem europai- schen M ark t in seiner Handlungsfreiheit behindert w ar - bei dem allgemeinen Textilmangel gestattete kein Land eine A usfuhr - , ver- sandte der CCC-D ienst U nterkleidung aus Zellwolle. N ach der Be-

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freiung Belgiens stellte die belgische Regierung W ollwaren zur Ver- fiigung. Eine grosse A nzahl belgischer D eportierter konnte dadurch im Laufe des W inters 1944/45 mit w arm er U nterkleidung versorgt werden.

Der CCC-D ienst schickte ebenfalls S tandardpakete mit pharm a- zeutischen P rodukten in die Lager (Dekalzit, Redoxon, Protovit, Saridon, C oram in, Kofiein, Entero-V ioform , Cibazol-Salbe, Neo- cid, Zellstoffverbandm aterial und -watte). Schliesslich sandte m an auch viele Pakete mit geistigen und geistlichen Hilfsmitteln in die Lager: Kisten mit Messwein an die franzosischen Priester, Biicher, Bibeln und die Evangelien vor allem an die norwegischen und fran­zosischen D eportierten.

Diese verschiedenen Sendungen waren neben ihrem materiellen Nutzen von unschàtzbarem m oralischem W ert. Das bezeugen zahl- reiche D ankschreiben von H àftlingen an das In ternationale Komi- tee. Diese Unglücklichen w aren vôllig schutzlos und hatten oft keinerlei M ôglichkeit, auch nur das kleinste W ort mit ihren Angehô- rigen auszutauschen. N un sahen sie in diesen Paketen - selbst wenn sie hin und wieder teilweise von ihren Bewachern entw endet wur- den - «wahrhaftig eine Botschaft der Vorsehung», wie ein Háftling schrieb. «Jem and denkt an uns, und das ist das R ote Kreuz», sagte ein anderer.

Die Ausdehnung dieser H ilfsaktion au f alle K onzentrations- lager hing jedoch leider nicht allein vom Internationalen Kom itee ab. Zahlreiche Lager und A rbeitskom m andos blieben ihm bis zum Kriegsende unbekannt. Überdies fehlten ihm au f G rund der Blockadeauflagen lange Zeit die notwendigen Geldm ittel und Waren. Das ailes erhielt es in ausreichendem M asse erst in den allerletzten K riegsm onaten. H inzu kam noch, dass die Zerstô- rung der Verkehrswege in D eutschland durch verstàrkte Luft- angriffe ab Ende des Jahres 1944 die H ilfsaktion betràchtlich be- hinderte.

Im Februar 1945 hatte sich die Lage derart zugespitzt, dass das Internationale K om itee befürchtete, seine gesamte Tàtigkeit zugun- sten der zivilen Hàftlinge in den K onzentrationslagern einstellen zu mtissen. Das deutsche Eisenbahnnetz w ar zum grossen Teil zerstôrt, und die dem Internationalen Kom itee vom Am erikanischen, Briti- schen und K anadischen R oten K reuz zur Verfiigung gestellten

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LKW s konnten nur bei der H ilfsaktion fur die Kriegsgefangenen eingesetzt werden.

Vierte Phase1

In dieser für die deutsche Regierung beângstigenden Lage teilte am 1. F ebruar 1945 der Reichsaussenm inister dem Internationalen Kom itee in B eantw ortung seines Schreibens vom 2. O ktober 1944 mit, dass Paketsendungen - nam entlich oder kollektiv - an KL- Hàftlinge ans franzosischen oder belgischen Gebieten erlaubt seien. D arüber hinaus gab der M inister die Zusicherung, dass die Haftlinge unter Verwendung vom Internationalen K om itee vom R oten K reuz ausgestellter Spezialform ulare mit ihren Fam ilien korrespondieren diirften.

Das IK R K vervielfachte nunm ehr seine A nstrengungen und M assnahm en. In dem Versuch, die Transportschw ierigkeiten au f dem Schienenweg zu umgehen, im provisierte es eine weitlàufige O rganisation von S trassentransporten mit dem Ziel, die K riegs­gefangenen- und die K onzentrationslager schnellstens m it Lebens- m itteln zu versorgen. Es richtete einen dringenden A ufru f an die alliierten Regierungen, einige hundert Lastwagen und Treibstoff zur Verfiigung zu stellen. Die franzosische Regierung folgte diesem Appell und iiberliess dem Internationalen Kom itee hundert L ast­wagen, für die der «W ar Refugee Board» den nôtigen Treibstoff beschaffte. Die deutsche Regierung stellte kanadische Kriegsgefan- gene als K raftfahrer.

Um die günstigere Stim m ung der deutschen Behôrden und die sich je tz t au f G rund einer ganz neuen m ilitârischen Lage bietende Gele- genheit auszunutzen, begab sich der P ràsident des Internationalen Kom itees vom R oten Kreuz, D r. Carl J. B urckhardt, nach D eutsch­land und intervenierte erneut für die Sache der H aftlinge in den K onzentrationslagern. Im M àrz 1945 erhielt er von SS-General K altenbrunner folgende wichtige allgemeine Zusagen:

N eben den Richtlinien über die V ersorgung der Kriegsgefangenen w urden Beschlüsse von lebenswichtiger Bedeutung für die Haftlinge in den K onzentrationslagern gefasst: Das In ternationale Kom itee erhielt die Erlaubnis, selbst Lebensm ittelpakete an die Haftlinge zu

1 S iehe Seite 78.

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verteilen. Jedem Lager sollte ein Delegierter des Kom itees zugeteilt werden mit der Verpflichtung, do rt bis Kriegsende zu bleiben; weiter sah m an einen grosszügigen A ustausch von franzosischen und belgi- schen Hàftlingen gegen internierte deutsche Zivilpersonen in F rank- reich und Belgien vor. Inzwischen hatte das K om itee die Erlaubnis, die Kinder, Frauen und Greise aus den K onzentrationslagern sowie die jiidischen D eportierten - besonders die aus Theresienstadt - zu repatriieren.

Zum ersten M ale standen also den Delegierten des Internationalen Komitees die Pforten der Konzentrationslager offen.

Unverziiglich setzten sich die weissgestrichenen Lastwagenkolon- nen des In ternationalen Kom itees in Bewegung. Alle, die ihre An- kunft beobachteten, nannten sie wahrhaftige «Rettungsengel». Sie rollten Tag und N acht au f aufgerissenen Strassen; sie durchquerten trotz aller H indernisse Gebiete, in denen K am pfhandlungen im Gange waren. Sie brachten Lebensmittel in die K onzentrationslager und verteilten sie sogar au f der Strasse an Scharen von entflohenen oder evakuierten Gefangenen und H àftlingen, die sich alle in einem Zustand unbeschreiblichen kôrperlichen Fiends befanden.

Die so entladenen Lastwagen wurden sogleich für einen anderen Zweck eingesetzt: A u f der R ückfahrt zur schweizerischen G renze1 nahm m an aus diesen Lagern M anner und Frauen mit, die au f diese Weise vor einem fast sicheren Tod gerettet wurden.

Was die A bgesandten des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz in den letzten W ochen der K am pfhandlungen mit den vom franzosischen M inisterium für Gefangene, D eportierte und Flücht- linge sowie von den alliierten R otkreuz-G esellschaften zur Verfii- gung gestellten Lastwagen vollbringen konnten, grenzt an W under.

M anche K onzentrationslager konnten sogar in grossem Ausmass versorgt werden. Tausende von H àftlingen w urden repatriiert. Über- dies hatten die Delegierten des In ternationalen Kom itees au f G rund der A bm achungen seines Pràsidenten mit G eneral K altenbrunner die M ôglichkeit, eine entscheidende Rolle in den Lagern zu spielen und extreme M assnahm en, die vor der Befreiung der Lager durch die alliierten S treitkràfte zu befürchten waren, zu verhindern.

1 M it H ilfe o d e r d ire k t d u rc h d a s S chw edische R o te K reu z fan d en au ch R ep a triie - rungen via L iibeck u n d S chw eden s ta tt.

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Jedoch gestalteten sich die V erhandlungen m it den Lagerkom - m andanten tro tz der oben erw àhnten A bm achungen als schwierig. Die K om m andanten gaben vor, keine Anweisungen erhalten zu haben, und widersetzten sich dem Z u tritt der Delegierten des Komi- tees in die Lager. Sie erhielten nur mit M iihe und N ot die Erlaubnis, die Lebensmittel selbst an die Háftlinge zu verteilen1.

Bis zum letzten Augenblick bem ühten sich die K om m andanten, das tragische Geheimnis dieser Lager zu w ahren. W enn es den Delegierten des In ternationalen Kom itees in einzelnen Fallen - vor allem in Tiirkheim , Ravensbrück, D achau, Theresienstadt, M au t­hausen - auch gelang, eine iiberstiirzte Evakuierung der Lager zu vereiteln und ihre Ü bergabe an die alliierten Truppen zu erleichtern, indem sie wie in D achau und M authausen selbst die weisse Fahne hissten, so w ar das doch nicht überall móglich.

So w urde in O ranienburg die Evakuierung des Lagers befohlen: 30 000 bis 40 000 M enschen - M anner, F rauen und K inder - zogen in langen K olonnen iiber die Strassen. Sie waren von Hàftlingen in W ehrm achtsuniform - Berufsverbrecher - eskortiert, die von der SS als H ilfspersonal zur Bewachung eingesetzt wurden. Die Aufgabe der Delegierten des Kom itees bestand also in der V ersorgung dieser M arschkolonnen, die keinerlei N ahrungsm ittel erhielten.

So pendelten die Lastwagen des In ternationalen Kom itees Tag und N acht stándig zwischen den V ersorgungslagern und den K olon­nen Evakuierter hin und her. Oft genug w ar der Weg dieser K olon­nen durch Leichen gekennzeichnet, die als Nachziigler am Strassen- rand erschossen worden waren. Tausenden von D eportierten rette- ten die Pakete des R oten Kreuzes au f diese Weise das Leben. A uf die entleerten LKW s w urden zahlreiche Nachziigler geladen und in Lazarette und A uffangzentren gebracht. D ariiber hinaus versuchten die Delegierten des Kom itees durch mutige, m anchm al erfolgreiche Interventionen bei den verantw ortlichen SS-Fiihrern, M assen- erschiessungen zu verhindern.

In Berlin selbst blieb die Delegation des In ternationalen Kom itees tro tz schwerster K âm pfe w àhrend der Besetzung der H aup tstad t auf ihrem Posten. Sie verdoppelte in dieser letzten K riegsphase ihre Bem ühungen bei den Behôrden zugunsten der H áftlinge in den

1 Siche im d r itte n A b sc h n itt d ie B erich tc d e r D eleg ierten sow ie a u f Seite 2 die K a r te d e r b e k a n n te s te n K o n z e n tra tio n s la g e r .

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Gefángnissen und Lagern im Berliner Gebiet. Sie stcllte sie unter ihren Schütz und sorgte für ihre E rnáhrung. D ank ihres Eingreifens wurde die M ehrzahl der H aftlinge befreit.

Die Aufgabe des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz ist es, au f die Anw endung der hum anitáren A bkom m en zu achten. Es widmete sich dieser in A nbetracht seiner K ráfte und M ittel so schwe- ren Pflicht mit N achdruck. M an weiss, wie wichtig die au f diesem Gebiet erzielten Erfolge waren.

So konnten in weitgehendem M asse die Kriegsgefangenen dank einer C harta - der K onvention von 1929 - einen Status geniessen, dessen A nw endung regelmassig von Vertretern der Schutzm àchte oder des In ternationalen Kom itees kontrolliert wurde. Diese K o n ­vention ermoglichte der Zentralstelle für Kriegsgefangene, die 25 M illionen K arteikarten erstellt hatte, etwa hundcrt M illionen Nachrichten über Gefangene und ihre Familien entgegenzunehm en und weiterzuleiten. D ank dieser K onvention konnte ausserdem eine grossangelegte H ilfsaktion, zu der auch die Verteilung von H undert- tausenden Tonnen von Lebensm itteln an die Kriegsgefangenen ge- hôrte, ihnen helfen, die G efangenschaft besser zu ertragen und in einer einigermassen zufriedenstellenden kórperlichen Verfassung heimzukehren.

G anz anders stand es um das Schicksal der Zivilpersonen. Sie genossen, wie m an sieht, keinerlei vertragsgem ass festgelegten Schütz. M angels eines Status, der demjenigen der Kriegsgefangenen áhnelte, sahen sich Zivilpersonen, die nicht zu der eigentlichen Kate- gorie der Zivilinternierten gehôrten und aus Sicherheitsgründen in- haftiert w urden, au f Gedeih und Verderb der W illkür der Gewahr- sam sm acht ausgeliefert.

Das In ternationale Kom itee bem ühte sich nichtsdestoweniger, um sie aus ihrer Isolierung zu befreien. M it den ihm leider nur be- schrankt zur Verfügung stehenden M itteln im provisierte es zu ihren G unsten eine Hilfsaktion. M it Sicherheit w urden zahlreiche Perso­nen nicht erreicht, weil sie dem Internationalen Kom itee nicht be-

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kann t w aren oder weil es an technischen M itteln fehlte, um ihnen zu helfen.

Trotzdem wurden vom 12. N ovem ber 1943 bis zum 8. M ai 1945 ungefahr 751 000 Pakete - das sind 2600 Tonnen Hilfsgiiter - vom Internationalen K om itee an die D eportierten in den K onzentra- tionslagern versandt.

Die in G enf eingegangenen und noch im mer eintreffenden D an- kesbezeugungen sind sehr zahlreich und iiberaus ergreifend.

Die Aufgabe des In ternationalen Kom itees ist aber noch nicht abgeschlossen. Zwei W eltkriege haben au f die Notw endigkeit und D ringlichkeit verwiesen, bereits in Friedenszeiten im Internationalen Recht den Status der Zivilpersonen befeindeter Staaten zu ver- ankern, ganz gleich, ob sie sich bei Erôffnung der Feindseligkeiten a u f dem T erritorium der kriegführenden S taaten befinden oder in besetzten Gebieten wohnen.

D eshalb halt es das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz fiir unum ganglich, dass die M àchte sich in naher Z ukunft dam it befas- sen, eine diesbezügliche K onvention abzuschliessen. D as Kom itee ist heute, wie auch in der V ergangenheit, im R ahm en seiner M oglich- keiten und an dem ihm bestim m ten Platz bereit, an dieser vordring- lichen Aufgabe m itzuarbeiten1, dam it sich die schmerzlichen Erfahrungen des gerade zu Ende gegangenen Krieges nicht wieder- holen kônnen.

1 In d iesem S inne h a t es sc h o n d a m it b e g o n n en , d ie D o k u m e n ta tio n zu sam m eln , um d en T o k io -E n tw u rf w eiter zu en tw ick e ln u n d zu ü b e rp rü fen .

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Z W E IT E R T EIL

D O K U M E N T A T IO N

N achstehcnd werden in chronologischer Reihenfolge - in vollem W ortlaut oder in Zusam m enfassung - die wichtigsten U nterlagen aus den Archiven des In ternationalen Kom itees vom R oten K reuz aufgefiihrt. Diese verweisen au f die von ihm w àhrend des Zweiten Weltkriegs ausgeübte Tàtigkeit zugunsten der Zivilpersonen in Fein- deshand und besonders derer, die in deutschen K onzentrations- lagern inhaftiert w aren1.

Es ist ratsam , sich beim Lesen dieser D okum ente daran zu erin- nern, dass das In ternationale K om itee im Intéressé seiner Tàtigkeit, die es für die K riegsopfer entfaltet, m it allen Regierungen und R otkreuz-Gesellschaften vertrauensvolle und stàndige Beziehungen zu unterhalten hat. Es hat sich daher mit allen seinen G espràchspart- nern - in A nlehnung an diplom atische Gepflogenheiten - die hôfli- che U m gangsform angeeignet, die ihm durch sein m oralisches An- sehen und seine Verpflichtungen auferlegt ist.

Andererseits muss m an sich vergegenwàrtigen, dass in einer Reihe von Fallen zugunsten der H àftlinge in m iindlicher Form , oft auch persónlich, interveniert wurde. Erklàrlicherweise ist es nicht móg- lich, hier dariiber Rechenschaft abzulegen.

E R S T E P H A S E

Von Beginn des Krieges an unterbreitete das In ternationale K o ­mitee den kriegfiihrenden Regierungen Vorschlàge mit dem Ziel, das

1 Lediglich d ie S tellen w u rd en au sgelassen , d ie sich n ich t d ire k t m it dem T h em a befassen o d e r d ie fü r u n w ich tig g eh a lten w u rd en . D ie A u sla ssu n g en sind jew eils d u rch In te rru p tio n sze ich e n gek en n ze ich n e t.

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Fehlen eines vertragsm àssigen Schulzes fiir die Zivilpersonen in Feindeshand auszugleichen.

D er Zweck dieser Vorschláge w ar es, zu A nfang des Krieges von den kriegfiihrenden M áchten die A nnahm e des Tokio-Entw urfs zu erreichen bzw. die Bestimmungen der Genfer K onvention von 1929 für die Kriegsgefangenen sinngemass auch a u f die internierten Zivil­personen anzuwenden.

Die Schritte des Kom itees sollten in dieser ersten Kriegsphase bezwecken, dass die Bestimmungen der K onvention von 1929, so­wed sie au f Zivilpersonen zutrafen, ganz allgemein au f Zivilpersonen im Feindgebiet angewendet wurden. Zu diesem Z eitpunkt handelte es sich nur um diese Kategorie.

Rundschreiben des IKRK1 an die kriegfiihrenden Machte

Genf, den 4. Septem ber 1939N un, da ein schwerer bewaffneter K onflikt ausbricht, gibt sich das In ter­

nationale Kom itee vom Roten Kreuz, das seit dem Jahre 1863 seinen stàndigen Sitz in G en f hat und sich ausschliesslich aus Schweizer Bürgern zusam m ensetzt, die Ehre, Eurer Exzellenz mitzuteilen, dass es sich der Regierung ... zur Verfiigung stellt, um a u f hum anitarem G ebiet - getreu seiner traditionellen Rolle und unter vollem Einsatz seiner K râfte - dazu beizutragen, die durch den Krieg entstehenden Leiden zu m ildern ...

Die Zivilpersonen befeindeter Staaten, die sich au f dem Territorium jedes kriegfiihrenden S taates oder au f besetztem G ebiet - gleich aus welchem G rund - unter der Souverânitat dieser S taaten befinden, sind zu Kriegs- zeiten durch keinerlei in ternationale K onvention geschützt. Ihre S ituation w urde w âhrend des Krieges von 1914 bis 1918 nur durch bilatérale A bkom - men gegen Ende des Krieges geregelt, die heute hinfallig sind. Zu dieser S tunde wird ihr Los nur von dem K onventionsentw urf bestim m t, den die im Jahre 1934 in Tokio zusam m engetretene XV. In ternationale R otkreuz- konferenz, a u f der Ihre Regierung vertreten war, billigte.

D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz schlàgt der R eg ierung ... daher vor, einen au f diese Zivilpersonen anw endbaren S tatus zu schaflen, der sich an das V orbild der obenerw àhnten bilateralen Ü bereinkom m en halt. Eine weitere Lôsung bestiinde in einer vorzeitigen und wenigstens provisorischen A nnahm e ausschliesslich fiir den gegenwàrtigen K onflikt und nur fiir seine D auer. Ein Exem plar dieses Entw urfs wollen Eure Exzel­lenz bitte anbei linden.

1 In d en fo lg en d en D o k u m e n te n w ird d a s In te rn a tio n a le K o m itee vom R o ten K re u z d u rc h d ie A b k ü rz u n g IK R K b ezeichne t, a u sse r bci T cx ten , die in vollem W o rtla u t w iedergegeben sind .

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Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz erlaubt sich, der festen HofTnung A usdruck zu geben, dass Eure Exzellenz es so bald wie moglich iiber die Bestim mungen inform ieren wird, die die R eg ierung ... im Sinne der Ihnen von ihm unterbreiteten Erwágungen und Vorschlage trefTen zu kon- nen glaubt.

Erklarende Note des ÍKRK an seine Delegierlen iiber die Behandlung der internierten Zivilpersonen

G enf, den 12. Septem ber 1939 Die kriegführenden M áchte wenden - teils au f G rund form eller E rklarun-

gen, teils in der Praxis - die Bedingungen der K onvention von 1929 über die Behandlung Kriegsgefangener sinngem áss au f die in ternierten Zivilpersonen (für die noch keine K onvention besteht) m it A usnahm e der Bestimmungen (Sold usw.) an, die nur au f M ilitarpersonen zutrefifen.

Der Delegierte muss also für die Besuche in ternierter Zivilpersonen u.a. die gleichen Regeln erhalten wie für die Kriegsgefangenenlager.

F ür folgende Punkte w aren E rklarungen notig:

a) von welchen Stellen A uskünfte über Z ivilpersonen befeindeter N a- tionen gegeben werden;

b) welche K ategorien von Zivilpersonen befeindeter S taaten interniert wurden, welche unter Aufsicht in Freiheit gelassen und welche überhaupt nicht belástigt w orden sind;

c) welche M assnahm en hinsichtlich Zivilpersonen befeindeter Staaten der verschiedenen obigen K ategorien getrofifen wurden, die in Gebieten wohnen, die vom M utterland entfernt sind (P ro tek tora te , K olonien usw.);

d) welchem Regime die internierten Zivilpersonen unterw orfen sind (U m stânde der Internierung, M ôglichkeiten zum Versand und Em pfang von Paketen, H ilfsm itteln, Pàckchen und Geld), Beschaftigungen, denen sie nachgehen kônnen;

<?) welche M assnahm en im H inblick au f Flüchtlinge und Staatenlose aus einem befeindeten Lande getrofifen werden;

f ) die M ôglichkeit, Listen zu erhalten, aus denen die Internierungsorte und die Bezeichnung der Elaftbezirke hervorgehen;

g) die M ôglichkeit, Listen über die internierten Zivilpersonen zu be- schaffen. Um die Identifizierung der Betrofienen zu erleichtern, ware es ausserst w ünschensw ert, dass die Listen wenigstens folgende Angaben enthaltcn: N am e, Vornam e, G eburtstag und -ort, B eruf und letzte An- schrift. K onnten diese Listen noch nicht erstellt werden, so bestünde die M ôglichkeit, dass der Delegierte eine Verteilung von K orrespondenz- form ularen vorschlâgt, deren A usw ertung im H aup tbü ro in einem gewis- sen M asse einen F ortsch ritt erbringen würde;

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h) es ware sehr wünschenswert, wenn sich der Delegierte bei den zu- stàndigen Behôrden nach den M assnahm en erkundigen wiirde, die fur den A ustausch von Briefen m it N achrichten ausschliesslich familiàren C harak ters zwischen M itgliedern einer Familie, die in verschiedenen kriegführenden L àndern w ohnen oder festgehalten werden, vorgesehen sind. K ann der Briefwechsel d irekt erfolgen? 1st das nicht der Fall, ware es dann môglich, die K orrespondenz durch V erm ittlung des H auptbüros des In ternationalen Kom itees vom R oten K reuz vorzunehm en, das die Sichtung, die Zensur und die Befôrderung zum Em pfanger erledigen wiirde; sollte diese A lternative ebenfalls ausgeschlossen werden miissen, so konnte m an die Verteilung von K orrespondenzform ularen an die Interessierten ins Auge fassen, die wiederum vom H auptb iiro gesichtet, zensiert und ihrer Bestim m ung zugeleitet würden; die letzte M ôglichkeit ware, sie noch einmal abzuschreiben und in die Sprache des Bestimmungs- landes zu übersetzen;

i) der Delegierte sollte so genaue A ngaben wie môglich iiber die O rte zu erhalten versuchen, die evakuiert w arden, und zw ar m it A ngabe der K ategorien der Zivilpersonen (Angehôrige des betreffenden Landes, Neu- trale oder Befeindete), die von diesen Evakuierungen betroffen wurden. Es ware auch nützlich zu erfahren, nach welchen O rten oder Bezirken diese Evakuierungen vorgcnom m en wurden. W are es ratsam , die Vertei­lung von K orrespondenzform ularen an die evakuierten Personen ins A uge zu fassen, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Fam ilien im A usland so schnell wie môglich zu beruhigen?

j) un ter welchen V oraussetzungen kônnten die nicht w ehrfahigen Zivil­personen befeindeter S taaten au fih ren W unsch in ihr H eim atland zuriick- gefiihrt werden?

Mündliche Antwort des Reichsaussenministeriums auf die technischen Anmerkungen, die dem von der Delegation des Internationalen Komitees

vom Roten Kreuz in Berlin iibergebenen Brief des IKRK vom 4. September 1939 beigefiigt waren

Berlin, den 28. Septem ber 1939 Die Zivilpersonen befeindeter N ationen, die sich au f deutschem Boden

befinden, sind der V erordnung vom 5. Septem ber 1939 iiber die Behandlung von A uslândern unterw orfen.

Die deutsche Regierung ware bereit, den Abschluss einer K onvention zum Schütz der Z ivilpersonen au f der G rundlage des «Tokio-Entw urfs» zu er- o rte rn 1.

1 M it S ch re iben vom 30. N o v e m b e r 1939 b es ta tig te d a s R e ic h sau ssen m in iste riu m , dass « m an v o n d e u tsc h e r Seite d er A n s ic h t sei, d e r « T o k io -E n tw u rf» k o n n te als G ru n d la g e fiir den A bsch lu ss eines in te rn a tio n a le n V ertrag es iiber d ie B e h an d lu n g u n d d en S ch ü tz d er Z iv ilp erso n e n in fe ind lichem o d e r b ese tz tem G eb ie t d ienen» .

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Schon jetzt unterliegen die Zivilgefangenen den gleichen A nordnungen wie die Kriegsgefangenen.

Im gleichen M ass wie fur Kriegsgefangene sind erlaubt: Besuch der Lager internierter Zivilpersonen. Briefwechsel und Z usendung von Hilfsgiitern. Dem Besuch Delegierter muss eine schriftliche G enehm igung des Ober- kom m andos der W ehrm acht vorangehen.

Zur Zeit befinden sich die internierten Zivilpersonen in U nterkünften , die der W ehrm acht unterstellt sind. Eine A nderung in dieser H insicht ist nicht vorgesehen.

Die Listen in ternierter Zivilpersonen werden bei derselben Stelle wie für Kriegsgefangene hinterlegt.

Für A uskiinfte über nicht internierte Zivilpersonen befeindeter S taaten ist das deutsche Innenm inisterium zustiindig.

A uskünfte über internierte Zivilpersonen befeindeter S taaten gibt das Zentrale A uskunftsbüro.

Zivilpersonen befeindeter S taaten sind nicht nach K ategorien interniert worden. Es handelt sich einzig und allein um Sicherheitsm assnahm en, die für jeden Fall besonders getroffen werden. Ü berdies handelt es sich aus- schliesslich um M anner. Die Postanschriften der Internierungslager kônnen mitgeteilt werden.

Die dem Internationalen Kom itee vom Roten Kreuz überreichten Listen über internierte Z ivilpersonen werden die erbetenen A ngaben enthalten (Name, Vornam e, G eburtstag und -ort, Beruf, letzte Anschrift).

Für die K orrespondenz der internierten Zivilpersonen befeindeter Staaten gelten die gleichen Bestim mungen wie für Kriegsgefangene. F orm ulare - ausser K arten - sind nicht vorgesehen.

Die Z ivilpersonen befeindeter S taaten kônnen au f W unsch in ihr Land zurückkehren, sofern ihr U rsprungsland dem Prinzip der Gegenseitigkeit zustimmt. D as trifift unter den gleichen V oraussetzungen auch für die wehr- fiihigen Zivilpersonen zu.

A uf deutscher Seite besteht der W unsch, dass die in den K olonien in ter­nierten deutschen Zivilpersonen au f Verlangen in ihr Land zurückkehren kônnen. Es gabe keinen H inderungsgrund dafür, dass sich die kriegführen- den Miichte gegenseitig verpflichten, die wehrfahigen Zivilpersonen, die in ihr U rsprungsland zurückgeschickt w ürden, nicht m ilitàrisch einzusetzen.

Mémorandum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an die Regierungen der kriegfiihrenden Staaten iiber die Moglichkeit von Vertrdgen, die das Los der Kriegsopfer wdhrend der gegenwartigen

Feindseligkeiten in gewissem Umfang verbessern.Genf, den 21. O ktober 1939

In seinen Briefen vom 4. Septem ber an die Regierungen der kriegführen- den Staaten sowie den ihnen durch seine Delegierten überreichten Denk- schriften und technischen N oten hat das In ternationale K om itee vom Roten Kreuz den kriegführenden S taaten vorgeschlagen, gewisse G rundsâtze auf-

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zustellen, die geeignet waren, die Lage der K riegsopfer durch eigens zu diesem Zweck abgeschlossene V ertráge fur die D auer der Feindseligkeiten oder durch A bkom m en, die sich gegebenenfalls aus einseitigen tibereinstim- m enden oder ergânzenden E rklarungen ergeben, ganz allgemein zu verbes- sem . ...

D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz halt es für erforderlich, die Regierungen - in Bestàtigung und V ervollstàndigung der von seinen Dele- gierten bereits erteilten A uskünfte - iiber die Lage zu unterrichten, die sich aus den vorlâufigen A ntw orten der Regierungen, soweit sie ihre S tandpunk- te bereits festgelegt haben, ergibt.

Zivilpersonen befeindeter Nationen, die sich auf dem Hoheitsgebiet einer kriegführenden Machi befinden.

Es ware vor allem wichtig, ais A bkom m ensgrundlage den von der XV. In ternationalen R otkreuzkonferenz im Jahre 1934 in Tokio angenom m enen V ertragsentw urf, Titel I und II, anzunehm en (siehe beigefugtes D okum ent N r. 1: genannt T okio-Entw urf). D as w ürde also unter der V oraussetzung der G egenseitigkeit die M ôglichkeit einschliessen, bestim m te Kategorien von Zivilpersonen, die in ihr Land zurückkehren m ochten, zu repatriieren.

W enn m an schon je tzt den Titel II des genannten Tokio-Entw urfs oder eine entsprechende Lôsung annehm en kônnte - was die giinstigste Regelung der F rage der Zivilpersonen in Feindeslàndern ware - , so ware es ebenfalls w ünschenswert, die Lage der in Feindesland internierten Zivilpersonen durch ihre G leichstellung m it den K riegsgefangenen provisorisch zu losen. Es kônnte eine to tale Gleichstellung sein, soweit es sich nicht um die Bestim- m ungen der K onvention vom 27. Juli 1929 handelt, die ausschliesslich au f M ilitàrpersonen anw endbar sind (Sold usw.).

Eine Gleichstellung kônnte vor allem in den drei folgenden Fallen ein- treten:

a) Behandlung der internierten Zivilpersonen. - Diese Behandlung ware die gleiche, wie sie fiir die Kriegsgefangenen durch die K onvention vom 27. Juli 1929 vorgesehen ist.

Anmerkung: die deutschen Behôrden wenden zur Zeit die Bestim mun- gen der K onvention von 1929 a u f die Z ivilpersonen an.

b) Übergabe von Namenlisten sowie Auskiinften iiber die internierten Zivilpersonen gemass den Artikeln 77 und 79 der Konvention vom 27. Juli 1929.

Anmerkung: Bisher hat keine kriegführende Regierung eine diesbezüg- liche Verpflichtung übernom m en. A uf G rund von Sondergesuchen des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz w ar es jedoch móglich, von den englischen Behôrden in H ongkong, vom nationalen Verteidigungs- m inisterium K anadas und von der Regierung der Falklandinseln die N am en der internierten deutschen Zivilpersonen zu erhalten.

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c) Besuche der Lager internierter Zivilpersonen.Anmerkung: Aile konsultierten Regierungen scheinen bereit zu sein,

den Delegierten des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz den Besuch dieser Lager zu genehmigen.

Zivilpersonen befeindeter Nationalitat, die sich auf einem von einer krieg- fiihrenden Machi besetzten Gebiet befinden.Es ware sehr zu w ünschen, wenn der Titel III des sogenannten Tokio-

Entwurfs von den kriegfiihrenden M áchten als provisorische Regelung anerkannt wiirde; dieser Titel III wiirde einen unbestreitbaren F ortschritt gegenüber den Bestim mungen der Regelung von Den H aag vom Jahre 1907 bedeuten.

Antwort des Aussenministeriums in Paris auf die Vorschlage des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in bezug auf den Schütz der

Zivilpersonen in FeindeshandParis, den 23. N ovem ber 1939

Sie haben die A ufm erksam keit der franzôsischen Regierung a u f die Lage der internierten oder von der gegnerischen Partei festgehaltenen Zivilperso­nen befeindeter N ationen gelenkt. Sie haben hervorgehoben, dass das Schicksal dieser Z ivilpersonen in keiner in ternationalen V ereinbarung fest- gelegt ist, dass jedoch die XV., 1934 in Tokio zusam m engetretene In ter­nationale R otkreuzkonferenz einem K onventions-E ntw urf zugestim m t hat, der vom Internationalen K om itee vom Roten K reuz ausgearbeitet wurde und der die S ituation und den Schütz der Zivilpersonen befeindeter N atio ­nen au f dem H oheitsgebiet einer kriegfiihrenden M acht oder a u f einem von ihr besetzten G ebiet betrifft. Die XV. K onferenz hat diesen E n tw urf den Regierungen, die die G enfer K onvention unterzeichnet haben, zur Beach- tung em pfohlen. Sie ha t das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz dam it beauftragt, aile nôtigen Schritte zu unternehm en, um ihn bald- moglichst zu verwirklichen.

Sie fiigen hinzu, dass das K om itee sich bem iiht, von den kriegfiihrenden Staaten - un ter der Bedingung der G egenseitigkeit - ihre Zustim m ung zu den im «Tokio-Entw urf» aufgestellten G rundsâtzen zu erhalten. Ferner teilen Sie mit, nach den ersten Schritten habe es sich ergeben, dass die deutsche Regierung geneigt sei, diesen E n tw urf als G rundlage fiir ein Ab- kommen m it den befeindeten S taaten anzunehm en.

Bis die franzosische Regierung ihrerseits es fiir môglich erachtet, ihre Zustim m ung zu diesem Text zu geben, schlagen Sie jedoch vor, dass die Genfer K onvention von 1929 fiber die Behandlung Kriegsgefangener - sinngemass und unter V orbehalt der G egenseitigkeit - au f die internierten Zivilpersonen ausgedehnt wird.

Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass die franzosische Regierung um so m ehr geneigt ist, sich m it den vom In ternationalen Kom itee vom Roten

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K reuz dargelegten A nsichten iiber die N otw endigkeit, die Lage der inter- nierten Zivilpersonen durch einen in ternational anerkannten S tatus zu re- geln, einverstanden zu erklâren, als sie ihrerseits von Beginn der Feindselig- keiten an von sich aus alle notw endigen V orkehrungen getroflen hat, dam it die au f ihrem Boden festgehaltenen Personen aus Feindstaaten gemáss den G rundsátzen der M enschlichkeit behandelt werden.

Die franzósische Regierung erkennt den Vorteil voll an, den die im sogenannten T ok io -E n tw urf unter der Schirm herrschaft des Internationalen Kom itees vom R oten K reuz aufgestellten G rundsàtze fur die Festsetzung des S tatus der Z ivilpersonen im Feindgebiet darstellen. Sie halt allerdings noch eine gründliche Ü berprüfung des in Frage kom m enden Textes für notw endig sowie Besprechungen vor Zustandekom m en eines in te rnationa­len Vertrages, die - vor allem unter den derzeitigen U m stânden - die G efahr in sich bergen, ziemlich viel Zeit zu beanspruchen und so die Lôsung des die internierten Zivilpersonen betreffenden Problem s zu verzôgern.

D eshalb halt es die franzósische Regierung für vorteilhafter, den von Ihnen unterbreiteten zweiten Vorschlag anzunehm en. Dabei stim m t sie jedoch grundsàtzlich einer weiteren Prüfung des T okio-Entw urfs zu. Sie ist deshalb ihrerseits und unter dem V orbehalt der Gegenseitigkeit von seiten der deutschen Regierung bereit, a u f die au f ihrem G ebiet in ternierten Zivil­personen befeindeter N ationen die G rundsàtze der G enfer K onvention vom 27. Juli 1929 über die Behandlung Kriegsgefangener anzuw enden, natürlich soweit diese Prinzipien au f Z ivilpersonen zutreffen.

Die franzósische Regierung legt jedoch W ert darauf, klarzulegen, dass es ihr unmôglich sein wird, sich streng an die Bestim mungen der K onvention von 1929 über den A ustausch von N am enlisten sowie N achrichten über internierte Zivilpersonen zu hallen. Die Vielfalt der K ategorien von Zivil- internierten befeindeter N ationen au f franzosischem G ebiet w ürde im Fall einer M itteilungspfiicht in der T at unübervvindbare Schwierigkeiten m it sich bringen. A ndererseits ist die franzósische Regierung im H inblick au f die ganz besondere Lage einer bedeutenden A nzahl In ternierter gegeniiber D eutschland der Ansicht, dass für die Internierten selbst sowie für ihre in D eutschland verbliebenen Fam ilien unter U m stânden durch die Verbrei- tung von N achrichten über sie ernste U nannehm lichkeiten entstehen kônn- ten. Sie beabsichtigt daher, nur die N am en derjenigen In ternierten in die Listen einzutragen, die dem ausdrücklich zustimm en.

Note des deutschen Konsulats in Genf iiber die Repatriierung von Staatsangehôrigen befeindeter Nationen vom 27. November 1939

(Zusam m enfassung)

D as deutsche K onsulat bezieht sich au f die U nterredung vom 16. N ovem ­ber m it dem Prâsidenten des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz, in deren V erlauf das grosse Interesse der Reichsregierung an der baldigen R epatriierung der in Feindesland internierten Staatsangehôrigen des Reichs zum A usdruck gebracht wurde. M it G enugtuung nahm es zur K enntnis,

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dass das Internationale K om itee den S tandpunk t der Reichsregierung über diese F rage teilt und bereits Schritte m it dem Ziel ihrer schnellen Lôsung unternom m en hat.

Die deutsche Regierung stim m t m it der A nsicht der Regierung der Ver- einigten S taaten iiberein, dass nam lich die M asseninternienm g von Staats- angehôrigen aus Feindlandern im R ahm en des M ôglichen vermieden wer- den sollte. Die deutschen Behorden haben zu Beginn des Krieges auch nur eine begrenzte Anzahl befeindeter S taatsangehôriger interniert. A nderer- seits ist hervorzuheben, dass die befeindeten S taaten bereits in starkem Masse den W eg der M asseninternierungen beschritten haben. Diese M ass- nahme lasst iiberdies imrner hiiufiger N achrichten iiber die unnôtig strenge Behandlung der deutschen S taatsangehôrigen entstehen.

Schreiben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an das Aussenministerium in London

Genf, den 7. Dezem ber 1939Das In ternationale K om itee vom Roten K reuz hat sich gleich zu Beginn

der Feindseligkeiten erlaubt, die A ufm erksam keit der Regierungen der kriegführenden M achte au f die N otw endigkeit zu lenken, die Lage derjeni- gen Zivilpersonen befeindeter N ationen zu regeln, die sich a u f dem Territo- rium einer kriegführenden M acht oder einem von ihr besetzten Gebiet befinden. Es hat den kriegführenden M achten vorgeschlagen, durch Ad- /zoc-Vertrage provisorisch den E n tw urf in K raft zu setzen, den die im Jahre 1934 in T okio zusam m engetretene XV. In ternationale Rotkreuzkonferenz in diesem Z usam m enhang angenom m en hatte, oder doch wenigstens be- stimmte Titel des besagten Entwurfs.

In einem vom 21. O ktober datierten M em orandum sind wir au f diesen Punkt in V erbindung mit anderen Fragen zurückgekom m en, die dazu bei- tragen kônnten, durch eigens zu diesem Zweck abgeschlossene Vertràge zwischcn den kriegführenden M achten eine vorlâufige Lôsung zu finden.

Das Internationale K om itee vom Roten K reuz hat in seinem vorerwahn- ten M em orandum vorgeschlagen. dass bis zu dem Z eitpunkt, an dem der Entw urf von T okio ganz oder teilweise in K raft treten kann, die K onvention vom 27. Juli 1929 über die Behandlung Kriegsgefangener au f die im Gebiet einer kriegführenden M acht internierten Zivilpersonen befeindeter N atio ­nen angewendet wird. Im besagten M em orandum haben wir erw âhnt, dass die deutsche Regierung den internierten Zivilpersonen bereits die Vorteile der K onvention von 1929 zugestanden hatte, soweit deren Bestimmungen auf Zivilpersonen anw endbar sind.

Die franzôsische Regierung hat sich m it Schreiben vom 23. N ovem ber bereit erklârt, ihrerseits und unter V orbehalt der Gegenseitigkeit von seiten der deutschen Regierung a u f die a u f franzôsischem T erritori um internierten Zivilpersonen befeindeter N ationen die G rundsátze der K onvention vom 27. Juli 1929 über die Behandlung Kriegsgefangener anzuwenden, soweit sie auf Zivilpersonen zutreffen. D aneben wird sie den T okio-E ntw urf weiter

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priifen. Zudem hat die franzôsische Regierung einen V orbehalt in bezug au f die M itteilung von N am en Internierter ausgesprochen. Aus verschiedenen G ründen wird die franzôsische Regierung in die durch A rtikel 77 und 79 der K onvention von 1929 vorgesehenen Listen nu r die N am en der Internierten einsetzen, die der E intragung in die m itzuteilenden Listen ausdriicklich zustim m en.

Es schien uns ratsam , die Regierung Seiner M ajestat iiber diese Tatsachen zu unterrichten, die geeignet sind, das Los der Z ivilinternierten befeindeter S taaten in erheblichem M asse zu verbessern, und die das In ternationale K o mi tee vom Roten K reuz verpflichten, Eure Exzellenz zu fragen, ob die Regierung Seiner M ajestat ebenfalls geneigt ware, die Richtlinien der K on­vention von 1929 a u f die in ternierten deutschen Zivilpersonen a u f briti- schem Boden anzuwenden.

Die beiden Regierungen, die sich bereits für die A nw endung der G rund- sàtze der K onvention iiber die Behandlung Kriegsgefangener au f die in ter­nierten Zivilpersonen ausgesprochen haben, m achten sehr verstandlicher- weise den V orbehalt, die A nw endung kônne nu r in bezug a u f die Bestim- m ungen gel ten, die au f Zivilpersonen zutreffen. D as In ternationale Kom itee vom R oten K reuz hat sich erlaubt, diesen Regierungen mitzuteilen, dass es ihnen in K ürze eine N ote m it Bemerkungen iiber die A nw endung der K onvention a u f die Zivilpersonen in ihrer G esam theit und iiber bestim m te Punkte, die anscheinend einer besonderen Priifung bediirfen, unterbreiten wird. W ir werden uns erlauben, Ihnen zu gegebener Zeit gleichfalls dieses D okum ent vorzulegen.

Das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz hofft, dass die britische Regierung unseren Vorschlag wohlwollend priifen wird, und w ürde sich dariiber freuen zu erfahren, was in diesem Sinne geschehen kônnte.

Antwort des Aussenministeriums in London auf die Vorschlàge des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

London, den 30. April 19401) V icom te H alifax ha t mich beauftragt, a u f die Briefe Bezug zu nehm en,

die vom Pràsidenten des In ternationalen K om itees vom R oten K reuz hin- sichtlich der M ôglichkeit, die Bestim m ungen der 1929 in G en f unterzeichne- ten K onvention iiber die Behandlung Kriegsgefangener au f die internierten Z ivilpersonen anzuw enden, an ihn gerichtet wurden.

2) Ich muss Ihnen m itteilen, dass die im Vereinigten Kônigreich internier­ten Z ivilpersonen befeindeter N ationen grundsâtzlich gernass der K onven­tion von 1929 für Kriegsgefangene behandelt werden. Einige U nterschiede in der Behandlungsweise sind in einzelnen Punkten jedoch - das In terna tio ­nale K om itee wird das gewiss verstehen - unvermeidlich. So werden die internierten Zivilpersonen nicht unbedingt ebenso wie die Kriegsgefangenen ernàh rt und gekleidet, sie erhalten keinen Sold und kônnen andererseits nicht zum A rbeiten gezwungen werden. Schon làngst sind Listen über im

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Vereinigten Kônigreich internierte deutsche Zivilpersonen an die Aus- kunftsstelle fur Kriegsgefangene geschickt w orden, und V ertretern der schweizerischen G esandtschaft und des In ternationalen Komi tees ist die Môglichkeit gegeben worden, die Internierungslager im Vereinigten K ônig­reich zu besuchen. Die internierten deutschen Zivilpersonen diirfen wo- chentlich zwei Briefe schreiben und geniessen die V ergünstigungen, die die Post Kriegsgefangenen gewáhrt.

3) Zweifellos ist die deutsche Regierung bereits von der Schweizer Regie- rung dariiber un terrichtet worden.

4) Die Regierung Seiner M ajestàt im Vereinigten Kônigreich prüft zur Zeit die M ôglichkeit, über diesen Punkt einen fórm lichen V ertrag m it der deutschen Regierung abzuschliessen, wobei der von H errn M ax H uber unterbreitete V orschlag nicht ausser acht gelassen wird.

Ausserdem erhielt das In ternationale Kom itee vom R oten Kreuz auf seine Vorschlage über die A nw endung der K onvention von 1929 auf die internierten Zivilpersonen von der italienischen, kanadi- schen, australischen und agyptischen Regierung sowie der von Nie- derlándisch-Indien zusagende A ntw orten.

Das K om itee em pfahl auch den Regierungen neutraler Staaten, die S taatsangehórige kriegführender S taaten interniert hatten, au f sie sinngemass die Richtlinien der K onvention von 1929 anzuwenden.

In diesem ersten K riegsabschnitt ist die überwiegende M ehrheit der Zivilpersonen in Feindeshand in Freiheit verblieben.

Es zeichnete sich jedoch bald die Tendenz ab, sie zu internieren.Die Reichsregierung teilt dem In ternationalen Kom itee vom R o­

ten K reuz am 21. O ktober 1939 mit, «dass die franzôsischen Zivil­personen in D eutschland bisher nicht interniert w orden sind, es aber wahrscheinlich werden, da F rankreich die deutschen Zivilpersonen interniert».

Die deutsche Regierung erklart sich bereit, «Listen von unter der Aufsicht der W ehrm acht internierten Zivilpersonen unter V orbehalt der Gegenseitigkeit zur Verfügung zu stellen sowie die Internierungs- statten bekanntzugeben».

Am 29. D ezem ber 1939 inform iert das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz das franzósische A ussenm inisterium darüber, «dass seine Delegierten in D eutschland die E rlaubnis erhalten ha- ben, die internierten franzôsischen, britischen und polnischen Zivil­personen zu besuchen». Es stellt fest, dass dies einen F ortschritt au f

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dem Wege zur Gleichstellung der internierten Zivilpersonen mit den Kriegsgefangenen bedeutet. Das Kom itee bittet die franzôsische Regierung, seine Delegierten zu erm áchtigen, die Lager von Zivil­personen in Frankreich aufzusuchen. Es teilt mit, dass die britische Regierung seinen Delegierten ebenfalls erlaubt hat, die Internie- rungslager fiir deutsche Zivilpersonen in G rossbritannien zu besu- chen. M it einem M em orandum vom 17. F ebruar 1940 erklart sich die deutsche Regierung bereit, a u f der G rundlage einer Gegenseitig- keitsgarantie folgende Verpflichtungen zu iibernehmen:

1) keine Repressalien fiir Vorkom m nisse, fiir die die in ternier­ten Zivilpersonen nicht personlich verantw ortlich sind;

2) keine M asseninternierungen;

3) Internierung von Briten nur nach sorgfaltiger Priifung;

4) jeder Brite kann au f W unsch die Erlaubnis zur Repatriie- rung erhalten, sofern er sich seinerseits verpflichtet, w âhrend des Krieges keinen W affendienst zu leisten. Die R epatriierung wird nur Zivilpersonen verweigert werden, gegen die gerichtliche Ver- fahren laufen;

5) die Lager von Zivilinternierten werden besucht werden kon- nen.

M it Schreiben vom 19. Jan u ar 1940 erkennt die Reichsregierung den V orbehalt der franzósischen Regierung, die N am en internierter Zivilpersonen nur m it ihrer Einwilligung m itzuteilen, unter der Be- dingung an, dass sie nicht «beeinflusst» werden. Sie zeigte sich geneigt, den internierten Zivilpersonen einen geringen Sold zu zahlen und ihnen au f der Basis der Gegenseitigkeit die Erlaubnis zu erteilen, gegen ein G ehalt zu arbeiten.

Diese verschiedenen Erklàrungen ermôglichen es dem Internatio- nalen Kom itee vom R oten K reuz in seinen «Anweisungen an seine Delegierten» vom 17. F ebruar 1941 hervorzuheben, «dass die krieg- fiihrenden M âchte, sei es durch fôrmliche Erklàrungen, sei es in der Praxis, die Bestimmungen der G enfer K onvention von 1929 sinn- gemàss au f die internierten Zivilpersonen anw enden - soweit sie au f Zivilpersonen anw endbar sind. Anlasslich von Besuchen bei in ter­nierten Zivilpersonen werden die Delegierten also die gleichen Re-

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geln beachtcn müssen wie bei Besuchen von Kriegsgefangenen- lagern».

Z W E IT E P H A S E

lm gleichen M asse wie sich der Krieg ausweitet, fallen neue Kate- gorien von Zivilpersonen in Feindeshand.

Zu den Zivilpersonen im Feindgebiet, die sich in Freiheit befinden oder «auf G rund ihrer N ationalitàt» interniert w ordcn sind, kom- men die Zivilpersonen in besetzten Gebieten, die Geiseln, die D epor- tierten, die ans «Sicherheitsgründen» interniert oder in den Konzen- trationslagern inhaftiert w orden sind (Schutzhàftlinge).

Schreiben des Intemationalen Komilees vom Roten Kreuz an das Reichsaussenministerium beziiglich der Repatriierung bestimmter

Kategorien internierter Zivilpersonen (nach dem deutschsprachigenO riginaltext)

Genf, den 5. A ugust 1941Im m er háufiger wird das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz so-

wohl von Regierungs- als auch von privater Seite aufgefordert, sich m it der Repatriierung von Zivilpersonen aus befeindetem oder a us bcsetztem Gebiet zu befassen.

Infolge des A ndauerns der Feindseligkeiten und der V erschàrfung der wirtschaftlichen Verhâltnisse wird die Lage der von einem kriegfiihrenden Staat festgehaltenen Zivilpersonen befeindeter N ationen von Tag zu Tag bedrtickender und bildet iiberdies eine nicht unbedeutende Last fiir den Gew ahrsam sstaat. U n ter diesen U m stànden glaubt das In ternationale K o­mitee vom Roten K reuz an die kriegfiihrenden Regierungen m it der Frage herantreten zu sollen, ob sie nicht den Z eitpunkt fiir gekom m en hielten, die Môglichkeiten fiir ein Einvernehm en über die HeimschafFung gewisser G ruppen von Zivilpersonen zu untersuchen, und zw ar in erster Linie jener Angehorigen befeindeter S taaten, die nicht aus G ründen nationaler Sicher- heit vom G ew ahrsam sstaat zurückgehalten werden.

Das In ternationale K om itee vom Roten K reuz hatte bereits die Ehre, in einem R undschreiben vom 2. Septem ber 1939 sowie m it M em orandum vom 21. O ktober desselben Jahres die A ufm erksam keit der kriegfiihrenden R e­gierungen au f die D ringlichkeit dieser Angelegenheit zu lenken und als Grundlage fiir ein Ü bereinkom m en den von der XV. In tem ationalen Rot- kreuz-Konferenz in Tokio im Jahre 1934 angenom m enen E n tw urf fiir ein internationales A bkom m en vorzuschlagen. Die A rt. 2 und 3 des beigefiigten sogenannten T okio ter Entwurfes verdienen besondere Beachtung.

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Dieser Vorschlag ist von seiten der kriegfiihrenden Regierungen keinem grundsàtzlichen E inw and begegnet. M anche Regierungen nahm en den Ent- w urf vielmehr günstig auf.

W enn b isherein E invernehm en nicht erzielt werden konnte, so diirfte dies m ehr a u f technische Schwierigkeiten zurückzuführen sein, die aber vielleicht heute nicht m ehr unüberw indbar sind.

Sollte die Reichsregierung die A nregung des In ternationalen Kom i tees vom R oten K reuz in wohlwollende Erw agung ziehen, so em pfiehlt es sich, die fiir eine R epatriierung in Betracht kom m enden G ruppen von Zivilperso- nen zu bestim m en und die D urchfiihrung dieser M assnahm e von der prakti- schen Seite zu untersuchen.

Folgende G ruppierung w are vorzuschlagen:

1) Nicht-internierte Zivilpersoneti, die heim zukehren wiinschen, insbe- sondere F rauen und K inder sowie M anner, die nicht m ehr im militar- pflichtigen A lter sind.

2) Zivilinternierte in besonderer Stellung: A rzte, Priester, Pastoren, D iakonissen, N onnen und K rankenschw estern.

3) Andere Zivilinternierte, insbesondere Frauen und K inder.

D as Problem der praktischen D urchfiihrung der R epatriierung ware von alien Seiten aus zu priifen (Finanzierung, Befórderungsart und -weg, Geleit- scheine usw.).

D as In ternationale K om itee vom R oten K reuz ware der Reichsregierung für die Bekanntgabe ihres S tandpunktes sehr verbunden. W are die Reichs­regierung geneigt, dem In ternationalen Kom itee vom Roten K reuz die U ntersuchung dieses Fragenkom plexes zu iibertragen und ware sie bereit, die angefiihrten G ruppen von britischen Zivilpersonen, die entw eder im Reichsgebiet oder in den besetzten G ebieten zurückgehalten werden, ab- reisen zu lassen?

Das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz wendet sich ebenfalls an die britische und an die italienische Regierung m it der A nfrage, ob diese zur Freilassung und Heim schaffung der gleichen G ruppen deutscher und italie- nischer bzw. britischer Zivilpersonen bereit waren. D as In ternationale K o­m itee vom R oten K reuz wiirde alie, den gegenwártigen U m stànden nach m oglichen M assnahm en fiir die D urchfiihrung der R epatriierung trefilen, falls dies gewiinscht wird. Sollte das In ternationale K om itee vom Roten K reuz zusagende A ntw orten erhalten, wiirde es unverzüglich die praktische Seite des R epatriierungsproblem s untersuchen (Finanzierung, Befôrde- rungswege, Geleitscheine), und zw ar in den L andern selbst, wo sich die Internierten befinden. D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz ware allenfalls auch bereit, die O rganisation der R ückführungstransporte und die Bereitstellung von Schififsraum zu íibernehm en; diese Schifife w ürden das Rotkreuzzeichen tragen; die Iden tita t der Passagiere konnte an Bord von einem Rotkreuzdelegierten kontro lliert werden.

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Das Internationale Kom itee vom R oten K reuz w ürde es sehr begrüssen, vvenn die Reichsregierung ihrn ihre Stellungnahm e zu dieser grundsátzlichen Frage bekanntgeben wollte, deren Losung hochst wünschenswert erscheint.

Schreiben des Reichsaussenministeriums an das IKRK vom 12. Mdrz 1942 (Zusam m enfassung)

Die deutsche Regierung an tw orte t au f die Vorschlâge des IK R K iiber die Schaffung von Fam ilienlagern. Die deutsche Regierung hofft, dieses P ro ­blem, das auch ihr Anliegen ist, lôsen zu kônnen. Als sie sich entschliessen musste, britische Zivilpersonen zu internieren, hat sie stets dafiir gesorgt, die Internierungsbestim m ungen im R ahm en des M ôglichen zu m ildern und die Miitter nicht von ihren K indern, die V âter nicht von ihren Sôhnen zu trennen. Im besetzten Frankreich sind die Ehepaare in Vittel interniert.

Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes an das IKRK vom 29. April 1942 (Zusam m enfassung)

Das D eutsche R ote K reuz teilt dem IK R K mit, dass es die von ihm erbetenen A uskiinfte iiber N ichtarier, die aus besetzten Gebieten evakuiert wurden, nicht beschaffen konnte; von den zustàndigen Behôrden werden alie Angaben hierüber verweigert. D as D eutsche R ote K reuz bittet deshalb das IK R K , ihm von nun an keine Gesuche um A uskünfte m ehr zuzusenden, die es nicht erfiillen kann. D as D eutsche R ote K reuz hat kiinftig nur die M óglichkeit, E rm ittlungen iiber N ich tarier auslàndischer S taatszugehôrig- keit, die sich im Reichsgebiet befinden, anzustellen.

Schreiben des IKRK an das Reichsaussenministerium vom 20. Mai 1942 (Zusam m enfassung)

Das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz erbittet Z usendung der Namenlisten in ternierter Z ivilpersonen, die aus den Lagern in D rancy, Compiègne und in N ordafrika nach D eutschland deportiert wurden; Be- kanntgabe ihres derzeitigen H aftortes, der A nschriften, an die m an ihnen Hilfsmittel zukom m en lassen kann, sowie die M itteilung, ob sie m it ihrer Familie korrespondieren dürfen. (Dieses Schreiben blieb unbeantw ortet.)

Note des Delegierten des IKRK in Berlin vom 24. Mai 1942 (Zusam m epfassung)

Der Delegierte hat, in Befolgung der Anweisungen des Internationalen Komitees, das niederlândische G eisellager ’s-H ertogenbosch besuchen kôn ­nen. Er iiberreicht eine N ote der deutschen Regierung, worin die Behaup- tung zuriickgewiesen wird, dass die Geiseln m isshandelt würden. Es w urden ihnen im Gegenteil zahlreiche Vorteile gew àhrt; es bestehen keinerlei Be- schrànkungen für Paketzustellung und Briefverkehr.

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Persônliches Schreiben des Pràsidenlen vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz an den geschàftsführenden Pràsidenten vom Deutschen Roten

Kreuz beziiglich der Geiselnahme in den Niederlanden (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

Genf, den 1. Juni 1942 W enn ich mich im folgenden an Sie persônlich wende, so geschieht dies,

weil es sich um eine Angelegenheit handelt, die für uns von ausschlaggeben- der Bedeutung ist, und da ich zudem der Ü berzeugung bin, dass Sie für unsere Lage und für die M otive, die uns hierbei leiten, voiles V erstândnis haben werden.

Wie auch aus Pressem eldungen hervorgeht, w urden in den N iederlanden neuerdings zahlreiche Geiselverhaftungen vorgenom m en; ausserdem ist in A ussicht genom m en, die derzeit in ’s-H ertogenbosch unter verbaltnismassig ertràglichen Bedingungen in ternierten niederlàndischen Geiseln in ein ande- res Lager (St. M ichiels)1 zu bringen.

Diese N achrich t kann nun das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz nicht unberührt lassen. - Ich will hier je tzt nicht a u f die allgemeine mensch- liche Seite dieser F rage eingehen. W ir sind überzeugt, dass die Reichsbehôr- den sich nicht leicht und auch dann erst zu so ernsten M assnahm en ent- schliessen, wenn die Schwere der zu sühnenden Vergehen oder Anschlàge au f die D eutsche W ehrm acht scharferes Vorgehen erfordern. Ich m ôchte diesmal nur der V ollstândigkeit halber a u f die im sogenannten E ntw urf von Tokio (XV. In ternationale R otkreuzkonferenz 1934) enthaltene Stelle hin- weisen, die besagt:

«Sollte es ausnahm sweise dem besetzenden S taate unerlàsslich erschei- nen, Geiseln zu nehm en, so sind diese stets m it M enschlichkeit zu behan- deln. U nter keinem V orw and dürfen sie getôtet oder korperlicher Züchti- gung unterw orfen werden.»

Diese Stelle des allerdings nicht in R echtskraft getretenen Entw urfes von Tokio geht a u f den A rt. 50 der H aager L andkriegsordnung zurück, der G esam tstrafen gegen die Bevôlkerung eines besetzten Gebietes wegen Taten Einzelner ausschliesst, fiir welche die Bevôlkerung nicht m itverantw ortlich ist.

A ber ich will mich heute a u f den besonderen Fall der N iederlânder beschrànken und a u f einen G esichtspunkt hinweisen, der besonders für unsere A rbeit zugunsten der zahlreichen Reichsdeutschen in Übersee aus- schlaggebend ist.

W ir haben die R eichsbehôrden über die Tàtigkeit unserer Delegierten im Interesse der deutschen Internierten in den G egnerstaaten D eutschlands dauernd eingehend inform iert. Beispielsweise erst jüngst wieder konnten wir dem A usw ârtigen A m t über die beachtlichen Ergebnisse der M ission unserer Delegierten in N iederlandisch-G uayana berichten, wo nennensw erte Er-

1 A n m . d. Ü bers.: v e rm u tlich St. M ichie lsgeste l

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leichterungen fiir die dort seit zwei Jahren angehaltenen Reichsdeutschen erzielt werden konnten.

Die von unseren Delegierten im Intéressé der D eutschen in Ü bersee geleistete A rbeit kann aber nur dann von praktischem und dauerndem Nutzen sein, wenn dieselbe aus G riinden der Gegenseitigkeit von den Reichsbehôrden bei der Behandlung der deutscherseits internierten A ngehó- rigen des betrefienden Feindstaates beriicksichtigt wird. Der W ert dieser Arbeit wiire aber besonders dann in Frage gestellt, wenn unsere Bericht- erstattung an das Auswârige A m t fiber das Ergebnis einer M ission nicht nur keine Erleichterungen bringen, sondern - beispielsweise in der Geisel- behandlung - etwa gar m it einer Verscharfung in der F laltung der Reichs­behôrden zusam m enfallen sollte.

Wir sind eben dabei, unsere D elegationen in den lateinam erikanischen Staaten auszubauen. Es steht uns hier um fangreiche und schwierige Arbeit im Intéressé auch der vielen tausend sich do rt befindenden Reichsdeutschen bcvor. Hinsichtlich Brasiliens liegt uns bereits ein weitgehender Vorschlag des Auswartigen Am tes betreffend die Betreuung der dortigen Deutschen vor. W ir wiinschen nichts lebhafter als in der bisherigen Weise alies, was in unserer M acht steht, zu tun, um das harte Los dieser K riegsopfer aus dem Kreise der N ich tkom battan ten ertraglicher zu gestalten. A ber wie kônnen wir bzw. unsere Delegierten au f V erstándnis und Entgegenkom m en bei den Behôrden der betrefienden G ew ahrsam sstaaten rechnen, wenn diese uns vorhalten kônnen, dass die von ihnen gew âhrten Erleichterungen deutscher­seits nicht mit Gleichem beantw ortet zu werden pflegen?

Ich m ôchte Sie, verehrter H err Prasident, vielmals bitten, an zustândiger Stelle darau f hinwirken zu wollen, die Schwierigkeiten und die V orausset- zungcn der Gegenseitigkeit, unter denen unsere Delegierten in den verschie- denen kriegfiihrenden S taaten tátig sind, zu beriicksichtigen und, wenn môglich, alle Schritte zu vermeiden, die eine V erscharfung der Lage im allgemeinen und eine nachteilige W irkung a u f Reichsdeutsche in Übersee im besonderen herbeifiihren konnten.

Sie kennen den U m fang der m it riesigen, fiir uns sehr schwer tragbaren Kosten verbundenen D elegationen des In ternationalen K om itees vom R o­ten Kreuz in bald alien Landern. W ir m ochten, dass diese weltweite O rgani­sation auch weiterhin ihren Landsleuten in Feindesland nu tzbar sei; aber ich kann nicht die Sorge verhehlen, dass unsere Bem ühungen wesentlich beein- triichtigt würden, wenn das Ergebnis derselben keinen W iderhall im Reich, und zwar im angedeuteten Sinne, finden sollte.

Zum Schluss m ôchte ich noch erw áhnen, dass wir den S tandpunkt der Reichsregierung, die Frage durch gegenseitige R epatriierung aller In ternier­ten zu bereinigen, kennen. W enn auch der G edanke gewiss zu begrüssen ist, so glaube ich dennoch an dessen D urchfiihrbarkeit gewisse Zweifel kniipfen zu miissen. W enn beispielsweise die belgische oder niederlándische Exil- regierung der Heim schaffung aller, auch der wehrdienstpflichtigen Reichs­deutschen zustim m en sollte, so bliebe noch im m er den Reichsbehôrden die Môglichkeit, spaterhin V erhaftungen in den besetzten Gebieten vorzuneh-

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men. Diese A nnahm e m ag wohl der G rund früherer A blehnungen durch die erw áhnten Exilregierungen gewesen sein, von denen wir erfahren haben. O bwohl wir in dieser Sache bisher nichts unternom m en haben und die A nsichten der betrefienden Regierungen nicht kennen, so glaube ich kaum , dass dieser Vorschlag der Reichsregierung angenom m en wird. U ns aber geht es darum , für die betrefienden K riegsopfer greifbare Erleichterungen zu erw irken und praktische Lôsungen zu finden.

D eshalb halten wir es für unsere Pflicht, überall dort, wo eine Verschár- fung der Lage einzutreten droht, ausgleichend zu wirken und alies zu versu- chen, was eine E ntspannung herbeiführen kônnte.

In diesem Sinne bitte ich, diesen persônlichen Brief aufzunehm en und für unsere besondere, von einer entsprechenden A nw endung des Gegenseitig- keitsgrundsatzes wesentlich abhángige Stellung zwischen den K riegführen- den, auch weiterhin das gewohnte V erstándnis haben zu wollen.

Antwort des geschàftsführenden Prdsidenten vom Deutschen Roten Kreuz auf den Brief des Prdsidenten vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz vom I . Juni 1942 iiber die niederlandischen Geiseln (nach dem

deutschsprachigen Originaltext)

Berlin, den 7. Juli 1942 Ih r Schreiben vom 1. Juni hat mich sehr beschaftigt. Sie wissen ja , wie

nahe m ir die A rbeit des Internationalen Kom itees vom R oten K reuz geht und wie ich deshalb Ihre G edanken und die Sorgen teile, die Ihnen Ihre Rolle ais V erm ittler und Heifer bezüglich der von Ihnen genannten Ereignis- se in den N iederlanden bereitet.

Diese G edanken verstehe ich in ihrer ganzen Berechtigung, auch wenn es sich nicht um von Ihnen gefürchtete Ausw irkungen handelte, die unseren eigenen S taatsangehôrigen nachteilig werden kônnten.

W enn ich nun nach meinen bisherigen Feststellungen in der aktuellen Frage eine A ntw ort, die uns aile befriedigen kônnte, heute nicht geben kann, so hofie ich doch vor allem m it Ihnen, dass solche Verschlechterungen der Lage oder der A ussichten meiner Volksgenossen zu vermeiden sind, da M assnahm en solcher A rt stets wieder G egenm assnahm en hervorzurufen pflegen. Dies um so m ehr, ais doch ein U nterschied zu m achen ist zwischen den N otw endigkeiten, vor die sich die deutschen Behôrden in einem besetz- ten Gebiet, wie den N iederlanden, gestellt sehen, und dem V erhalten gegen- über den Zivilinternierten, für die au f G rund von V ereinbarungen ein ge- naues System der Behandlung in K raft ist.

W ir sind dem In ternationalen K om itee vom Roten K reuz d ankbar für jede, auch für die kleinste Erleichterung, die es durch seinen unerm üdlichen Einsatz dem harten Los der G efangenen im m er wieder verschafit. So werden Sie m ir glauben, wie ausserordentlich ich es gerade in diesem Zusam m en- hang bedauere, Ihnen für die in Ihrem Schreiben behandelten Ereignisse keine erfolgreiche V erm ittlung des D eutschen Roten Kreuzes zur V erfügung stellen zu kônnen. Ich bitte Sie, davon überzeugt zu sein, dass nur zwingende

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militarische N otw endigkeiten die zustàndigen Stellen zu ihren M assnahm en veranlassen konnten und es im Augenblick unmôglich ist, bestim m te, uns am Herzen liegende Prinzipien zu vertreten.

Note des IKRK an seine Delegation in Berlin vom 21. Juli 1942 (Zusam m enfassung)

Das In ternationale Kom itee hat durch das Polnische Rote K reuz von der Festnahm e polnischer Reserveoffiziere erfahren und bittet seine D elegation in Berlin, sich die N am enlisten dieser Offiziere und die Erlaubnis zum Besuch des Lagers, in welchem sie inhaftiert sind, zu verschaffen.

Schreiben des Deutschen Roten Kreuzes an das IKRK vom 20. August 1942(Zusam m enfassung)

In Bestàtigung seines Schreibens vom 29. April 1942 weist das Deutsche Rote K reuz d arau f hin, dass es iiber nicht-arische Hâftlinge, die sich in von der W ehrm acht besetzten G ebieten befinden, keine Inform ationen erteilen kann. In bezug au f die anderen Zivilhâftlinge in den besetzten Gebieten weigern sich die zustàndigen Behôrden, A uskiinfte zu geben.

Brief des IKRK an das Deutsche Konsulat in Genf vom 24. August 1942 (Zusam m enfassung)

1) Die aus deutsch-besetzten Lândern stam m enden Zivilinternierten ha- ben keine Schutzm acht. D as IK R K ist jedoch der Ansicht, dass sie der G arantie der K onvention vom 27. Juli 1929 nicht verlustig gehen sollten. Wie steht es m it der Verteidigung ihrer privaten A nsprüche sowie ihrer eigenen Verteidigung vor den Gerichten?

2) Die im Lager M authausen internierten republikanischen Spanier be­finden sich nach M itteilung der deutschen Regierung nicht unter K ontrolle der W ehrm acht, sondern der G estapo. D as IK R K ersucht darum , dass sie als Kriegsgefangene behandelt werden, Post verschicken und em pfangen dürfen. Es erbittet ebenfalls die Liste dieser Internierten.

Amveisungen des IKRK vom 15. September 1942 an seine Delegierten in bezug auf die in Italien, Deutschland, Agypten und im besetzten Frankreich

internierten oder inhaftierten Zivilpersonen

Das Internationale Kom itee vom Roten K reuz unterstreicht die N otw en- digkeit, seine Hilfe au f diese K ategorie von Zivilpersonen auszudehnen. Es ist klar, dass die von einem Delegierten des IK R K bei einer kriegführenden M acht erw irkten Erleichterungen es ermóglichen, die gleichen Vorteile von der gegnerischen Partei zu verlangen. Es ist A ufgabe des IK R K , in bestimm- ten Bereichen, in denen die Schutzm acht im allgemeinen nicht interveniert, vermittelnd einzugreifen. In diesem Sin ne unternim m t das IK R K mit Hilfe

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d erna tionalen Rotkreuz-G esellschaften individuelle N achforschungen nach nicht internierten Zivilpersonen in befeindeten Staaten. Ebenfalls ist es ihm m it Zustim m ung der kriegführendcn M àchte gelungen, ein K orrespondenz- system einzuführen, das es den Zivilpersonen erm oglicht, mit ihrem Heim at- land in V erbindung zu bleiben.

M angels einer besonderen V ereinbarung (Tokio-Entw urf) erschien es notwendig, die internierten Zivilpersonen den Kriegsgefangenen gleichzu- stellen und die Bestim mungen der G enfer K onvention au f sie anzuwenden. Den straffallig gewordenen Internierten soil gleichfalls der Vorteil von Kapitel III, A rtikel 47 ff. der K onvention von 1929 zugute kom m en. Das IK R K sollte sich bem ühen, fiir eine sinngemasse A nw endung der K onven­tion von 1929 in all den Fallen zu sorgen, wo das de facto und de iure môglich ist.

Note des IKRK an seine Delegation in BerlinGenf, den 24. Septem ber 1942

W ir iiberreichen Ihnen anbei eine N ote, die eine Angelegenheit behandelt, die uns zugegebenerm assen ernsthaft beunruhigt. Wie Sie sich leicht vorstel- len konnen, werden wir von allen Seiten mit A nfragen iiber die zahlreichen Falle von D eporta tionen überschiittet. Diese A nfragen betreffen in aller- erster Linie Juden, jedoch bezieht sich diese N ote auch au f V erhaftungen nicht-jüdischer S taatsangehôriger in besetzten Lândern, z. B. Geiseln etc.

Bisher haben wir dem D eutschen Roten K reuz individuelle Erm ittlungs- antrâge iiber die D eportierten zugesandt. D as w ar alies, was wir tun konn- ten. Bei seinem letzten Besuch hat uns H err H artm a n n 1 jedoch erklárt, dass das Deutsche Rote K reuz gezwungen sei, jede A nfrage iiber Juden zurückzuweisen. In bezug a u f die nicht-jüdischen D eportierten hat H err H artm ann die Erm ittlungsgesuche nicht so kategorisch abgelehnt. W ir ha­ben vom D eutschen Roten K reuz einige A ntw orten erhalten, von denen eine kleine Anzahl - ungefahr 30 - positiv war. M ehrere A ntw orten besagten jedoch, dass die deutschen Behôrden eine Beantw ortung unserer Suchantrà- ge verweigert haben, aus anderen ging hervor, dass die gesuchte Person nach dem Osten evakuiert worden war. Es ist sehr schwierig, den genauen Pro- zentsatz positiver A ntw orten zu bestimm en, da es bei einer betràchtlichen Anzahl der verzeichneten N am en nicht môglich ist, mit Sicherheit festzustel- len, ob es sich dabei um Juden handelt oder nicht.

N ach unserer M einung ist dieses Problem viel zu schwerwiegend, um es einfach vom Kom itee m it individuellen A nfragen erledigen zu konnen. M it der grossen Anzahl von V erhaftungen und D eportationen - vor allem in Frankreich - stellt sich zugleich ein hum anitares Problem , dem das In terna­tionale Kom itee vom Roten K reuz nicht gleichgültig gegenüberstehen kann. Fiir das In ternationale K om itee handelt es sich hier um Zivilpersonen aus kriegfiihrenden Lândern in Feindeshand. Wie wir in beigefügter N ote klar-

1 C h e f des R esso rts fiir A u sla n d sb ez ieh u n g e n des D eu tsch en R o ten K rcuzes

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legen, kônnen wir ihnen unseres Erachtens nicht unsere U nterstützung entziehen. In dieser A bsicht vertrauen wir Ihnen diese N ote an und bitten Sie, sie bei einer Besprechung im A ussenm inisterium als G rundlage zu benutzen. W enn es Ihnen angemessen erscheint, kônnen Sie diese N ote Ihrem G espràchspartner überreichen. W ir sind uns über die Schwierigkeiten und die W iderstánde, au f die Sie bei Ihrem V orgehen stossen werden, im klaren. ...

Schliesslich m ôchten wir Ihnen m itteilen, dass nach unserer M einung das bestmogliche A rgum ent darin besteht, diesen Versuch a u f das Prinzip der Gegenseitigkeit zu stützen. Tatsàchlich haben unsere Delegierten in G ross- britannien und in den Vereinigten S taaten die Erlaubnis erhalten, die H âft- linge in den Lagern zu besuchen, die der V erw altung der Polizei oder der Justizbehôrden unterstehen. U nser Delegierter in Venezuela hat ebenfalls deutsche Seeleute aufgesucht, die unseres W issens «Saboteure» sind. Offen- kundig besteht eigentlich keine d irekte Gegenseitigkeit. W enn uns jedoch die deutschen Behordcn nicht gewisse Erleichterungen zugestehen, die wir in der beigefiigten N ote verlangen, so laufen wir G efahr, dass sich vor uns überall die Türen schliessen, wenn wir kiinftig ahnliche Genehm igungen beantragen werden.

Wir danken Ihnen im voraus fiir alies, was Sie glauben in dieser Frage unternehm en zu kônnen, sowie fiir den Bericht, den Sie uns bitte nach Ihrem Besuch in der W ilhelm strasse zusenden wollen.

Anlage zu vorhergehender Note (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

Zu w iederholten M alen haben die Reichsbehôrden die A ufm erksam keit des Internationalen Kom itees vom R oten K reuz au f die Lage jener deu t­schen Staatsangehôrigen gelenkt, die aus G riinden der nationalen Sicherheit in den m it D eutschland im Krieg befindlichen S taaten verhaftet und von den Justiz- oder Polizeibehôrden festgehalten werden. W ir haben im Sinne der deutscherseits geâusserten W ünsche jedesm al unsere Delegierten angewie- sen, bei den betreffenden Feindstaaten einzuschreiten und, soweit wie móg- lich, au f eine Besserung der Lage dieser H àftlinge hinzuwirken, denen der Status von eigentlichen Zivilinternierten nicht zugebilligt wird. Sowohl in den Vereinigten S taaten als auch in G rossbritannien ist es uns gestattet worden, diese Polizeihaftlinge an ihrem G ew ahrsam sort zu besuchen. A hnli­che Schritte sind in einigen kiirzlich in den Krieg eingetretenen Staaten Lateinam erikas beabsichtigt, insbesondere in Brasilien und in Venezuela.

Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz ist gewillt, diese Tâtigkeit weiter zu verfolgen und auszubauen, zum al es hierbei durchaus im Rahm en seiner traditionellen Einstellung und der ihm durch die Internationalen R otkreuzkonferenzen übertragenen M andate vorgeht. Es steht den Reichs­behôrden auch weiter gem zur Verfügung, falls seine D ienste in solchen Fallen wiinschenswert erscheinen.

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Das IK R K geht in dieser Frage von dem Bestreben ans, im Benehmen mit der G ew ahrsam sm acht dieser G ruppe von Personen jene Vorteile zu si- chern, welche sowohl durch die A usdehnung au f die Z ivilinternierten des A bkom m ens von 1929 über die Behandlung der Kriegsgefangcnen vorgese- hen sind ais auch durch die A nw endung der Artikel des Tokio-Entw urfes, dem alie Delegierten der an dieser K onferenz vertretenen Regierungen und Rotkreuzgesellschaften ihre grundsatzliche Zustim m ung gegeben haben. Im Laufe des gegenwartigen Konfliktes hat das Auswártige A m t übrigens das Internationale Kom itee vom Roten K reuz davon verstandigt, dass es bereit sei, un ter V oraussetzung der Gegenseitigkeit die Bestimmungen des genann- ten Entwurfes anzuwenden.

A ber wir haben uns im Augenblick in Fallen, die den oben zitierten gleichen und die uns deutscherseits iibertragen wurden, mit dem Problem der auslándischen Staatsangehórigen auseinanderzusetzen, die sich in den besetzten Gebieten in deutscher H aft befinden. Die Reichsregierung wird gewiss dafür V erstándnis haben, dass unsere bisherige, w eltum spannendc Tatigkeit wesentlich durch Berücksichtigung des G egenseitigkeitsgrundsat- zes erm oglicht worden ist. Indem unsere Dienste alien K riegführenden in gleicher Weise und in gleichem U m fang zur Verfügung standcn, erwarben wir uns ein Vertrauen, das uns den Z u tritt zu alien Kriegsopfern unter- schiedslos gestattete. D eshalb erlauben wir uns wegen der A uslander an das A usw ártige A m t heranzutreten, die in den besetzten G ebieten verhaftet und seitdem do rt interniert oder nach D eutschland iiberbracht w orden sind, ohne dass in der M ehrzahl der Falle etwas über ihren A ufen thaltsort oder ihre Lage bekanntgew orden ist.

W ir m óchten dem A usw ártigen A m t in diesem Z usam m enhang folgende Vorschliige unterbreiten:

1) W ir w ürden es lebhaft begrüssen, wenn wir individuelle N achrichten über den gegenwartigen A ufenthaltsort von verhafteten, in Gefangen- schaft befindlichen oder ausserhalb ihres H eim atlandes verschickten Per­sonen erhalten kónnten, dam it deren Angehorige und bisweilen auch die ihretwegen besorgte breitere Óffentlichkeit unterrichtet werden konnte.

2) K onnte diesen Personen die M ôglichkeit gegeben werden, ihren Familien N achrichten zukom m en zu lassen? Sollte der norm ale Briefver- kehr gestattet werden konnen, so ware vielleicht die M ôglichkeit der Verwendung kurzer F orm blátter, in der A rt der für die Kriegsgefangcnen zugelassenen G efangenenkarten, zu prüfen.

3) K onnte den Angehórigen dieser Personen sowie den nationalen Rotkreuzgesellschaften gestattet werden, ihnen Liebesgaben zu senden?

4) K onnte den Delegierten des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz die G enehm igung erteilt werden, sie zu besuchen? Dies würde sich aus dem oben erw ahnten G runde (Besuch der in Feindlandern internier- ten Reichsdeutschen) besonders cmpfehlen.

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Die G ew àhrung dieser Erleichterungen erscheint dem Internationale!! Komitee vom Roten K reuz um so notwendiger, ais uns das Deutsche Rote Kreuz soeben mitgeteilt hat, es sei nicht m ehr in der Lage, weiterhin Einzel- ermittlungen iiber diese Personen anzustellen, d .h . N achforschungen, um die das Internationale Kom itee vom Roten Kreuz standig und in betráchtli- chem Ausmass von den Angchorigen in den verschiedenen Landern ersucht wird.

Wcnn sich das In ternationale K om itee vom Roten Kreuz gestattet hat, seinen S tandpunkt in dieser Sache darzulegen, so geschah dies im V ertrauen auf das ihm von den Reichsbehôrden stets bewiesene Entgegcnkom m en und Verstândnis.

Auch erlcgt ihm seine absolute N eutra litá t die Pflicht auf, in alien Liin- dern und unter alien U m standen dieselben G rundsátze als R ichtschnur zu nehmen und um dieselben Erleichterungen für sein W irken zu bitten.

(Die IK R K -D elegation in Berlin konnte dem K om itee erst am 22. Dezem- ber 1942 eine ablehnende Antvvort des A ussenm inisterium s au f diese N ote iibermitteln. Es war dem M inisterium unm oglich, den in bezug au f die D eportierten gestellten Bitten zu entsprechen.)

Note der Delegation des IKRK in Berlin vom 21. November 1942 (Zusam m enfassung)

A uf V orsprachen unserer Delegation in Berlin erklarte das Aussenmini- sterium, die irrtiim lich im Lager M authausen internierten Franzosen seien in Kriegsgefangenenlager riicküberstellt worden.

Die D elegation hofft. das gleiche Ergebnis auch für die in M authausen internierten republikanischen Spanier erreichen zu kônnen. Sie inform iert das Komitee, «dass die in den K onzentrationslagern internierten Polen sehr zahlreich sind und sie tro tz aller Bem ühungen in solchen Fallen nichts unternehm en kann».

Note des IKRK an das Deutsche Rote Kreuz und an das Rcichsaussenministerium vom Dezember 1942 (Zusam m enfassung)

Die Dclegierten des IK R K haben die G enehm igung erhalten, die Internie- rungslager für deutsche Zivilpersonen, die vvegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit verurteilt w orden sind, in Brasilien zu besuchen. Diese Internierten sind zu nicht bezahlter A rbeit verpfiichtet. Die Lagerleitung bcstrcitct ihren U nterhalt. Die Dclegierten konnten sich ohne Zeugen mit den Internierten unterhalten. Die Dclegierten haben die brasilianischen Bchorden au f die Beschwerden der Internierten aufm erksam gem acht und cine angemessene Vcrbesserung ihrer Behandlung gefordert.

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Note der Delegation des IKRK in Berlin vom Dezember 1942 iiber die Behandlung der in den besetzten (belgischen, niederldndischen,

norwegischen, polnischen, jugoslawischen) Gebieten in Zivilkleidung verhafteten Ojfiziere (Zusam m enfassung)

Laut A nordnung des O berkom m andos der W ehrm acht (OKW ) werden die norwegischen Offiziere als Kriegsgefangene behandelt. Sie w urden nach dem britischen H andstreich a u f D rontheim am 12. Jan u ar 1942 in V orbeu- gungshaft genom m en, im G efangnis der G estapo in Oslo interniert, dann nach Schokken überstellt. Sie durften sich ihre U niform en schicken lassen.

Dem deutschen O berkom m ando ist nichts iiber die In ternierung von Piloten und Offizieren der belgischen Arm ee in Belgien bekannt. Die 2028 H ollander in S tanislau bleiben unter dem Schütz der K onvention von 1929, obwohl sie von der G estapo verhaftet wurden.

Die vorsorglich inhaftierten Jugoslawen werden als Kriegsgefangene be­handelt. Dagegen werden die von der G estapo verhafteten Polen nicht als Kriegsgefangene angesehen.

D R 1 T T E P H A S E

A u f G rund der W eigerung der Reichsbehórden, den Delegierten des Kom itees Zugang zu den K onzentrationslagern zu verschaffen und Nam enlisten der D eportierten zur Verfiigung zu stellen, muss das In ternationale K om itee vom R oten K reuz versuchen, diese Schwierigkeiten zu umgehen. D ank seiner Beharrlichkeit und den Verbindungen, die es zu den Lagern herstellen kann, verschafft es sich A nschriften von Internierten und errichtet m it dem Verfahren der Em pfangsbestatigungen eine D eportiertenkartei, die es ihm er- moglicht, Pakete an Einzelpersonen in die Lager, spàter dann auch G ruppen zu schicken.

Das IK R K errichtet einen Paketdienst fiir die K onzentrationsla- ger (CCC-Dienst).

Im m er, wenn ihm Verhaftungen und D eportationen von Zivilper- sonen bekannt werden, bem iiht sich das IK R K , die N am en dieser Zivilpersonen sowie den D eportationsort in Erfahrung zu bringen.

Das In ternationale Kom itee ist in Sorge iiber das Schicksal der belgischen, dànischen, jugoslawischen Zivilpersonen, der niederlàn- dischen Geiseln, der deportierten Professoren der K rakauer Univer- sitàt, der in Zivil verhafteten polnischen und norwegischen Offiziere, die vorbeugend interniert waren, der franzósischen politischen Háft- linge, der franzósischen Arbeitsdienstverweigerer usw.

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Unerm üdlich verlangt es fur alie diese Internierten und D eportier- ten das Zugestândnis der «M indestgarantien». Es versucht erfolglos, ihnen private N achrichten zukom m en zu lassen. Es überschüttet das Deutsche R ote K reuz standig mit individuellen Suchantràgen. Das Deutsche R ote K reuz beantw ortet einige, stellt dabei aber fest, dass es diesen A nfragen nur nachgehen kann, sofern es sich um Arier handelt. A uf G rund der W eigerung der deutschen Behôrden, Aus- künfte zu erteilen, sind auch die Bem ühungen des D eutschen Roten Kreuzes vergeblich. Die A ntw ort ist stets dieselbe: die festgenomme- nen Personen wurden «aus Sicherheitsgründen» inhaftiert und befin- den sich daher ausserhalb jeder K ontrolle. Sie unterstehen einzig und allein der G estapo.

Das In ternationale Kom itee appelliert ausserdem dringend an die fiir die Blockadem assnahm en zustàndigen alliierten Behôrden, um eine Lockerung zugunsten der Hâftlinge in den K onzentrationsla- gern zu erreichen.

Hilfspakete werden nach D achau, R avensbrück, O ranienburg und M authausen geschickt. Die Ladung des Schiffes «Cristina» wird in den M onaten A ugust und Septem ber 1944 in den Lagern verteilt.

Note des IKRK an das Deutsche Rote Kreuz vom 17. Juni 1943 (Zusam m enfassung)

Das Kom itee überreicht dem D eutschen Roten K reuz Listen von Perso­nen, die in den besetzten G ebieten festgenom m en und wahrscheinlich nach Deutschland verschickt wurden. Es bittet das D eutsche Rote Kreuz, ihm - wenn moglich - die A nschriften dieser Personen zukom m en zu lassen. Es handelt sich um Franzosen, Tschechen, G riechen, Russen und Belgier. (A uf diese N ote erhielt das IK R K keine A ntw ort. Siehe auch weiter unter der Note des Deutschen R oten Kreuzes vom 5. O ktober 1943.)

Appell des lnternationalen Komitees vom Roten Kreuz an die Regierungen kriegfiihrender Staaten vom 24. Juli 1943

Angesichts der durch den K rieg verursachten Schrecken, Leiden und Ungerechtigkeiten ist es im m er das Leitm otiv des ln ternationalen Kom itees vom Roten K reuz gewesen - und wird es auch bleiben - , seine moralische Stellung und seinen Hilfswillen m ehr durch T aten ais durch W orte zu unterm auern.

Das In ternationale Kom itee hat bereits zu Beginn der K am pfhandlungen im Jahre 1939, ferner am 12. M árz und 12. M ai 1940 den Regierungen seine Ansichten über die Kriegfiihrung, die sich aus seiner T rad ition ergeben, in

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Appellen und Vorstellungen dargelegt. D as Kom itee erinnert alie kriegfüh- renden M achte dringend an den W ortlau t dieser D okum ente.

In A nbetrach t des Ausmasses der Feindseligkeiten m ôchte das In ternatio ­nale Kom itee vom Roten K reuz die kriegfiihrenden M achte noch einmal beschwôren, selbst angesichts m ilitarischer Erwágungen das natiirliche Recht des M enschen a u f gerechte, von jeder W illkür freien Behandlung zu respektieren, und ohne dass m an ihn fur T aten verantw ortlich m acht, die er nicht begangen hat. Es b ittet die M achte gleichfalls, weder au f ungerecht- fertigte Zerstôrungsakte noch au f einen V ernichtungskrieg, die durch das internationale Recht untersagt sind, zuriickzugreifen.

Schreiben der IKRK-Delegation in Berlin vom 29. Juli 1943 (Zusam m enfassung)

A uf G rund ihrer V orstellungen hat die Delegation in Berlin vom Aussen- m inisterium die G enehm igung erhalten, die Geisellager in Norwegen zu besuchen1. Sie hat ferner mit dem M inisterium die F rage der Em pfangsbe- státigung von Paketen fiir die K onzentrationslager besprochen. Die D elega­tion setzt ihre A nstrengungen mit dem Ziel fort. V erbindungen m it dem Lager O ranienburg aufzunehm en.

Note des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den britischen Konsul in Genf mit der Bitte um eine Lockerung der Blockade, um die Verschickung von Lebensmittelpaketen an die Konzentrationslager und

Gefdngnisse zu crmoglichen.Genf, den 24. A ugust 1943

D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz w ar stàndig bem üht, die aus dem A usland stam m enden und in den deutschen K onzentrationslagern internierten G efangenen in seinen W irkungsbereich einzubeziehen. Diese G efangenen sind zum grôssten Teil S taatsangehôrige besetzter Gebiete. D a nach A nsicht der deutschen Behórden die Bestimmungen der K onvention von 1929 iiber Kriegsgefangene diese H àftlingskategorie nicht berühren, ist es uns niemals - abgesehen von wenigen A usnahm en - erlaubt w orden, die K onzentrationslager zu betreten. A usserdem haben wir keine N am enlisten erhalten. Gem áss glaubwürdigen Inform ationen besteht jedoch bei diesen H áftlingen ein dringender B edarf an zusàtzlichen Lebensmitteln. Folglich halten wir es für unsere Pflicht, den interessierten Regierungen und nationa- len Rotkreuz-G esellschaften diese N otw endigkeit zu gründlicher P rüfung zu unterbreiten, dam it wir diesen Zivilhâftlingen âhnliche S tandardpakete mit Lebensm itteln schicken konnen wie den Kriegsgefangenen und den als Zivilinternierten behandelten Personen.

Die zustàndigen Behórden in D eutschland haben den H áftlingen in den K onzentrationslagern schon erlaubt, persônliche Pakete zu em pfangen.

1 D iese G e n eh m ig u n g w u rd e sp iite r zu riick g ezo g en , b cv o r d ie B esuche s ta ttf in d en k o n n te n .

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sofern sie nicht aus schwervviegenden G rim den inhaftiert und ihr N am e und ihre Lageradresse bereits bekannt sind.

W ir konnten uns ca. 150 N am en und Adressen verschaffen. und zw ar in der M ehrzahl von N orw egern1, aber auch von Polen, N iederlàndern usw. Voraussichtlich werden wir weitere N am en und Adressen erfahren, sobald der Plan, regelmassig Lebensm ittelpakete zu schicken, verw irklicht werden kann.

Die vom anglo-am erikanischen Kom itee fur den W irtschaftskrieg erlasse- ne Regelung verbietet jedoch dem A m erikanischen und Britischen Roten Kreuz den Versand von S tandardpaketen an andere Personen ais an Kriegs- gefangene und Zivilinternierte, die als solche anerkann t sind. D erartige Sendungen werden davon abhángig gem acht, dass die bezeichneten Lager regelmassig von Delegierten des In ternationalen Kom itees besucht und Nam enlisten geliefert werden. Da diese A rt und Weise der K ontrolle fur die K onzentrationslager leider nicht môglich ist, haben wir uns iiberzeugen wollen, ob vielleicht eine andere K ontrollm oglichkeit akzeptiert werden kônnte, d.h . ob der jeweilige Em pfanger für jedes Paket persônlich eine Bestatigung fiber den E rhalt unterschreiben kann, was als Eingangsnach- weis für das Paket dienen würde. Versuchsweise haben wir 50 Pakete schwei- zerischen U rsprungs, die jeweils eine Q uittung enthielten, abgeschickt. Diese Pakete waren persônlich an 50 H àftlinge, deren N am en uns bekannt waren, in verschiedenen K onzentrationslagern und Gefângnissen in D eutschland gerichtet. D er Erfolg hat alie unsere H offnungen übertrofien. Innerhalb von weniger als sechs W ochen erhielten wir m ehr als zwei D rittel der richtig von den Em pfangern unterschriebenen Bestátigungen zurück. Dieses Ergebnis ist um so eindrucksvoller als m an angesichts der stándigen Überstellungen in den Lagern dam it rechnen musste, dass ein gewisser P rozentsatz der Empfanger nicht erreicht werden kônnte.

Unglücklicherweise stehen uns keine weiteren Pakete zur Verfügung, die wir diesen Zivilgefangenen zugute lassen kom m en konnten. W ir sehen auch keine M ôglichkeit, weitere A usfuhrgenehm igungen für Lebensm ittel aus der Schweiz zu erhalten. D as In ternationale Kom itee m ôchte daher den W unsch àussern, dass die V erantw ortlichen des W irtschaftskrieges (ausnahmsweise) der besonders schwierigen Lage dieser aus den besetzten G ebieten stam m en- den und in den K onzentrationslagern inhaftierten H àftlinge Rechnung tragen und die M ôglichkeit prüfen, die Forderungen bezüglich der Lager- besuche und der Lieferung von Listen für K ontrollzwecke auszusetzen und statt dessen die E inzelquittungen als ausreichenden Nachweis anzuerkennen.

Die erste zu ergreifende M assnahm e ware, den H áftlingen, deren N am en uns zur Zeit bekannt sind (und deren Anzahl 200 nicht übersteigt), m onat-

1 H ierbei sei e rw a h n t, d ass d e r V e rtre te r des R o ten K reuzes von N o rw eg en in G e n f dem IK R K bere its im A p ril 1943 eine L iste von 250 no rw eg ischen H áftlin g en ü berrc ich te , an d ie zu d iesem Z e itp u n k t im N am en d e r n o rw eg ischen R eg ie ru n g u n d d u rch V erm ittlu n g des S chw edischen R o ten K reuzes P ak e te von S chw eden aus a b g esan d t w urdcn .

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liche, von überseeischen Lândern zu unserer Verfügung gestellte Lebensmit- telpakete zuzusenden. Im Falle einer zusàtzlichen N am ensm itteilung wiir- den wir sie im gleichen U m fange melden, und die Anzahl der Pakete würde entsprechend erhôht. Im Augenblick schâtzen wir die G esam tzahl der Emp- fanger au f hôchstens einige hundert.

Das In ternationale Kom itee ware àusserst dankbar, die Ansicht der zu- stàndigen Behôrden iiber den Plan, den es soeben dargelegt hat, zu erfahren.

Persônliches Schreiben des Prasidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an das Britische Rote Kreuz zum gleichen Thema

Genf, den 26. A ugust 1943Ich erlaube mir, mich a u f Ihre liebenswiirdige M itteilung vom 14. Juli zu

beziehen, und zwar besonders au f deren zweiten A bsatz beziiglich unserer Bemiihungen, Hilfsmittel fiir die S taatsangehôrigen besetzter Gebiete zu beschaffen, die in K onzentrations- und K riegsgefangenenlagern in D eutsch­land inhaftiert sind.

Zunâchst m ôchte ich Ihnen meinen aufrichtigsten D ank fiir das Intéressé ausdrücken, das das Britische R ote K reuz für unsere Versuche aufbringt, das traurige Los derjenigen Interniertenkategorien zu erleichtern, die keinen A nted an unserem Hilfswerk haben. W ie Sie wissen, sind unsere Bem iihun­gen nicht im m er von Erfolg gekrónt gewesen, und aus London sind uns kiirzlich N achrichten von eher negativem C harak ter zugegangen. W ir er- achten es jedoch fiir unsere Pflicht, alies in unserer M acht Stehende zu tun, um unseren Plan zu verwirklichen. In allerletzter Zeit haben wir an die interessierten Regierungen ein G esuch gerichtet, dam it sie die Blockadebe- stim m ungen zugunsten der S taatsangehôrigen der besetzten Gebiete, die im Reichsgebiet interniert sind, lockern.

Anbei iiberreichen wir Ihnen eine K opie der N ote, die wir dem britischen K onsulat in G en f in diesem Zusam m enhang zur W eiterleitung an die zu- stándigen Behôrden übergeben h ab en 1. Sie werden darin eine sehr klare Lagedarstellung linden. Ich w are Ihnen ausserordentlich dankbar, wenn Sie Ihren Einfluss in bezug a u f die zu treffende Entscheidung einsetzen würden.

D as In ternationale Kom itee nim m t sich dieses Problem sehr zu Herzen, da es von verschiedenen Seiten erfahren hat, dass die Lage in den Konzen- trationslagern hóchst alarm ierend ist und die Sterblichkeitsrate sehr zu- genom m en hat. Aus verschiedenen Kreisen haben wir dringende Appelle wegen Hilfsm itteln erhalten. W ir glauben daher das Unm ógliche versuchen zu miissen, um diese Hilfsmittel aus Übersee zu erhalten. W ohlverstanden sind wir uns der Tatsache bewusst, dass sich die Bedingungen in diesen Lagern sehr von denen in den Lagern für Kriegsgefangene und internierte Z ivilpersonen unterscheiden und für uns nur begrenzte K ontrollm oglich- keiten bestehen. A ber unsere Vorstellungen bei dem M inisterium für den W irtschaftskrieg erscheinen uns gerechtfertigt, da wir die eingehenden Emp-

1 Siehe Seite 54.

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fangsbestátigungen ais ausreichenden Beweis dafür ansehen, dass die Pakete den Em pfangern ausgehandigt w orden sind.

Ausserdem sollte die relativ beschrankte Anzahl der in Betracht kommen- den Pakete - einige hundert m onatlich - eine Z ustim m ung zu unserem Plan selbst unter Berücksichtigung der A nforderungen des W irtschaftskrieges im allgemeinen ermóglichen.

W ir w ürden uns freuen, wenn Sie es für moglich hielten, die Aufm erksam - keit der Behórden oder R otkreuz-G esellschaften der alliierten L ander au f dieses Problem zu lenken. M ehrere von ihnen (Norwegen, die N iederlande und die Tschechoslowakei) haben uns durch V erm ittlung ihrer V ertreter in der Schweiz háufig gebeten, ihren Landsleuten, die sich in den K onzentra- tionslagern befinden, zu Hilfe zu kom m en.

Eine am Sitz des IKRK am 16. September 1943 mit einem Vertreter des Reichsaussenministeriums abgehaltene Besprechung beziiglicli der Geiseln

Das IK R K stellt fest, dass die Geiseln - die weder Kriegsgefangene noch Zivilintem ierte sind - bisher nicht seinen Schütz genossen haben. Alle seine Versuche m it dem Ziel, die E rlaubnis zum Besuch der K onzentrationslager zu erhalten, sind gescheitert.

D er V ertreter des Reichsaussenm inisterium s glaubt nicht, dass diese Ge- nehm igung erteilt werden kônne.

Das IK R K weist d a ra u f hin, dass die Tatsache, zugunsten dieser H áftlin- ge intervenieren zu diirfen, dem Staat, der diese Erleichterungen gewáhrt, Vorteile au f Gegenseitigkeit verschaffen wiirde.

In Brasilien betrach te t m an die in ternierten Deutschen ais Personen, die die Sicherheit des S taates gefahrden. D ie Delegierten des IK R K haben jedoch die Erlaubnis, sie zu besuchen.

Note des Deutschen Roten Kreuzes vom 5. Oktober 1943 (Zusam m enfassung)

Das IK R K , das vom Deutschen Roten K reuz beziiglich der ihm zuge- sandten D eportiertenliste noch keine A ntw ort erhielt, wird vom Lei ter der Abteilung für auswàrtige Beziehungen des D eutschen Roten Kreuzes infor- miert, dass das D eutsche R ote K reuz in ihm unterbreiteten Einzelfâllen N achforschungen vornehm en kann.

Note des IKRK an das Rote Kreuz von Belgrad vom 6. Oktober 1943 (Zusam m enfassung)

In der Absicht, den jugoslaw ischen D eportierten Hilfe zukom m en zu lassen, bittet das IK R K das R ote K reuz von Belgrad um Listen D eportier- ter, die durch V erm ittlung der Fam ilien zusam m engestellt werden konnten.

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Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 12. November 1943 (Zusam m enfassung)

Die Delegierten des IK R K haben m it dem K om m andanten des Lagers O ranienburg V erbindung aufgenom m en. Sie durften das Lager nicht besu- chen. Die Zusendung von Paketen m il Hilfsmitteln und K leidung ist erlaubt.

Schreiben des Prasidenten des IKRK an den Prasidenten des Zentralkomitees vom Polnischen Rolen Kreuz in London vom

1. Dezember 1943 (Zusam m enfassung)

D as IK R K hat von dem polnischen V ertrauensm ann vom Ofiag VII A eine Liste m it ca. 500 polnischen S taatsangehôrigen erhalten, die sich in K onzentrationslagern und Gefangnissen befinden und Angehorige der Offi- ziere aus diesem Oflag zu sein scheinen.

Diese Liste wird es dem IK R K ermôglichen, seine H ilfsaktion zu ver- stàrken.

Note der IKRK-Delegation in London vom 16. Dezember 1943 (Zusam m enfassung)

Die Delegation des Kom itees in London teilt die ablehnende A ntw ort des Foreign Office au f die Bitte des IK R K mit, die Blockade zugunsten der H àftlinge in den K onzentrationslagern zu lockern.

Antwort des Prasidenten des IKRK vom 30. Dezember 1943 auf eine Anfrage des beigeordneten Handelsattachês der Bolschaft Frankreichs in Bern in bezug auf junge Franzosen, die sich weigern, in Deutschland zu arbeiten und verhaftet und deportiert worden sind (Zusam m enfassung)

D as IK R K hat keine M iihe gescheut, um diesem Personenkreis zu Hilfe zu kom m en. M it der Begriindung, diese Personen seien nicht wegen ihrer N ationalità t festgenom m en w orden, verweigern ihnen die deutschen Behôr- den die durch die K onvention von 1929 vorgesehene Behandlung, die sinn- gemàss au f die Zivilinternierten angew andt wird. Sie haben den Delegierten des IK R K auch nicht den Besuch der Lager, in denen sie inhaftiert sind, gestattet. Der Zentralstelle fiir Kriegsgefangene ist es nicht gelungen, die Listen mit ihren N am en zu erhalten.

Dagegen ist es grundsàtzlich môglich, individuelle N achforschungen an- zustellen, vorausgesetzt, dass m an die genauen N am en der Betreffenden sowie alle Einzelheiten, die geeignet sind, die Erm ittlungen zu fôrdern, kennt. Ausserdem ist es angebracht, die arische oder nicht-arische A bstam - m ung anzugeben, da keine N achforschungen über Juden durchgefiihrt wer- den kónnen.

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Note des amerikanischen Staatsdepartements vom 24. Januar 1944. die dem IKRK von der Delegation des Amerikanischen Roten Kreuzes in Genf

iibergeben wurde (Zusam m enfassung)

Um die vom IK R K zugunsten der franzôsischen D eportierten in D eutsch­land unternom m enen Schritte zu erleichtern, iiberreicht das Am erikanische Rote Kreuz dem IK R K eine N ote des S taatsdepartem ents, die die Stellung- nahme der Regierung in bezug au f die in den Vereinigten S taaten festgehal- tenen, internierten deutschen Zivilpersonen enthiilt: «Es entspricht der Handlungsvveise der Regierung der Vereinigten Staaten, die festgehaltenen, internierten deutschen Zivilpersonen gemâss den Richtlinien der Konven- tion von 1929 zu behandeln, soweit sie au f Zivilpersonen anw endbar sind. M ehrmals ist die deutsche Regierung fiber diese Politik unterrichtet vvo r­den.»

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 25. Januar 1944 (Zusam m enfassung)

Die IK R K -D elegation gibt N achrichten tiber nach D eutschland depor- tierte franzôsische Persônlichkeiten: G eneral Gam elin sowie die Prâsidenten Reynaud und Lebrun befinden sich im Raum von Innsbruck.

Note des IKRK an das Belgische Rote Kreuz vom 25. Januar 1944 (Zusam m enfassung)

Das IK R K unterrichtet das Belgische Rote K reuz darüber, dass es sich durch V erm ittlung seiner D elegation in Berlin bem iiht, die annahernde Anzahl der Belgier zu erfahren, die sich in den vier grossen K onzentrations- lagern - O ranienburg, Buchenwald, D achau, Ravensbrück (letzteres für Frauen) - befinden kónnten, um seine Paketsendungen zu intensivieren.

Schreiben des IKRK vom 29. Februar 1944 an verschiedene franzôsische Persônlichkeiten (Zusam m enfassung)

Das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz hat im Laufe des Jahres 1943 einen Paketdienst für die K onzentrationslager schaffen kónnen. Eine gewisse Anzahl von Lebensm ittelpaketen ist an H áftlinge in D eutschland und in den besetzten Lândern abgesandt worden. Die zurückgekom m enen Em pfangsbestatigungen beweisen, dass diese Pakete ihre Em pfanger grôss- tenteils erreicht haben.

Da das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz nicht über M ittel zur Beschaffung und Befôrderung dieser Pakete verfügt, muss es sich wegen des Gegenwertes an die Personen und O rganisationen wenden, die den Versand verlangen.

Wenn aber das Kom itee bisher ausreichend M ittel für die Verschickung von Paketen an Háftlinge verschiedener N ationalitát beschaffen konnte, so ist es dagegen sehr schvvierig, die franzôsischen H áftlinge entsprechend zu

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unterstützen. Es w ürde sehr bedauern, nur deshalb d a rau f verzichten zu müssen, bin und wieder Sendungen zusam m enzustellen, weil die A ntragstel- ler die K osten dafü r nicht übernehm en kônnen. D as ware um so bedauer- licher, als die R ücksendung der Em pfangsbestâtigung für ein Paket hâufig das einzige Lebenszeichen darstellt, das eine inhaftierte Person geben kann.

Note des IKRK an das franzôsische Komitee für nationale Freiheit in Algier vom 6. Màrz 1944 (Zusam m enfassung)

D as IK R K besitzt verhâltnism àssig wenige N am en von in K onzentra- tionslagern inhaftierten Franzosen. D a für K ollektivsendungen ein V erbot besteht, verschickt es E inzelpakete an Personen, deren A nschriften ihm bekannt sind. Es kônnte seine A ktion verstàrken, aber die für die Blockade V erantw ortlichen erlauben weder die Ü berw eisung von G eldern noch den V ersand von Paketen ans Übersee zugunsten der D eportierten, da diese K ategorie von Kriegsopfern den Kriegsgefangenen nicht gleichgestellt ist.

Note des IKRK an das Reichsaussenministerium vom 10. Màrz 1944 (Zusam m enfassung)

D as IK R K inform iert sich bei der deutschen Regierung über das Schick- sal von ungefahr 100 franzôsischen Offïzieren, die von den Besatzungs- behôrden kürzlich festgenom m en und deportiert wurden. Es m ôchte ihnen H ilfsmittel zukom m en lassen.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 12. Màrz 1944 (Zusam m enfassung)

Die D elegation in Berlin b ittet das IK R K , Hilfsmittel an fünfhundert Norweger, die sich im Eager Sachsenhausen befinden, zu schicken. Es m üsste ihnen schnellstens m it Lebensm itteln und M edikam enten (Cibazol und V itam inen) geholfen werden. Die D elegation gibt drei neue N am en in Buchenwald inhaftierter N orw eger an, dam it m an ihnen Liebesgaben zu­kom m en lassen kann.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 30. April 1944 (Zusam m enfassung)

Die D elegation des IK R K in Berlin überm ittelt eine Liste litauischer Persônlichkeiten, von denen neununddreissig in D achau und achtzehn in S tru th o f (Natzweiler) inhaftiert sind.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 12. Mai 1944 (Zusam m enfassung)

Die D elegation gibt A uskünfte über die nach D eutschland in die neuen Lager N atzw eiler und Sachsenhausen verbrachten Norweger. H ier befinden

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sich fünfhundert N orweger. D as Lager Sachsenhausen hat sich als besser erwiesen, jedoch miisste den hier Inhaftierten schnell m it Lebensmittel- und M edikam entsendungen (Cibazol und V itam inen) geholfen werden. Die Norweger, die sich vorher im M arlag M ilag N ord befanden, sind nach Sonnenberg - «streng geheimes Lager, iiber das wir nichts wissen» - über- stellt wordcn.

Note (1er IKRK-Delegation in Berlin vom 30. Mai 1944 (Zusam m enfassung)

D er Leiter der IK R K -D elegation in Berlin hat den K om m andanten des K onzentrationslagers S tru th o f (Natzweiler) aufgesucht und meldet dem CCC-Dienst die Anwesenheit von tausend Polen, zweihundertsechzig N or- wegern, hundertfünfundfünfzig D ànen, dreissig Tschechen, drei F ranzosen und fiinfundfünfzig Belgiern in diesem Lager. Die N orw eger und die D ànen befinden sich in einem separaten Lager, dem «G erm anenlager». Sie werden ziemlich gut behandelt und em pfangen Pakete aus D anem ark und Schwe- den. Sie benôtigen U nterkleidung für den W inter sowie Lebensmittel, die im Lager gekocht werden konnen. Jede N ationalità t wird durch einen Lager- àltesten vertreten.

Note des IKRK vom 30. Juni 1944 an seine Delegation in Washington iiber die Unterstiitzung von Juden (Zusam m enfassung)

Um den Juden aus den L àndern, die unter K ontrolle der A chsenm àchte stehen, w irksam helfen zu konnen, ware es wertvoll zu erfahren, was der «W ar Refugee Board» nach D urchsicht der ihm vom IK R K iiberm ittelten Inform ationen und D okum ente zu tun beabsichtigt.

Wie schon oft gesagt, ha t das IK R K im m er den W unsch, alies in seiner M acht Stehende zu tun, um den Verschleppten und Internierten in den K onzentrationslagern zu helfen. Diese A ktion m uss jedoch so schnell wie moglich unter bester A usnutzung der derzeitigen M ôglichkeiten durchge- führt werden, wenn m an sich nicht Gelegenheiten, die sich vielleicht nie wieder bieten, entgehen lassen will.

Das IK R K hat bereits die N otw endigkeit des E ingangs von Lebensmittel- sendungen aus Übersee hervorgehoben, um eine allgemeine H ilfsaktion in den K onzentrationslagern durchführen zu konnen. Tatsâchlich sind seine Bezugsmôglichkeiten in der Schweiz und in den übrigen neutralen Làndern Europas zu gering, als dass es ihm moglich wàre, jeder der hilfsbediirftigen Personen, deren A nschrift es kennt, m onatlich ein Lebensm ittelpaket zu schicken. Bis je tzt ist die Anzahl der Unglücklichen, denen es grundsàtzlich Unterstiitzung gewàhren kônnte, sehr stark angewachsen, wogegen die Beschaffungsmoglichkeiten in E uropa em pfindlich zurückgegangen sind. Die angesprochenen am erikanischen Behôrden haben dem IK R K jedoch noch imm er nicht ihre Elaltung in dieser H insicht mitgeteilt oder es unter- richtet, ob sie es in Betracht ziehen kônnten, bei den Blockadevorschriften

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eine A usnahm e zu m achen, urn den fiir die Entw icklung der H ilfsaktion zugunsten der Zivilhaftlinge unbedingt erforderlichen Versand von Lebens- mitteln zu ermôglichen. D as IK R K m ôchte dringend die Entscheidung des «W ar Refugee Board» erfahren.

Persônliches Schreiben des Prâsidenten des Internationales Komitees vont Roten Kreuz an den Reichsverweser Horthy (nach dem deutschsprachigen

Originaltext)

Genf, den 5. Juli 1944

G estatten Euer D urchlaucht, dass ich mich im N am en der Institu tion, der ich nun seit zwei Jahrzchnten angehore, und auch in meinem eigenen Nam en an Sie vvende.

Von alien Seiten der W elt gelangen an das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz A nfragen, M itteilungen, Proteste, die sich au f die angeblich gegen die ungarischen Juden ergrifienen Zvvangsmassnahmen beziehen, W ir sind nicht in der Lage, diese K orrespondenz zu beantw orten, da wir liber keinerlei für uns überprüfbare Tatbestiindc verfügen. W as uns zur K enntnis gebracht wird, scheint so sehr der ritterlichen Ü berlieferung des grossen ungarischen Volkes zu widersprechen. dass es uns fast unm ôglich erscheint, auch nur dem kleinsten Teil der uns überm ittelten N achrichten G lauben zu schenken.

Im N am en des I n te r n a t io n a l Kom itees vom Roten K reuz m ôchte ich Euer D urchlaucht bitten, W eisungen erteilen zu lassen, die uns in die Lage versetzen, G erüchten und Anschuldigungen entgegentreten zu kônnen. Zu- gleich m ochten wir im N am en der von uns stets vertretenen Prinzipien und der grossen hum anen Überlieferung U ngarns die kôniglich-ungarische Re- gierung beschwôren, all dasjenige zu vermeiden, was dazu beitragen kann. auch den leisesten Anlass zur Bildung solch ungeheuerlicher N achrichten zu geben.

Persônliche Antwort des Reichsverwesers Horthy cm den Prâsidenten des Internationales Komitees rom Roten Kreuz (nach dem deutschsprachigen

Originaltext)

Budapest, den 12. A ugust 1944

Ich ha be Ihr wertes Schreiben dankend erhalten und die entsprechenden Verfiigungen getroflfen, dam it das Presidium des Internationalen Komitees vom Roten K reuz iiber die hierzulande waltenden Verhaltnisse und den genauen T atbestand in der ungarischen Judenfrage w ahrheitsgetreu infor- m iert werde. - L aut M eldung des kôniglich-ungarischen Aussenministe- riums w urde H err Burckhardt, V izeprasident des Internationalen Komitees

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vom Roten Kreuz, durch den ungarischen G eschaftstrager in Bern iiber den wahren Sachverhalt au fgek lart1

In der sicheren A nnahm e, dass H err Prasident iiber die A ufklárungen in Kenntnis gesetzt w ordcn sind, beschriinke ich mich darauf, nur nachdrück- lich zu betonen, dass ich m ir der schwerwiegenden Bedeutung dieses P ro­blems vollkom m en bevvusst bin. Leider fehlte die M ôglichkeit, unmensch- liche A kte zu verhindern, die niem and schàrfer verurteilt als mein ritterlich denkendes und fiihlendes Volk. - Ich beauftragte die ungarische Regierung, die Regelung der Judenfrage in Budapest selbst in die H and zu nehmen. Hoffentlich wird diese erfolgte D eklaration zu keinen schweren Kom plika- tionen fiihren2.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom I. September 1944 (Zusam m enfassung)

Die D elegation von Berlin richtet an das IK R K zwei Listen deportierter Diinen fur die V ersendung von Einzclpaketen in die S trafanstalten und nach O ranienburg.

Note der IKRK-Delegation in Belgrad vom 3. September 1944 (Zusam m enfassung)

Betreffs der jugoslawischen politischen D eportierten gibt der Delegierte des IK R K in Belgrad dem K om itee folgende N achricht: «Alies, was wir tun kônnen, ist N achforschungen nach Einzelpersonen anzustellen, aber wir erhalten sellen A ntw orten.»

Sclireiben des IKRK an den Jiidischen Weltkongress iiber die Sendung von Hilfsmitteln nach Theresienstadt vom 5. September 1944

(Zusam m enfassung)

Das IK R K dank t dem Jiidischen W eltkongress fü rd ie Ü berm ittlung eines Briefes aus Theresienstadt, der den Em pfang von 52 seinerzeit durch die gemischte Hilfskom m ission des Internationalen Roten Kreuzes versandten Kisten m it M edikam enten und Starkungsm itteln bestiitigt.

1 A m 18. Ju li g ab d c r G e sc h a f ts tra g e r von U n g a rn gcw issc Z u sich c ru n g en in bezug a u l 'd a s L os d cr Ju d c n in U n g a rn . V o r allem e rk á r te er. d ie Ju d e n d e p o rta tio n e n nach D eu tsc h la n d scien e ingcstc llt w o rd cn und d ie u n g a risch e R eg ie ru n g e rm ach tig e d as IK R K . H illsm itte l an alle Ju d e n , d ie sich in den G h e tto s u n d in den L agern be fan d cn , zu vertcilen .

2 D as IK R K k a n n h ie r kcinc R ech en sch a ft iiber den von ihm zu g u n s ten d e r Ju d cn - v o r allem in U n g arn u n d in R u m a n ie n - en tfa ltc tcn H ilfsd icnst ab legcn . Es bchiilt sich vo r, d ies g cgebenenfa lls in c in cr b cso n d crc n V cro fle n tlich u n g zu tun .

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Note des IKRK an das Deutsche Rote Kreuz vom 6. September 1944 (Zusam m enfassung)

W egen Ü bersendung von Hilfsm itteln erbittet das IK R K vom D eutschen R oten K reuz die A nschrift von zw eihundert D eportierten aus Vichy (in erster Linie die des Erzbischofs von C lerm ont-Ferrand).

Note des IKRK an das Deutsche Rote Kreuz vom 6. September 1944 (Zusam m enfassung)

Das IK R K beschwert sich beim D eutschen Roten K reuz wegen der unzureichenden A ntw orten au f seine Bitten um Inform ation iiber die depor­tierten franzosischen Zivilpersonen. Die A ntw orten sind stets ausweichend: « ...in den H ánden der P olizei...inhaftiert» - und sonst nichts.

Note des IKRK an das Deutsche Rote Kreuz vom 8. September 1944 (Zusam m enfassung)

D as IK R K schlàgt die E inrichtung eines K orrespondenzsystem s für die D eportierten m it ihren Fam ilien vor, um die U nterbrechung der Postverbin- dungen zwischen D eutschland und F rankreich auszugleichen.

Schreiben des Pràsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an Kardinal Suhard, Erzbischof von Paris

Genf, den 20. Septem ber 1944Ich habe die Ehre, den Eingang des Schreibens Eurer Em inenz vom 14.

September, das m ir von Pater R odhain persônlich iibergeben wurde, zu bestátigen.

Die àusserst beunruhigende Lage der franzosischen politischen H áftlinge in D eutschland, wie sie in der aufrüttelnden Botschaft Eurer Eminenz geschildert wird, ist G egenstand unserer lebhaften und stándigen Besorgnis.

Wie Eure Em inenz selbst in Ihrem Schreiben feststellt, besitzt das Rote K reuz zugunsten dieser K ategorie von K riegsopfern, die ebenfalls Aufm erk- sam keit verdient, nicht in wünschenswertem M asse die gleichen M ittel zu hum anitàrer Hilfeleistung wie sie anderen Gefangenen, z. B. Kriegsgefange- nen und eigentlichen Z ivilinternierten, zugesprochen sind.

Eure Eminenz d a rf jedoch die Gewissheit haben, dass das Internationale Kom itee vom Roten K reuz Ihre Sorge voll und ganz teilt und alies in seiner M acht Stehende versuchen wird, um das Schicksal dieser H áftlinge zu erleichtern. D as Kom itee bem iiht sich, m it dem ganzen E rnst und der D ringlichkeit, die ihre verzweifelte Lage gebieten, ihnen zu Hilfe zu kom - men.

Ich nehm e an, dass Pater R odhain Ihnen in dieser H insicht Rechenschaft iiber die G espràche ablegen wird, die m it ihm zu führen wir den Vorzug hatten.

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Schreiben des Pràsidenten des Internationalen Komitees vont Roten Kreu: an den Pràsidenten des Franzôsischen Roten Kreuzes

Genf, den 21. Septem ber 1944

Ich habe die Ehre, den Em pfang Ihres werten an mich gerichteten Schrei- bens vom 7. Septem ber 1944 zu bestâtigen, welches m ir durch den G rafen de G ram m ont ausgehândigt w urde, über dessen derzeitigen Besuch in G enf wir uns freuen.

Wie Ihr Delegierter im V erlauf der w àhrend seines A ufenthaltes m it ihm geführten G espràche gesehen haben wird, stellt die Lage Ihrer als politische Hàftlinge in D eutschland befindlichen Landsleute eines der besonders schwerwiegenden Problèm e dar, denen wir seit langer Zeit unsere standige A ufm erksam keit widmen.

Wie Sie zweifellos wissen, ist es dem Internationalen K om itee vom Roten Kreuz nach beharrlichen Vorstellungen bei den deutschen Behôrden bereits gelungen, einer ganzen A nzahl von H âftlingen, deren Inhaftierungsort in Deutschland ihm bekannt war, im R ahm en der ihm zur Verfügung stehen- den M ittel m atérielle Hilfe zukom m en zu lassen. Dieses schon vor einigen M onaten inm itten ernster Schwierigkeiten begonnene W erk wird von uns fortgesetzt und - so hoffen wir - nach allen Seiten hin ausgeweitet. Schon je tzt versichere ich Ihnen, dass das In ternationale Kom itee seine bisherigen A nstrengungen in dieser R ichtung m it allen M itteln verstàrken wird.

Leider muss in bezug a u f den S tatus der franzôsischen Zivilhaftlinge in D eutschland, deren Schütz die franzôsischen Behôrden und das Franzôsi- sche Rote K reuz gerne vom Internationalen Kom itee vom Roten Kreuz übernom m en sehen m ôchten, d a ra u f hingewiesen werden, dass die A ktions- mittel dazu tatsàchlich sehr begrenzt sind. D as Internationale Kom itee hatte den verschiedenen kriegführenden M âchten schon zu Beginn des Krieges im Jahre 1939 - übrigens in V oraussicht einer solchen S ituation - vorgeschla- gen, den Konventionsentwurf (sogenannter Tokio-Entw urf) zum Schütz der Zivilpersonen im Feindgebiet oder vom Feind besetzten Gebiet unverzüglich anzunehm en und in K raft zu setzen. Dieser Vorschlag ist jedoch von der M ehrheit der betreffenden Regierungen nicht beantw ortet worden.

Die Zustim m ung der besagten Regierungen hatte dem Internationalen Kom itee vom Roten K reuz einen R ückhalt gegeben. A ber auch ohne diese U nterstützung hat es von Beginn des K onfliktes an nichtsdestoweniger versucht, fiir aile Zivilpersonen im Feindgebiet oder vom Feind besetzten Gebiet - ganz gleich aus welchem G rund sie inhaftiert w orden waren - Lebensverhâltnisse in Ü bereinstim m ung m it gewissen G rundsàtzen der M enschlichkeit zu sichern. Wie ich Ihnen bereits zu A nfang sagte, wird das Internationale Kom itee erneut intervenieren, und zwar in dringlicher Form .

Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz m ôchte aile nur môglichen Erfolgsaussichten zusam m enfassen. D aher glaubt es, Sie au f folgenden Punkt aufm erksam m achen zu müssen:

Die Erfahrung zeigt, dass Gegenseitigkeit bei derartigen V erhandlungen cin wichtiger F ak to r ist. Es ist daher môglich, dass die gegnerische Partei

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- wenn wir ihr unsere Vorschlâge zugunsten der franzósischen politischen Háftlinge unterbreiten - fragt, ob dagegen die franzôsische Regierung es zulassen wiirde, wenn das Internationale Komi tee sich in gleicher Wei se fur die deutschen S taatsangehôrigen einsetzen wiirde, deren In ternierung die franzósischen M ilitar- oder Z ivilbehôrden in Frankreich selbst oder bei Besetzung deutscher Gebiete fiir nótig erachtet haben oder halten werden. W enn ich die Eventualitát einer solchen F rage erwàge, so deshalb, dam it dieses Problem schon je tzt von den franzósischen Behórden und dem F ran ­zósischen Roten K reuz m it der unseres Erachtens gebotenen D ringlichkeit geprüft wird. W ir hielten es fiir notwendig, dass die verschiedenen alliierten Behórden ihrerseits diese Frage ebenfalls in áhnlicher Wei se und - wenn môglich - in einem gem einsamen A bkom m en beriicksichtigen.

W enn ich m ir erlaubt habe, in diesem Brief die Schwierigkeiten aufzuzei- gen, m it denen sich das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz konfron- tiert sieht, so nur darum - und das werden Sie sicher verstehen - , dam it in der Hoffnung, das Ziel aller unserer Bem ühungen zu erreichen, alle rnogli- chen A ktionsm ittel zusam m engefasst werden.

Note des IKRK an seine Delegation in Berlin vom 15. September 1944 (Zusam m enfassung)

Seit einiger Zeit gehen beim C C C-D ienst keine Em pfangsbestatigungen für Pakete m ehr ein, die an Einzelpersonen im Lager Sachsenhausen adres- siert werden, w àhrend sie von anderen Lagern weiterhin zurückgesandt werden. K ônn te es sein, dass diese U nterbrechung in der R iicksendung der Em pfangsbestatigungen bedeutet, dass die Em pfanger ihre Pakete nicht erhalten haben oder aber, dass sie sie zw ar em pfangen, jedoch nicht die M ôglichkeit gehabt haben - sei es aus Zensur- oder posttechnischen G riin- den - , die Em pfangsbestatigungen zurückzuschicken? W are es andererseits môglich, dass bestim m te Sendungen das Lager zum Beispiel infolge von Bom bardierungen nicht erreicht haben? Um der D elegation eine K ontrolle der Sendungen zu ermôglichen, fiigt das K om itee diesem Schreiben die Liste der seit dem 1. Juli 1944 an dieses Lager gerichteten Sendungen bei. Die D elegation wird gebeten, das Kom itee fiber ihre in diesem Lager môglichst persónlich gesamm elten Eindriicke zu unterrichten und mitzuteilen, ob es seine P aketaktion fortsetzen kann. D as Kom itee bereitet neue Sendungen an dieses Lager noch für den laufenden M onat vor. Die erbetenen N achfor- schungen sind daher sehr dringend.

Note des IKRK an seine Delegation in Berlin vom 15. September 1944 (Zusam m enfassung)

D as IK R K freut sich, mitteilen zu kônnen, dass die - dank der W aren des D am pfers «Cristina» - nach D achau vorgenom m enen Sendungen unerwar- tete Erfolge gebracht haben. Die an den V ertrauensm ann gerichteten Sam- m elpakete, die in G enf am 23. A ugust zum Versand kam en, sind am 3.

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Septem ber in D achau eingetroffen. Die von der Post am 7. September abgestem pelten Em pfangsbestatigungen kam en am 1 i . Septem ber in G enf an. D as Ergebnis dieser K ollektivsendungen ist auch deswegen hervorra- gend, weil jede Em pfangsbestatigung von m ehreren Personen (vier bis fünf- zehn) unterzeichnet wurde. D as Kom itee dank t seiner D elegation fur die anlasslich ihres Besuches beim K om m andanten des Lagers D achau unter- nom m enen A nstrengungen, die gewiss zu einern erheblichen Teil zu diesem guten Erfolg beigetragen haben.

Note der IKRK-Delegation in Brussel vom 16. September 1944 (Zusam m enfassung)

Die D elegation in Briissel gibt dem IK R K A uskiinfte fiber die nach D eutschland deportierten Belgier. In D eutschland befinden sich ungefahr 8000 politische belgische Haftlinge. D ank der A nstrengungen des IK R K konnten 1600 D eportierte identifiziert werden. Jeder von ihnen erhàlt seit einigen M onaten 2 Pakete m onatlich.

Schreiben des Prásidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Reichsminister des Auswartigen (nach dem deutschsprachigen

O riginaltext)

Genf, den 2. O ktober 1944 In der Anlage d a rf ich Ihnen eine N ote zur Frage der Schutzhaftlinge

iiberreichen und um wohlwollende Prüfung derselben bitten.W enn das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz gerade heute au f

dieses Problem mit dem Ersuchen wieder zuriickkom m t, ihm die Betreuung dieser G ruppe von Zivilpersonen zu erlauben, so geschieht dies in erster Linie deshalb, weil ein Teil derselben - beispielsweise die Franzosen - gegenwàrtig von ihrcn A ngehorigen getrennt sind und nicht mehr, wie bisher, von ihnen Lebensm ittelpakete em pfangen kônnen. Auch ist es ihnen nicht m ehr môglich, ihren Fam ilien ein Lebenszeichen zukom m en zu lassen. Das Internationale K om itee vom Roten K reuz ist som it heute die einzige Stelle, welche diesen auslândischen Schutzhaftlingen einen, wenn auch im Vergleich zu den Kriegsgefangenen und Z ivilinternierten nur sehr geringen, m oralischen und materiellen Beistand leisten kann.

Um darzulegen, dass sich das In ternationale K om itee vom Roten Kreuz imm er und überall, wenn es dazu die M ôglichkeit hatte, des Schicksals der politischen H aftlinge angenom m en hat, kann m an das Beispiel Brasilien anfiihren. Das In ternationale Kom itee konnte seit Beginn der Feindseligkei- ten zwischen Brasilien und D eutschland verm itteln und zahlreichen deut- schen S taatsangehôrigen, die aus politischen G ründen verhaftet und in Gefangnissen inhaftiert waren, regelmassig Hilfe bringen. Auch in England wurde dem In ternationalen Kom itee Gelegenheit gegeben, ein Lager mit Deutschen zu besuchen, a u f welche die K onvention fiir Kriegsgefangene von 1929 nicht angew endet wurde.

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D as In ternationale K om itee d a rf daher der H offnung A usdruck geben, dass Sie, H err Reichsm inister, die A ntráge hinsichtlich der Betreuung der in K onzentrationslagern oder Gefangnissen inhaftierten auslándischen Schütz- oder Polizeihàftlinge befürworten werden und uns Ihren diesbezüg- lichen Entscheid baldm óglichst m itteilen lassen.

Beigefiigte Aufzeichnung zum vorangehenden Brief (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

Genf, den 2. O ktober 1944 D as Fehlen eines wirkungsvollen vólkerrechtlichen Schutzes für Zivilper-

sonen, die sich w ahrend eines Krieges a u f dem Gebiete eines Feindstaates befinden, ha t in der Zeit zwischen den beiden W eltkriegen zu dem sogenann- ten T okio ter E n tw urf geführt, der einen wesentlichen F ortschritt hinsicht­lich der Behandlung dieser K ategorie von Angehorigen befeindeter S taaten darstellt. Leider konnte dieser V ertragsentw urf, der von der Reichsregierung zu Kriegsbeginn ais G rundlage für den Abschluss eines A bkom m ens be- zeichnet w urde, nicht in K raft gesetzt werden. Im m erhin erklárten sich die kriegführenden M áchte seit Beginn des gegenwártigen K onfliktes bereit, den au f ihrem Staatsgebiet befindlichen Bürgern befeindeter S taaten, wenn auch nicht alie Vorteile, welche der E ntw urf von Tokio für die Zivilpersonen vorgesehen hatte, zuzugestehen, so doch ihnen eine den Kriegsgefangenen im Sinne der K onvention von 1929 analoge Behandlung zu gewahren.

Diese au f der K onvention für Kriegsgefangene beruhende Behandlung w urde den sogenannten politischen Schutzhaftlingen nicht zugestanden. U n ter der Bezeichnung «politische Schutzháftlinge» sind Zivilpersonen zu verstehen, deren In ternierung nicht aus dem alleinigen G rund ihrer Zugehó- rigkeit zu einem befeindeten S taat erfolgt. D as In ternationale K om itee vom Roten K reuz hat sich dennoch im m er bem üht, zugunsten dieser besonderen K ategorie von Zivilinternierten bei alien kriegführenden S taaten zu vermit- teln, um für sie die gleiche Behandlung wie für die oben erw áhnten Zivilper­sonen zu erreichen.

Aus welchen G ründen auch imm er die In ternierung und Ü berstellung dieser Personen aus den besetzten Gebieten in das G ebiet der Besatzungs- m acht erfolgt, es gilt abzuwâgen, wie wichtig die folgenden M inim algaran- tien, die Sicherheit und Behandlung der politischen Schutzháftlinge betref- fend, ohne U nterschied von N ationalitât und Internierungsort sind:

a) Bekanntgabe der Ñ am en der Haftlinge, ihres G ew ahrsam sortes, ihres G esundheitszustandes; Ü berm ittlung von N achrichten zwischen den H áftlingen und ihren Angehorigen;

b) M óglichkeit, Liebesgaben zu erhalten an Lebensm itteln, K leidung, A rzneim itteln und Büchern;

c) G enehm igung von Besuchen von seiten einer neutralen Stelle, z. B. des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz, deren A ufgabe es ware,

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sich über die Lebensbedingungen der Hâftlinge hinsichtlich U nterkunft, N ahrung, Hygiene und Behandlung zu unterrichten;

d) Erm âchtigung für die H âftlinge im Falle eines gerichtlichen Verfah- rens, den G rund der A nklage zu erfahren sowie nach M oglichkeit eine Beschleunigung des V erfahrens zu erreichen

U nter den gegenwártigen U m stánden bedürfen alle in H aft befindlichen und von ihrer H eim at getrennten Zivilpersonen, deren Zahl im Anwachsen begrifïen ist, der besonderen Fürsorge des In ternationalen Komitees vom Roten Kreuz. D eshalb glaubt das In ternationale Kom itee vom Roten Kreuz, m it alien ihm zur V erfügung stehenden M itteln eine áhnliche Aktivi- tâ t entfalten zu müssen, wie es sie zugunsten der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in den kriegführenden S taaten ausiibt. D as Internationale Kom itee vom Roten K reuz b ittet daher die zustàndigen Reichsbehôrden, ihm wenigstens folgendes baldigst zugestehen zu wollen:

1) Den Delegierten des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz wolle gestattet werden, im Reich und in den besetzten Gebieten die K onzentrationslager und sonstigen H afto rte zu besuchen, wo sich politi- sche Schutzhaftlinge nicht-deutscher N ationalitâ t befinden.

2) Dem In ternationalen Kom itee vom Roten K reuz wolle gestattet werden, au f G rund des von seinen Delegierten festgestellten Bedarfs an diese H âftlinge Lebensm ittel, K leider und Arzneim ittel verteilen zu lassen.

3) Es môgen Listen m it den N am en und A nschriften der bereits er- w àhnten Schutzhaftlinge angelegt und dem Internationalen Kom itee vom Roten Kreuz zugestellt werden.

Das In ternationale K om itee vom R oten K reuz d a rf nochm als darau f hinweisen, dass diese Vorschlâge, so dringend sie auch sind, nur ein M ini­mum jener Zugestándnisse darstellen, die den Z ivilinternierten ir. den krieg­führenden L àndern zustehen. Es hofft daher zuversichtlich, dass die Reichs­behôrden dieselben gutheissen werden und bittet urn baldm ogliche Stellung- nahme.

An die Konsuln Grossbritanniens und der Vereinigten Staaten in Genf gerichtete Zusammenfassung der vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zugunsten der auslandischen politischen Hâftlinge unternommenen

Schritte

Genf, den 16. O ktober 1944 Im Septem ber 1944 haben das Franzósische und das Belgische Rote

Kreuz durch V erm ittlung einer eigens zu diesem Zweck nach G enf gekom- ntenen D elegation an das In ternationale K om itee vom Roten K reuz den

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dringcndsten Appell zugunsten der franzôsischen und belgischen D eportier- ten und politischen G efangenen in D eutschland gerichtet.

A uf G rund dieses A ufrufs und infolge zahlreicher bereits friiher unter- nom m ener Versuche ha t sich das In ternationale Kom itee vom Roten Kreuz in folgendem Sinne erneut an die deutschen Behorden gewandt:

Bereits seit A nfang des Krieges hat sich das In ternationale K om itee vom R oten K reuz um den Schütz der Z ivilpersonen im Feindgebiet gekiimmert. Es hat alien K riegsteilnehm ern em pfohlen, den K onventionsentw urf zum Schütz der Z ivilpersonen au f Feindgebiet oder vom Feind besetzten G ebiet - den sogenannten T okio ter E ntw urf - unverzüglich anzunehm en und in K raft zu setzen. Leider hat jedoch dieser Versuch des In ternationalen Komi- tees vom Roten K reuz keinen Erfolg gehabt, da die meisten kriegfiihrenden M achte au f diesen Vorschlag nicht geantw ortet h ab en 1. D ennoch hat das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz seine Bemiihungen fortgesetzt, den H aftlingen in den Gefangnissen und K onzentrationslagern in D eutsch­land zu helfen, vor allem durch Verschickung von Liebesgaben in alle Lager, in die der Paketversand m ôglich war.

D as In ternationale Kom itee vom R oten K reuz ha t daher die deutschen Behorden gebeten, wenigstens folgendes zu genehmigen:

1) die A usstellung und Ü bergabe von N am enlisten (mit Adressenanga- be) von den in Gefangnissen und K onzentrationslagern inhaftierten Per­sonen an das In ternationale K om itee vom R oten K reuz

2) die Zusendung von Liebesgaben m aterieller und geistiger A rt an diese Personen

3) den Besuch der K onzentrationslager und anderer H aftstâ tten durch die Delegierten des In ternationalen Kom itees vom R oten K reuz

D as In ternationale K om itee vom Roten K reuz h a t dem Roten Kreuz Belgiens und F rankreichs in seiner A ntw ort versichert, dass es sich weiterhin bem ühen wird, eine Verbesserung des Schicksals der nach Deutschland deportierten und do rt inhaftierten franzôsischen und belgischen Zivilperso­nen zu erreichen. G leichzeitig hat es die von den beiden Rotkreuz-G esell- schaften selbst anerkannte N otw endigkeit hervorgehoben, das Problem in seiner G esam theit zu behandeln und sich fiir alie aus den alliierten N ationen stam m enden Zivilpersonen einzusetzen. Es hat ebenfalls unterstrichen, dass es nützlich ware - um soweit als môglich eine giinstige A ntw ort au f das von ihm den deutschen Behorden vorgelegte Gesuch sicherzustellen - , wenn es ihnen unaufgefordert oder in B eantw ortung einer sehr wahrscheinlichen entsprechenden A nfrage m itteilen kónnte, dass die belgischen, franzôsischen

1 A n d ieser S telle e r in n e rt d as In te rn a tio n a le K o m itee vom R o ten K reu z d a ra n , dass es ihm in d e r F o lge in bezug a u f d ie e igen tlichen Z iv ilin te rn ie rten gelungen ist, von d en m eisten k rieg fiih ren d en S taa ten d ie Z u sag e zu e rh a lte n , d iesen In te rn ie rte n eine â h n lich e B e h an d lu n g zuteil w erd cn zu lassen w ie sie v o n d e r G e n fe r K o n v cn tio n v o n 1929 fiir d ie K rieg sg efan g en en vo rgesehen ist.

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und vielleicht sogar die übrigen alliierten Behôrden wenigstens im Prinzip geneigt wàren, die Gegenseitigkeit zuzugestehen.

Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz meint dam it, dass die verschiedenen alliierten Regierungen, und insbesondere die am erikanischen und britischen Behôrden, bereit wàren, etwaigen politischen Hàftlingen deutscher S taatsangehôrigkeit, die sie in ihrer G ewalt batten oder zu einem spáteren Z eitpunkt gefangennehm en wiirden, unabhàngig von jeglichem Gerichtsverfahren, das gegen einzelne unter ihnen erôffnet werden kónnte, eine àhnliche Behandlung zu gewahren, wie sie das Internationale Komitee augenblicklich von den Behôrden des Reichs verlangt, d.h.:

1) A usstellung und Ü bergabe von N am enlisten dieser H àftlinge an das In ternationale Kom itee vom R oten Kreuz

2) E rlaubnis zum Em pfang von Liebesgaben m aterieller und geistiger A rt

3) Besuch der Internierungslager, wohin diese Personen gegebenenfalls deportiert wiirden, durch Delegierte des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz

Falls die am erikanischen und britischen Behôrden es für móglich halten, sich ihrerseits dieser M einung anzuschliessen und dariiber hinaus den ande- ren alliierten Behôrden darzulegen, welches Intéressé sie daran haben miiss- ten, der vorliegenden A nregung des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz stattzugeben, so glaubt es, dass die bereits unternom m enen Schritte, die es dann in D eutschland wiederholen würde, m ehr Aussicht au f Erfolg hatten.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 17. Oktober 1944 (Zusam m enfassung)

Anlàsslich einer Reise nach Ravensbriick haben die Delegierten um einen Em pfang beim A djutanten des K onzentrationslagers nachgesucht. Sie ha­ben m it ihm die F rage des eventuellen M edikam entenversands an die Àrz- tinnen der verschiedenen N ationalitâ ten erôrtert.

Dies wird gestattet, sofern es sich um eine einzige Sam m elsendung handelt und nicht um Pâckchen, die an jede einzelne Inhaftierte gerichtet sind. Pro N ationalità t wird eine Sendung akzeptiert und die Em pfangsbestatigung nach G enf zuriickgeschickt.

Schreiben des IKRK an den Kommandanten des Lagers Auschwitz (Oswiecim, Oberschlesien) vom 17. Oktober 1944 (Zusam m enfassung)

D as IK R K kiindigt den Versand von Paketen an die franzôsischen und belgischen Lagerâltesten an und bittet, dass ihnen Gelegenheit gegeben wird, die Verteilung un ter ihren Landsleuten vorzunehm en.

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Es wáre dem K om m andanten fur A ngabe der ungefahren Anzahl von Internierten jeder N ationalitàt in dem Lager verbunden. D adurch hàtte das K om itee die M ôglichkeit, seine Paketsendungen zu intensivieren.

Schreiben des Prasidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Minister fiir Gefangene, Deportierte und Flüchtlinge in Paris

Genf, den 23. O ktober 1944 ... D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz ist sehr erfreut zu

erfahren, dass die provisorische Regierung der franzôsischen Republik zu- stim m end au f die Em pfehlung des Internationalen Kom itees über die Ge- genseitigkeit in der Behandlung geantw ortet hat und diese Regierung bereit wàre, diese Behandlung den bereits in Frankreich festgenom m enen und den in Z ukunft in F rankreich und in D eutschland noch festzunehm enden deut- schen Z ivilinternierten zu gewahren. Diese Gegenseitigkeit soli sich vor allem au f folgende Punkte erstrecken:

a) Ü bergabe einer nam entlichen A ufstellung der deutschen Zivilháft- linge an das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz

b) die Erlaubnis, die A ufenthalts- oder H afto rte von den Delegierten des In ternationalen Kom itees besuchen zu lassen

c) Genehm igung, unverziiglich die Repatriierung von F rauen, alten M enschen und K ranken in A ngriff zu nehm en

Diese ersten drei Punkte sind den deutschen Behôrden bereits vom In ter­nationalen Kom itee vom Roten K reuz m it der Bitte um eine wohlwollende A ntw ort unterbreitet worden.

Ausserdem halt es das In ternationale Kom itee für richtig, die betreflfenden Zivilháftlinge über die Anklagen, die zu ihrer V erhaftung geführt haben, zu unterrichten.

Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz erlaubt sich den Hinweis, dass es seines Erachtens vorzuziehen ware, von nun an zur Bestim mung dieser Personen - m it A usnahm e der als solche durch die G ew ahrsam sm acht anerkannten Z ivilinternierten - lieber die Bezeichnung «deutsche Háftlinge in den H ànden der franzôsischen Behôrden» zu verwenden ais «politische Háftlinge» oder «politische D eportierte». Diese Begriffe bergen die G efahr, von den deutschen Behôrden in einem engeren Sinne aufgefasst zu werden, da Zivilpersonen der obengenannten K ategorie bei ihnen unter der Bezeich­nung Schutzhàftlinge geführt werden.

Die F rage der unverzüglichen R epatriierung von F rauen, alten M enschen und K ranken ha t sich das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz bisher für weitere V erhandlungen vorbehalten. Es wird nicht versaum en - sobald es die G elegenheit für günstig h a l t - , sie den deutschen Behôrden zusam m en m it der F rage der K orrespondenz m it diesen H áftlingen zur Billigung vorzu- legen. H eute kann es das zweifellos m it besseren Erfolgsaussichten tun, da es inzwischen über die positiven Anweisungen der provisorischen Regierung

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der Franzósischen Republik in bezug a u f diese diversen Punkte unterrichtet ist.

Bericht des CCC-Dienstes iiber die Verteilung der War en des Dampfers «Cristina» (August und September 1944) ’

Genf, den 30. O ktober 1944M it G enehm igung des A m erikanischen Roten Kreuzes hat die Hilfsabtei-

lung des IK R K dem C C C -D ienst am 20. A ugust 1944 die W aren des beschadigten D am pfers «Cristina» zur V erfügung gestellt. Es handelte sich um zwei W arenposten:

1) 50 775 kg b ru tto verschiedener Lebensmittel

2) 12 000 kg b ru tto verschiedener Konserven

Die gemischte H ilfskom m ission, die für den C C C -D ienst arbeitet, hat in zwei W ochen eine Anzahl von Paketen m it einem N ettogew icht von 54 756 kg (25 600 Pakete zu 2,150 kg) fertiggestellt und versandt.

Die Sendungen sind zwischen dem 24. A ugust und dem 9. September durchgefiihrt worden, was einem A usgang von 1700 Paketen tàglich ent- spricht.

Diese Sendungen «Cristina» w urden au f dem Postwege an die Flauptkon- zentrationslager verschickt. Die Sendungen um fassten pro Lager sowie fiir jede N ationalità t von Zivilhàftlingen:

a) persônlich adressierte Pakete

b) Pakete an den Lageraltesten jeder N ationalitàt

Die Lagerkom m andanten w urden iiber die Anzahl der versandten Pakete unterrichtet. Jeder Lagerálteste erhielt ein Schreiben sowie Auszüge aus dem Sachverstândigengutachten des K an tonslaboratorium s in G enf über die Q ualitát der Lebensm ittel, ihre maxim ale H altbarkeitsdauer und die M ass- nahm en zur V erhütung eventueller Vergiftungen.

Die Pakete w urden wie folgt au f die verschiedenen N ationaiitaten verteilt:

B clgier. . . S p an ie r . . F ra n zo sen . G r ie c h e n . . N iederltinder P olen . . . N o rw eg c r . T schechcn .

persônlich insgcsamtadressicrt Lagcriiltcslen2 404 1 900 4 304

- 300 3005 386 3 200 8 586

109 300 409966 1 900 2 866

1 320 2 900 4 2203 115 500 3 6 1 5

- 800 800

1 Es h a n d c lt sich h ie r um einen in te rn e n u n d zu sam m en g efass ten B erich t, d e r aus versch iedenen g le ich artig en h erau sg e n o m m en w urde . E r ist je d o c h in A n b e tra c h t se iner B cd eu tu n g a ls Beispiel h ier w iedcrgebcn w o rd en .

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pcrsônlichadrcssicrt Lagcrâltcstcn insgcsamt

400 100

25 600

Jugos law en I ta l iener .

400100

13 300 12 300Im Laufe des M onats Septem ber nahm en die Delegierten des In ternatio-

nalen Kom itees vom R oten K reuz V erbindung m it den Lagem D achau bei M ünchen, Buchenwald-W eim ar, Natzweiler (Elsass), Ravensbrück bei Für- stenberg und Sachsenhausen-O ranienburg bei Berlin auf. Sie haben sich von der N otw endigkeit überzeugen kônnen, die Sendungen fortzusetzen.

Ein Lagerâltester aus einem dieser Eager konnte uns den ordnungsgem às- sen Em pfang der Sendungen des In ternationalen K om itees schriftlich bestà- tigen. A ndererseits teilte dieser Lageràlteste sehr intéressante Einzelheiten über die an jede N ationalità t unter den H âftlingen gerichtete Anzahl von Paketen mit und unterrichtete das K om itee über seine Schàtzungen bezüg- lich der A ufteilung der Sendungen:

ausreichend für die N orw eger und die N iederlânder m üssten für die Polen und die Franzosen verzehnfacht werden

Empfangsbestàtigungen

Im A ugenblick ist die Lage folgende:von 13 300 persônlich adressierten Paketen w urden dem Internationalen

K om itee 2407 Em pfangsbestàtigungen zurückgeschickt;von 12 300 an die Lageràltesten gerichteten Paketen erreichten G enf 3069

Em pfangsbestàtigungen; diese ergeben eine G esam tzahl von 8000 neuen N am en Zivilgefangener.

D ank der an die Lageràltesten adressierten Sam m elsendungen konnte die K artei des CC C-D ienstes vorteilhaft vervollstàndigt und vergrôssert wer­den. Schon am 7. Septem ber trafen die ersten Em pfangsbestàtigungen aus dem Lager D achau beim Internationalen Kom itee ein.

Finaniielle Lage

Die K osten für «N euaufm achung», V erpackung, Verladen, Versand und Versicherung gegen die üblichen T ransportschàden und K riegsrisiken betru- gen 3,25 F r pro Paket.

M it A usnahm e der K osten, die durch den Versand der Pakete an die spanischen und italienischen Zivilhâftlinge entstanden, w urden die K onten der nationalen Rotkreuz-G esellschaften m it den entsprechenden Summen belastet. Tatsàchlich verfügt der C C C -D ienst über keinerlei G elder zugun- sten dieser beiden ersten N ationalitàten von Zivilhàftlingen. Die betreffen- den Betràge w urden zu Fasten des K ontos «Sicherheitsspanne» des CCC- Dienstes verbucht.

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Note der IKRK-Delegation in Berlin (Zusam m enfassung)

Berlin, den 3. N ovem ber 1944Die Delegation des IK R K in Berlin schickt «N achrichtenform ulare» ans

dem K onzentrationslager Buchenvvald nach G enf zur W eiterleitung an die angefiihrten A nschriften zum Zwecke der Verschickung von Paketen an diese D eportierten.

Note der IKRK-Delegation in Berlin vom 8. Dezember 1944 (Zusam m enfassung)

Ein Delegierter des IK R K begab sich nach dem Lager O ranienburg, um zu erfahren, ob das vom IK R K vorgeschlagene Em pfangsbestatigungs- form ular akzeptiert wurde. Es handelt sich um eine von den Lagerâltesten fiir Sam m elsendungen zu unterzeichnende Em pfangsbestâtigung.

Der Lagerkom m andant billigte dieses F orm ular. Eine an die N orw eger gerichtete Sendung w urde von drei Lagerâltesten unterschrieben.

Der Delegierte hofft, dass den übrigen N ationalitâten die gleiche Geneh- migung erteilt wird. Um die U nterschrift der Lagerâltesten fiir den Em pfang dieser Sendungen in O ranienburg erhalten zu kônnen, bittet der Delegierte um die Zusendung von Em pfangsbestâtigungen fiir alle in letzter Zeit vorge- nom m enen Sammelsendungen.

Sclireiben des Prdsidenlen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Reichsminister des Auswartigen (nach dem deutschsprachigen

O riginaltext)

Genf, den 9. Dezem ber 1944 Der E ntw urf von Tokio wird von den kriegfiihrenden S taaten nur in

einem einzigen Punkt a u f der Basis der Gegenseitigkeit, d .h . betreffs der Zivilpersonen, die sich au f dem T erritorium eines kriegfiihrenden Staates befinden und do rt interniert sind, akzeptiert. D eshalb ist die Lage der Zivilbevôlkerung in den besetzten Gebieten und ganz besonders die Situa­tion der Personen, die aus den verschiedensten G riinden inhaftiert und m anchm al aus dem besetzten G ebiet deportiert w orden sind, in m ancher Hinsicht unsicher und oft wenig erfreulich. Dies erk làrt sich zum Teil aus dem U m stand, dass die Bestim mungen des Landkriegsrechts-Reglem ents des vierten H aager A bkom m ens betreffs der Rechte der Besatzungsm acht unterschiedlich gehandhabt werden.

Das In ternationale Kom itee vom R oten Kreuz, das sich vor das Problem des Schutzes der vom G egner inhaftierten Zivilpersonen beider kriegfiihren­den Parteien gestellt sieht, erlaubt sich, die F rage aufzuwerfen, ob es môglich wâre, die Angelegenheit au f eine A rt und Weise zu regeln, die den W iinschen oder dem ausdriicklichen W illen der interessierten Parteien entspricht. Bei einer Z usam m enkunft in G enf kônnten die bevollm âchtigten V ertreter der

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betreffenden Regierungen unter E inschaltung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz einen vorláufigen «m odus vivendi» finden und sich über alle Belange der Z ivilpersonen in Feindeshand verstándigen, ohne in direkte V erhandlungen einzutreten.

Solche durch V erm ittlung eines neutralen O rgans erfolgenden Verstándi- gungen grundsátzlicher A rt haben w ahrend des Krieges 1914/1918 wieder- ho lt stattgefunden. A uf der Basis der dam aligen günstigen Erfahrungen w urde der Artikel 83 in das G enfer K riegsgefangenen-A bkom m en von 1929 aufgenom m en.

Schon zu Beginn dieses Krieges hat das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz die kriegfiihrenden M achte au f den N utzen solcher Fühlung- nahm en hingewiesen. W enn auch bis jetzt - soweit dem Internationalen Kom itee vom Roten K reuz bekannt - keine Besprechungen solcher A rt stattgefunden haben, wiirde die hier in F rage stehende Angelegenheit der Behandlung von Zivilpersonen aus befeindeten S taaten einen Anlass zu einer tatsàchlichen V erstándigung au f diesem W ege in analoger A nw endung des erw áhnten A rtikels 83 bieten. D a es sich bei den beteiligten Regierungen um solche handelt, die nicht durch Schutzm âchte in m ittelbarem diplom ati- schem V erkehr stehen, glaubt das In ternationale Kom itee vom Roten Kreuz, die Initiative zu einem Vorschlag in dieser Richtung ergreifen zu müssen. Es m ôchte indessen betonen, dass es den grossten W ert d a rau f legt, dass dadurch in keiner Weise eine Verzôgerung in der Behandlung der durch seine A ufzeichnung vom 2. O ktober 1944 der D eutschen Reichsregierung unterbreiteten Vorschlage eintritt. Im Gegenteil wiirde eine Z ustim m ung der interessierten M achte zu jenen Vorschlâgen und die A ufnahm e einer Tâtig- keit des In ternationalen Kom itees au f jener G rundlage eine günstige Vor- aussetzung fiir eine V erstándigung in gleichzeitigen V erhandlungen des Kom itees mit in G en f anwesenden V ertretern der beteiligten Regierungen schaffen.

Wie aus der erw áhnten N ote des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz hervorgeht, stellen die von ihm befürw orteten G rundsàtze nur ein M inim um des Schutzes dar, der den inhaftierten Zivilpersonen befeindeter S taaten aus G riinden der M enschlichkeit gew áhrt werden miisste. Es ware hôchst wiinschenswert, wenn nicht nur die Behandlung der Flàftlinge Ge- genstand von Besprechungen wâre, sondern auch die F rage, ob nicht gewis- se K ategorien von Personen, wie F rauen, Greise, K ranke und K inder, repatriiert werden kônnten. In Betracht zu ziehen wáren aber auch solche Personen, fiir welche die F o rtdauer der H aft nicht m ehr gerechtfertigt erscheint, weil die G riinde, aus welchen die V erhaftung erfolgt ist, nicht m ehr bestehen.

So wiinschenswert wie die gleichzeitige Ü berprüfung des Problem s der Befreiung und R epatriierung dieser Háftlinge wáre, so sollten eventuelle - sich aus der Behandlung dieses Them as ergebende - Schwierigkeiten au f keinen Fall den Abschluss eines ebenso günstigen wie schnellen Überein- kom m ens verhindern, welches den H âftlingen die in der N ote vom 2. O k to ­ber 1944 dargelegten allgemeinen Erleichterungen verschafft.

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Das Internationale Kom itee vom Roten K reuz würde es ausserordentlich dankbar begrüssen, wenn die D eutsche Reichsregierung diesen Anregungen cine günstige A ufnahm e bereiten würde.

Schreiben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an die Vertreter der Gesellschaften vom Roten Kreuz von Jugoslawien, Polen, den

Niederlanden, Griechenland, Norwegen, Frankreich (Ministerium für Kriegsgefangene, Mission in der Schweiz) in Genf

Genf, den 19. Dezem ber 1944 N ach gewissen, uns kürzlich zugegangenen Inform ationen scheinen die

deutschen Behôrden darüber unterrichtet zu sein, dass wir au f G rund der eingegangenen Em pfangsbestátigungen eine Liste der D eportierten Ihres Landes erstellt haben.

Anscheinend vvünschen diese Reborden jedoch nicht, dass wir eine solche Restandsaufnahm e vornehm en. W ir laufen G efahr, die wenigen uns noch für die Versorgung der D eportierten zur Verfügung stehenden Moglichkei- ten aufs Spiel zu setzen, wenn wir die Em pfangsbestátigungen für die zugesandten Pakete benutzen, eine Liste der gesuchten und wiedergefun- denen D eportierten aufzustellen.

W ir sind davon überzeugt, dass Sie unseren W unsch teilen, unsere für die D eportierten so unentbehrlichen H ilfssendungen so weit wie moglich fortzu- setzen. D aher teilen wir Ihnen mit, dass wir künftig gezwungen sind, von der periodischen Ü bergabe der Listen D eportierter, deren Ñ am en und Anschriften wir erfahren konnten, abzusehen.

Wir m ochten jedoch den Fam ilien die für sie so wertvolle A uskunft über ein Lebenszeichen eines D eportierten nicht vorenthalten. Deshalb werden wir jede N achricht, die das In ternationale Kom itee entweder durch Emp- fangsbestatigung für ein Paket oder Rriefwechsel oder a u f eine andere Weise crhalt, an die Fam ilien ohne A ngabe der A nschrift des D eportierten weiter- geben. Eine K opie dieser M itteilung wird Ihnen zugestellt. Sie werden also wie vorher über N achrichten in K enntnis gesetzt, die wir durch den Paket- em pfang eines Zivilgefangenen erhalten konnen, jedoch nicht m ehr in Form einer Liste. Dagegen wird jede individuelle Suchanfrage, die Sie uns zuschik- ken, in die K artei aufgenom m en. Die Zentralstelle für Kriegsgefangene wird Ihnen bei E rhalt einer neuen A uskunft sofort antw orten.

W ir sind sicher, dass Sie die G ründe verstehen werden, die uns zur Einführung dieser neuen M itteilungsart zwingen.

Schreiben eines Lageraltesten aus dem Konzentrationslager Oranienburg an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (nach dem

deutschsprachigen Originaltext)

Sachsenhausen-O ranienburg, den 26. Dezem ber 1944 Ich bestatige den Em pfang Ihrer Sendungen Z 674, Z 254, 260, 266 und

Z 251 A, die sehr pünktlich zu W eihnachten eingetroflfen sind. Ih r Eingang

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lôste Begeisterung und Freudenschreie aus. Im N am en aller Em pfanger spreche ich Ihnen den aufrichtigsten D ank aus. Anlâsslich der letzten Sen- dung Z 251 habe ich keine A nkündigung erhalten, so dass ich mich frage, ob inzwischen nicht andere Sendungen abgeschickt w orden sind. Um eine K ontrolle zu gewàhrleisten, ware ich Ihnen verbunden, wenn Sie mich stàndig au f dem laufenden halten wiirden. Die gut in K isten verpackte Sendung ohne A nschrift w ar leichter zu verteilen und hat es erm ôglicht, die M ehrheit der H âftlinge zufriedenzustellen. N atürlich waren andere G rup- pen - Jugoslawen, Spanier usw. - sehr enttàuscht, da sie seit vergangenem Septem ber nichts erhalten haben. Die N iederlànder konnten die überwie- gende M ehrheit ihrer Landsleute nicht zufriedenstellen. W ir m ôchten wün- schen, dass Sie zu N eujahr die letzteren m ehr berücksichtigen kônnen. Die von uns dringend benôtigten Toilettenartikel, W àsche, Socken und Pullover sind noch nicht angekom m en.

V I E R T E P H A S E

Die deutsche Regierung entschliesst sich, zugunsten der Hâftlinge in den K onzentrationslagern weitgehende Zugestàndnisse zu m a­chen. Am 1. F ebruar 1945 wird der Versand von Lebensmittel-, Kleidungs-, M edikam enten- und Buchpaketen, entw eder in Form von Einzel- oder Sam m elpaketen, an die aus franzôsischen und belgischen Gebieten stam m enden D eportierten genehmigt.

Im M arz 1945 ôffnen sich endlich au f G rund der zwischen dem Prasidenten des In ternationalen Kom itees vom R oten K reuz und dem O bergruppenführer K altenbrunner getroffenen V ereinbarun- gen die K onzentrationslager für die Delegierten des Komitees. Da- m it beginnt ein grossangelegter Kreuzzug gegen den Hunger.

Antwort der deutschen Regierung auf das Schreiben des InternationalenKomitees vom Roten Kreuz vom 2. Oktober 1944, iiberreiclu durch dasDeutsche Konsulat in Genf (nach dem deutschsprachigen Originaltext)

Genf, den 1. F ebruar 1945A uftragsgem àss beehrt sich das D eutsche K onsulat dem Internationalen

Kom itee vom Roten K reuz in Beantw ortung des Schreibens vom 2. O ktober 1944, das dem H errn Reichsaussenm inister m it einem an ihn persônlich gerichteten Brief des H errn Prasidenten H uber vorgelegt w orden ist, folgen- des mitzuteilen:

Die beteiligten deutschen Behôrden haben die Ausfiihrungen, die das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz zur F rage der Behandlung der Schutzhàftlinge gem acht hat, eingehend geprüft.

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Ais Ergebnis dieser Prüfung w urden folgende M assnahm en für die Schutzhàftlinge aus dem franzosischen und belgischen Raum getroflen:

1) F ür die Schutzhàftlinge wird ein N achrichtenverkehr m it ihren An- gehôrigen au f R otkreuz-Form ularen eingerichtet. Die Vorbereitungen hierfür sind abgeschlossen. Es ist dam it zu rechnen, dass der N achrichten­verkehr in kürzester Zeit anláuft. A uf diese Weise werden die N am en der H âftlinge bekannt. Sie kônnen insbesondere auch N achrichten über ihren G esundheitszustand geben.

2) Die Schutzhàftlinge dürfen Pakete m it Lebensm itteln, Kleidungs- stücken, M edikam enten und Büchern em pfangen, und zwar sowohl als Einzelpakete für bestim m te Em pfànger wie auch in Form von Sammel- sendungen des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz.

3) Im Falle eines gerichtlichen V erfahrens wird den Schutzhàftlingen der G rund der A nklage bekanntgegeben. Dies ist ein fundam entaler Bestandteil des deutschen Strafprozessrechts, das auch die Zustellung der A nklageschrift an den A ngeklagten vorsieht.

Da durch den Postverkehr N am en und A nschriften der Schutzhàftlinge den A ngehôrigen und dem In ternationalen Kom itee vom Roten Kreuz bekanntw erden, erscheint die A ufstellung und Ü berm ittlung besonderer Listen überflüssig. Im übrigen sind die deutschen Behôrden grundsàtzlich bereit, au f Einzelfragen nach Schutzhàftlingen A uskunft zu erteilen.

D er Besuch der Eager und A nhalteorte, an denen Schutzhàftlinge unter- gebracht sind, lâsst sich gegenwârtig aus zwingenden G ründen der Landes- verteidigung leider nicht ermôglichen. Die Frage der Heim sendung von Schutzhàftlingen, die im Schreiben des In ternationalen Kom itees vom R o­ten Kreuz vom 9. Dezem ber 1944 aufgeworfen wurde, wird noch geprüft. F ür die zu treffende Entscheidung ware es wichtig zu wissen, ob das In ter­nationale K om itee vom R oten K reuz in A ussicht stellen kann, dass in Frankreich, im Elsass und in Lothringen V erhaftete ebenfalls heimgesandt werden.

Antwort des Pràsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz auf den vorhergehenden Brief des Deutschen Konsulats in Genf (nach dem

deutschsprachigen Originaltext)

Genf, den 15. F ebruar 1945 In B eantw ortung Ihres Schreibens vom 1. F ebruar 1945, das eine M ittei-

lung des Reichsaussenm inisterium s über M assnahm en für die Schutzhàft­linge aus dem franzôsischen und belgischen R aum enthâlt, gestatte ich mir, Ihnen zu H ànden Ihrer Regierung die beiliegende A ufzeichnung des In ter­nationalen Kom itees vom Roten K reuz zu überreichen.

Bei dieser Gelegenheit erlaubt sich das Internationale Kom itee bezüglich des dritten Punktes der mitgeteilten M assnahm en zu bem erken, dass nach seiner Ansicht die M ôglichkeit der ordentlichen Rechtsverteidigung dieser

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Schutzhâftlinge nicht nur in strafrechtlichen V erfahren im engeren Sinne, sondera auch in adm inistrativen, insbesondere polizeilichen Verfahren als dringende N otw endigkeit em pfunden wird. Das In ternationale Kom itee d a rf ferner, wie dies auch in der A ufzeichnung selbst geschehen ist, die Reichsregierung darum bitten, die M ôglichkeit von Lagerbesuchen durch seine Delegierten weiterhin prüfen und im Verlaufe der praktischen O rgani­sation der H ilfssendungen und der N achrichtenverm ittlung im Auge behai- ten zu wollen.

D as In ternationale Kom itee m ôchte es nicht unterlassen, m it grosser G enugtuung festzustellen, dass die M itteilung der Reichsbehôrden vom 1. F ebruar 1945 einen bedeutenden F ortschritt im Status der politischen H âft- linge darstellt. ...

Beigefügte Aufzeichnung zum vorangehenden Schreiben (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz beehrt sich, die M itteilung des D eutschen K onsulats vom 1. F ebruar 1945 zu bestàtigen, in der die Reichsbehôrden zu der am 2. O ktober 1944 an den H errn Reichsaussenmini- ster gerichteten A ufzeichnung über die Behandlung der Schutzhâftlinge Stellung zu nehm en.

D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz glaubt m it grosser G enug­tuung feststellen zu dürfen, dass die Reichsbehôrden, wie auch die franzôsi- schen und belgischen Behôrden, den Schutzhàftlingen die folgenden Erleich- terungen zugestehen wollen:

1. Nachrichtenaustausch auf Rot-Kreuz-Formularen

Das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz begrüsst aufrichtig die Entscheidung der Reichsregierung, die zweifellos in der Lage ist, a u f diesem G ebiet eine en tspannte A tm osphàre zu schaffen. Allerdings dürfte nach unserer E rfahrung dieser N achrichtenaustausch die A ufstellung von N a- menlisten niemals vôllig ersetzen kônnen. Sollte indessen die Aufstellung von Listen au f grosse praktische Schwierigkeiten stossen, so schlagt das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz vor, den ersten N achrichten ein Erkennungsform ular beizufügen, das von dem Interessenten selbst auszufül- len wâre und den «G efangenschaftskarten» (R egistrierungskarten) der Kriegsgefangenen entsprechen würde. (Ein F orm ular einer solchen K arte gestatten wir uns beizufügen.) A uf G rund dieser Form ulare ware das In ter­nationale Kom itee vom Roten K reuz in der Lage, eine K artei der Schutz- hàftlinge aufzustellen, die es aus den erfahrungsgem âss unvollstàndigen und oft unleserlichen K orrespondenzen nur m it grossier M ühe und unter gros- sem Zeit- und Personalaufw and sehr unzureichend anlegen kônnte. Sowohl die N achrichten selbst, ais auch das F orm ular müssten in môglichst kurzer Zeit entweder nach G enf oder an die Delegation des In ternationalen Kom i- tees vom Roten K reuz in Berlin und in Uffïng gesandt werden. Das Interna-

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tionale Kom itee vom Roten K reuz ist gern bereit, die betreffenden F orm ula­re 7.u steilen. Einige in deutscher Sprache abgefasste F orm ulare wurden unseren Delegierten in Berlin und Uffing bereits iibermittelt.

2. Zusendung von Einzel- und SammelpaketenUm solche Sendungen m it grôsstm ôglicher Sicherheit verschicken und

insbesondere die transporttechnischen V orbereitungen treffen zu kônnen, ware es nicht nur erwiinscht, sondern unerlâsslich, dass wir, wie bei den Kriegsgefangenen, die nôtigen A ngaben iiber Internierungsorte und die jeweiligen Stàrken der vorhandenen Lager erhalten. Auch ware in diesem Zusam m enhang die A ngabe erwiinscht, ob die Sendungen direkt an die Lager oder an Sammelstellen gehen sollen. Sind Einzelsendungen ohne weiteres frei zugelassen oder sind sie in bezug au f Gewicht, Inhalt, Háufig- keit der Zustellung irgendwelchen Beschrânkungen unterworfen?

3. StrafverfahrenObwohl das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz da von iiberzeugt

sein darf, dass im Strafverfahren gegenüber Schutzháftlingen die Form en des Strafprozesses und die N orm en des Strafrechts zur A nw endung kom- men, so erlaubt es sich doch, dem W unsch A usdruck zu geben, dass in entsprechender Weise M indestgarantien eingehalten werden môgen, wie sie die K onvention von 1929 zugunsten der Kriegsgefangenen festsetzt. Die Rechtslage der politischen H àftlinge unterscheidet sich allerdings von derje- nigcn der Kriegsgefangenen dadurch, dass die ersteren keiner M ilitárorgani- sation angehôren. D as M ilitarstrafrecht ist au f sie nicht anw endbar, und sie sind nicht - was die S trafm assnahm en anbetrifft - den in der K onvention von 1929 vorgesehenen allgemeinen Bestim mungen unterworfen.

4. Einzelauskünfte und ErhebungenFalls die Behôrden des Reichs nicht in der Lage sind, N am enlisten zu

beschaflen, sollen die unter Zififer 1 angefiihrten E rkennungsform ulare, die in einzigartiger Weise die Aufgabe des zustandigen Dienstes des Kom itees erleichtern, die unum gangliche technische V oraussetzung fiir die Einrich- tung des gesamten A uskunftsdienstes und der persônlichen Hilfeleistungen schafien.

Das In ternationale K om itee vom Roten K reuz ist den deutschen Behôr­den besonders dankbar, dass sie ihm die G enehm igung erteilt haben, bei den zustandigen À m tern E rm ittlungen anzustellen. Es m acht von dieser Erlaub- nis môglichst massvoll G ebrauch, und zw ar nur in dringenden Fallen.

5. Besuch von DelegiertenObwohl das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz die G riinde der

deutschen Behôrden kennt, die im Augenblick gegen eine positive Lôsung

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dieser Frage sprechen, b ittet es diese À m ter sehr dringend, so schnell wie môglich nochm als d a ra u f zuriickzukom m en. G enau zu diesem Punkt hat das Kom itee gegenseitige G aran tien von den Regierungen erhalten, die deutsche Zivilpersonen inhaftiert haben. D as Internationale Kom itee ist davon iiberzeugt, dass die unparteiischen Berichte seiner Delegierten es in die Lage versetzen würden, gewissen aufkom m enden G eriichten entgegen- zutreten, die das Schicksal der deutschen Zivilpersonen erschweren kônnten.

6. Repatriierung

M it G enugtuung stellt das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz fest, dass sowohl die Reichsregierung als auch die franzôsischen und belgischen Regierungen erk lárt haben, die R epatriierung gewisser K ategorien von Zivilpersonen und Schutzhâftlingen grundsâtzlich zu begünstigen. Demzu- folge schlágt das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz den deutschen, franzôsischen und belgischen Regierungen vor, die folgenden Kategorien zu repatriieren:

1) Die K ranken, die Verwundeten, die Gebrechlichen ebenso wie F rauen und K inder. A uf sie kônnte m an zuallererst die für die Kriegs- gefangenen geltenden Bestim mungen anwenden. Die K inder würden dann sobald wie môglich in Begleitung ihrer Eltern, ihrer Angehôrigen oder von beauftragten Personen repatriiert werden.

2) Personen, gegen welche keinerlei Strafverfahren anhangig w ar oder keine ernsthafte A nschuldigung vorliegt.

3) Personen, bei denen die Tatbestánde, die zur In ternierung geführt haben, verjáhrt oder hinfallig geworden sind.

Das Internationale Kom itee vom Roten K reuz schlagt vor, so schnell wie môglich m it der R epatriierung der Frauen und K inder zu beginnen und mit der der Greise und K ranken fortzufahren. F ür den Fall, dass die zustiindi- gen Behôrden es w ünschten, erk lárt es sich bereit, im Einvernehm en m it der Schweizer Regierung die Frage des T ransits und der Befôrderung dieser Personen zu ihrem Bestim m ungsort zu erôrtern.

D as In ternationale Kom itee vom Roten Kreuz erlaubt sich schliesslich, au f den Vorteil hinzuweisen, den ein M einungsaustausch gleichzeitig mit den zustàndigen deutschen Dienststellen in dieser Angelegenheit m it sich bringen w ürde im H inblick darauf, dass m an sich so schnell wie môglich bezüglich der Repatriierungsm assnahm en und ihrer praktischen D urch- führung verstàndigt.

Demgemâss w iederholt das In ternationale K om itee vom Roten Kreuz seine Vorschlage, die es die Ehre hatte, der deutschen Regierung in seiner N ote vom 2. O ktober 1944 zu unterbreiten. Das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz bittet, einen offiziellen Beauftragten zu benennen, der in G en f die vorgesehenen V erhandlungen aufnehm en kônnte.

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Note des Britischen ¡Consulats in Genf an das IKRK vom 14. Februar 1945(Zusam m enfassung)

Das Britische K onsulat in G en f beantw ortet das Schreiben und das M em orandum des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz vom 16. O ktober 1944 und teilt dem IK R K seitens der britischen Regierung mit, dass den in G rossbritannien festgehaltenen internierten deutschen Zivil- personen die G aran tien des «R oten Kreuzes» zustehen und keine Analogie zwischen ihnen und den nach D eutschland deportierten Zivilpersonen besteht.

Schreiben des Prasidenten des IKRK an die Konsuln der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens vom 16. Februar 1945

D er President des IK R K bittet die K onsuln der Vereinigten S taaten und G rossbritanniens in Genf, au f dem schnellsten Wege folgende M itteilung an Seine Exzellenz H errn Stettinius und Seine Exzellenz H errn Eden, Staats- sekretare, weiterzuleiten:

«C hef unserer D elegation in D eutschland, im Augenblick zu kurzer B erichterstattung in die Schweiz zurückgekehrt, beschreibt Lage Kriegs- gefangener und In ternierter wie folgt: Evakuierung Richtung Osten- W esten wird un ter schwierigsten Bedingungen zu Fuss, ohne N ahrung und bei grosser K àlte durchgefiihrt. Zusam m enziehung der Kriegsgefan- genen in D urchgangslagern ohne jeden V orrat. W eitere Evakuierung inim er noch R ichtung W esten-N ordw esten un ter ahnlichen Bedingungen vorgesehen. U nter gleichen oben erw àhnten V oraussetzungen evakuierte Z ivilinternierte und D eportierte benôtigen ebenfalls sofortige Hilfe. Bis- her kann D elegation A nkunft der Evakuierten aller Kategorien nachprii- fen, ist aber nicht in der Lage, Lebensm ittel, V erbandm aterial und Medi- kam ente zu befórdern, die im N orden in Liibeck und im Siiden in der Schweiz vorratig sind. So drangen sich zwei Lôsungen auf: 1. sofortiger H ilfsm itteltransport m it einigen hundert Lastwagen, die dem In ternatio ­nalen Kom itee vom R oten K reuz m it T reibstoff und anderem nôtigen Zubehôr zur Verfügung gestellt werden m üssten, 2. Schütz der vom Internationalen Kom itee vom Roten K reuz bezeichneten Eisenbahn- nebenstrecken vor Luftangriffen. Setzen aile uns zur V erfügung stehenden M ittel ein, bitten aber in A nbetrach t der Vielschichtigkeit des Problems, uns bei unserer Aufgabe im angegebenen Sinn zu unterstützen.»

Note des Deutschen Konsulats in Genf an das IKRK beziiglich der Repatriierung der «Schutzliaftlinge» vom 5. M an 1945

Aus der an den Prasidenten des IK R K in B eantw ortung seines Briefes vom 2. O ktober 1944 gerichteten M itteilung ging hervor, dass die mit Schreiben des IK R K vom 9. D ezem ber 1944 aufgeworfene Frage der R epa­triierung der Schutzhâftlinge in einer weiteren N ote behandelt wiirde.

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Die Frage ist seitdem geprüft w orden, so dass m an heute erkláren kann, dass die Reichsregierung unter der Bedingung, dass die deutschen Zivilinter- nierten aus F rankreich in ihr H eim atland zurückgeschickt werden, bereit ist, die in D eutschland befindlichen franzosischen K inder, F rauen und Greise zu repatriieren. Vorschlage beziiglich der Anzahl der in Betracht kommen- den Franzosen und der praktischen D urchfiihrung der R epatriierung wer­den dem IK R K in kiirzester F rist unterbreitet. V oraussetzung ist, dass auch in F rankreich unverzüglich alie Vorbereitungen zur D urchfiihrung dieses Planes getroffen werden.

Brief des SS-Obergruppenfiihrers Kaltenbrunner, General der Waffen-SS, in dem er die Vereinbarung mil dem Pràsidenten des IKRK bestatigt (nach

dem deutschsprachigen O riginaltext)1

Den 29. M árz 1945 Vereinbarungsgem âss habe ich gleich nach meiner R iickkehr m it den

zustándigen Behôrden die von Ihnen aufgeworfenen Fragen erôrtert. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu kônnen, dass ich bei alien Beteiligten nur au f W ohlwollen gestossen bin. Ich erlautere hier im einzelnen, wie ich den von Ihnen vorgetragenen W ünschen entsprechen kann :2

II. Zivilinternierte:1) Fin um fassender A ustausch aller franzosischen und belgischen Zivil-

internierten gegen alle deutschen Z ivilinternierten, wie er von Ihnen vorge- schlagen war, w ürde die Franzosen weitgehend begünstigen. W ir miissten annâhernd 62 000 F ranzosen gegen nu r 15 000 deutsche Internierte freige- ben. Ausserdem handelt es sich um ganz verschiedene K ategorien. Die in

1 Die U n tc r re d u n g zwischen dem Prà s id en ten des I K R K u n d O b erg ru p p e n f i ih re r K a l t e n b ru n n e r fand a m 12. M â rz 1945 s ta tt . D e r P re s id en t des I K R K g a b a m 26. M à rz 1945 vo r d en in teress ierten Delegier ten des R o te n K reuzes u n d den V er trc te rn versch iedener O rg a n isa t io n e n zu d iesem Treffen u n d den sich d a r a u s e rg ebenden V er tràgen fo lgenden K o m m e n ta r :« G eg e n s ta n d d ieser G e s p a c h e ist das P ro b le m der K r iegsgefangcncn , d e r inhaf t ie r ten un d in te rn ie rten Z iv i lpersonen , u n d m a n k a n n sc h o n je tz t von erzielten Ergebnissen reden. Bisher k o n n te d a s I K R K die Lager fitr inhaf t ie r te Z iv i lpersonen nicht besu- chcn. Die w enigen Besuche v o n IK R K -D e le g ie r te n fan d cn a m R a n d d e r L ager sta tt . Sie w aren n u r a u f K o n ta k t e m it d en L a g e rk o m m a n d a n te n b esch ra n k t . D agege n h a t m a n anlàssl ich d e r kürz l ichen B esp rcchungen vorgesehen, dass die Delegier ten un te r d e r V orausse tzung , dass sie bis z u r B cendigung der Feindse ligkeiten d o r t bleibcn , in die L age r geschickt w erden k ô n n te n .»Die V e rh a n d lu n g e n iiber die D u r c h fü h ru n g s b e s t im m u n g e n zu den V er tràgen Burck- h a r d t -K a l t e n b r u n n e r f anden a m 10. April in K o n s ta n z u n d a m 24. April in In n sb ru ck zwischen V er tre te rn des I K R K u n d den deu tschen B e hôrden sta tt .

2 D a s I K R K gibt h ier lediglich die die versch icdencn K ateg o r ien v o n inhaf t ie r ten Z iv i lpersonen betreffenden A b sà tze b ek an n t .

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franzôsischer H and befindlichen D eutschen sind nur interniert worden, weil sie in F rankreich geblieben waren, w ahrend die M ehrheit der von den Deutschen festgehaltenen franzôsischen Z ivilinternierten schwerer S trafta- ten beschuldigt werden, die sie w ahrend der Besetzung Frankreichs gegen die Besatzungsm acht veriibt hatten.

Indessen sind wir bereit, einen generellen A ustausch von Zivilinternierten zu folgenden Bedingungen vorzunehm en:

a) W ir geben Ihnen jede G arantie, die Verfolgung gegen solche Elsàs- ser und Lothringer einzustellen, die m it uns zusam m engearbeitet und die deutsche Staatsangehôrigkeit erw orben haben, die aber in Frankreich noch bis heute als franzôsische S taatsbürger gelten, unter der Bedingung, dass sie selbst den W unsch, in den A ustausch einbezogen zu werden, âussern.

b) Die Verfolgung der franzôsischen K ollaborateure wird endgültig eingestellt.

2) W enn sich die G esam trepatriierung der Z ivilinternierten nicht durch- führen lâsst, bleibt noch die M ôglichkeit, sich liber den A ustausch einer gleichen Anzahl von Elsassern und L othringern zu verstandigen. In diesem Falle kônnte m an entsprechend dem Vorschlag des IK R K m it der Repatriie- rung der Greise. K ranken, F rauen und anderer beginnen.

Ausserdem kônnte m an den A ustausch Einzelner gemàss Ihren Vorschla- gen ins Auge fassen.

3) Eine nach N ationalitáten und Lagern getrennte Aufstellung der Zivil­internierten, wie sie zurzeit fiir die N orw eger und D anen vorgenom m en wird, kônnte entsprechend den technischen M ôglichkeiten vorbereitet wer­den.

4) Die Lieferung von Lebensm itteln, K leidung und M edikam enten durch das Internationale K om itee vom Roten K reuz an Zivilinternierte ist grund- sátzlich im Einvernehm en mit meinen Dienststellen vom A ussenm inisterium genehmigt worden. Die praktische D urchfiihrung dieser M assnahm en war G egenstand von V erhandlungen m it der D elegation des Internationalen Komitees vom Roten K reuz in Berlin. Es handelte sich hier um U nterhand- lungen, deren A usgang alle Beteiligten voll und ganz zufriedenstellte.

IV. Polnische Kriegsgefangene aus dem Warscbauer Aufstand, polnische Frauen und Jugendliche, die bei dieser Gelegenheit festgenommen wurden

Die U nterbringung der Kriegsgefangenen ebenso wie die der Frauen und Jugendlichen, die bei dem W arschauer A ufstand von den D eutschen gefan- gengenommen wurden, kann unter der Bedingung der Gegenseitigkeit erfol- gen, wenn beispielsweise G rossbritannien und die Vereinigten S taaten sich bereit erkláren, die deutschen F rauen zu befreien, die sie in ihrer Eigenschaft als W ehrm achtsangehorige oder als W ehrm achtshelferinnen (Stabshelferin- nen oder Rotkreuzschw estern) festhalten.

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V. Jüdische Zivilinternierte

Fiir die Ü berführung jüdischer Z ivilinternierter nach der Schweiz konnte ich ebenfalls eine gewisse Aufgeschlossenheit feststellen. Bei diesem Problem dürfte aber meinem Em pfinden nach nicht von Gegenleistungen und Kom- pensationen gesprochen werden, wohl aber erkennbar sein, w odurch und au f welchen Gebieten das D eutsche Reich entgegenkom m ende Gesten zu erw arten hâtte.

VI. Im H inblick au f eine weiterfiihrende und technische Priifung hin- sichtlich der D urchfiihrbarkeit der oben erw âhnten Punkte erlaube ich mir, Ihnen vorzuschlagen, Ihre Delegation in Berlin zu beauftragen, sich sofort m it dem Aussenm inisterium in V erbindung zu setzen. Um die U ntersuchun- gen zu beschleunigen, lasse ich eine K opie dieses Briefes an Ihre Delegation in Berlin sowie an das Aussenm inisterium schicken. ...

Schreiben des Prásidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Kommandanten des Konzentralionslagers Dachau (nach dem

deutschsprachigen Originaltext)

Genf, den 11. April 1945Im V erlauf meiner letzten Besprechung m it H errn O bergruppenfiihrer

K altenbrunner, G eneral der SS, w urde dem Internationalen Kom itee vom Roten K reuz jede U nterstiitzung fiir die Verteilung von Lebensm ittelpake- ten und M edikam enten an die auslàndischen Schutzhâftlinge in D eutsch­land zugesagt.

Ich gestatte mir, Ihnen zu diesem Zweck unseren Delegierten sehr zu em pfehlen, der dam it beauftragt ist, die Verpflegung der Internierten Ihres Lagers und seiner K om m andos zu organisieren.

Zu diesem Zweck stehen ihm vier Lastwagen sowie ein PK W m it dem nôtigen Benzin zur Verfiigung. Ich d a rf Sie nochm als bitten, unserem Dele­gierten seine Aufgabe m ôglichst zu erleichtern.

Schreiben des Prásidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Kommandanten des Lagers Mauthausen (nach dem

deutschsprachigen Originaltext)

Genf, den 29. April 1945Bei meinen V erhandlungen mit O bergruppenfiihrer K altenbrunner w urde

vereinbart, dass Delegierte des In ternationalen Kom itees benannt werden, die sich in die K onzentrationslager begeben sollen, welche m it auslàndischen Schutzhâftlingen belegt sind, um do rt bis Kriegsende zu bleiben. In einer neuerlichen Besprechung am 24. April hat O bergruppenfiihrer K altenbrun­ner diese V ereinbarung ausdriicklich bestâtigt und erklàrt, dass die entspre- chenden W eisungen ergangen seien. W enn sich also ein Lagerkom m andant weigert, diese R eprasentanten (Delegierte des Internationalen Kom itees und

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Sanitátspersonal) zu em pfangen, so handelt er entweder gegen einen Befehl, oder die gegebenen Befehle haben ihren Bestim m ungsort nicht erreicht.

Infolgedessen bitte ich Sie, den Ü berbringer dieses Briefes so fort zu beauftragen, die Delegierten, die für das Lager M authausen in Frage kom- men, einzusetzen und ausserdem d arau f zu achten, dass sich diese Delegier­ten frei im Lager bewegen und m it allen auslàndischen H âftlingen K ontak t aufnehm en kônnen. Falls diese Anweisungen nicht befolgt vverden sollten, wird Sie das In ternationale Kom itee vom R oten K reuz persônlich für die Folgen verantvvortlich m achen. Ausserdem wird es die W eltôffentlichkeit von Ihrer V erantw ortlichkeit unterrichten. W enn Sie aber dem entgegen alle M assnahm en ergreifen, um die A usführung der m it O bergruppenführer K altenbrunner getrofienen A bm achungen im H inblick au f die N om inierung unserer Delegierten und ihre Hilfeleistung im Lager vereinbarungsgem ass zu erleichtern, wird das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz von Ihrem guten Willen Zeugnis ablegen.

Schreihen des lnternationalen Komitees vom Roten Kreuz an den Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau (nach dem

deutschsprachigen O riginaltext)

G enf, den 30. April 1945 Im Sinne der zwischen dem Prasidenten des ln ternationalen Komitees

vom Roten K reuz und dem O bergruppenführer K altenbrunner getroffenen V ereinbarungen haben wir eine K olonne von zehn Lastwagen zum Zwecke der Versorgung folgender Lager geschickt: U berlingen am Bodensee, Lie- benau, Biberach an der Riss, Saulgau, W urzach, W aldsee, M emmingen, Blaichach bei O berstdorf, K aufbeuren, M ünchen. W ir w àren Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie den K om m andanten dieser Lager zur Erleich- terung der Paketverteilung alle dazu erforderlichen Anweisungen geben würden.

Telegramm des lnternationalen Komitees vom Roten Kreuz an Herrn Stettinius, Staatssekretar der Vereinigten Staaten, Prasident der Konferenz

von San FranziskoGenf, den 11. M ai 1945

Da akkreditierte Pressekorrespondenten der K onferenz von San F ranzis­ko ein legitimes Intéressé am Schicksal alliierter G efangener und Háftlinge in D eutschland bekundet sowie K ritik an IK R K -A ktionen geâussert haben, gibt es folgende E rklârung ab, für deren Bekanntgabe zu Beginn der San Franzisko-K onferenz es Ihnen d ankbar ware: A n erster Stelle hebt IK R K hervor, dass G enfer K onvention 1929 durch W illenserklârung von Vertrags- parteien nur au f m ilitarische G efangene anw endbar ist. Im Bewusstsein der G efahr wegen Fehlens jeden Schutzes für Zivilpersonen in Feindgebiet oder vom Feind besetzten G ebiet bem ühte sich IK R K seit Septem ber 1939, Kriegsteilnehm er zu D e-facto-A nw endung des 1934 von fünfzehnter Inter-

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nationaler R otkreuzkonferenz angenom m enen und von Regierungen noch nicht ratifizierten K onventionsentw urfs zu bewegen. A nw endung des Ent- wurfs hatte Schütz aller obenerw àhnten Zivilpersonen gewahrleistet. IK R K -V orschlag blieb bei kriegfuhrenden S taaten ohne Echo; es erreichte lediglich A usdehnung der G enfer K onvention au f die Z ivilinternierten, d.h . a u f die in Feindgebiet w ohnhaften Zivilpersonen, die seit Kriegsbeginn allein wegen ihrer N ationalitâ t inerniert wurden. Dagegen blieben Zivilper­sonen aus den besetzten G ebieten, die aus anderen G ründen ais denen der N ationalitâ t inhaftiert und oft auch deportiert wurden, tro tz w iederholter Bemiihungen des IK R K ohne jeglichen Schütz. So w urde IK R K nur er- laubt, in D eutschland Kriegsgefangene und alliierte Z ivilinternierte aufzusu- chen, deren U rsprungsland an G enfer K onvention teilnahm . Die Beob- achtungen seiner Delegierten wurden ebenso wie seine stàndigen Interven- tionen zur Erzielung aller nôtigen Verbesserungen regelmassig interessierten Regierungen bekanntgegeben. Ausserdem konnten alliierte Kriegsgefange­ne und Z ivilinternierte vom U rsprungsland gelieferte H ilfspakete dank unaufhôrlicher Bemiihungen IK R K em pfangen, dem es tro tz T ransport- schwicrigkeiten wegen des See- und Landkrieges gelang, bis M itte 1944 ungefahr dreihunderttausend T onnen Lebensm ittel, K leidung und M edika- m ente in Lager zu schicken. D urch massive Zerstdrungen der Eisenbahn- verbindungen D eutschlands durch B om bardierungen so wie Fehlen von Strassenverkehrsm itteln - um die IK R K jedoch alliierte M achte seit A nfang 1944 instàndig gebeten hatte - w urde diese A ktion seit O ktober 1944 ernst- lich gefahrdet. Beginn der Lieferung dieser T ransportm ittel erst H erbst 1944, und zw ar in beschrankten M engen. Alliierte Behôrden genehmigten ihren Einsatz in D eutschland erst seit M árz 1945, als V erschàrfung des Luftkrieges O rganisation und Versand von Hilfsm itteln an Kriegsgefangene im m er m ehr erschwerte. In bezug a u f gefangene und deportierte Z ivilperso­nen ohne vertragsm àssigen Schütz konnte IK R K w àhrend ganzen Krieges nicht Erlaubnis zum Betreten der K onzentrationslager erhalten, ausser seltenen A usnahm en in allerletzten Tagen vor A nkunft alliierter T ruppen. D ennoch bem ühte sich IK R K , D eportierten wenigstens m it Lebensmittel- und M edikam entensendungen zu helfen. T ro tz Behinderung durch deutsche Behôrden und IK R K durch Blockadebehorden auferlegter Beschrankungen w urden tatsachlich m ehrere hunderttausend Lebensm ittel- und M edika- m entenpakete an zahlreiche K onzentrationslager abgesandt. D a IK R K ausserdem im letzten Augenblick Freilassung bestim m ter D eportiertenkate- gorien erreicht hatte, konnte es durch seine S trassentransporte m ehrere tausend Personen in die Schweiz und nach Schweden evakuieren. So errnog- lichte diese D oppelaktion gernass zahlreichen Zeugnissen D eportierter tro tz aller m ôglichen H indernisse und dem IK R K zur Verfügung gestellter be- scheidener M ittel die R ettung einer betrachtlichen A nzahl von M enschen- leben.

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D R IT T E R TE IL

B E R I C H T E V O N D E L E G I E R T E N D E S I N T E R N A T I O N A L E N K O M I T E E S V O M R O T E N K R E U Z Ü B E R I H R E T À T I G K E I T

Z U G U N S T E N Z I V I L E R H À F T L I N G E IN D E N K O N Z E N T R A T I O N S - L A G E R N D E U T S C H L A N D S (1945)

Das Internationale K om itee vom R oten Kreuz verôffentlicht nachstehend die Berichte seiner Delegierten, denen es au f G rand der zwischen dem Prasidenten des In ternationalen Kom itees und den Reichsbehôrden abgeschlossenen A bm achungen môglich war, ent- weder die K onzentrationslager zu betreten oder den Evakuierten dieser Lager U nterstü tzung zu gewáhren.

Der erste B ericht1 bezieht sich jedoch a u f einen friiheren Zeitab- schnitt, nàmlich die Zeit, in der die Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten K reuz - da ihnen der Besuch der Lager selbst untersagt w ar - durch K ontak taufnahm en und durch Diskussionen vor O rt versucht haben, das Geheimnis zu lichten, das diese Lager umgab, und sich darum bem ühten, Hàftlingslisten, A uskiinfte sowie geeignete Zusicherungen zur Erleichterung von Hilfssendungen zu erhalten.

Der zweite Bericht2 allgemeiner A rt schildert die unaufhôrlichen Bemiihungen und beharrlichen Versuche der D elegation in Berlin, von den deutschen Behôrden zugunsten der H aftlinge der K onzen­trationslager Zugestandnisse zu erlangen - diese Anstrengungen liefen parallel mit denen, die der President des In ternationalen K o­mitees seinerseits verfolgte. Wie m an sehen wird, waren diese Bestre- bungen zum indest teilweise erfolgreich.

1 Bericht N r . I, Scite 91.2 Bericht N r . II, Scite 92.

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Die folgenden Berichte veranschaulichen die letzte Kriegsphase, ais den Delegierten das Betreten dcr Lager gestattet wurde - manch- mal erst nach A useinandersetzungen noch am Eingang selbst - und sie den Hilfskonvois Einlass verschaffen konnten.

Einige Berichte beziehen sich au f die Rcpatriierung von Háftlin- gen in R ichtung Schweizer G renze1, andcre au f die Bemühungen der Delegierten, M assenevakuierungen zu verhindern2 (Oranien- burg, Ravcnsbriick), weitere au f die Versorgung der evakuierten H aftlingskolonnen3. M an wird vor allem fiber den Einsatz der Delegierten des IK R K in T heresienstadt4, in M authausen5, in D achau6, in T iirkheim 7 - wo ihre Anwesenheit das Schlimmste verhinderte - , sowie in alien Berliner G efangnissen8 - wo sie die Freilassung zahlreicher H âftlinge erreichten - erfahren.

M anche dieser Berichte sind einfache «Fahrtenbücher» von be- gleitenden Delegierten. Sie sind oft in vollem Einsatz verfasst wor- den, spiegeln die in D eutschland vorherrschende chaotische Lage wider und zeigen den gewagten Im provisationscharakter, den die H ilfsaktion annehm en musste. Ohne dass m an einen verniinftigen Plan hàtte ausarbeiten oder befolgen kônnen, passten sie sich sozu- sagen Tag um Tag dem wirren A blauf der Ereignisse an.

Ausgehend von festen Punkten - von der schweizerischen Grenze, der zentralen Delegation in U fifing, den Lebensmittellagern in Wage- nitz in der N àhe von Berlin, von Liibeck und M oosburg - mussten die Lastw agenkolonnen ihre Reiserouten oder A bkiirzungen au f gut G lück wahlen, um ihre Ziele zu erreichen - und das unter U m stán- den, die Begleitern und F ahrern pausenlos enorm e A ufopferung und Besonnenheit abverlangte.

1 Bcricht N r . I l l , Sei te 104.2 Bcricht N r . IV, Seite 110.3 Berichte N rn . V u n d VI, Seiten 118 u n d 121.4 Berichte N r . VII, Seite 128.5 Berichte N rn . IX u n d X , Seiten 131 u n d 133.6 Berichte N rn . XI u n d X I I , Seiten 140 u n d 146.7 Bericht N r . X I I I , Seite 149.8 Bericht N r . V III , Seite 130.

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/. - Besuch ernes IKRK-Delegierten beim Kommandanten des Lagers Auschwitz (September 1944)

... Entlang den Strassen, besser gesagt den Wegen, die von Teschen nach Auschwitz fiihren, sind wir a u f M anner- und F rauengruppen in der gestreif- ten K leidung der K onzentrationslager gestossen, die von SS eskortiert waren. Es handelt sich um kleine K om m andos (A rbeitskom m andos). Diese werden je nach B edarf mal in der Landw irtschaft, mal in Bergwerken eingesetzt.

Die Leute haben tro tz der A rbeit in frischer Luft alle eine bleiche, asch- graue G esichtsfarbe. Sie m arschieren im G leichschritt und in Viererreihen. Die W achen, K arabiner unterm Arm , gehôren den SS-Totenkopfverbânden an. ...

Schliesslich erreichen wir Auschwitz und werden - nachdem wir die nôtige Geduld aufgebracht haben - in das Innere des K onzentrationslagers einge- lassen. Vom Lager selbst bem erken wir nur sechs oder acht sehr grosse K asernenbauten aus roten Ziegelsteinen. Diese G ebàude scheinen neu zu sein; samtliche Fenster sind vergittert. Eine M auer aus B etonplatten umgibt das Lager, und zwar eine sehr hohe M auer, die m it S tacheldraht versehen ist.

G esprach m it dem K om m andanten. Wie in O ranienburg, so sind auch hier die Offiziere gleichzeitig liebenswürdig und zurückhaltend. Jedes W ort ist wohliiberlegt. M an fühlt buchstàblich die Furcht, auch nur die geringste Inform ation preiszugeben.

1) Die Verteilung der vom Kom itee vorgenom m enen Sendungen scheint zulàssig und sogar durch einen fiir alle K onzentrationslager allge- mein gültigen Befehl geregelt zu sein.

2) Der K om m andant sagt uns, dass die persônlich an einen H áftling gerichteten Pakete stets vollstàndig ausgehândigt werden.

3) F iir jede N ationalita t gibt es Lageràlteste (Franzosen, Belgier; eine weitere N ationalitat wird nicht angegeben, aber sicher sind noch mehrere andere vorhanden).

4) Es gibt einen «Judenàltesten», der für die G esam theit der inhaftier- ten Juden zustândig ist.

5) Die Lageràltesten sowie der «Judenâlteste» diirfen Sammelsendun- gen em pfangen. Diese Sendungen werden von ihnen ungehindert verteilt. A nkom m ende persônlich adressierte Pakete, deren Em pfanger im Lager unbekannt sind, werden dem Lageraltesten der betreffenden N ationalitat übergeben.

6) Die Verteilung der vom Kom itee durchgefiihrten Sendungen scheint uns gesichcrt. Zw ar besitzen wir keinen Beweis, haben aber den E indruck, dass der K om m andant die W ahrheit sagt, wenn er behauptet, dass diese Verteilungen regelmâssig vorgenom m en werden und jeder D iebstahl hart bestraft wird. ...

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W ir hoffen, Ihnen bald N am en, V ornam en und N um m ern von Háftlingen in Auschwitz sowie ihre S taatszugehôrigkeit angeben zu kônnen, denn ein K om m ando britischer Kriegsgefangener arbeitet in einem Bergwerk in Auschwitz und hat K on tak t m it diesen Leuten. W ir haben den H auptlager- àltesten in Teschen gebeten, sein móglichstes zu tun, um vom Lagerâltesten des Auschwitzer K om m andos alle erforderlichen A uskiinfte zu erhalten.

Spontan hat uns der britische H auptlagerâlteste von Teschen (Cieszyn) gefragt, ob wir iiber den «D uschraum » inform iert seien. Tatsàchlich kursiert ein G erücht, dass sich im Lager ein sehr m oderner D uschraum befindet, in dem die H áftlinge massenweise vergast wiirden. D er britische Lagerâlteste hat durch V erm ittlung seines K om m andos von Auschwitz versucht, eine Bestátigung dieses T atbestandes zu erhalten. Es w ar unm ôglich, etwas zu beweisen. Die H áftlinge selbst haben nicht dariiber gesprochen.

W ieder einm al haben wir beim Verlassen von Auschwitz den E indruck, dass das Geheim nis gut gew ahrt bleibt. W ir nehm en jedoch die Gewissheit mit, dass die Sendungen in grôsstm ôglicher M enge und schnellstens erfolgen miissten. Sagen wir es noch einmal: wir glauben, dass alies, was geschickt wird, den H áftlingen vollstándig ausgehándigt wird.

II.-Bericht iiber die Verhandlungen der Delegierten des IKRK in Berlin mit den deutschen Behorden und iiber seine Tdtigkeit zugunsten der Háftlinge in den Konzentrationslagern (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

... Von A nfang an, wenigstens solange die m ilitarische K onstellation fiir das Reich giinstig war, stellten sich die deutschen Behorden au f den Stand- punkt, dass die K onzentrationslager eine innere Angelegenheit Deutsch- lands seien und dass deshalb keine M acht von aussen und keine in te rnatio ­nale O rganisation hier etwas zu suchen habe. Ein undiplom atisches scharfes Vorgehen hátte die gesam te A ktion des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz zugunsten der Kriegsgefangenen und Z ivilintem ierten au f der Basis der G enfer K onvention gefahrdet.

In den Jahren 1943 und 1944 war die D elegation des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz in Berlin stàndig bem iiht, m it den K om m an- dan ten der verschiedenen K onzentrationslager in V erbindung zu treten, um mit ihnen iiber Liebesgabensendungen an K L-H aftlinge zu verhandeln. Tausende von H áftlingen w urden nam entlich ausfindig gem acht und ihre Angehôrigen in den besetzten Gebieten benachrichtigt. Die Liebesgaben­sendungen des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz in die K onzen­trationslager nahm en einen grossen R aum im G esam tversorgungsplan der G efangenen in D eutschland ein.

A ber im m er noch waren die fiihrenden M ánner und eigentlichen Herren der K onzentrationslager uns unbekannt und unerreichbar. D er K on tak t mit den entsprechenden kom petenten Stellen w ar âusserst schwer herzustellen, da prinzipiell ein tiefes M isstrauen gegen jede O rganisation, die nicht deu t­schen U rsprungs war, bei den Behorden des Sicherheitsdienstes und der SS herrschte.

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A nfang Januar 1945 m achte ich die B ekanntschaft eines M itarbeiters des Auswàrtigen Amtes, Dr. Reichel, der als V erbindungsm ann zwischen den fur die K onzentrationslager zustàndigen Dienststellen und dem A usw àrti­gen A m t fungierte. D urch seine ausserordentlich guten Verbindungen mit alien Dienststellen der SS und des Sicherheitsdienstes hat uns D r. Reichel in der Folge als M ittelsm ann unschâtzbare D ienste geleistet.

Am 9. Jan u ar 1945 hatte einer unserer Delegierten eine erste Besprechung mit dem C hef des H auptam tes Sicherheitspolizei im RSHA, O bersturm - bannführer Dr. Berndorff. D r. Berndorff verwies ihn an O bergruppenfiihrer Gliicks, den C hef der A m tsgruppe D /K onzentrationslager im SS-Wirt- schafts-V erw altungshauptam t. Die V erhandlungen m it O bergruppenfiihrer Gliicks fanden am 11. Jan u ar 1945 sta tt, und die dabei erzielten Resultate erweckten in uns die grôssten Hoffnungen. W ie bereits gesagt ging das Ziel unserer Bestrebungen dahin, die K onzentrationslager au f gleicher Basis wie die K riegsgefangenenlager m it Lebensm itteln, K leidern und M edikam enten zu versorgen. Selbstverstàndlich sollte dabei das In ternationale Komitee vom Roten K reuz durch seine Delegierten kontrollieren, ob die Sendungen auch an ihren Bestim m ungsort gelangten und wirklich den K L-H aftlingen zugute kam en. Diese K ontrolle w ar nur durch die V erm ittlung von glaub- wiirdigen Lageraltesten in den verschiedenen Lagern zu erreichen. D er Text der A bm achungen zwischen O bergruppenfiihrer Gliicks und dem Delegier­ten des IK R K lautete folgenderm assen:

1. Jedes H auptlager gibt dem In ternationalen Kom itee vom Roten Kreuz eine bekannte Person jeder einzelnen N ationalitá t an, die als sogenannter H auptlageràltester fungiert.

2. In jedem Zweig- oder N ebenlager der verschiedenen K onzentra­tionslager wird wiederum ein Lageràltester für jede N ationalitát gewàhlt, dessen N am e dem In ternationalen Kom itee vom Roten Kreuz bekannt- gegeben wird.

3. Die Lageraltesten in den N eben- und Zweiglagern schicken dem Lageraltesten des H auptlagers die Q uittungen iiber Liebesgabensendun- gen zuriick, dam it er sie nach G enf weiterleiten kann.

4. Es kônnen alle Lebensmittel geschickt werden. die haltbar sind, auch Konserven in Blechdosen, Kaffee und Zigaretten.

5. Die Zusendung von U nterw àsche und Schuhen ist sehr erwünscht.

6. Es kônnen alle M edikam ente geschickt werden m it A usnahm e von Betaubungsm itteln.

7. Die Sam m elsendungen sind einheitlich an das K onzentrationslager D achau zu richten, das nach der N euorganisation der K onzentrations­lager in D eutschland als H auptlager anzusehen ist.

8. Das Reichssicherheitshauptam t sorgt für den W eitertransport der Liebesgabcnsendungen von D achau in die verschiedenen Lager.

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9. Alie K onzentrationslagerkom m andanten werden vom Reichssicher- heitshauptam t angewiesen, die Liebesgabensendungen nach einem vom In ternationalen Kom itee vom Roten K reuz vorgeschlagenen Verteiler- plan an die verschiedenen N ationalitàten auszuhandigen.

10. Besuche der K onzentrationslager und N ebenlager durch die Dele- gierten des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz werden dem Reichsführer-SS H im m ler angekündigt. D ie Frage steht noch o fíen.

Diese A bm achung gilt für die Versorgung der Schutzháftlinge folgender N ationalitàten: F ranzosen, Belgier, N iedcrlander, D anen und Norweger.

Ob die A ngehôrigen der übrigen N ationen m itversorgt werden kónnen, wird in einer spateren Sitzung bekanntgegeben.

M it dieser A bm achung konnte die D elegation des In ternationalen K om i­tees vom R oten K reuz einen Erfolg verbuchen, der unsere Hoffnungen sogar übertraf. Leider w urden aber verschiedene Versprechungen niemals einge- halten. So konnten wir z. B. nie die Liste der Lageráltesten, die uns jedoch zugesichert w orden war, erhalten. Die Sammel- und persônlich zugestellten Sendungen w urden meistens quittiert, aber wie uns die Erfahrungen spáter gelehrt haben, sind lângst nicht imm er alle Pakete in die H ânde der Schutz­háftlinge gelangt. Die Anzahl der H àftlinge in den K onzentrationslagern ist uns tro tz verschiedener Versprechungen nie mitgeteilt worden. D er Besuch der K onzentrationslager durch die Delegierten des Internationalen K om i­tees vom Roten K reuz erfolgte in einzelnen Fallen erst in den letzten Tagen des Krieges. Eine freie A ussprache m it den Lageráltesten der verschiedenen N ationen hat meines Wissens nie stattgefunden, und doch ware dies gerade eines der wenigen M ittel gewesen, genau iiber die Z ustánde in den K onzen­trationslagern unterrichtet zu werden.

Am 2. F ebruar 1945 begaben sich die Delegierten des IK R K ins SS-Wirt- schafts-V erw altungshauptam t (SS-W VHA) nach O ranienburg, um dort ein- zelne Fragen für die V ersorgung der K onzentrationslager m it Lebensm itteln und insbesondere m it M edikam enten zu besprechen. D er C hefarzt aller K onzentrationslager in Deutschland, S tandartenführer Loling, zeigte für den Plan des In ternationalen Komitees, M edikam ente an die inhaftierten Àrzte zu schicken, voiles V erstàndnis und diktierte sofort einen Befehl, um die D urchführung in alien K onzentrationslagern zu erleichtern. In diesem Befehl w ar spezifiziert, dass die Q uittungen über den Em pfang von M edika­m enten nur von den inhaftierten auslàndischen A rzten unterzeichnet werden dürfen. Dr. Loling benutzte die Gelegenheit, um den V ertretern des In terna­tionalen Kom itees vom Roten K reuz aile A nstrengungen des Reichssicher- heitshauptam tes zu schildern, um Epidemien in den K onzentrationslagern zu vermeiden, da ja dadurch auch die G esundheit des deutschen Volkes gefàhrdet würde. G leichzeitig hatten wir eine U nterredung m it Obersturnr- bannfünrer Boss, dem V ertreter und A djutanten von O bergruppenführer Glücks. W ir wiesen nochm als d a rau f hin, welchen grossen W ert das In terna­tionale Kom itee vom Roten K reuz au f den Besuch seiner Delegierten in den K onzentrationslagern legte. O bersturm bannführer Boss antw ortete uns

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darauf, dass die Entscheidung in dieser Frage beim Reichsfiihrer-SS Himm- ler liege. E r versprach uns jedoch noch einmal, dringend eine A ntw ort von seiner vorgesetzten Dienststelle zu erbitten. Betreffs der Listen der Lager- iiltesten und der Bestande der verschiedenen K onzentrationslager nach National! táten versicherte m an uns, dass diese noch nicht eingetroffen seien. O bersturm bannfiihrer Hôss entschuldigte sich mit dem Hinweis au f die schlechten Post- und Verkehrsverhâltnisse. Diese stereotype A ntw ort sollten wir in der Folge au f unsere w iederholten A nfragen noch m ehrere Male erhalten.

Spâter fanden ziemlich hàufig Besprechungen mit dem SS-W VHA Ora- nienburg statt. In verschiedenen Sitzungen m it O bersturm bannfiihrer Boss und S tandartenfiihrer Loling w urden verschiedene D etailfragen geregelt, ohne jedoch eine prinzipielle Entscheidung in bezug a u f den Besuch der K onzentrationslager durch die Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten K reuz zu erreichen. Der Reichsfiihrer-SS H im m ler hiillte sich in Schweigen.

Zwischen dem 13. und 15. M iirz 1945 fanden Besprechungen des Prâsi- denten des In ternationalen Kom itees vom R oten Kreuz, Professor Carl B urckhardt, m it O bergruppenfiihrer K altenbrunner statt. O hne das Résultat der V erhandlungen abzuw arten, un ternahm die Berliner D elegation einen erneuten V orstoss bei Brigadeführer Schellenberg, dem C hef des politischen N achrichtendienstes. Brigadeführer Schellenberg nahm dam ais einen sehr wichtigen Platz u n te rd en führenden Persônlichkeiten D eutschlands ein, und sein Einfluss erstreckte sich ohne Zweifel bis zu den hôchsten Stellen. Die Gespràche m it Schellenberg erlaubten uns, innerhalb der Reichsregierung zwei sich stàndig bekam pfende R ichtungen zu unterscheiden. Die eine war d arau f bedacht, gewisse Zugestándnisse zu m achen, den Krieg m it hum anen und korrekten M ethoden zu führen, die G efangenen nach den in ternationa­len K onventionen zu behandeln und dem Internationalen K om itee vont Roten K reuz weitgehende Rechte zuzugestehen. Die andere dagegen war der Meinung, m an müsse Herzen und Nerven aus Stahl haben. Sie unterstrich die N otw endigkeit, bis aufs àusserste und ohne Rücksicht a u f menschliche Gefühle zu kàm pfen. D er auslândischen P ropaganda sollcn keine Zuge­stándnisse gem acht werden. Die Rücksichtnahm e au f hum anitiires G edan- kengut wird ais Schwache betrachtet. Als Verfechter der ersten Theorie war Brigadeführer Schellenberg anzusehen, der in diesem Sinne seinen Einfluss au f den Reichsführer-SS H im m ler geltend m achte. A uf der anderen Seite befanden sich H itler und sein A dju tan t Borm ann.

W ir brachten verschiedene Problèm e zur Sprache. D ie Fragen, die die K onzentrationslager betrafen, w aren folgende:

1. Die Repatriierung der franzôsischen Frauen des KonzentrationslagersRavensbrikk

Schellenberg âusserte sich hierzu, dass dieses Problem wahrscheinlich dem náchst entschieden werde. Er fügte indessen hinzu, dass man einen

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A ustausch dieser F rauen m it den in F rankreich in G efangenschaft befindli- chen W ehrm achtshelferinnen ins Auge fassen solle.

2. Verpflegung der Konzentrationslager durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Besuch der Delegierten, Rege lung der Korrespondenz

Schellenberg kannte das G esam tproblem sehr gut, und er versprach seine M ithilfe bei der Lôsung. Die einzelnen Fragen miissten jedoch m it G ruppen- fiihrer M üller vom Sicherheitsdienst besprochen werden.

3. Das Judenproblem

A uf unsere A nfrage, ob nicht den Juden gewisse Erleichterungen zuge- standen werden kônnten und eine Aussicht bestiinde, dass die Judenverfol- gungen eingestellt würden, antw ortete uns Schellenberg, es kônnten sicher in nachster Zeit einige Erleichterungen zugestanden werden. E r versprach uns au f jeden Fall, seinen Einfluss in diesem Sinne geltend zu machen.

W ir verabschiedeten uns von Brigadeführer Schellenberg m it dem Ein- druck, einen M ann gefunden zu haben, m it dem eine Diskussion móglich ist und der ein weitgehendes V erstándnis für die Problèm e des In ternationa- len Kom itees vom Roten Kreuz hegte.

Am 23. M ârz 1945 begaben sich die Delegierten des IK R K zu G ruppen- führer M üller, dem C hef des Sicherheitsdienstes. Diese U nterredung wurde ebenfalls durch Dr. Reichel verm ittelt. Leider w ar uns das R ésultat der V erhandlungen zwischen Professor B urckhardt und Dr. K altenbrunner noch nicht bekannt, und so konnten wir gewisse Fragen nicht eingehend genug besprechen. Die gesam te Diskussion drehte sich um das Problem der K onzentrationslager, insbesondere w urden folgende Punkte besprochen:

a) Liebesgabensendungen fiir KonzentrationslagerW ir m achten O bergruppenführer M üller au f die bereits erzielten Resul-

tate aufm erksam , die wir bisher in diesem Sinne schon erreicht hatten. W ir gaben ihm bekannt, dass das In ternationale Kom itee vom Roten Kreuz bereits Tausende T onnen von Lebensm itteln in die K onzentrationslager geliefert habe. D a sich nun die V erkehrsverhàltnisse indessen ausser- ordentlich verschlechtert hatten, ware das Internationale K om itee vom Roten K reuz entschlossen, wie für die K riegsgefangenenlager so auch für die K onzentrationslager Lastwagenzüge von G enf aus zu organisieren. W ir baten ihn, auch seinerseits dem Intem ationalen Kom itee vom Roten K reuz alle Hilfe zu gewahren.G ruppenführer M üller teilte uns h ierauf mit, dass alie diese Problèm e von Professor B urckhardt und Dr. K altenbrunner besprochen worden und im günstigen Sinne gelôst seien. Die Liebesgabensendungen sollten alien N ationen zugute kommen.

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b) Korresponden: fiir die KonientrationslagerDas Auswiirtige A m t hatte bereits dem Internationalen Kom itee vom

Roten K reuz die Erlaubnis erteilt, den belgischen und franzosischen K L-H aftlingen R otkreuzform ulare zuzustellen. W ir schlugen G ruppen- führer M üller vor, diese E rlaubnis au f alle K L-H aftlinge auszudehnen. Die Rotkreuzlastw agen w ürden gleichzeitig m it den Lebensm itteln R o t­kreuzform ulare in die Lager bringen und sie bei ihrem niichsten Besuch vollstiindig ausgefüllt wieder zurücknehm en. G ruppenführer M üller glaubt, die Z ensur werde sehr schwer zu bewerkstelligen sein, da es an Ú berprüfern feble. D ie M enge der a u f diese Wei se zu überm ittelnden N achrichten w ürde von der Zahl der Prüfer abhângen, die das Reich zur Verfügung stellen kônnte.

c) Die JudenfrageW ir baten um die Erlaubnis, T heresienstadt zu besuchen, was uns

schon seit lângerer Zeit versprochen w orden war. G ruppenführer M üller antw ortete, dass der Besuch genehm igt sei und ein Delegierter des IK R K in einigen Tagen in das Lager kom m en kônne. M üller hoffte, dadurch endlich einen Schlussstrich un ter die feindliche Lügenpropaganda setzen zu kónnen.

d) Besuch des Lagers Bergen-BelsenW ir inform ierten H errn M üller, dass die deutschen Behôrden verspro­

chen hiitten, einen Besuch dieses Lagers zu verm itteln, der bisher aber imm er verschoben w orden sei. M üller sagte, dass er dieses Problem ebenfalls kenne, aber m an müsse den Besuch noch einmal zurückstellen. Das Lager Bergen-Belsen w ürde aufgelôst und alle Juden D eutschlands in einem einzigen Lager zusam m engebracht werden. Die Liebesgaben- sendungen an die Juden seien im Prinzip erlaubt. D am it schloss die Sitzung m it G ruppenführer M üller.

Am 30. M àrz 1945 kam der Delegierte des In ternationalen K om itees vom Roten K reuz in Sonderm ission nach Berlin, um m it O bergruppenführer K altenbrunner die M odalitaten der R ückführung der internierten franzosi­schen Frauen aus Ravensbrück zu besprechen. Die Sitzung m it O bergrup­penführer K altenbrunner fand in Berlin statt. ... Am 3. A pril 1945 wurden in einer Besprechung im A usw àrtigen A m t, in der der G esandte Schmidt, der A dju tan t von K altenbrunner, der G esandte W indecker und die Dele- gierten des IK R K anwesend waren, die Bedingungen zur R ückführung von 300 internierten franzosischen Frauen des K onzentrationslagers Ravens­brück festgelegt. Wie in den Besprechungen zwischen Professor B urckhardt und Dr. K altenbrunner vereinbart w urde, sollte in jedem K onzentrations- lager ein Delegierter des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz seinen A ufenthalt nehm en. D a indessen bereits der Delegierte des Internationalen Komitees vom R oten K reuz nach Prag gereist war, um sich im G hetto von Theresienstadt wohnlich einzurichten, verlangten wir eine diesbezügliche Bewilligung und Anweisung der dortigen Lagerbehôrden. D er A dju tan t von

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K altenbrunner an tw orte te uns, dass er diesen P unkt mit K altenbrunner selbst noch besprechen müsse.

Am 4. April 1945 m achte ich einen Besuch im SS-W VHA in O ranienburg. W ir trafen do rt aile fiihrenden Persônlichkeiten: S tandartenfiihrer Loling und O berslurm bannführer B oss m it dem gesam ten S tab seiner Verwaltung. Es w urdcn verschiedene D etailfragen besprochen, und es fand eine Zusam - m enkunft m it den Lagerâltesten statt. Von einer freien A ussprache konnte natürlich keine Rede sein, da die K onfron ta tion in G egenw art sam tlicher SS-Leute vorgenom m en wurde. Die Lagerâltesten waren sichtlich beein- d ruckt und eingeschüchtert, nur der niederlândische Lagerálteste wagte, etwas offener zu sprechen. W ir waren in unseren F ragen sehr vorsichtig, da wir a u f keinen Fall einen der Lagerâltesten kom prom ittieren wollten. Wie m ir spâter der jugoslaw ische Lagerálteste m itteilte, ist den Lagerâltesten vor der Zusam m enkunft genau vorgeschrieben w orden, au f welche Fragen sie an tw orten dürften und a u f welche nicht. Insbesondere w ar es ihnen streng verboten, die H àftlingsstârke der verschiedenen N ationalitàten anzugeben.

F ür zwei Delegierte des IK R K w urden Em pfehlungsschreiben an alle K L -K om m andanten erstellt. Diese Briefe haben in der Folge grosse Dienste geleistet. In der Absicht, einen stândigen Delegierten in das K onzentrations- lager Buchenwald zu schicken, m achte ich O bersturm bannfiihrer B oss au f das diesbeziigliche Versprechen von O bergruppenführer K altenbrunner auf- m erksam . Ich erbat für diesen Delegierten von ihm eine Zutrittsgenehm i- gung und die E rlaubnis zur Bilfeleistung in diesem Lager. O bersturm bann- fiihrer B oss antw ortete mir, dass er sich in dieser Angelegenheit zuerst an seinen Vorgesetzten, Reichsführer-SS B im m ler, wenden müsse, da ihm diese A bm achung unbekannt sei. Ich em pfahl dem Delegierten, sich trotzdem ohne Erlaubnis nach Buchenwald zu begeben und zu versuchen, ins K on- zentrationslager zu gelangen. Ich wollte mich m einerseits in Berlin darum bem ühen, die Erlaubnis so schnell wie môglich zu erhalten.

Am 5. April 1945 begab ich mich nach Prag, um den K on tak t m it den dortigen Behorden des Sicherheitsdienstes aufzunehm en und das G hetto Theresienstadt zu besuchen.

Am 6. April erfolgte der Besuch im G hetto Theresienstadt, wo aufschluss- reiche G espràche m it Dr. W einem an, dem C hef des Sicherheitsdienstes des P ro tek to rats Bôhm en und M àhren, und m it O bersturm bannfiihrer Eich- m ann, dem Beauftragten für alle Judenfragen, stattgefunden haben. Letzte- rer hatte sich von Berlin nach Prag begeben, um sich m it den Delegierten des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz über verschiedene Juden betreffende Fragen zu unterhalten. O berslurm bannführer Eichm ann hatte in den K onzentrationslagern von Lublin und Auschwitz eine führende Rolle gespielt. W ie er m ir mitteilte, w ar er der direkte Beauftragte des Reichs- fiihrers-SS in alien Judenfragen. In einem Em pfang, der im B radschin gegeben w urde, hatte ich Gelegenheit, mich mit diesen beiden M ânnern bis spât in die N acht zu unterhalten und die verschiedensten Problèm e zu besprechen. W as das In ternationale Kom itee vom Roten K reuz besonders interessiert, waren nicht so sehr die W ohnungsverhàltnisse und Einrichtun-

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gen des G hettos Theresienstadt, sondera ob dieses G hetto nur als D urch- gangslagcr für die Juden diente und in welchem A usm asse D eportierungen nach dem Osten (Auschwitz) stattgefunden hatten. Wie ¡ch im G hetto Theresienstadt festgestellt hatte, war, neben vicien andera, auch der Lager- àlteste des Lagers, der Judenâlteste Dr. Eppstein, nach A uschwitz deportiert worden. Ich stellte deshalb an Dr. W einem an die direkte Frage, wann D eportationen stattgefunden haben und in welchem Ausmasse. Dr. W eine­m an antw ortete hierauf, dass die letzten T ransporte nach Auschwitz vor 6 M onaten abgegangen seien. Es handelte sich um 10 000 Juden. Diese seien zum weiteren A usbau des Lagers Auschwitz eingesetzt worden, und sie würden dort grôsstenteils in der Verwaltung beschâftigt. Einige tausend seien zu Schanzarbeiten eingesetzt worden. N ach Dr. W eineman bestand zwischen diesen Leutcn und den Bewohnern von Theresienstadt keinerlei K ontak t m ehr. Es sei ihm auch nichts weiteres über deren Schicksal be- kannt, wahrscheinlich seien sie von den Russen, die indessen bis in diese Gegend vorgedrungen waren, verschleppt worden. Diese T ransferierung sei auch nicht a u f seinen Befehl hin ausgeführt w orden, er habe von hôherer Stelle einen Befehl erhalten.

Im Laufe des Abends entwickelte Eichm ann seine Theorien über das Judenproblem . Seines Erachtens waren die Juden in Theresienstadt in bezug au f E rnâhrung und medizinische Betreuung viel besser gestellt als viele Deutsche. Theresienstadt sei eine Schôpfung des Reichsführers SS Himmler, der den Juden im dortigen G hetto die Gelegenheit geben wollte, ein Gemein- wesen zu schaffen unter jüdischer Leitung und m it fast vollstàndiger A u to ­nomie. M an habe au f diese Weise bei den Juden den Sinn für eine Rassen- gem einschaft wecken wollen. D ie Juden von Theresienstadt sollten spâter in irgendeiner G egend angesiedelt werden, wo sie für sich, abgesondert vom deutschen Volkskôrper, lebcn sollten.

Zu dem G esam tjudenproblem àusserte sich Eichm ann dahingehend, dass H im m ler gegenwartig für hum ane M ethoden eintràte.

E ichm ann selbst wâre m it diesen M ethoden nicht ganz einverstanden, aber als guter Soldat folge er natürlich in blindem G ehorsam den Befehlen des Reichsführers. Ich tra f bei dieser Zusam m enkunft m it Dr. W eineman das A bkom m en, eine D elegation in Prag zu errichten. Dem Delegierten sollte die M ôglichkeit gegeben werden, das Lager Theresienstadt zu jeder Zeit zu besuchen.

Ich erw ahnte auch das K onzentrationslager Theresienstadt, das sich ne­ben dem G hetto befand, und erhielt für diesen Besuch eine halbe Zusage. Es ware m ir natürlich lieber gewesen, wenn der Delegierte in Prag seinen W ohnsitz in T heresienstadt hatte. Dr. W einem an w andte sich diesbezüglich telegraphisch an O bergruppenführer K altenbrunner, erhielt aber bis zu m einer A bfahrt keine A ntw ort.

Im Laufe des Abends iiusserte ich Eichm ann gegenüber den W unsch, das Lager Bergen-Belsen zu besuchen. E ichm ann erw ahnte, dass in diesem Lager eine Typhusepidem ie ausgebrochen sei, die die Reichsgesundheits- behôrdcn mit allen zur Verfügung stehenden M itteln bekam pften. Er gab

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m ir das Versprechen, m it m ir das Lager in den nàchsten Tagen zu besuchen. Dieser Besuch kam nicht m ehr zustande, da ich Dr. E ichm am m in Berlin nicht m ehr erreichen konnte.

M it diesem Versprechen von O bersturm bannfiihrer E ichm ann und der ehrenwôrtlichen Zusicherung von D r. W einem an, dass vom Lager There- sienstadt keine Juden m ehr deportiert würden, verabschiedete ich mich von meinen G espràchspartnern .

Als ich am 8. April von P rag nach Berlin zuriickkehrte, hatte sich die militàrische Lagc zuungunsten D eutschlands bereits wieder stark verándert. Die russischen T ruppen rückten gegen die S tadt Berlin vor. Im Westen m achte der englisch-am erikanische V orstoss im m er grossere Fortschritte. Eine K olonne von weiteren 300 H áftlingen a us dem K onzentrationslager Ravensbriick konnte n icht m ehr nach Siiden durchkom m en. Bei der grossen G efahr der Tieffliegerangriffe w ar es uns unm ôglich, die V erantw ortung fur den T ranspo rt von 300 F rauen, die durch die lange H aft sehr geschwàcht waren, zu übernehm en. Die hierzu bestim m te Lastw agenkolonne w urde zur V ersorgung der K onzentrationslager Ravensbriick und O ranienburg zwi- schen Lübeck und den beiden Lagern eingesetzt.

Am 12. April 1945 erhielten wir die N achricht, dass a u f Befehl der G estapo alle Personalpapiere und A kten sowohl der K L-H aftlinge als auch der politischen G efangenen in den Gefangnissen vernichtet w orden waren. W as dies zu bedeuten hatte, w ar ziemlich klar. Die Sicherheitspolizei des Reiches wollte alle belastenden A kten verschwinden lassen. D am it w ar auch die G efahr gegeben, dass im letzten Augenblick M assenexekutionen statt- finden konnten. Die politischen H âftlinge waren eine nam enlose Herde geworden. D am it w ar auch unsere Aufgabe genau umschrieben: energische Intervention bei den uns bekannten Stellen der Reichsbehôrden und der SS.

Am 13. April 1945 hatten wir eine U nterredung m it dem G esandten Schmidt, dem wir unsere Befiirchtungen mitteilten. D er G esandte Schmidt verm ittelte uns eine Zusam m enkunft m it G ruppenführer M üller und dem Reichsjustizm inisterium . Er versprach uns energische Hilfe und hat auch dieses Versprechen in den nàchsten Tagen eingehalten.

Bereits am folgenden Tage hatten wir eine U nterredung m it G ruppen­führer M üller und M inisterialrat Dr. F ranke vom Reichsjustizm inisterium . Von beiden Seiten w urde uns die formelle E rklàrung abgegeben, dass keine Repressalien und keine Schnellprozesse im letzten Augenblick durchgeführt würden. W ir haben diese beiden U nterredungen schriftlich bestâtigt. In der Folge geben wir eine K opie des Briefes an H errn G ruppenführer Müller:

Berlin, den 16. April 1945

H err G ruppenführer,

wir beeilen uns, Ihnen für die uns am 13. April 1945 gewàhrte U nter­redung bestens zu danken, und beehren uns, Ihnen deren Inhalt kurz zu bestàtigen.

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Vom Los der K riegsopfer bewegt, haben wir Ihnen den W unsch unter- breitet, die Hilfe des In ternationalen K om itees vom Roten Kreuz, die au f G rund der zwischen O bergruppenfuhrer Dr. K altenbrunner und dem Prasidenten des IK R K , Dr. B urckhardt, gefiihrten Besprechungen den Hàftlingen der K onzentrationslager zugestanden w orden ist, in analoger Weise auch au f die Insassen der Gefángnisse ausdehnen zu dürfen, min- destens insoweit es sich dabei um A uslander handelt, die aus politischen oder militárischen G ründen in Berlin und Um gebung verhaftet sind.

Sie haben unserem W unsche Ih r Entgegenkom m en nicht versagt, hier- bei jedoch d arau f aufm erksam gem acht, dass ein Teil der Hàftlinge sich nicht in der Z ustàndigkeit des Reichssicherheitshauptam tes, sondern in derjenigen des Reichsjustizm inisterium s befinde. Ihrer A nregung entspre- chend haben wir uns inzwischen durch die V erm ittlung des G esandten Schmidt auch an dieses gewendet und hier ebenfalls fiir unsere Anliegen V erstândnis gefunden. Demgemass erlauben wir uns daher, m it der Bitte an Sie heranzutreten, unserem Delegierten zum Zwecke der persônlichen Zustellung der Liebesgabenpakete eine Bewilligung auszufertigen, die ihm das Betreten der Gefangnisse grundsatzlich und jederzeit gestattet.

Bei unserer U nterredung hielten wir es für unsere Pflicht, Sie von der in der erw àhnten K ategorie von Hiiftlingen bestehenden Beunruhigung zu unterrichten, die ihre U rsache hauptsáchlich in der fiir die Hàftlinge infolge der V erteidigungsm assnahm en der R eichshauptstadt entstande- nen U nsicherheit haben diirfte. Ausserdem sollen in den letzten Tagen A kten und Personalpapiere vernichtet w orden sein, was die Befiirchtung nàhrte, es kônnte ein Geheim befehl bestehen, der untergeordneten Orga- nen des Justizdienstes weitgehende Exekutivgewalt einràume.

M it grosser G enugtuung haben wir Ihre formelle E rklàrung entgegen- genom m en, dass keine irgendwie gearteten Repressalien und keine Schnellprozesse durchgefiihrt wiirden, die einen irreparablen Schaden zur Folge haben konnten. W ir glauben, dass uns in diesen schweren Tagen eine diesbeziigliche, von Ihnen an die untergeordneten Dienststellen erge- hende W eisung in unserer Tàtigkeit zur M ilderung der materiellen und moralischen Folgen des Krieges zu unterstützen verm ôchte, wie wir über- haupt in Ihrem Entgegenkom m en die M ôglichkeit erblicken, au f der Gegenseite die Stellung unserer Delegierten bei der Betreuung deutscher Kriegsgefangener zu verstàrken. ...

Ein ganz àhnliches Schreiben liessen wir H errn M inisterialrat Dr. Franke, dem Beauftragten des Reichsjustizm inisterium s, zukom m en.

In den nàchsten Tagen w ar die Lage für die K onzentrationslager O ranien- burg und Ravensbrück kritisch geworden. Es w ar zu erw arten, dass trotz aller Verspechungen noch im letzten Augenblick Repressalien gegen die Hàftlinge ergriffen würden. Ich suchte deshalb Brigadeführer Schellenberg zu erreichen, um durch ihn beim Reichsführer-SS H im m ler die Erlaubnis zu erwirken, dass ein Delegierter die beiden Lager O ranienburg und Ravens­brück übernehm en kônnte, um sie den russischen M ilitàrbehôrden bei ihrem

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Eintreffen zu übergeben. Leider konnte ich nur den A djutanten von Schel- lenberg sprechen, Schellenberg selbst w ar in diesen Tagen von Berlin ab- wesend.

Am 20. April 1945 batte ich diesbezüglich eine U nterredung m it dem G esandten Schm idt, der erneut eine Zusam m enkunft m it G ruppenführer M üller zuwege brachte.

G ruppenführer M üller empfing mich am 20. April 1945 abends in seinem H aup tquartier am G rossen W annsee. M üller, der sonst im m er die Ruhe selbst war, w ar sichtlich ñervos. U nter dem fem en D onnera der russischen Geschütze fand diese letzte entscheidende U nterredung statt. Ich erinnerte G ruppenführer M üller an all die V ersprechungen, die uns gem acht worden waren, und an die V erabredungen zwischen Professor B urckhardt und Dr. K altenbrunner. Ich sagte ihm, dass ein Entgegenkom m en der Reichs- behôrden noch in dieser S tunde spàter vielleicht hoch angerechnet würde. Ich verlangte von ihm die Einlôsung des Versprechens von Dr. K altenbrun­ner, dass Delegierte vom In ternationalen Kom itee vom Roten K reuz sich in die K onzentrationslager begeben kônnten. M üller antw ortete m ir hierauf: «Die Russen stehen 10 K ilom eter vor O ranienburg. Wie wollen Ihre Dele- gierten durchkom m en?» w orauf ich entgegnete: «D as lassen Sie nur unsere Sorge sein.» Ich schlug ihm vor, die K onzentrationslager R avensbrück und O ranienburg einem Delegierten des In ternationalen Kom itees vom Roten Kreuz zu übergeben und die SS aus dem Lager zu entfernen. A uf diesen Vorschlag an tw orte te m ir M üller, dass eine solche Entscheidung seine Kom- petenz überschreite und er sich vorerst an H im m ler wenden müsse. Er versprach m ir eine A ntw ort bis zehn U hr abends. H ingegen erlaubte er uns, das jüdische Sammellager, Schulstrasse 78 in Berlin, und das jüdische K ran- kenhaus, Iranische Strasse 2, Berlin, unter den Schütz des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz zu stellen.

Um 10 U hr abends hatten wir noch keinen Bericht von G ruppenführer M üller erhalten. W ir entschlossen uns deshalb, einen Delegierten nach O ranienburg zu schicken, um m it den dortigen Behórden zu verhandeln. Ich gab ihm ein Schreiben an O bersturm bannführer Hôss mit. Die A bfahrt verzogerte sich durch einen Fliegerangriff au f Berlin um einige Stunden. Um drei U hr m orgens verliess er die Delegation, um durch die deutsche F ront- linie h indurch das K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen) zu erreichen. Am 21. friih w ar er bereits wieder zurück, er w ar von O bersturm ­bannführer H ôss und S tandartenführer Keindl em pfangen worden. Leider w ar es ihm unmóglich, das K onzentrationslager O ranienburg zu überneh- men, da ein gegenteiliger Befehl von Reichsfiihrer-SS H im m ler eingetroflen war.

Einige Stunden spàter erhielt ich einen A n ru f von O bersturm bannführer Hôss. E r teilte m ir mit, dass au f Befehl Him m lers das Lager O ranienburg in R ichtung W ittstock evakuiert würde. D ie H âftlinge sollten im Fuss- m arsch die 100 K ilom eter zurücklegen. Die einzelnen E tappenorte wurden m ir angegeben, ebenso die ungefahre M arschroute. Hôss bat dringend um R otkreuzpakete, da es um die Verpflegung sehr schlecht bestellt sei.

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Diese überraschende N achricht stellte uns vor neue Problème. Glückli- cherweise hatten wir ein D epot von R otkreuzpaketen in unserer Zweigstelle W agenitz angelegt. A ndererseits w ar es dringend notwendig, eine Verbin- dung mit Lübeck herzustellen, um von do rt Lastw agenkolonnen nach den E tappenorten zu dirigieren. D as ganze U nternehm en war ausserordentlich gefahrlich. Sámtliche Strassen lagen unter Tieffliegerbeschuss. Ausserdem waren sie durch die M ilitárkolonnen der F ron t vollstàndig verstopft. Die M arschroute der H áftlinge ging zum Teil durch N iem andsland. W ir haben dennoch nicht eine M inute gezógert, um dieses gefahrliche U nternehm en in Angriff zu nehm en, denn wir wussten, dass es sich um das Leben von 50 000 H aftlingen handelte. Indessen erhielt ich noch einen T elefonanruf von G ruppenführer M üller, der die Evakuierung des Lagers O ranienburg be- státigte.

Um drei U hr nachm ittags verliess ein Delegierter, begleitet von einem Chauffeur, die D elegation, um die Evakuierung des K onzentrationslagers zu kontrollieren und Lebensm ittel von W agenitz heranzuschaffen.

Am 22. April 1945 erschien der C hauffeur bei der D elegation und teilte uns mit, dass die H ilfsaktion ihren A nfang genom m en habe. Gleichzeitig überbrachte er uns einen R apport des Delegierten des IK R K , aus dem hervorging, dass die Evakuierung un ter unm enschlichen Bedingungen durchgeführt werde. Die M arschkolonnen der K L-H aftlinge glichen Ziigen von w andelnden Leichen, wer zurückbleibe, werde von der SS erbarm ungs- los erschossen. E r berichtete aber auch, das Erscheinen der Delegierten habe au f die Bew achungsm annschaften und die K L-H aftlinge grossen E indruck gem acht. D urch das energische Eingreifen der Delegierten sei schon viel Unheil verhindert worden.

In dieser Lage entschloss ich mich, einen letzten dringenden Appell an die oberste V erw altung der K onzentrationslager zu richten, um womóglich eine Evakuierung des K onzentrationslagers R avensbrück unter ahnlichen Um- stiinden zu vermeiden. O bersturm bannführer Hóss und die beiden Kom- m andanten der K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen) und R a­vensbrück waren die einzigen, die in der allgem einen Verwirrung noch zu erreichen waren. H óss hatte sich, wie er m ir telefonisch mitgeteilt hatte, nach R avensbrück begeben.

Am 23. April 1945 begab sich einer der Delegierten des Internationalen Kom itees vom Roten K reuz, begleitet von einem Chauffeur, nach R avens­brück. W ir gaben ihm ein Schreiben an O bersturm bannführer H óss mit. Es folgt der Inhalt dieses Schreibens:

22. April 1945

Soeben erhaite ich einen Bericht von unseren Delegierten, die die K olon- nen der evakuierten In ternierten aus dem Lager O ranienburg/Sachsenhau- sen teilweise m it Liebesgaben versorgen konnten. U n ter vielen Schwierig- keiten ist es uns gelungen, die Pakete von unserer Zweigstelle W agenitz an die K olonnen heranzubringen. Leider ist dies nur eine erste dürftige

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Hilfe. Ich hoffe jedoch, dass wir aus unserem Z entrallager in Liibeck noch Liebesgaben zu den neuen Bestim m ungsorten heranschaffen konnen.

Ich m ôchte bei dieser Gelegenheit nicht verfehlen, Sie au f das nam en- lose Elend aufm erksam zu m achen, das iiber die Schutzháftlinge durch die Evakuierung des Lagers hereingebrochen ist. Die Gefangenen sind so schwach, dass sie sich nur m ehr m it grossier M ühe vorw àrts schleppen kônnen. Es soil auch verschiedentlich zu A usschreitungen seitens der W achm annschaften gekom m en sein. Gefangene, die au f dem Wege zu- rückblieben, sind erschossen worden.

Es ist m ir bewusst, dass diese A usschreitungen sicher nicht in Ihrem Sinne sind und von Ihnen in keiner Weise gebilligt werden.

Z ur S tunde ist es mir leider nicht móglich, den Reichsführer-SS oder eine andere verantw ortliche Persônlichkeit zu erreichen. Ich erlaube mir deshalb, im N am en des In ternationalen Kom itees vom R oten K reuz den dringenden Appell an Sie zu richten, das Lager Ravensbriick nicht zu evakuieren, wenn die Verhâltnisse sich âhnlich gestalten sollten, um nicht ein gleiches Leid heraufzubeschwôren.

Ich schicke Ihnen einen zuverlâssigen Delegierten und bitte Sie, demsel- ben E in tritt in das K onzentrationslager Ravensbriick zu gewàhren und ihm nôtigenfalls das Lager protokollm âssig zu übergeben. Er wird aile G arantien zur Versorgung des Lagers m it Lebensm itteln übernehm en.

N un waren die W ürfel gefallen. Ailes menschenm ôgliche ist getan w or­den. ... O hne Ü bertreibung kann m an behaupten, dass durch diese letzte A ktion Tausenden von arm en K L-H âftlingen das Leben gerettet wurde. Die A nkunft der Delegierten bei den m üden, abgehetzten, dem Tode geweihten H âftlingskolonnen bedeutete für diese eine grosse m oralische U nterstüt- zung. A ndererseits haben die Lastw agenkolonnen aus Lübeck, m it denen tro tz aller H indernisse die V erbindung aufgenom m en werden konnte, und aus W agenitz die halbverhungerten Leute m it Lebensm itteln versorgt und die m arschunfahigen K ranken nach Schwerin au f die am erikanische Seite gebracht. A uf die SS-M annschaften hat die G egenw art der Delegierten einen grossen Eindruck gem acht. Die psychologischen V oraussetzungen dazu waren gegeben. D as Kriegsgeschehen nâherte sich seinem Ende, und m an­chet SS-M ann fiirchtete wohl zur V erantw ortung gezogen zu werden. ...

Wie m ir der jugoslawische Lageràlteste des Lagers O ranienburg, der in den H âftlingskolonnen m itm arschierte, spâter erzàhlte, w ar das Erscheinen der R otkreuzkolonnen im W alde von Below eine w ahre Offenbarung. Ein einziger Schrei ging durch die todm üden ausgehungerten M assen: «Das In ternationale R ote Kreuz, wird sind gerettet!»

III. - Bericht eines Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz iiber die Repatriierung von weiblichen Hâftlingen des KL

RavensbriickAm 26. M àrz 1945 fahre ich m it einer A utokolonne des Internationalen

Kom itees vom Roten K reuz ab, die von K onstanz nach dem Stalag IV D

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in T orgau bestim m t ist, um R otkreuz-Pakete dorth in zu bringen. Am 28. Miirz babe ich gemass meinem M issionsauftrag eine zweite Aufgabe zu erfiillen: ich soil mich «nach Berlin begeben, um O bergruppenführer Kalten- brunner ein Schreiben des Pràsidenten vom Internationalen Kom itee zu überreichen und m it ihm im N am en des In ternationalen Kom itees verhan- deln». Es handelte sich um die W eiterfuhrung der in D eutschland vom Pràsidenten des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz m it den deut- schen Behôrden eingeleiteten V erhandlungen iiber die R epatriierung und den A ustausch von Kriegsgefangenen und D eportierten, ihre Versorgung mit R otkreuz-Paketen sowie den Besuch der K onzentrationslager durch die Delegierten des In ternationalen Komitees.

Da die ersten G esprâche m it dem A usw àrtigen A m t am 29. M árz nur zu einem Versprechen der deutschen V erw altung führen, die Frage zu priifen, beschliesse ich, mich unm ittelbar an die hôchste Stelle zu wenden, wenn moglich an den Innenm inister und Reichsfuhrer-SS Himmler. M ir ist be- kannt, dass er als einzig Z ustandiger a u f diesem G ebiet derartigen G espra- chen relativ zugànglich ist.

Ich verlasse also Berlin am 30. M arz in nordlicher R ichtung mit der Absicht, mich zum Reichsfuhrer-SS zu begeben und unterwegs das K onzen­trationslager Ravensbrück zu besuchen. Von d o rt will ich mit meinen Fahr- zeugen einen ersten T ranspo rt von 300 Frauen abholen und m it in die Schweiz nehm en. ...

Die Schranke am Eingang des Lagers ist geoffnet. W ir halten mit unserem weissgestrichenen F ord jedoch vor dem W achkorps an, wo uns - wie wir spàter erfahren - ein von der W olga stam m ender D eutscher griisst. D a er nur wenig Deutsch versteht, ruft er den K olonnenführer, der uns die Strasse nach Tem plin zeigt, die links entlang dem Lager fiihrt; er weigert sich zu glauben, dass wir das Lager betreten wollen und veranlasst uns zu einem Umweg. Er kann unsere Bitte, m it dem K om m andanten zu sprechen, nicht verstehen und behauptet, er sei abwesend, da er schon friihzeitig abreisen musste. W ir verhandeln fünf M inuten, um herauszubekom m en, ob ich mich nun mit dem W agen zur K om m andan tu r begeben kann oder nicht. Schliess- lich erklâre ich ihm au f gut preussisch, ich ginge je tzt geradewegs zum K om m andanten und er môge m ir einen Fiihrer mitgeben, wenn es ihm passt. Er griisst steif, und mein F ah rer und ich fahren in R ichtung eines grossen Gebiiudes gegenüber dem eigentlichen Lagereingang, wo wir direkt vor dem Portal parken, durch das die H àftlinge hindurch miissen und durch welches m an die grosse Lagerstrasse und einige Baracken sieht.

Der F ahrer bleibt als B eobachtungsposten im W agen zurück, w áhrend ich mich bemiihe, bis zum K om m andanten, S turm bannfiihrer Suhren, vorzu- dringen. Ich biete dem U nteroffizier der W ache sofort eine Zigarette an und sage zu ihm: «Führen Sie mich sofort zum K om m andanten.» Er bequem t sich zu gehorchen und geht m ir voraus, kehrt aber plotzlich um und erklart, er müsse sich zuerst telefonisch vergewissern, ob ich vorgelassen werden dürfe. «Ich bin angem eldet, kom m e aber m it V erspàtung», sage ich ihm in der Hoffnung, eine Ü berprüfung m einer Papiere zu vermeiden, da ich nicht

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einmal den einfachsten Passierschein besitze. Dieser etwas ergraute, aber bliihend aussehende M ann, U nterscharführer der SS, T ràger der Abzeichen des «Totenkopf»-Regim ents, làsst sich jedoch nicht iiberzeugen. E r ruft den K om m andanten an, ich teile meinen N am en mit und gebe als Beruf Ober- arz t an. W àhrend er sein Telefongesprách fiihrt, schicke ich mich an, die ersten M arm orstufen, die gerade von einer Insassin des Lagers geputzt werden, hinaufzugehen.

Im ersten Stock angekom m en, klopfe ich an die B ürotiir und verlange den K om m andanten zu sprechen. «Er ist nicht da, er ist im Lager», ist die trockene A ntw ort. D a rau f befehle ich: «Führen Sie mich sofort zu ihm, es ist von hôchster Dringlichkeit!» N ach einer kurzen Beratung, wer mich begleiten soli, fordert mich ein SS-M ann auf, ihm zu folgen. D er U .v .D . telefoniert noch immer. W ir kom m en zur G ittertiir, sie wird geoffnet. Der W achposten interessiert sich sogleich für meine zivilen Verháltnisse, ver- langt meine Ausweispapiere, einen Passierschein, eine G enehm igung usw. - alies Dinge, die m ir fehlen. Er schliesst mit der Frage, wie ich so weit kom m en konnte, er erk lárt, so etwas sei unglaublich und er miisse micht festnehmen. ... Ich bediene mich wieder der preussischen A rt, die m ir das D urchqueren der eisernen Schranken erm ôglicht hat, und verweigere jede A uskunft. Ich bin nur dem K om m andanten Rechenschaft schuldig, und m an soli ihn m ir schnellstens «herbolen». A ber die W ache beruft sich au f ihre schriftlichen und dienstlichen Befehle. N ichtsdestoweniger erklart sie sich ausnahm sweise bereit, mich ohne weiteres gehen zu lassen unter der Bedingung, die U m zàunung des Lagers sofort zu verlassen, da Spione hier nichts zu suchen hatten. ...

E r lehnt meine Z igarette ab und erklart, er hâtte genug davon. Als ich mich schliesslich ais A bgeordneterdes In ternationalen K om itees vom Roten K reuz vorstelle, wird der M ann ein wenig hôflicher, halt m ir aber um so entschlossener den Befehl vor, au f die andere Seite des G itters zuriickzuge- hen. Er fragt so nebenbei, ob ich R otkreuz-Pakete m itgebracht habe und erk lart sich zufrieden darüber, da sie gute Dinge enthalten, vor allem die Schokolade ist kôstlich. Endlich führen wir ein belangloses G esprâch über das Lager und die Insassinnen, und w àhrend dieser Zeit habe ich Gelegen- heit, die Lagertàtigkeit vom T or aus zu beoachten. ...

M ehrere G ruppen von inhaftierten Frauen m arschieren ohne Ü berw a- chung in K olonnen und in Dreier- oder Fünferreihen au f der grossen Lagerstrasse. Ich bem ühe mich, jedoch vergeblich, in R ichtung des Krem a- torium s R auchw olken zu entdecken. M an sieht zahlreiche Frauen in Zivil- kleidung m it X-Zeichen au f dem Rücken; die M antel m it roten und gelben X-Zeichen sind hàufig, aber die meisten tragen die grau und blau gestreifte H aftlingskleidung. F ast alle Frauen haben Holzschuhe an, die meisten sogar Strüm pfe. Es handelt sich wahrscheinlich um A rbeitskom m andos, die auch ausserhalb des Lagers eingesetzt werden.

U ngefahr dreissig M eter von m ir entfernt sind zwei weisshaarige Frauen mit gekrüm m ten Rücken dam it beschàftigt, das U nkrau t und die Papierfet- zen von der Strasse zu entfernen. Als ich mich náhere, sehe ich, dass ihre

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W angen eingefallen, der Bauch aufgetrieben und die Beine an den K nocheln geschwollen sind; die H aut hat ein erdfarbenes Aussehen. Plôtzlich taucht eine ganze K olonne dieser Ungliicklichen und A usgehungerten auf. In jeder Reihe w urde eine K ranke von ihren K am eradinnen gestiitzt; eine junge SS-Aufseherin, einen reinrassigen W olfshund an der H and, fiihrt die K olon­ne, w àhrend zwei andere M ádchen folgen und diese arm en K reaturen unaufhôrlich beschimpfen. D a ich über diesem Schauspiel meine U nterhal- tung vergessen habe, nim m t mich der W achposten hôflich, aber bestim m t am Arm und sagt: «D a unten linden Sie den L agerkom m andanten. M elden Sie sich bitte vorschriftsm âssig und sagen Sie niem andem , dass Sie bis hierher gekom m en sind.» «U nd was Dich betrifit, K am erad», sagt er zu meinem F ührer aus dem Biiro, «bidder Esel, pass nur ja auf, sonst kdnntest Du Arger bekom m en. H eute bin ich guter Laune, in O rdnung, ab e r ...» Mein F ührer bedeutet mir, unverzüglich fortzugehen, aber ich bestehe darauf, den K om m andanten zu sprechen. D aher rufe ich ein Stückchen weiter einen O bersturm führer, der au f dem W eg erschienen ist, hinzu. Dieser verlangt ebenfalls meine Papiere und erklârt, ais SS-Führer hátte er das Recht dazu, selbst wenn ich unm ittelbar vom «Sicherheitsdienst» káme. Ich muss ihm also meine Identitat preisgeben. N un sagt er mir, dass der K om - m andant mich nicht em pfangen kann, dass er im Lager beschàftigt ist und ich ohne Sondergenehm igung der G estapo oder des Sicherheitsdienstes au f keinen Fall das Lager betreten dürfe; ich hatte jedoch eine geringe Chance, den K om m andanten zu sehen, wenn ich bis 16 U hr w arten wolle. Unmóg- lich, so lange zu w arten, denn ich muss mich so schnell wie moglich nach H. zum Reichsführer-SS begeben.

M eine Bem ühungen haben tro tz zahlreicher Schwierigkeiten Erfolg, und am 5. April 1945 nehm en die Lastwagen des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz aus dem K onzentrationslager R avensbrück 299 deportierte franzdsische F rauen und eine Polin m it in die Schweiz, die anschliessend wiedcr in ihre H eim at zurückkehren werden.

Inzwischen hatten sich die LK W s von T orgau nach Lübeck begeben, um dort R otkreuz-Pakete abzuholen und sie zum Lager O schatz zu bringen. Vorschriftsm âssig m it einem Passierschein der zentralen F ührung der SS versehen, kehre ich am 3. April nach Ravensbrück zurück, um hier den A btransport der inhaftierten F rauen vorzubereiten. D er Lagerkom m andant em pfangt mich sehr liebenswürdig und stellt sich wie ein guter Familien- vatep, der um die inhaftierten Frauen wie um seine K inder besorgt ist. Er bietet m ir am erikanische und Schweizer Z igaretten an, verspricht m ir alle nur môgliche U nterstü tzung für diesen T ransport und scheint sich sehr über diesen Besuch des In ternationalen Kom itees vom Roten K reuz zu freuen. Aber er verweigert jegliche A uskunft au f Fragen betreffs der Anzahl der in dem Lager inhaftierten F rauen, die A ufteilung der K om m andos, die im Falle der A nkunft der Russen zu ergreifenden M assnahm en und andere derartige Fragen. F ü r ihn ist die Lage keineswegs so ernst, wie m an sagt; er spricht von Lebensm ittelreserven. die er für die schweren Zeiten zurück-

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zulegen gedcnkt, von neuen Bauten, um einer Ü berbelegung des Lagers entgegenzuwirken, usw.

Um 20 U hr m achen wir schnell gemeinsam die R unde durchs Lager, wobei ich nichts erfahre und die nur dazu bestim m t ist, m ir Sand in die Augen zu streuen. AIs ich die fur den T ranspo rt bestim m ten F rauen sehen m óchte, weicht der K om m andant aus, übergibt mir aber nichtsdestoweniger eine Liste m it alien Ñ am en.

In einer K antine bem erke ich SS-M ánner beim Abendessen und in einem Schlafsaal, der nicht iiberbelegt schien, eine SS-Aufseherin, die den Appell abnahm . D a alies nur trügerisch war, verzichtete ich a u f die Fortsetzung meines Rundgangs, zum al ich m it den inhaftierten F rauen keine Verbin- dung aufnehm en konnte und m an m ir au f alie meine Fragen fiber schlechte Behandlung, K rankheiten, Strafen und Folterungen antw ortet, es handele sich um von Staatsfeinden verbreitete Verleum dungen.

Ich kehre von do rt nach H. zuriick, wo der G ra f Folke B ernadotte die Frage des Schicksals der in den K onzentrationslagern inhaftierten D anen und N orw eger eró rtert hat. Ich muss zuerst zuriick zu der LK W -K olonne, die sich angeblich hier befinden solí.

Am 5. April, um 6 U hr m orgens, begebe ich mich ins Lager und frage, ob der K om m andant anwesend ist, um dem Appell der 300 F rauen, die mich in die Schweiz begleiten sollen, beizuwohnen. Er ist schon fort. Keiner weiss, dass ich einen T ranspo rt iibernehm en soil. M an will mich weder eintreten lassen noch mich zum K om m andanten fiihren. Ein Unteroffizier vertraut m ir an, dass aile T ruppenangehôrigen strenge Anweisung haben, die Frauen zuvorkom m end zu behandeln. Sie sollten zu den LK W s au f der H aupt- strasse gebracht werden, aber niem and dürfte das Lager betreten. Um 7 U hr erscheinen die ersten hundert F rauen. Ein Anblick des Schreckens und des Elends! Diese arm en Wesen leiden H unger, sind verw ahrlost, veràngstigt, m isstrauisch und in fremde, schàbige Kleider gehiillt. Sie kônnen es nicht fassen, dass ihre Peiniger endlich von ihnen ablassen und sie frei sein werden. Sie halten mich fiir einen A genten im Sold der SS, der sie in die G askam m er fiihren wird. Sie kônnen kaum verstehen, dass sie sich au f der F ah rt in die Schweiz befinden. Die F rauen, die sich davon iiberzeugen lassen, flehen mich nun an, auch ihre K am eradinnen m itzunehm en. Viele unter ihnen sind nicht fahig, die Lastwagen ohne Hilfe zu besteigen. Die meisten hatten Hunger-Ôdem e, aufgedunsene Knôchel und Bauche, Lid-Ôdeme. Jede hatte R ationen fiir drei Tage erhalten; aber kaum im W agen, stürzten sie sich gierig darauf. In fünf M inuten sind W urst, Butter, Kâse und die H álfte ihres Brotes verzehrt.

U nter den letzten hundert befand sich eine 60jahrige F rau, die nicht allein gehen konnte und von zwei jungen inhaftierten Frauen gestiitzt wurde; allein konnte sie sich nicht einmal aufrecht halten. Ich hatte bei den Ver- handlungen gebeten, m ir fiir diesen ersten T ransport nur kràftige und w iderstandsfahige F rauen zu geben; ich wollte diese F rau, deren Gesund- heitszustand eine solche Reise nicht erlaubte, daher nicht m itnehm en. Aber alle ihre K am eradinnen flehten mich an, sie nicht zuriickzulassen, und

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versprachen, au f sie besonders zu achten. Als ich sah, dass sie sich nach Einnahm e eines S tárkungsm ittels gut erholte, begann ich dam it, den Schwiichsten M edikam ente für den K reislauf und Starkungsm ittel zu verab- reichen, um sic für die Reise vorzubereiten. Glücklicherweise hatten die À rztinnen un ter den H âftlingen aus dem Lager einige unentbehrliche M edi­kam ente m itgebracht.

W ahrend mir die kanadischen Kriegsgefangenen, die m ir als Fahrer die wertvollsten D ienste geleistet haben und sich ebenfalls von diesem Elend ergrifien und ernport zeigten. halfen, diese Frauen in die W agen steigen zu lassen, kam ein SS-M ann zu mir, stiess mich m it seinen Ellbogen zur Seite und rief mir ohne jede Hôflichkeit zu: «Es ware besser, die verfluchten Schweine krepieren als sie weiter unser Brot essen zu lassen und sie, um das Mass vollzum achen, nach H ause zu entlassen, diese dreckigen ...» schreit er. Vielleicht ist es für ihn so gekom m en, wie ich ihm sagte: «Zweifellos werden Sie in den náchsten M onaten nicht so wie diese arm en Frauen zu leiden haben, weil die anderen zu zivilisiert sind, um selbst einen Todfeind so grausam und unw ürdig zu behandeln.»

Beim Einsteigen wurden wir Zeugen des Tons, des Geschreis und der Tiernam en, mit denen diese F ranzôsinnen - fast alie glühende Patriotinnen - von ihren W áchterinnen belegt wurden. Es regnete ohne Schonung Schlá- ge au f sie. In das Gesicht, au f den Rücken, überall, wohin m an nur schlagen konnte. D adurch verringerte sich das G edrânge keineswegs, und nur die SS-Frauen konnten es für praktisch halten, in ein- und denselben W agen zwanzig F rauen zuviel einsteigen zu lassen.

Keine der inhaftierten Frauen hatte die ihnen bei ihrer A nkunft im Lager abgenom m ene K leidung zurückerhalten. Keine besass irgendwelche U nter- lagen, keine sah den Schmuck und das Geld wieder, das sie bei der Verhaf- tung bei sich trugen. A lte und Junge m ussten die Reise in alten abgetragenen Kleidern, fast in Fetzen, viel zu lang oder zu kurz, antreten , und mehrere hatten kahlgeschorene Kôpfe.

M an versuchte, mich zu überzeugen, die «deponierten» G egenstânde seien au f G rund der B om bardierungen w oanders in Sichcrheit gebracht worden. A uf meine Bemerkung, es sei unwahrscheinlich, dass m an die Kriegsentwicklung so weit vorausgesehen habe, sagte m an nichts mehr. Das hinderte jedoch den Lagerkom m andanten nicht, m ir im liebenswürdigsten Tonfall ans Herz zu legen, dem G eschw atz dieser Frauen keinen G lauben zu schenken, die alle, sagte er, Kriminelle, Gesindel und Lum penpack wàren.

N ach den befreiten F ranzôsinnen verliessen m ehrere K olonnen inhaftier- ter F rauen das Lager, um sich an die A rbeit zu begeben. D a es sich hier noch um ausgewahlte K om m andos handelte, w ar der Anblick dieser rasch m ar- schierenden K olonnen weit weniger deprim ierend als das w ahrhaft tragische Schauspiel, das wir vor Augen hatten.

Zwei junge SS-Aufseherinnen nahm en von m anchen ihrer «Schützlinge» mit liebenswürdigen W orten Abschied. Eine versuchte sogar, ihnen «gute Reise» au f Franzôsisch zu wünschen, a ber ein bayerischer SS-Offizier rief

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sie unverzüglich zur O rdnung: «Eine Deutsche d a rf es sich nicht erlauben, so albern zu reden. ...»

D as V ertrauen dieser anfangs so furchtsam en Frauen wuchs allmáhlich; sie begannen zu glauben, dass sie der Freiheit entgegenfuhren. Etwas musstc geschehen sein, denn sie batten sich niemals eine solche U m w andlung bei ihren Peinigern vorstellen kónnen. M an brüllte so wenig wie môglich; m an bem ühte sich, zivilisiert zu erscheinen, und vor allem versuchte m an, die drei Schweizer und die kanadischen Kriegsgefangenen von diesen Frauen fernzu- halten. Sechs Beam te der Krim inalpolizei, von denen einer zum Gefolge Himmlers gehôrte, hatten bei diesem T ranspo rt den A uftrag, uns und die F rauen zu beaufsichtigen.

Die Frauen wussten nicht, w oher die K leidung kam , die sie trugen. Dagegen hatte ich in H. Gelegenheit gehabt, in einem Keller w ahre Berge ganz âhnlicher K leidung zu sehen, a u f die noch die gelben Judensterne aufgenâht waren, mit deren Entfernung das in H. arbeitende K om m ando von R avensbrück beauftragt war. Vor dem 5. A pril herrschte in H. eine grosse Betriebsam keit. D ank einer Polin aus Ravensbrück, m it der ich lange Zeit in heimlicher V erbindung stand, sowie einer deutschen Rotkreuz- Schwester konnte ich diese Dinge beobachten.

Um 9 U hr verliessen wir Ravensbrück m it unserem T ranspo rt in der HofFnung, bald wieder zurückkom m en zu kónnen. N ach einem lángeren H alt in Hof, der diesen erschôpften F rauen die M ôglichkeit gab, sich endlich einmal auszuruhen und zu entspannen, kam en wir am A bend des 9. April in der Schweiz an. H ier erst begriffen diese 300 F rauen, O pfer einer unm enschlichen Schreckensherrschaft, dass für sie die S tunde der Freiheit endlich geschlagen hatte.

Leider haben die m ilitàrischen O perationen unsere R ückkehr nach R a­vensbrück verhindert, aber a u f G rund unserer V ertráge konnten neue T ransporte von anderen Lagern aus durchgeführt werden.

IV. - Bericht eines Delegierten des IKRK iiber seinen Besuch imKonientrationslager Ravensbrück mit der Absicht, die Evakuierung zu

verhindern, sowie iiber die Evakuierten von Oranienburg (Sachsenltausen).

A m 19. April 1945 unterrichtete der C hef des Amtes DI (Háftlingsangele- genheiten) im SS-W irtschafts-V erw altungshauptam t, Hóss, den Lei ter der IK R K -D elegation in Berlin davon, dass das K onzentrationslager O ran ien­burg (Sachsenhausen) von einem Augenblick zum anderen evakuiert würde, und bat die IK R K -D elegation , den Evakuierten Lebensmittel zu bringen.

Fin Delegierter des IK R K wurde mit dieser Aufgabe betraut. Am nách- sten Tag reiste er in R ichtung O ranienburg ab, um die Verteilung dieser Pakete zu kontrollieren und sich persônlich von den Lebens- und Evakuie- rungsbedingungen der politischen D eportierten zu überzeugen.

In der N acht des 22. April 1945 überreichte ein von W agenitz kom m ender K raftfah rer des IK R K der Delegation in Berlin eine M eldung, worin mitge- teilt wurde, dass das K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen)

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sowie die diesem Lager unterstellten K om m andos in Bevvegung wáren. Unzâhlige K olonnen politischer H áftlinge strebten zu Fuss nach Westen. Diese H áftlinge befanden sich in hôchster N ot.

Da man befürchtete, dass das F rauen-K onzentra tionslager Ravensbriick das gleiche Los erleiden kônnte, w urde ich dam it beauftragt, nach Ravens­briick zu gehen, um die Ü bergabe des Lagers bis zur A nkunft der russischen T ruppen zu erreichen.

Am M orgen des 23. April reiste ich mit einem Schreiben fiir O bersturm - bannfiihrer Boss, der zu diesem Z eitpunkt die Stellung des Leiters der internen V erw altung der Lager Ravensbriick und O ranienburg (Sachsen- hausen) innehatte, ab. Die F ah rtdauer von W annsee nach W agenitz (unge- fiihr 50 km) nahm m ehr ais fünf S tunden in A nspruch (eine Strecke, die man normalerweise in einer S tunde zurücklegte), so sehr w ar die Strasse Berlin- H am burg m it aus Pom m ern und der Um gebung von Berlin kom m enden Flüchtlingen, die den A m erikanern entgegenzogen, verstopft. Es w ar un- moglich, sich einen W eg durch diesen nach W esten fliessenden Strom von M enschen zu bahnen. M an m usste sich dam it zufriedengeben, m it dem Strom zu schwimmen. A uf dieser Strecke gab es alies. W ehrm acht-LK W s und -wagen (sogar Teile von Artillerieeinheiten) mischten sich unter diese Trecks. Diese Trecks - die seltsam an die «Eroberer des Fernen Westens» des vorigen Jahrhunderts erinnerten - kam en nur langsam und einer so dicht hinter dem anderen voran, dass V erkehrsstockungen die K olonne in regel- màssigen A bstànden zum H alten zwangen. U nd dazwischen die Fliichtlinge - M anner und F rauen jeden Alters und vor allem viele K inder - , die zum grôssten Teil mit spárlichem G epáck und oft unnôtigen Dingen beladene Fahrzeuge aller A rt zogen (H andkarren , H andw agen, F ahrráder, Schiebe- karren usw.). Diese M enschenherde áhnelte nicht im entferntesten den Evakuierungen des vergangenen Januar, als die Russen die Oder erreichten. Zu der Zeit w ar die Evakuierung organisiert und vollzog sich planmiissig. ...

A ber was soil m an über die Evakuierungen vom April denken. W as man sieht, sind keine organisierten K olonnen mehr. Es ist die vollige U nordnung, ohne jegliche F iihrung. M an lebt von einem Tag zum anderen. Die F liicht­linge schlafen da, wo sie gerade sind, und ernahren sich von Lebensmitteln, die sie entweder m itgebracht haben oder an O rt und Stelle linden kônnen. M anchm al liegt ein erschopftes Pferd oder Ochse verendend am Strassen- rand. D ann stürzt m an sich au f das arm e Tier und m acht Beute. Die Schwachen bleiben zuriick.

M it einer dieser K olonnen erreichte ich gegen Ende des N achm ittags W agenitz ... und schlug den W eg nach Ravensbriick ein, wo ich im Laufe des A bends eintraf.

Ich w urde sofort zum Lagerkom m andanten, S turm bannführer Suhren, geführt, und ich erklarte ihm die G riinde meines Besuchs und meinen W unsch, m it O bersturm bannfiihrer Hóss eine U nterredung zu fiihren, dem ich ein persônliches Schreiben des Leiters der IK R K -D elegation in Berlin zu ii berge ben hatte. Suhren teilte mir mit. Boss sei nicht da; er hàtte einen

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A utounfall (?) gehabt und ware wahrscheinlich nicht zu erreichen. Ich beschrieb ihm die tragische S ituation der Evakuierten aus O ranienburg (Sachsenhausen) und die Schreckensszenen, denen am V orabend ein IK R K - Delegierter beigew ohnt hatte. Dabei m achte ich ihn au f die schwerwiegende V erantw ortung der Vorgesetzten aufm erksam , die solche Ausschreitungen duldeten.

Ich erklárte ihm meinen Plan: Ü bergabe des K onzentrationslagers Ra- vensbrück an den Delegierten des IK R K durch Erstellung eines Protokolls, für alle SS-Angehorigen die M oglichkeit, sich zu entfernen (Flucht), U nter- redung mit den Lagerâltesten des Lagers, um die E rnahrung der D eportier- ten sicherzustellen, A ufrechterhaltung der O rdnung im Lager bis zur An- kunft der Russen.

Suhren lehnte meinen Vorschlag m it der Bem erkung ab, er hatte vom Reichsfiihrer-SS H im m ler genaue Anweisungen in dieser Angelegenheit erhalten. D as Lager solle evakuiert werden. Suhren betrachtete die militári- sche Lage optim istisch. D er Russe w ürde nicht nur in seinem Vorm arsch aufgehalten, sondem in seine Steppen zuriickgedrangt werden. Die vernich- tende Gegenoffensive w ürde bald losbrechen.

Er hatte seinen Evakuierungsplan, den er m ir überreichte, schon erstellt. A uf einer W andkarte zeigte er m ir die verschiedenen E tappen, denen die K olonnen der inhaftierten F rauen folgen sollten. Evakuierung von 500 bis 1000 F rauen, den «Ôstlichen» (Russinnen, U krainerinnen, R um âninnen, Serbinnen usw.), in Richtung M alchow. Die E tappen betrugen 25 bis 40 km taglich. Leider verschwanden die Notizen, die ich in dieser Angelegenheit aufgenom m en hatte, einige Tage spater zusam m en m it einem W agen. Suh­ren versicherte mir, dass Q uartiere und K üchen schon an den verschiedenen Stellen eingerichtet waren. Jede F rau w ürde ein R otkreuz-Paket mitnehm en. W as die «W estlichen» (Franzósinnen, Belgierinnen, N iederlánderinnen, N ordeuropàerinnen etc.) einschliesslich der Polinnen betraf, so w ürden sie entweder per Bahn oder in Bussen des Schwedischen Roten Kreuzes (nur für die N ordeuropàerinnen) sowie mit den LK W -K olonnen des IK R K , die die Pakete von Lübeck brachten, evakuiert. ...

U m sonst habe ich versucht, von Suhren zu erreichen, die «Ôstlichen» nicht zu Fuss zu evakuieren, sondern sie im Lager zu lassen oder in Bussen, LK W s oder in Zügen zu transportieren. Suhren erwiderte, das ware unmôg- lich; es blieben nur die K ranken - deren A nzahl sich au f ungefahr 1500 belief - im Lager zurück.

Im La ufe der U nterredung habe ich wiederholt versucht, die Lagerstarke zu erfahren. Als ich die Zahl 100 000 aussprach, entgegnete er mir, dass diese Zahl stark übertrieben ware, dass das Lager diese Ziffer niemals erreicht hàtte. Ich rückte zu der Ziffer 50 000 vor. H ier wich er noch aus. ... Suhren gab nur folgende Zahlen zu: 3000 w ürden per Bahn evakuiert, 4000 mit Bussen und Lastwagen vom Roten Kreuz, 7000 w ürden das Lager zu Fuss verlassen, und etwa 1500 K ranke und M arschunfahige w ürden an O rt und Stelle bleiben, egal, was auch imm er geschâhe. Das w ürde insgesam t annà- hernd 17 000 ergeben.

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T rotz meiner zahlreichen Fragen w ar es mir nicht moglich, auch nur annâhernd die Anzahl der K om m andos und ihre S tarke zu erfahren. ...

Am náchsten Tag um neun U hr warteten die ersten F rauenkolonnen in gestreifter K leidung vor der K om m andan tu r au f den A ufbruch. Sie waren stark von m it K arabinern bewaffneter SS abgeschirm t. Jede weitere Ver- handlung w ar iiberfliissig. T rotzdem begab ich mich zum Lagerkom m an- danten, der mich wieder sehr hóflich empfing. E r erzáhlte m ir von dem guten Geist, der unter seinen Frauen herrsche (er nannte die D eportierten «meine Frauen»), und er gefiel sich darin , m ir die von den inhaftierten F rauen an ihn gerichteten D ankschreiben (sic) zu zeigen. W ahrend ich mich mit ihm unterhielt, erschien eine SS-Frau, der Suhren eine Frage, die m ir entging, stellte. Die SS-Frau an tw orte te ihm: «Die A kten sind doch vernichtet.» Da ich mich zum geoffheten Fenster hingew andt hatte, konnte ich durch den Spiegelreflex der Scheibe sehr gut das Zeichen beobachten, das ihr Suhren gab. N un m achte er uns bekannt und liess mich Zeuge der Fragen werden, die er ihr betreffs der Evakuierung eines K om m andos ôstlich von Berlin, die - soweit ich micht recht entsinne - einige Tage vorher stattgefunden hatte, stellte. Diese Evakuierung ware ihres W issens in jeder Flinsicht vollkom men gewesen. Die Frauen w aren «menschlich behandelt» worden, sagte sie. Gernass ihren W orten hatten die F rauen , denen es einige M ühe bereitete nachzukom m en, die M ôglichkeit gehabt, die den K olonnen folgenden W a­ge n zu besteigen, und es w urden «keine Verluste» festgestellt. Suhren hob trium phierend die A rm e und sagte zu mir: «Sehen Sie, sehen Sie!»

N achdem er seine U ntergebene fortgeschickt hatte, begann Suhren, mir einen langen R echtfertigungsvortrag iiber das KL-System zu halten. Er erzáhlte m ir von bem erkensw erten Erfolgen, die m an dank der A rbeit der A ufklárung und der Erziehung erzielt hátte. Alies, was m an iiber die Kon- zentrationslager geschrieben und erzahlt hatte, ware eine abscheuliche «G reuelpropaganda». Ich gab ihm zu verstehen, die K onzentrationslager hatten im A usland tatsâchlich einen eigenartigen R uf und bei der einfachen E rw áhnung dieses W ortes fingen die M enschen an zu zittern. Ich wies ihn ausserdem d a ra u f hin, das beruhe vielleicht darauf, dass niemals irgendeine internationale O rganisation eines dieser Lager besuchen durfte. Suhren antw ortete mir, dass für diese G enehm igung «hóhere Dienststellen» zustán- dig wâren, a ber um mir zu beweisen, wie unbegriindet die ausserhalb ver- breiteten G erüchte seien, ware er bereit, m ir den Besuch des Lagers zu gestatten. Ich nahm ihn beim W ort, und wenige M inuten spâter befanden wir uns innerhalb des Lagers.

A uf den ersten Blick kein grosser U nterschied zu den Kriegsgefangenenla- gern. In der M itte befindet sich ein grosser Platz, um den herum verschiede- ne G ebâude angeordnet sind, eins sehr dicht am anderen. A uf dem grossen Platz ist viel Betrieb. M an ist dabei, den Appell der zu evakuierenden F rauen abzunehm en. Bei A ufru f ihres N am ens begibt sich jede F rau in eine Vierer- kolonne. D er Appell findet au f Russisch s ta tt (es handelt sich also wohl um russische Frauen). U n ter der Aufsicht von SS-Frauen sind die weiblichen

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Inhaftierten selbst mit dieser Aufgabe betraut. Ü berall wird geputzt und gescheuert. M an fiihlt, dass das Lager geràum t wird.

Suhren zeigt mir alies: die Baracken, die Kiiche, die K rankenstation, die hygienischen Einrichtungen, die W âscherei, die Zellen fiir die S trañalligen und noch andere G ebàude. Beim nàheren H insehen konnte ich feststellen, dass die Baracken dreistôckige Betten enthielten und dass der Luftzutritt sehr unzureichend war. Die Kiiche ist m odern eingerichtet, wie man sie in Betrieben und bestim m ten Kriegsgefangenenlagern antrifft. In der K ran ­kenstation arbeiten inhaftierte F rauen ais Pflegerinnen. Sie sind alle weiss gekleidet. Die K rankenstation selbst um fasst m ehrere Sale, die alle sehr gut ausgestattet sind (O perations-, V erbandsaal usw.). Die Bibliothek enthált m ehrere tausend Bande, überwiegend in deutscher Sprache. D as «Arrest- lokal» ist ein zweistôckiges Steingebàude mit überdecktem Innenhof. M eh­rere Zellen w urden geôfïnet. Ich war von der vollkom m enen Einrichtung der Zellen und der hier herrschenden Sauberkeit überrascht. Jede Zelle en thált ein M etallbett m it zwei Decken, einen Stuhl, ein W aschbecken m it fliessen- dem W asser und einem Spiegel, eine Toilette mit W asserspiilung. Im Lager gibt es keine Kapelle. Am ôstlichen Ende des Lagers befinden sich mehrere G ebàude, die ich nicht betreten durfte. S turm bannführer Suhren vertraute m ir an, es handelte sich urn fiir die W ehrm acht arbeitende Textilfabriken.

Aufs G eratew ohl (war es wirklich aufs Geratewohl?) rief Suhren eine F rau herzu und fragte sie, ob sie schlecht behandelt w ürde, wievielmal sie tàglich geschlagen w ürde und ob sie sich über irgend etwas zu beklagen hàtte. N atürlich beklagte sich niem and. G anz im Gegenteil! Es waren nur Lobreden, die hauptsàchlich an den Lagerkom m andanten gerichtet waren. U nd bei jeder A ntw ort w andte sich Suhren m ir zu und sagte überzeugend: «Bitte». Auch die SS-Aufseherinnen w urden verhôrt. Suhren fragte sie, ob sie die inhaftierten Frauen m isshandelten. Sie alle an tw orteten scheinbar em pôrt: «Aber das ist uns doch verboten.» «U nd wenn Sie sie schlagen?» fragte Suhren weiter. «D ann werden wir bestraft», lautete die A ntw ort.

Beim Verlassen des Lagers w ar ich fast so weit, Suhren zu bitten, mir die G askam m er und das K rem atorium zu zeigen. Ich habe es aber doch nicht getan. Einige Zeit darauf, es w ar im Laufe des M onats M ai, habe ich in einer Strasse in Berlin eine in Lum pen gekleidete F rau getroflen. A uf dem Rücken trug sie das Zeichen der K onzentrationslager, das grosse X. Sie erklàrte mir, sie karne zu Fuss von Ravensbrück (ungefahr 100 km) und das Lager ware von den Russen befreit worden. Es w ar eine O sterreicherin, die - sagte sie - aus dem einzigen G rund in das Lager gebracht worden war, weil ihr M ann Jude war. D a sie diese «SS-Schweine» heftig beschim pfte, fragte ich sie, wo sich das K rem atorium und die G askam m er befanden. «U nter dem grossen Platz», erw iderte sie mir. Also unter diesem grossen Platz w ar es, au f dem eine solche G escháftigkeit herrschte, als ich einen M onat vorher da war. D am ais lag m ir der G edanke fern, dass unter meinen Füssen H underte, vielleicht gar Tausende von U nglücklichen vergast und eingeàschert w orden waren. Ich fragte sie auch, was sie über S turm bannführer Suhren dâchte. «Ein G auner wie die anderen.»

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Bei unserer R ückkehr ins V orlager vvurde S turm bannfiihrer Suhren ge- meldet, dass S tandartenführer Keindel, K om m andant des Lagers Oranien- burg (Sachsenhausen), gerade eingetroflen ware. Ich bat sofort darum , ihn zu sprechen.

Keindel empfing mich distanziert. Ich erklàrte ihm den Zweck meines Besuches in Ravensbriick au f G rund der von seinen SS-Leuten au f der von O ranienburg nach W ittstock führenden Strecke veriibten G reueltaten. Keindel stritt das ab. U nd ais ich ihm eine Kopie des Schreibens, das ich O bersturm bannführer Hôss iibergeben sollte, unter die N ase hielt und ihn d arau f aufm erksam m achte, dass ein IK R K -D elegierter und zwei Fahrer Zeuge dieser M euterei gewesen wàren, antw ortete Keindel, es ware vielleicht moglich, dass die SS-Soldaten die Leiden einiger Haftlinge, die nicht m ehr voran konnten, abgekürzt hàtten und es sich, insgesam t betrachtet, um einen A kt der M enschlichkeit handele. Keindel konnte nicht verstehen, dass m an um einige Tote einen solchen Larm m achte, wo m an doch iiberhaupt nicht von den «Terrorangriñen» sprach, deren Opfer D eutschland ware. Er erw ahnte noch die Bom bardierung Dresdens. E r gab zu, dass vielleicht gewisse SS-Soldaten zu schnell ans W erk gingen, aber m an miisste beriick- sichtigen, dass die meisten von ihnen «Volksdeutsche» (U ngarn, Rum anen, U krainer, Letten usw.) wàren und dass diese Leute eine andere M entalitat hàtten. Ich m achte ihn d a ra u f aufm erksam , dass die Haftlinge der Konzen- trationslager nichts mit den B om bardierungen der Stddte zu tun hàtten und beschvvor ihn - nicht nur in seinem eigenen Intéressé und dem seiner SS-Leute, sondern des gesamten deutschen Volkes - , diesem Gemetzel unverziiglich ein Ende zu bereiten. Er versprach mir, entsprechende Befehle zu erteilen, und ich verabschiedete mich von ihm.

Suhren - er w ar w àhrend der U nterredung stàndig zugegen - begleitete mich. Als wir die Treppen hinuntergingen, nahm er mich am Arm und sagte, dass sein Evakuierungsplan tadellos funktionieren wiirde. Er habe alies vorgesehen und organisiert. Er fiigte hinzu: «Bei m ir passiert nichts». Ich erhielt die Erlaubnis, zu jedem beliebigen Z eitpunkt w iederzukom m en. Ich wurde sogar eingeladen, die K olonnen im M arschzustand zu besichtigen und die E tappenorte zu besuchen.

Ich fuhr wieder R ichtung W agenitz, schlug aber die Strecke ein, die von den Evakuierten des Lagers O ranienburg (Sachsenhausen) benutzt wurde. A uf der Strecke stiess ich au f m ehrere D utzend K olonnen, die zwischen hundert und fiinfhundert M ann stark waren. Ich hielt bei jeder an und unterrichtete mich beim K olonnenfiihrer (fast im m er H auptscharfiihrer) iiber den G esundheitszustand der M ànner, ob sie zu essen hàtten und ob Verluste zu beklagen wàren. Es hatte Verluste gegeben, aber viel weniger als an den vorherigen Tagen. Ich m achte die K olonnenfiihrer au f die zu been- denden Geschehnisse aufm erksam und sparte nicht m it Ratschlâgen, die oft nichts anderes als D rohungen waren: sofortige Einstellung des Tôtens, angemessene N ahrungszuteilung, die H àftlinge miissten in U nterkünften schlafen konnen, nicht zu grosse Tagesm àrsche, den alliierten Behôrden

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wàren alie Ñ am en der SS-Leute bekannt, jeder miisste für seine Verbrechen geradestehen.

N ach m einer Ü berzeugung hat das Erscheinen der IK R K -D elegierten und auch der F ahrer in den K olonnen einen gewissen Eindruck au f die SS-Leute gem acht. O ft kam en beim A nhalten SS-Leute zu m ir und erklár- ten, sie wàren keine SS, sie seien zw angsrekrutiert. Es stiesse sie ab, diese A rbeit zu tun. A ndere vvieder behaupteten, sie seien keine Deutschen. Ich antw ortete ihnen im m er wieder, ihr W ohl hinge von ihrem V erhalten gegen- über den D eportierten ab.

Um objektiv zu sein, muss ich sagen, dass uns m anche SS-Soldaten behilflich waren. Sie unterrichteten uns iiber die V orgánge in den K olonnen oder erleichterten uns die Verteilung von Paketen. A ber das vvaren nur Einzelfalle. M an kann sich auch fragen, ob gewisse SS-Leute aus M ensch- lichkeit oder aus F urch t und O pportunism us so gehandelt haben.

Ich selbst habe keine Leichen am Strassenrand sehen konnen, aber nicht selten fand m an a u f der Strecke Kleidungsstücke, die H âftlingen gehôrt hatten. In regelmâssigen A bstànden sah m an hier eine gestreifte Jacke, dort eine M ütze, ein anderm al eine Decke oder einen M antel. D as w ar ein Indiz, aber kein Beweis. M ehrm als habe ich SS-Leute gesehen, die aus dem angren- zenden W ald herauskam en und sich wieder in ihre K olonnen einreihten. H atten sie einige der Unglücklichen um gebracht?

M anche K olonnen beschlagnahm ten selbst die erschôpften Pferde der F lüchtlinge, schlachteten sie und verteilten das Fleisch untereinander.

A uf der Strecke nach W ittstock, dem Sam m elpunkt aller K olonnen, bem erkte ich plotzlich, zwanzig M eter von der Strasse entfernt, Evakuierte, die mir Zeichen gaben. Sie waren wie Vieh hin ter einer U m zaunung zusam - m engepfercht; es waren ungefahr 500. Ich nàherte mich dem Zaun und unterhielt mich m it der H âftlingsgruppe. Die SS-Leute, die die W ache rings um die A bsperrung versahen, riihrten sich nicht. Die Hâftlinge teilten mir mit, sie hatten seit drei Tagen nichts zu essen gehabt. N un erlebte ich herzzerreissende Szenen, die das grossie M itleid hervorriefen. Die Hâftlinge warfen sich a u f die Knie und flehten mich m it ausgebreiteten A rm en unter T rànen an, sie nicht sterben zu lassen. Ein slowakischer A nw alt, V ater von sieben K indern, zeigte m ir eine H andvoll Weizen: das w ar alies, was man ihnen seit drei Tagen gegeben hatte. Einer von ihnen fiigte hinzu, am V orabend habe eine Verteilung (pro M ann drei kleine K artoffeln) statt- gefunden, aber eine G ruppe von H âftlingen habe w àhrend der N acht ihre K am eraden angegriffen und ihnen alies wieder weggenommen. Ich verlang- te, sofort den K olonnenfiihrer zu sprechen. E r kam nach einer halben Stunde. Ich verbarg ihm nicht meine Em porung darüber, dass die Hâftlinge seit drei Tagen fast nichts zu essen gehabt hàtten. E r erklàrte mir, das stimme nicht. Als er erfuhr, dass ich m it den H âftlingen gesprochen hatte, geriet er in heftige W ut. E r brüllte: «Ich verbiete Ihnen, mit den H âftlingen zu reden!» Ich schrie nun auch meinerseits und w urde dabei von dem treuen und ergebenen F ahrer unterstü tzt, der m ir übrigens au f alien meinen Fahr- ten eine grosse Hilfe war. Die SS-Leute leisteten ihrem Vorgesetzten Bei-

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stand und nahm en uns gegeniiber eine drohende H altung ein. Ich muss gestehen, ich fühlte mich keineswegs sicher. Ruhig erklarte ich ihnen, es ware nur ihr eigener Vorteil, die H aftlinge gut zu behandeln. Andernfalls wiirden sie ihre Lage verschlim m ern, wenn m an sie zur Rechenschaft ziehen sollte. Ich verlangte, dass noch am selben A bend Lebensm ittel ausgeteilt wiirden. D er H auptscharfiih rer erk larte mir, das N otw endige veranlassen zu wollen. Er weigerte sich jedoch, m ir das Ziel der K olonne für den nàchsten A bend anzugeben. Ich wies ihn d arau f hin, dass ich am selben M orgen ein G esprach m it dem Lagerkom m andanten gefiihrt hátte und ich seinem Vorgesetzten Bericht erstatten wiirde. Das beeindruckte ihn ofien- sichtlich.

Ich hielt noch bei verschiedenen anderen K olonnen an. Ü berall bot sich der gleiche Anblick. Es schmerzte, diese ungliicklichen Haftlinge anzu- schauen; selbst in ihrem Elend waren diese M anner gross. Die K ràftigsten ha 1 fen und stiitzten die Schwachsten. H inter den K olonnen zogen etwa zwanzig «G aleerensklaven» m iihsam die K arren, a u f denen das Gepáck dieser SS-Herren aufgestapelt war.

Beim Verlassen von N euruppin - ungefahr 15 km von W ittstock entfernt - hatten sich die K olonnen ziemlich weit auseinandergezogen. M an stiess regelmàssig au f kleine G ruppen von fiinf bis zehn Haftlingen, die das M arschtem po nicht m ehr einhalten konnten. Die Beaufsichtigung dieser G ruppen oblag jeweils einem SS-Angehorigen. Oft waren es Berufsver- brecher, die diese G ruppen bewachten. Bei der Evakuierung des Lagers hatte m an sie in SS-Uniform en gesteckt. Sie hatten K arabiner erhalten, und es w ar ihre A ufgabe, die SS-W achen zu verstàrken. Diese Leute waren bei den H aftlingen ebenso gefiirchtet wie die SS. Ü brigens übten diese Kriminel- len in den Lagern die F unktion der «Blockàltesten» aus, und in manchen Fallen konnten sie sogar iiber Leben und Tod der Haftlinge entscheiden.

Ich habe m ehrere dieser G ruppen in meinem W agen von N euruppin nach W ittstock gebracht und m it Hilfe der Pakete, die ich im W agen m itgenom - men hatte, versorgt. Ais ich den Fahrer, der im Belower W ald (S tandort des Lagers) Pakete verteilt hatte, wieder traf, beauftragte ich ihn, alie diese T odkranken in seinen LK W aufzunehm en.

Bei m einer A nkunft in Below w urde ich mit H ochrufen und Freuden- schreien von Tausenden von Haftlingen, die m it den Hiinden winkten, begrüsst. Ich brachte jedoch keine Pakete. Es w ar die D ankbarkeit aller dieser Ungliicklichen gegeniiber dem Roten Kreuz, dessen N am e in alien Sprachen zu hôren war. Ich unterhielt mich m it den H aftlingen und kün- digte an, es kám en noch weitere Lastwagen m it Paketen. Das Rote Kreuz wiirde sie nicht im Stich lassen. Diese gute N achricht - die sofort ins Russische, Polnische, N iederlándische usw. iibersetzt w urde - verursachte einen neuen A usbruch der Freude und D ankbarkeit.

Ich begab mich zum O rtskom m andanten. D ort erklarte m ir der Oberzahl- meister, die H aftlinge w iirden m indestens 5 Tage im Belower W ald bleiben. M it der E inrichtung einer Báckerei ware m an in zwei Tagen fertig, so dass die Evakuierten dann m it Brot und auch Trinkw asser versorgt wiirden. Den

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Rest sollte das R ote K reuz machen! So eigenartig das anm uten mag: die SS-Leute waren davon überzeugt, es sei die Pflicht des Roten Kreuzes, die H àftlinge zu ernahren. D er L agerkom m andant teilte m ir ausserdem mit, die E inrichtung einer K rankenstation sei ebenfalls vorgesehen.

W àhrend dieses Besuches konnte ich mit eigenen Augen sehen, m it vvel- cher B rutalitât m anche SS-Leute die von einem derartig langen M arsch erschôpften H àftlinge behandelten. Ein subalterner Offizier liess die H àftlin­ge, die R otkreuz-Pakete erhalten sollten, in V iererkolonnen antreten. Da seiner M einung nach die Aufstellung der K olonne nicht schnell genug vor sich ging, trieb der SS-M ann - eine dicke Z igarre im M und - die Hàftlinge mit starken Fusstritten in den Leib voran. N icht ein H âftling zeigte eine erstaunte oder em porte Miene. Sie w aren diese Behandlung offensichtlich gewohnt. Ein paar Schritte weiter w ohnten SS-Leute dem A uftritt ungeriihrt bei. Ich habe diesen Rohling scharf angeschaut; unsere Blicke kreuzten sich. Seine sadistischen V erbrecheraugen liessen mich schaudern.

Ich beschloss, nach W agenitz zurückzukehren, um m it den anderen Mit- gliedern der D elegation V erbindung aufzunehm en in der Absicht, in den folgenden Tagen wiederzukom m en. Bedauerlicherweise konnte ich diesen Plan nicht m ehr durchfiihren, da es mir wegen der A nkunft der Russen nicht m ehr môglich war, W agenitz zu verlassen. Dagegen haben andere Delegierte sicher niitzliche A rbeit leisten kônnen; denn ich bin davon überzeugt, dass allein schon das hàufige Erscheinen von IK R K -D elegierten bei den SS- Leuten Tausenden von Evakuierten das Leben gerettet hat. M an braucht sich nur der M assenexekutionen in den ersten Evakuierungstagen zu erin- nern, die wenig spàter au f G rund unserer energischen Proteste (das ist nicht übertrieben) aufhórten . Die Verteilung von Paketen hat selbstverstàndlich zur R ettung zahlloser M enschenleben beigetragen, soviel ist sicher. Es bleibt aber zu betonen, dass die persônliche Anwesenheit der V ertreter des IK R K inm itten der K olonnen eine doppelte psychologische W irkung hervorgeru- fen hat. Die SS-Leute, die sich vom IK R K kontrolliert fühlten, stellten das Tdten ein, und die H àftlinge hatten das Gefühl, nicht m ehr allein zu sein, dass jem and hinter ihnen stand, der sich der SS entschieden entgegenstellte, der sie unterstützte, sie, die U nterdrückten , und sie erm utigte, noch einige Tage durchzuhalten.

V. - Bericht eines IKRK-Delegierten iiber die Evakuierung des Lagers Oranienburg (Saehsenhausen) (April 1945) (Zusam m enfassung)

Die Evakuierung des K onzentrationslagers O ranienburg (Sachsenhau- sen) und seiner A ussenkom m andos begann in der N acht vom 20. a u f den 21. April 1945. In den ersten Stunden des 21. April, als sich die russischen T ruppen vor Berlin befanden, unterbreitete ich dem L agerkom m andanten Keindel den Vorschlag der IK R K -D elegation in Berlin, das Lager einem Delegierten des IK R K zu übergeben. So wollte m an verhindern, dass sich die SS-Angehorigen noch in letzter M inute zu Tàtlichkeiten an den H àftlin­ge n hinreissen liessen. D er Lagerkom m andant lehnte unseren Vorschlag ab.

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mit dein Hinweis au f die ihm von Reichsführer-SS H im m ler gegebenen Anweisungen. In diesen Instruktionen w ar bei A nnaherung des Feindes eine sofortige Evakuierung des gesam ten Lagers m it A usnahm e des Lazaretts vorgesehen.

Bei strom endem Regen w urden alie H áftlinge in nôrdlicher R ichtung in M arsch gesetzt. Jeweils 500 H áftlinge bildeten einen «Pulk» oder «Treck» und waren einem SS-Befehlshaber unterstellt. Die Bewachung durch die SS war sehr streng. Sie batte kurz zuvor eine grosse Anzahl deutscher Berufs- verbrecher in W ehrm achtsuniform en gesteckt, um sie als H ilfspersonal fiir die Bewachung einzusetzen.

Die genaue Anzahl der zu evakuierenden H áftlinge konnte wegen der Vernichtung der K arteien und wegen Exekutionen vor der Evakuierung nicht festgestellt werden. N ach m einer Schátzung und gemáss H àftlingsaus- sagen befanden sich etwa 30 000 bis 40 000 M enschen - zumeist M anner, aber auch Frauen und K inder - au f den Strassen. Zwei riesige K olonnen walzten sich au f folgenden Strecken in Richtung W ittstock: O ranienburg, K rem m en, Sommerfeld, N euruppin , W ittstock; O ranienburg, Kremmen, Sommerfeld, Herzberg, Lindow, Rheinsberg, Zechlin, W ittstock. Ein A dju­tan t des Lagerkom m andanten gab m ir diese Inform ationen. Meine A ufgabe bestand nun darin , den H áftlingskolonnen - die die meiste Zeit fiber von der SS nicht versorgt w urden - mit Rotkreuz-Lastw agen Lebensm ittelpakete zu bringen. Ich habe die in W agenitz lagernden Reserven fiir diese Versorgung benutzt. Vier Tage und vier N âchte rollten ohne U nterbrechung die LKW s. Die F ahrer und ich w urden Zeuge folgender Vorkom mnisse:

Am A bend des ersten M arschtages erklàrten franzosischc Háftlinge, sie batten erfahren, dass die SS in der N ach t m it der Erschiessung von Háftlin- gen beginnen wolle. Sie baten uns, m it den R otkreuz-LK W s w áhrend der N acht bei ihnen zu bleiben, um solche A usschreitungen im Rahm en des M oglichen zu vereiteln. Leider konnten wir diesem W unsch nicht entspre- chen, da wir die Lastwagen w áhrend der N acht beladen mussten.

Am M orgen des 22. April entdeckten wir die ersten 20 erschossenen Háftlinge am S trassenrand au f einer Strecke von 7 km zwischen Lôwenberg und Lindow; alle waren durch K opfschuss getôtet worden. In dem Masse, in dem wir vorankam en, stiessen wir a u f eine imm er gróssere Anzahl von erschossenen H áftlingen am S trassenrand oder in den -gràben. In den W àldern zwischen N euruppin und W ittstock fanden wir dann regelmàssig an den Stellen. wo die H áftlinge übernachtet hatten , oder an den H alteplát- zen m ehrere Leichen, die zum Teil in die Lagerfeuer geworfen w orden und halbverkohlt waren.

Beim ersten D o rf nach N euruppin - in R ichtung Râgelin - hat uns ein zurückgebliebener H áftling folgendes mitgeteilt: am 22. April sammelte ein Befehlshaber seine 500 H áftlinge in einer Scheune in diesem D o rf zu einer m ehrstiindigen Rast. Um vier U hr nachm ittags setzte sich seine K olonne wieder in M arsch. Vierzehn vôllig erschôpfte H áftlinge blieben schlafend in der Scheune zurück. Um fünf U hr kam eine andere K olonne in dieselbe Scheune und fand die vierzehn schlafenden Háftlinge. Die SS-Leute

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schleppten nun die vierzehn zurückgebliebenen H àftlinge hinter die Scheune und erschossen sie sofort unter der Anschuldigung der Fahnenflucht.

Am dritten Evakuierungstag fanden wir noch m ehr Leichen als am Vor- abend. H àftlinge verschiedener N ational! ta ten erklàrten uns insgeheim, dass die SS und die deutschen Kriminellen in W ehrm achtsuniform weiterhin jeden erschôpften H âftling m it Kopfschuss tôteten. Die K ranken wiirden a u f die gleiche A rt um gebracht. D ie SS-Leute nahrnen jede Gelegenheit w ahr, die prom inenten H àftlinge zu erschiessen.

Bis zum A bend des dritten Evakuierungstages blieben die Leichen der erschossenen H àftlinge unbeerdigt am Strassenrand und in den W àldern liegen. Ich habe aus glaubw ürdiger Quelle erfahren, dass die «O rtsgruppen- leiter» der Partei schon am 21. April von der SS den A uftrag erhalten hatten, die Leichen im U m kreis ihres Gemeindegebietes zu beerdigen. Dieser A uf­trag w urde nicht ausgeführt, weil diese O rtsgruppenleiter zu dem Z eitpunkt bereits ebenfalls die F lucht ergriffen hatten. Am 23. April w urden K om m an- dos zur Beerdigung dieser O pfer organisiert.

Die nâhere U ntersuchung einer grossen Anzahl von Leichen ergab, dass alle O pfer durch K opfschuss getótet w orden waren. A uf unsere Frage erklàrten uns die Hàftlinge, dass die SS-Leute ihre O pfer oft gezwungen hatten , sich zur Exekution fiinfzig M eter hin ter der m arschierenden K olon- ne niederzuknien oder au f die Erde zu legen.

Es w ar uns unm ôglich, die genaue A nzahl der G etoteten in Erfahrung zu bringen. A uf unserer Strecke haben wir insgesam t m ehrere hundert Tote gesehen. W ir besassen aber keinen vollstândigen Ü berblick liber das gesam- te Evakuierungsgebiet, denn von N orden aus versorgte eine weitere ziemlich grosse Lastw agenkolonne aus Lübeck die Hàftlinge. Aus zahlreichen Ge- spràchen m it H àftlingen schliesse ich, dass ungefahr 15 bis 20% der H àftlin­ge des K onzentrationslagers O ranienburg (Sachsenhausen) in obenbeschrie- bener Weise um gebracht wurden. Die N am en der O pfer waren nicht zu erm itteln. W ir hátten - wenn auch nicht gefahrlos - die H áftlingsnum m ern notieren kónnen. D as hátte aber keinen Sinn gehabt, da die K arteien von der SS ja vernichtet w orden waren.

Am 22. April begab ich mich zweimal zum L agerführer H óhn, Leiter der internen Verwaltung des H auptlagers O ranienburg (Sachsenhausen), um im N am en des IK R K sehr energisch gegen die von der SS begangenen Ausschrei- tungen Einspruch zu erheben. Er versprach mir, alien G ruppenbefehls- habern unverzüglich den Befehl zu erteilen, die Exekutionen zu beenden.

Aus zahlreichen G espràchen m it G ruppenbefehlshabern, U nterführern und auch mit dem W achpersonal geht hervor, dass das Empfinden der SS-Angehorigen erschreckend verroht ist. Einige der Befehlshaber wollten uns sogar beweisen, dass sie den Erschôpften und K ranken m it der Erschies- sung einen D ienst erwiesen, dam it sie nicht m ehr leiden miissten. Sie waren der M einung, dass die SS in W irklichkeit sehr menschlich wàre oder sogar noch m enschlicher ais das R ote Kreuz, das seinerseits die Leiden der K ran ­ken und Schwachen durch H eranschaffung von Lebensm ittelpaketen noch verlàngere! D rohungen waren die einzige Sprache, die diese primitiven

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SS-Leute bei dcr A nnàherung des Feindes verstanden. Aus samtlichen Zeugenaussagen ergibt sich, dass alle SS-Leute glaubten, vollig irn Recht zu sein, wenn sie H âftlinge erschossen. Es w ar sozusagen ganz natiirlich, zum Schütz des D ritten Reiches die Juden und die «Staatsfeinde» au f jede Weise zu beseitigen. In N euruppin w urde ich Zeuge der Leichtigkeit, m it welcher diese Rohlinge M enschen um bringen konnten: bei einem G ebüsch am Stras- senrand fanden wir einen politischen Hàftling, der - durch K opfschuss schwer verletzt - seit S tunden do rt lag und litt. D er SS-Befehlshaber, m it dem ich mich gerade unterhielt, un terbrach das G esprach, begab sich zu dem verw undeten H àftling, erschoss ihn, kam sofort zuriick und setzte die U nter- redung fort, als sei nichts geschehen. In den Augen der SS erschien es auch gerechtfertigt, die K râfte der H âftlinge bis zum letzten auszunutzen. W àh- rend der Evakuierung selbst w urde die K raft einiger H âftlinge mitleidslos ausgebeutet. Die SS-Angehórigen luden ihre Habseligkeiten au f grosse LK W -A nhânger, die sie von ungefâhr 40 erschôpften H àftlingen schieben liessen. M an trieb diese «W aggonschieber»-Sklaven m it Stockschlàgen und Peitschenhieben voran.

Die Hâftlinge, die sich in langen K olonnen dahinschleppten, befanden sich in einem Z ustand vôlliger kôrperlicher und geistiger Zerrüttung. Sie liessen sich ohne ein Zeichen des W illens oder W iderstrebens vorantreiben. W ir haben bem erkt, dass sie sich nur dann auflehnten, wenn sie m it einer unm ittelbaren T odesdrohung konfron tiert wurden. Dieser G em ütszustand wird durch folgendes Beispiel veranschaulicht: als wir versuchten, die total erschôpften H âftlinge in unsere leeren LK W s aufzunehm en, wehrten sie sich, indem sie uns anflehten, sie nicht zu tôten. Sie glaubten, dass m an sie irgendwo um bringen wolle, da sie sich der Handlungsweise der SS-Leute in O ranienburg (Sachsenhausen) erinnerten, die seinerzeit die O pfer in die LKW s luden, einige hundert M eter weiter fuhren, um sie anschliessend d irekt in die V ernichtungskam m ern zu schicken.

VI. - Berichl eines IKRK-Delegierten über die Versorgung der Evakuierten von Oranienburg (Sachsenhausen) und Ravensbriick (nach dem

deutschsprachigen O riginaltext)

Der U nterzeichnete w ar zum letzten M al am Freitag, dem 20.4.1945, bei der Berliner D elegation des IK R K . Angesichts der grauenhaften Folgen der Evakuierung von Kriegsgefangenen- und K onzentrationslagern waren die M itglieder der D elegation der M einung, m an miisse verhindern, dass die beiden K onzentrationslager Ravensbriick und O ranienburg (Sachsenhau­sen) evakuiert w ürden und versuchen, die kom petenten Stellen beim SS- W VHA in diesem Sinne zu beeinflussen. Am M orgen des 21.4.1945 kam der K riegsgefangenenarzt C aptain Burton von A ltengrabow nach W agenitz zum Sitz der D elegation, um uns um Hilfe zu bitten. Da die Telephonleitung zwischen W agenitz und Berlin von Tieffliegern zerschossen war, fuhr ich mit Capt. B urton nach N auen, um von do rt aus in Berlin Liebesgabenpakete anzufordern. D urch einen Zufall trafen wir in N auen a u f zwei durchfahren-

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de Lastwagen des IK R K , die wir nach W agenitz beorderten. W ir hatten zu dieser Zeit in W agenitz etwa 3000 am erikanische Liebesgabenpakete und 5000 «W ar-R efugee-Board»-Pakete. Inzwischen tra f ein M echaniker der Delegation Berlin in W agenitz mit dem Bericht ein, das K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen) werde seit 4 U hr m orgens evakuiert. Ich liess d a rau f den Lastwagen des franzôsischen Roten Kreuzes, der nach W agenitz gekom m en war, m it 1000 Paketen nach A ltengrabow zuriickfahren und behielt die beiden Rotkreuzw agen, denen wir begegnet waren, zur Versor- gung der M arschkolonnen des K onzentrationslagers O ranienburg (Sachsen­hausen).

Drei Delegierte des IK R K überw achten die Verteilung an die Hàftlinge. D urch sie bekam ich auch N achricht über die genaue M arschroute der K olonne. Das Ziel w ar W ittstock. Zwei M arschrouten standen zur Verfü- gung, die eine über Lôwenberg-Lindow, die andere über K rem m in-N eu- ruppin-Zechlin. In den nâchsten Tagen w urden aile 5000 «W ar-Refugee- Board»-Pakete und etwa 1000 am erikanische Pakete vom Personal des IK R K an die H àftlinge verteilt.

Zugleich bekam en wir N achricht über die massenweise Erschiessung von H àftlingen, die nicht m ehr m itkonnten, k rank waren etc. D er Delegierte und zwei seiner M itarbeiter haben die Leichen selbst gesehen und konnten einwandfrei feststellen, dass die To ten an den Folgen von Schüssen ins Genick und durch den G aum en gestorben waren. In den folgenden Tagen brach unsere V erbindung zur Berliner D elegation ab, weil russische Panzer- spitzen N auen erreicht hatten. Obwohl wir wussten, dass der Delegierte in Berlin sich darum bem ühte, die Einstellung der Erschiessungen zu erreichen, schickte ich am 24. April einen Delegierten des IK R K m it zwei Protestnoten in das K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen), weil m ir bekannt war, dass do rt der verantw ortliche Leiter der beiden K onzentrationslager, SS-Sturm bannführer Hôss, und die beiden K om m andanten der Eager, S turm bannführer Suhren und Keindl, anzutreffen waren. Die eine N ote sollte bewirken, dass die Erschiessungen aufhôrten , die andere N ote enthielt die A ufforderung, die weiblichen H àftlinge des K onzentrationslagers Ra- vensbrück nicht zu evakuieren.

D ank der Bem ühungen der Delegierten hôrten auch tatsachlich die Er­schiessungen in den letzten Tagen fast vollstàndig auf. Am M ontag, dem 23. April, schickte ich C apt. Burton, der inzwischen wieder zurückgekehrt war, um neue L iebesgabenpakete zu em pfangen, vom Kriegsgefangenenlager A ltengrabow m it seinem franzôsischen Rotkreuzw agen nach Lübeck und gab ihm einen Bericht an den Delegierten des IK R K in Lübeck über die Lage und die erforderliche Hilfe für die K onzentrations- und Kriegsgefan­genenlager mit. A uf G rund der Bemühungen des Delegierten in Lübeck konnte C apt. B urton am nâchsten Tag an der Spitze einer K olonne von 16 Lastwagen des IK R K nach A ltengrabow zurückkehren. So wurde ich der Sorge um dieses Lager enthoben. Die 16 Lastwagen kehrten über M alchow nach Lübeck zurück, nachdem sie in M alchow kranke K L-H àftlinge mit- genom m en hatten.

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Am Dienstag, dem 24. April, kam en 130 Kriegsgefangenc aus Berlin zur Delegation nach W agenitz und baten uns, sie aufzunehm en und wenn moglich zu bekôstigen. Da diese Kriegsgefangenen schon in einem recht schlechten E rnahrungszustande waren, schien es m ir ratsam , sie insgesamt in W agenitz zu behalten, wo ich fur ihre Verpflegung aufkom m en konnte, da etwa noch 1200 Liebesgabenpakete vorhanden waren. Da inzwischen die Russen bis an den K anal, 1 km südlich von W agenitz, gekom m en waren, ersuchte ich um eine Besprechung m it dem K om m andanten der do rt kàm p- fenden deutschen Einheit und verlangte von ihm die Zusage eines exterrito- rialen G ebiets im Um kreis von 600 m um das Schloss. M it Hilfe der briti- schen Kriegsgefangenen, die eine Polizeitruppe organisiert hatten, konnten wir erreichen, dass kein deutscher Soldat in dieses G ebiet eindringen konnte. Die deutschen T ruppen hatten aber in einer Entfernung von 600 m hinter dem Schloss ein Geschiitz aufgestellt, das die russischen T ruppen mit einer Stalinorgel und Artillerie beschossen. A uf dem Turm des Schlosses hissten wir die Flaggen der Schweiz und des Roten Kreuzes. Da aber das Schloss in der Schusslinie lag. war es nicht zu vermeiden, dass hin und wieder eine Serie von Geschossen, besonders von der Stalinorgel, a u f das Schloss und seine U m gebung niederhagelten. W ir hatten das Leben zweier polnischer Z ivilarbeiter zu beklagen; es kam en auch einige Verwundungen leichterer A rt vor.

Am D onnerstag, dem 26. April, kam der SS-Arzt Dr. B aum kôtter vom K onzentrationslager O ranienburg (Sachsenhausen) nach W agenitz und be- richtete m ir iiber die drohende Seuchengefahr unter den H àftlingen und iiber das vollstándige Fehlen von M edikam enten. Inzwischen w ar auch die N achricht von der Evakuierung des K onzentrationslagers Ravensbrück zu uns vorgedrungen, und die Hilfe m it L iebesgabenpaketen hatte von Liibeck aus begonnen.

Nebenbei gesagt, w ar es erstaunlich, wie selbstverstándlich die SS-Trup- pen es hinnahm en, dass wir die Lager vom Augenblick der Evakuierung an mit Lebensm itteln versorgten und uns von dem Z eitpunkt an niemand hindcrte, in die Angelegenheiten der K onzentrationslager einzugreifen, wáh- rend sich doch friiher die grôssten Schwierigkeiten ergaben, wenn wir ver- suchten, uns in irgendeiner Form um die Lager zu küm m ern. ...

Die Russen hatten sich inzwischen dem Schloss bis au f 500 m genàhert. 1m nôrdlichen Teil D eutschlands befand sich kein weiterer Delegierter des Roten Kreuzes, der Unterzeichnete w ar der einzige A rzt des 1KRK. Deshalb entschloss ich mich am 27. April den G edanken aufzugeben, zu den Russen hinüberzuwechseln, und reiste in Begleitung eines Delegierten und der Se- kretarin der D elegation nach Liibeck. D er Delegierte hatte die Aufgabe, weitere L iebesgabenpakete nach W agenitz zu bringen um, wenn nôtig auch unter russischer Besatzung, den Kriegsgefangenen und H àftlingen m it Lie­besgabenpaketen beizustehen. Dieser Delegierte versuchte, auch am Abend des gleichen Tages wieder nach W agenitz zurückzukehren, er konnte das Schloss jedoch nicht rnehr erreichen und kam , nachdem er seine Liebes­gabenpakete an Hàftlinge verteilt hatte, spáter nach Liibeck zuriick.

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N achdem ich mich in Lübeck m it dem Delegierten des IK R K und H errn Dr. A rnoldson vom Schvvedischen Roten K reuz iiber die allgemeine Lage oricntiert hatte, fuhr ich am 28. April iiber Schwerin nach Parchim in die G egend von W ittstock und M alchow, um weitere A usschreitungen der SS-Truppen gegen die Hàftlinge zu verhindern und ihre Verpflegung soweit wie moglich sicherzustellen. Die H àftlinge des K onzentrationslagers Ora- nienburg (Sachsenhausen) hatten inzwischen alle W ittstock erreicht und m arschierten am 28. April weiter in R ichtung a u f Schwerin. Die Insassen des K onzentrationslagers Ravensbriick waren ebenfalls, soweit sie nicht von R otkreuzw agen nach Lübeck gebracht w orden waren, im A nm arsch auf Schwerin und befanden sich in der Gegend von M alchow-Crivitz. Die H àftlinge w aren im allgemeinen in einem beklagenswerten Zustand, viele fand ich to t au f der Strasse, doch waren die, die ich sah, an H unger und Schwâche gestorben. Ich konnte keinen durch die SS-Truppen Erschossenen feststellen. Auch bestàtigten mir die Hàftlinge, dass seit D ienstag, dem 24. April, d .h . nach unserem Einschreiten, die Erschiessungen im wesentlichen aufgehôrt hátten.

A uf dem H aup tp latz von Parchim tra f ich au f eine K olonne von etwa 2000 H àftlingen, die eine M arschpause m achten. Zwischen ihnen lagen etwa 8 Tote, die w àhrend der Pause gestorben waren. Als der K om m andant mich sah, stürzte er sofort au f mich zu und beteuerte, er habe nie jem anden erschiessen lassen. Ich sagte ihm, er solle sich davor hüten, es in Z ukunft zu tun und befahl ihm, die K ranken und M arschunfahigen in der S tadt unterzubringen, w orauf er sich eilig entfernte, um m it dem Bürgermeister zu sprechen.

In der N áhe desselben O rtes begegnete ich einer K olonne von 5000 H àftlingen, die nur noch m it M ühe dahinschlichen. V or der K olonne au f einem W àgelchen, das von 6 -8 H àftlingen m ühsam gezogen w urde und mit K oflern beladen war, th ronte eine besser aussehende F rau. Ich hielt den K om m andanten der K olonne an und fragte ihn, was mit dieser F rau los sei. E r an tw orte te mir, es handele sich um die F rau eines SS-Ofifiziers, die w àhrend der F lucht k rank geworden sei. A uf meine Frage, was ihr denn fehle, sagte er m ir alien Ernstes, sie habe sich den M agen m it Rosinen verdorben (sic). ...

In der U m gebung von Putlitz stiess ich aberm als au f eine K olonne von etwa 5000 H àftlingen, die von SS-Truppen bewacht waren. Als ich vorbei- fuhr, um den K om m andanten zu suchen, bem erkte ich im Strassengraben neun Hàftlinge, die leblos unter ihren Decken lagen. Ein SS-M ann, der mich nicht gesehen hatte, ging au f sie zu und schlug m it seinem Stock au f die regios Daliegenden ein. Ich hatte gerade noch Zeit den W agen anzuhalten und auszusteigen, um zu verhindern, dass er die neun M ann m it seiner Pistole erschoss, die er bereits aus der Tasche zog. Ich rief den M ann zu mir heran und verlangte seine Personalien. E r antw ortete m ir sta tt dessen: «Das sind doch arm e Leute, die ganz unschuldig sind. Ich kann sie doch nicht so einfach im G raben liegen lassen.» Ich erklàrte dem M ann, er sei verrückt, er solle schleunigst verschwinden und sorgte für eine U nterkunft der neun

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H àftlinge im nàchsten Dorf. Dies ais kleiner Beitrag zum Kapitel «SS- M ânner und ihre M entalitât.»

Z ur gleichen Zeit, d .h . zwischen dem 29. April und dem 2. M ai, fuhren etwa 15 Lastwagen von Lübeck mit L iebesgabenpaketen nach W ittstock und Below bei W ittstock, vvo sich die H àftlinge einige Tage ausruhten. Da aber die H àftlinge inzwischen befehlsgemàss ihren M arsch fortgesetzt b a t­ten, verteilte der K olonnenführer des IK R K die Lastwagen au f die verschie- denen M arschrouten; so w ar für die Sicherheit und die Verpflegung der H àftlinge im Rahm en des M ôglichen am besten gesorgt.

Verteilung von Liebesgabenpaketen: Die K olonnen m arschierten mei- stens in Fünferreihen; ich konnte feststellen, dass hâufig je Fünfergruppe ein M ann ein L iebesgabenpaket mit sich trug. Im allgem einen ist zu sagen, dass, abgesehen vielleicht von Z igaretten und anderen m ehr oder weniger begehr- ten Luxusartikeln, die H àftlinge ihre L iebesgabenpakete bchielten, sofern sie dem K olonnenführer von dem Delegierten persônlich oder vom Hilfsper- sonal des IK R K den H âftlingen ausgehàndigt w orden waren. In W ittstock hatte eine Lastw agenkolonne ein D epot eingerichtet, um neue Liebesgaben­pakete heranschaffen zu kônnen. Als nun die H àftlinge weiterm arschieren m ussten, w urde jedem SS-M ann ein Paket ausgehàndigt, w âhrend die H àft­linge nu r zu je fünf M ann ein Paket erhielten, d .h . den Rest von den übriggebliebenen. Ich selbst habe leider keinen SS-M ann mit Liebesgaben­paketen erwischt, doch wurde m ir der obenbeschriebene V organg von ver- schiedenen Seiten bestâtigt. Wie sollte auch die vorerw àhnte SS-Frau sonst zu den Rosinen gekom m en sein, mit denen sie sich den M agen verdorben hatte.

Da die SS-Leute sich nicht m ehr unbeobachtet fühlten, wagten sie es nicht mehr, sich hem m ungslos an den H âftlingen zu vergreifen. N ach dem Verhal- ten der einfachen SS-Leute uns gegenüber, muss ich annehm en, dass sie das W ort Internationales Kom itee für die Bezeichnung einer U ntersuchungs- kom m ission von Kriegsverbrechen hielten. Ich habe in meincm Leben noch nie so kriecherisch-unterwürfige M enschen gesehen. Die deutsche Bevôlke- rung in den kleineren Stàdten und D ôrfern verhielt sich im allgemeinen passiv und schaute zu. N ur in Parchim , bei dem obenbeschriebenen Anlass au f dem M arktp latz , kam ein besser aussehender H err ganz verzweifelt au f mich zu und sagte mir: «Aber tun Sie doch etwas für diese Leute!» Als ich ihm d arau f antw ortete, wir tà ten was wir kônnten, sie m üssten aber auch mithelfen, verschwand er in der Menge.

Diese letzten Tage vergingen unter andauernden Fliegerangriffen au f S tàdtchen und Strassen. Die Strassen waren von Flüchtlingen, H âftlingen und T ruppen nur noch m it allergrôsster M ühe passierbar. H underte von ausgebrannten W agen, Pferdeleichen und D utzende von M cnschenleichen, zumeist deutsche Flüchtlinge, lagen rechts und links der Strasse. Ich sah und verband Hàftlinge, die durch Tieffliegerangriffe verletzt w orden waren. Da die H àftlinge aber befehlsgemàss meistens nur a u f kleineren N ebenstrassen m arschierten und in W àldern kam pieren m ussten, ist anzunehm en, dass die Verluste durch Tieffliegerangriffe unter den H âftlingen unerheblich waren.

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Ich selbst habe jedenfalls keinen durch TieiTiieger getôteten H áftling ge- sehen.

In der Gegend von B lum enthal-Pritzw alk stiess ich au f das Stalag Alt- Drewitz, das m it seinen deutschen W achm annschaften versuchen wollte, die Elbe bei D óm itz zu iiberschreiten. D a ihre Ernáhrungslage sehr schlecht war, entschloss ich mich, am Dienstag, dem 1. M ai, nach Schwerin zuriick- zufahren, um neue L iebesgabenpakete fur die K onzentrationslager heranzu- schafien, vor allem aber, um in Schwerin ein Lager von Liebesgabenpaketen fiir die H áftlinge einzurichten und von do rt aus in irgendeiner Weise Verbin- dung m it Lübeck aufzunehm en. N ach m einer A nkunft in Schwerin am spàten A bend übernachtete ich beim A potheker des Stalags II E. Die militàrische O rganisation der S tadt stand vor dem Zusam m enbruch, die M itglieder der H eeresverw altung legten Zivilkleider an und verliessen ihre Posten. Die A ufregung w ar gross, da die Russen inzwischen bis in die Gegend von W ism ar vorgestossen waren. D a eine Telephonverbindung mit Lübeck unmôglich war, verliess ich Schwerin am 2. M ai, sah mich aber eine S tunde spáter wegen eines schweren FliegerangrifTs gezwungen, wieder dort- hin zurückzukehren. Von den H áftlingen und den Kriegsgefangenen wurde ich m it grossem Jubel em pfangen, weil sich die N achricht verbreitet hatte, der Einm arsch der A m erikaner in Schwerin stehe in zwei S tunden bevor. Um jede S tôrung bei der Ü bergabe der Kriegsgefangenen zu vermeiden und überhaupt jede K am pfhandlung im Keim zu ersticken, fuhr ich zum O berst von Bülow, dem K om m andanten des Stalags II E. D anach kehrte ich in das Stalag zurück und hatte dort eine Sitzung mit den Lager- und Rangáltesten, um die A ufstellung polizeiáhnlicher T ruppen zu veranlassen, die die Diszi- plin im Lager gewáhrleisten sollten. G rosse Hilfe leisteten mir dabei eine G ruppe von G aullisten, die unter dem Einfluss und der Leitung eines von de G aulle bevollm âchtigten franzôsischen Ofilziers des Stalags N eubranden- burg gebildet w orden war.

Jede N ation stellte ihre eigenen W achen und organisierte ihren Streifen- dienst im Lager. Am M ittw och, dem 2. M ai, um 2 U hr erreichte uns die N achricht, dass die A m erikaner in Schwerin eingezogen seien. Bis an das Stalag selbst, das etwa 4 km ôstlich der S tadt liegt, kam en sie nicht. Ich fuhr daher mit den englischen Rangáltesten und den franzôsischen und jugosla- wischen Lageràltesten nach Schwerin, wo wir eine Besprechung m it dem am erikanischen R egim entskom m andanten hatten. Die Zone zwischen Schwerin und dem Fluss, der ostlich der S tadt in den Schweriner See einm ündet, in der auch das Stalag liegt, w urde zum N iem andsland erklart, um Zwischenfalle m it den russischen T ruppen zu vermeiden. Bis zum 3. Mai strom ten in diese Zone vom Osten her die H áftlinge der beiden K onzentra­tionslager und kam pierten in der U m gebung des Stalag. H underttausende von deutschen Soldaten w urden in diesen beiden Tagen gefangengenom m en und a u f derselben Strasse Crivitz-Schwerin, au f der sich dies alies abspielte, kam en weitere H underttausende von deutschen Flüchtlingen. Am 4. Mai hatten die Russen die D em arkationslinie erreicht und der Flüchtlings-, Háftlings- und Soldatenstrom kam zum Stillstand.

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Am A bend des 2. M ai stellte ich mich dem inzwischen eingetrofienen am erikanischen M ilitárgouverneur vor und gab ihm eine U bersicht über die Lage und Anzahl der K L-H aftlinge, die bereits in die Schweriner Zone gekom m en waren. 40 000 seien schon eingetroffen, vvahrend noch weitere 30 000 zu erw arten seien. D er M ilitargouverneur antw ortete mir, Schwerin sei iiberbevôlkert, er kônne nichts tun. Ich bat ihn daraufhin , er môge sich au f einem R undgang ein Bild von dem Befinden der Haftlinge machen. Dicser Inform ationsgang hat ihn anscheinend sehr beeindruckt. W ir erhiel- ten die N achricht, eine betriichtliche Anzahl von H áftlingen liege ôstlich der zukünftigen D em arkationslinie und werde noch von SS-Truppen bewacht. Die SS-Truppen schienen ihre G efangennahm e nicht hinnehm en zu wollen und peinigten und erschossen die H aftlinge wie bisher. Ich veranlasste den M ilitargouverneur, noch in der gleichen N acht T ruppen hiniiberzuschicken, die die SS entwaffnen und die Haftlinge befreien sollten. Ich erreichte auch, dass zur A ufrechterhaltung der O rdnung in der Riesenansam m lung von H áftlingen in der U m gebung des Stalag am erikanische T ruppen eingesetzt wurden, die auch die neuankom m enden H aftlinge dorth in dirigierten. Im- m erhin hatten wir am nâchsten M orgen ein paar Verletzte zu beklagen, weil m anche H aftlinge vor H unger, wegen einer Kartoflfel oder ahnlichem , einan- der m it gefundenen Waffen angriffen. Eine ausreichende Versorgung der H aftlinge konnte weder durch am erikanische T ruppen noch von m ir ge- w áhrleistet werden. Doch saum ten so viele m it Lebensm itteln beladene Lastwagen und K arren die Strasse Crivitz-Schwerin, dass jede Hàftlings- gruppe sich m indestens fiir drei Tage daraus versorgen konnte. Aus diesen Lastwagen liess ich samtliche M edikam ente heranschaffen und in das Stalag bringen. Es gab genügend À rzte unter den H áftlingen. Leider zogen sich die V erhandlungen wegen einer besseren U nterkunft für die Haftlinge noch drei Tage in die Lange, und cs w ar nicht zu verhindern, dass inzwischen viele von ihnen au f eigene Faust nach W esten w eiterw anderten, um sich in den D ôrfern westlich der D em arkationslinie niederzulassen. Im m erhin bekam ich am 5. M ai die Erlaubnis des M ilitárgouverneurs, zwei grosse Kasernen- komplexe zu beschlagnahm en. In einem dieser Komplexe, der A dolf-H itler- Kaserne, w ar ein deutsches Reservelazarett in einem G ebàude unterge- bracht. Die M ilitararzte stellten sich nach einer A ussprache zur Verfiigung, um den H áftlingen die notw endige àrztliche Hilfe zu leisten.

Leider verschlim m erte sich inzwischen eine schwere G elenkentzündung in m einer rechten Schuller, so dass ich vor Schmerzen und Fieber nicht m ehr weiterarbeiten konnte.

Die K am pfhandlungen an der Strasse Schwerin-Lübeck hatten inzwi­schen ihr Ende gefunden. W as m ir zu tun iibrigblieb, w ar Liebesgabenpake- te nach Schwerin zu bringen. Ich fuhr deshalb am 5. M ai nach Liibeck, wo mir diese A ufgabe vom Delegierten des IK R K abgenom m cn wurde. Bald d a rau f m usste ich mich ins K rankenhaus begeben.

In Schwerin hatte ich den K olonnenführer des IK R K zuriickgelassen, der mir in den Tagen in Schwerin grossie Hilfe geleistet hattc. W eitgehende U nterstü tzung w urde m ir von zwei britischen Kriegsgefangenen, die mich

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seit m einer A bfahrt von W agenitz stándig begleitet batten , von dem franzô- sischen und dem jugoslaw ischen Lageràltesten aus dem Stalag II E zuteil. U nterstü tzung fand ich auch bel allen franzosischen Lageràltesten aus kleinen A rbeitskom m andos, wo ich U nterkunft und Verpflegung gefunden batte.

VII. - Bericht eines Delegiertert des IKRK aus seiner Tatigkeit im Lager Theresienstadt (April-Mai 1945)

I

Prag, den 23. April 1945Ich babe Theresienstadt am 21. dieses M onats im Laufe des N achm ittags

besucht. Als ich m it dem Lagerkom m andanten K on tak t aufnahm , bat ich, den À ltestenrat zusam m enzurufen, um von m einer E rklàrung K enntnis zu nehm en und verschiedene F ragen zu beantw orten, die ich zu stellen hatte. Ich will iiber diese Phase meines kurzen A ufenthaltes im G hetto so genau wie môglich berichten.

Ich gab folgende E rklàrung ab:«D as In ternationale Kom itee vom Roten K reuz hat mich ganz besonders

mit der W ahrnehm ung Ihrer Interessen betraut. Ich habe meine Zeit seit meinem ersten Besuch am 6. A pril bis heute der A usfuhrung dieser M ission gewidmet. Die Protektoratsregierung hat m ir versichert, dass - ausser au f G rund strategischer N otw endigkeit - bis zur A uflôsung des Lagers niem and daraus fortgebracht wiirde. Diese wird durch das In ternationale Kom itee in Zusam m enarbeit m it den jiidischen Institu tionen gewàhrleistet werden. Ich bitte Sie, m ir meine A ufgabe zu erleichtern, indem Sie die Verwaltung und O rdnung der S tad t w àhrend der Ü bergangszeit aufrechterhalten, wie Sie es bisher unter deutscher H errschaft getan haben und weiterhin tun werden. W ahrscheinlich werden Sie in Theresienstadt evakuierte G laubens- genossen aus anderen Lagern aufzunehm en haben, nàm lich Zivilinternierte, Kriegsgefangene oder Verwundete. Sie sollten sich daran erinnern, dass - wie auch im m er Ihre hiesigen Lebensbedingungen aussehen - Sie hier m ehr K om fort haben und weniger G efahren ausgesetzt sind als au f dem Weg der E vakuierung ....»

Am Schluss dieser U nterredung, die in Anwesenheit des Lagerführers und seines U ntersturm führers sowie eines Inspekteurs der Sicherheitspolizei aus Prag sta ttfand , teilte ich dem Lagerleiter mit, dass ich - in E rw artung der schriftlichen A ntw ort - T heresienstadt besuchen wollte. Zwei S tunden lang konnte ich ohne Einspruch seitens der mich begleitenden deutschen Offiziere und Zivilpersonen alies besichtigen, was im Laufe meines Besuches vom 6. April meine A ufm erksam keit geweckt hatte. D urch diesen absolut unein- geschránkten Besuch der G ebàude der S tadt und der angegliederten Barak- ken habe ich einen àhnlichen Eindruck gewonnen wie bei unserem Besuch am 6. A pril und bin der U berzeugung, dass fiir die Besichtigung keine besonderen V orbereitungen getroffen wurden. Die Einw ohner von There-

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sienstadt verbringen ihre Tage so, wie festzustellen wir dreim al die Gelegen- heit batten. Z u r Zeit werden die Juden anderer Lager nach Theresienstadt geleitet. Sie kom m en natiirlich in einem jam m ervollen Z ustand hier an, aber alies ist vorbereitet, um ihnen rasch den Lebensstandard derer zu verschaf- fen, die vor ihnen gekom m en sind. Seit dem 6. April hat Theresienstadt einen Bevolkerungszuwachs von 4000 Personen (junge M anner von 18 bis 30 Jahren) erlebt.

Im Laufe eines friiheren G esprachs hatte mir S taatsm inister F rank versi- chert, dass alle evakuierten Juden, die in der N àhe des P ro tek to rats vorbei- kâm en, nach Theresienstadt geleitet wiirden. N och am selben Tag konnte ich mich von der D urchführung dieses Befehls in der S tadt Aussig iiberzeu- gen, wohin ich gegangen war, nachdem ich Theresienstadt verlassen hatte.

Reise nach Aussig: M an hatte m ir in Prag die D urchfahrt von Zügen mit evakuierten, verw undeten Kriegsgefangenen oder Z ivilpersonen angekün- digt, die infolge der Bom bardierung von Aussig in diesem G ebiet einge- schlossen waren. Bei m einer Reise nach Theresienstadt benutzte ich auch die Gelegenheit, nach Aussig zu fahren, um hier A uskünfte zu sammeln. Die Bahnhofsangestellten, die M ilitar- und Polizeibehórden haben m ir keine aufschlussreichen A ngaben gem acht. Die M ilitartransporte konnten verla- den werden; die Z iviltransporte liegen noch a u f den Abstellgeleisen still (jedenfalls habe ich sie nicht in der N àhe des Bahnhofs gesehen); die Juden- kolonnen sind zu Fuss nach Theresienstadt aufgebrochen oder brechen auf. Die beiden Bom benangriffe in der W oche waren ernst.

Die stilliegenden Ziige sind schwer beschàdigt worden.

II

Den 22. M ai 1945

N achdem ich mich am 30. April in Theresienstadt aufgehalten hatte, kehrte ich am 2. M ai zuriick, um mich hier einzurichten. Ich reiste am10. M ai ab, als meine A ufgabe beendet war.

T ro tz des Beschlusses der Protektoratsregierung vom 5. M ai, Theresien­stad t (G hettos und Festung) der ausschliesslichen A u to ritâ t des In ternatio- nalen Kom itees vom Roten K reuz zu unterstellen, bestand diese Lage tatsàchlich schon am 2. M ai, da m ir die K om m andanten der beiden Gefàng- nisse ihre Befugnisse übertragen hatten.

Entgegen meinen im Bericht vom 23. April dargelegten Befiirchtungen hatte kein In ternierter Theresienstadt verlassen.

A ndererseits ist die von den Reichsbehôrden geplante Ü berstellung von 300 Personen (Prom inente des G hettos) an einen «sicheren» A ufenthaltsort nicht durchgefiihrt worden: F rank hat W ort gehalten. A uf G rund seiner A nordnungen und gemàss seinem Versprechen sind 12 863 Juden aus ande- ren K onzentrationslagern im Laufe des M onats April nach Theresienstadt iiberstellt worden.

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M it A usnahm e des von den D eutschen beschâftigten G artners, der von einer deutschen Kugel getôtet wurde, und eines jüdischen Internierten, der durch eine russische G ranate in seinem Belt urns Leben kam , ist in There- sienstadt kein In ternierter eines gewaltsam en Todes gestorben.

Reise nach Aussig. - U n ter diesem Titel habe ich in meinem Bericht vom 23. A pril au f die Existenz von Ziigen m it D eportierten hingewiesen, die ohne Bestim m ungsort in der U m gebung von T heresienstadt fuhren. Am 4. Mai fand ich sie in den benachbarten Bahnhôfen und begleitete sie nach T here­sienstadt. Am 6. M ai kam en drei Ziige do rt an. Sie fuhren seit m ehreren W ochen stándig «im Kreise» herum . Bei der A bfahrt waren es 2500 M anner und 600 K inder, davon haben wir 1800 M anner und 180 K inder registriert. Die anderen verstarben w àhrend der Reise. W eitere kleine G ruppen kam en zu Fuss oder m it Fahrzeugen und wurden unter Q uaran tâne gestellt.

Eine leerstehende K aserne diente ungefahr 600 franzósischen, belgischen, britischen und kanadischen Kriegsgefangenen (M ânnern in gutem G esund- heitszustand) als Zufiuchtsort.

Festung. - Schon am 3. M ai begann unter der O bhu t einer von Dr. Taska geleiteten O rganisation tschechischer Àrzte und unter der V erantw ortung des IK R K die Evakuierung der m it 5000 politischen H àftlingen - meist Tschechen (darun ter einige franzosische Prom inente) - belegten Festung. Es verlief alies ohne Zwischenfalle. Am 8. M ai w aren sam tliche Hàftlinge evakuiert. An diesem Tag, dem Tag der Beendigung der Feindseligkeiten, habe ich den Schütz des IK R K aufgehoben.

VIII. - Bericht eines Delegierlen des IKRK iiber die politischen Haftlinge, die sich in den Gefangnissen von Berlin befanden (April 1945)

Die Lage der H aftlinge in den Gefangnissen von Berlin und Um gebung - unter denen sich nach glaubwiirdigen Inform ationen noch Ende M árz 1945 ungefahr 1500 auslàndische politische Gefangene befunden hatten - hat der D elegation in aussergewóhnlichem M asse U m sicht und Einsatz abverlangt. Erstes Ziel dieser Bemiihungen w ar es, die zwischen Professor B urckhardt und O bergruppenführer K altenbrunner getroffenen Vereinba- rungen au f diese K ategorie von politischen H àftlingen (Schutzhâftlinge) auszudehnen. Es w ar jedoch sozusagen unm ôglich, offiziell genaue A ngaben und Zugestândnisse zu erhalten. In der folgenden Zeit w urde die D elegation dank einer geplanten A ktion, die einer ihrer Delegierten zum Teil «auf eigene G efahr und K osten» vorbereitet hatte, zuverlássig genau unterrichtet, um sich den in verschiedenen Gefangnissen zu befürchtenden Ü bergriflen entgegenstellen zu kônnen.

D ank den Bem ühungen der D elegation, die V erbindung m it einigen M itgliedern der G estapo-H auptleitstelle, K urfiirstendam m 106, aufnehm en konnte, w ar es môglich, ab April 1945 in einer ziemlich grossen Anzahl von Einzelfallen die Freilassung von G efangenen zu erreichen.

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In anderen Fallen Hess die Delegation Lebensm ittelpakete verteilen. So begaben sich die Delegierten am 25. M àrz zum Gefangnis K aiserdam m 1, C harlo ttenburg . A uf die N achricht bin, dass ein Teil der Packchen zuriick- gehalten werde, erhoben sie Einspruch.

In der darauffolgenden Zeit - am 10. und 11. April - hôrte m an von verschiedenen Seiten, dass das R eichssicherheitshauptam t Anweisung zur V ernichtung sam tlicher A kten und U nterlagen bei alien E rm ittlungsbehor- den, in alien Gefangnissen und alien Lagern gegeben hatte. Am 12. April w urde diese M assnahm e ausdriicklich durch einen G estapo-A ngehorigen bestâtigt, der d a rau f aufm erksam m achte, dass für die Háftlinge das Schlim mste zu befiirchten sei.

Anlasslich eines Besuches am 13. April im Gefangnis K aiserdam m 1 konnten die IK R K -D elegierten beobachten, dass sich der H áftlinge eine furchtbare A ngst bem achtigt hatte. N och am selben Tage begaben sich die Delegierten zum A usw àrtigen Am t, wo sie M inister Schm idt au f diese Z ustánde aufm erksam m achten. Dieser verm ittelte am gleichen Tage eine U nterredung m it G ruppenfiihrer M üller und am 14. April ein weiteres G espràch m it dem Staatssekretár im Reichsjustizm inisterium Dr. F ranke (in Abwesenheit des Reichsministers Dr. Thierack, der angeblich erk rank t war), von dem wir E rklárungen über das Schicksal der inhaftierten Personen verlangten.

Die D elegation erklârte sich bereit, die Háftlinge unter ihren Schütz zu stellen und sie in grossem U m fange mit Lebensm ittelpaketen zu versorgen. Die der D elegation gegebenen beruhigenden Zusicherungen wurden am 15. April schriftlich bestâtigt und durch K urier zugestellt.

Am 17. April erfuhren die IK R K -D elegierten im G efangnis Alexander- platz, dass seit dem 15. April 1945 die Freilassung einer erheblichen Anzahl von G efangenen angeordnet w orden war. Anlâsslich eines Besuches im H aftlager Triftweg, Friedrichsfelde, bei dem Lebensm ittelpakete an Russen, Tschechen. N iederlánder usw. ausgeteilt wurden, stellte sich die Richtigkeit dieser B ehauptung heraus.

D a die D elegation andererseits vernom m en hatte, dass an jenem Tag 34 H áftlinge des Gefângnisses G rosse H am burgerstrasse erschossen worden waren, unternahm en die IK R K -D elegierten erneut Schritte beim Reichs­sicherheitshauptam t und beim Reichsjustizm inisterium . Scheinbar sind die letzten H áftlinge am 22. April aus dem Gefangnis entlassen worden.

Die sich in der N àhe von Berlin und in der S tadt selbst abwickelnden m ilitàrischen O perationen m achten weitere Schritte der D elegation unm ôg- lich. Als die IK R K -D elegierten am 24. A pril die Avus überquerten, kam en sie mit knapper N ot mit dem Leben davon.

IX. - Bericht eines IKRK-Delegierten über seine Mission in Mauthausen (nach dem deutschsprachigen Originaltext)

Am 23. April 1945 um 19.30 U hr A nkunft in M authausen. Die A nkunft am Abend schien dem diensthabenden Ofïizier, der uns im W achthaus

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empfing, ungelegen zu sein. M an liess uns über eine halbe Stunde warten, ehe uns ein SS-Kurier dem A djutanten vorstellte. Bis zu diesem Em pfang m ussten wir weitere 20 M inuten in W ind und Regen ausharren . Die Begrüs- sung durch den A djutanten w ar korrekt, aber kiihl. E r ba t uns, noch ein wenig G eduld zu haben, da der K om m andant an einer wichtigen K onferenz teilnàhme. Schliesslich w urden wir ins A rbeitszim m er des K om m andanten gefuhrt, der ungefahr eine V iertelstunde spàter erschien. E r iiberflog noch einmal kurz das Em pfehlungsschreiben, das ihm bereits vorher ausgehán- digt w orden war. O hne d a ra u f weiter Bezug zu nehm en, teilte er uns kurz und bündig mit, dass 183 franzôsische Schutzhàftlinge, deren Liste bereits fertiggestellt sei, um 0.30 U hr zu unserer Verfiigung stiinden und sofort abzutransportieren seien. A uf meinen Vorschlag, den T ranspo rt bei Tages- licht am anderen M orgen stattfinden zu lassen, ging er nicht ein. Erstens kônne er uns kein Q uartier anbieten und zweitens miissten die H àftlinge so rasch wie moglich ab transportiert werden. Bis 0.30 U hr w urden die Pakete abgeladen, gezahlt und durch den diensthabenden O ñizier quittiert. A uf mein Ersuchen, die Lageráltesten der H àftlinge sollten den richtigen Em p­fang der Pakete m it ihrer U nterschrift bestàtigen, ging m an nicht ein, aber er als K om m andan t verpflichte sich, dafür zu sorgen, dass die Liebes- gabensendungen in die richtigen H ande kam en. U nserer M annschaft wurde nicht gestattet, die W agen ins Lager zu fahren, um die Sendung abzuladen und zu kontrollieren. Auch uns, den Delegierten, K olonnenchefs und Be- gleitoffizieren, w urde das Betreten des eigentlichen K onzentrationslagers untersagt.

Als ich den K om m andanten zweimal au f den eigentlichen Zweck meiner M ission aufm erksam m achte, gab er m ir kurz und bündig zu verstehen, meine M ission sei m it der Ü bernahm e der 183 franzôsischen Schutzhàftlinge in meine O bhut ais erfüllt zu betrachten. Im übrigen habe er keine Anwei- sung, uns das Betreten des Lagers zu erlauben. Ich schlug ihm vor, in M authausen (D orf) so lange w arten zu wollen, bis die V ereinbarung ihn erreiche. Auch dies w urde eindeutig abgelehnt.

Inzwischen hatten SS-M annschaften am Eingangstor ins eigentliche L a­ger die LKW s von unseren Chauffeuren übernom m en und ins Lager gefah- ren. D as Entladen w ahrend der D unkelheit dauerte bis kurz nach 2 U hr, viel langer als angenom m en wurde. A uf A nordnung des K om m andanten w ur­den sowohl die M annschaft als auch wir verpflegt.

D er diensthabende Offizier, der die Entladung und die K ontrolle der Pakete überwachte, versprach mir, dass bei der Verteilung der Pakete die Lageráltesten dafü r quittieren würden. Er sagte m ir zu, die Q uittungen anschliessend an das IK R K in G enf zu schicken. D er Unterzeichnete be- zweifelt, dass die Verteilung der Sendungen korrekt vorgenom m en wurde.

Um ca. 3.30 U hr w ar unsere K olonne au f dem Sportplatz zur Ü bernahm e der Schutzhàftlinge aufgestellt. Von den 183 M ann waren die meisten schon in Reihen angetreten und dem beissenden W ind ausgesetzt. Endlich kurz vor 4 U hr kam der letzte M ann. Ich zâhlte die Personen, die in die W agen stiegen und quittierte für die richtige Ü bergabe.

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M eine persónlichen Eindrücke vom Lager sind folgende: etvvas geheim- nisvoll Schauriges lastete iiber allem, das natiirlich w ahrend der N acht um so m ehr beeindruckte. Dass unsere A nkunft am spàten A bend diesen Herren sehr unangenehm war und sie unsere Abreise kaum erw arten konnten, war offensichtlich. Die Verzôgerung schien ihnen gar nicht zu passen.

Schon bei unserer A nkunft bot sich uns ein Bild des G rauens. F ün f A rbeitskolonnen, jede ca. 100 M ann stark, schleppten sich miide nach einem schweren A rbeitstag ins Lager. In jeder K olonne waren einige, die infolge Erschdpfung einfach nicht m ehr konnten, dem Tod nahe waren und deshalb von den K am eraden getragen wurden. W ohl wieder K andidaten für das K rem atorium , das iibrigens die ganze N acht m it H ochbetrieb arbeitete. M an sagte mir zwar, dass die kôrperliche Verfassung dieser A rbeitskolon­nen sehr gut sei. Wie mussten dann wohl die anderen Unglücklichen aus- sehen?

W ir waren alle von dem Geschehen so stark beeindruckt, dass stunden- lang kein W ort gewechselt wurde. Beim ersten kurzen H alt waren es die K anadier, die W orte fanden und in ungeschm inkter Sprache ihren Abscheu kundgaben: «M ein G ott, wir sind froh, dass wir wieder draussen sind. Das ist die Hollé!»

X. - Bericht iiber den Anfenthalt eines Delegierten des IKRK in Mauthausen bis zur Befreiung des Lagers vom 27. April bis zum

8. Mai 1945 (Ausziige) (nach dem deutschsprachigen O riginaltext)

D er K onvoi bewegt sich in R ichtung Linz, das schwer bom bardiert w orden ist, und durchfahrt die durch Bomben aufgerissenen Strassen. Die kanadischen und Schweizer F ah rer miissen wahre Kunststiicke vollbringen. W ir iibernachten in St. G eorgen, ungefahr 18 km von Linz entfernt. Am nachsten M orgen setzt sich die K olonne in Richtung M authausen in Bewe- gung. A uf halbem Wege erw artet uns Lt. H. und iibernim m t die Fiihrung der K olonne. N ach der A nkunft im Lager veranlasst er das A bladen der Pakete; w ahrend dieser Zeit begeben wir uns zum Lagerkom m andanten Ziereis, der im R ang eines S tandartenfiihrers ist. E r ist ein M ann in den Vierzigern von energischem, aber beunruhigendem A usdruck, dessen M undw inkel ein leichtes Zucken verraten. Es erscheinen SS-Oflfiziere. W ir erláutern ihm, dass au f G rund der V ereinbarung zwischen dem Prásidenten des IK R K und dem C hef der Sicherheitspolizei und des SD, K altenbrunner, ein Delegierter des IK R K das Lager betreten und persônlich Liebesgaben- pakete verteilen darf. E r hat die Erlaubnis, bis zur endgültigen Auflôsung im Lager zu bleiben. Ziereis gibt vor, von diesen A bm achungen nichts zu wissen und erk lart mir, dass meine Anwesenheit im Lager unerw ünscht ist. Er beklagt sich iiber den M angel an V ertrauen von seiten des IK R K im Hinblick a u f die Verteilung der Lebensmittel durch die Lagerleitung. D a es m ir unmoglich ist, meine Mission zu erfiillen, em pfiehlt m ir der K olonnen- chef, in die Schweiz zurückzukehren. Ich weigere mich au f das entschieden- ste und bin entschlossen, um jeden Preis meinen A uftrag auszufiihren und

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das Lager zu betreten. Ich bestehe darauf, dass m an m ir Einlass gew ahrt und dass ich im Lager w ohnen darf. Ziereis erk lart sich bereit, ein Telegram m an K altenbrunner m it ungefahr folgendem W ortlau t aufzugeben:

«D as IK R K , dessen B eauftragter sich hier befindet, verlangt, dass ein Schweizer Delegierter das Lager betreten darf, um do rt Pakete zu verteilen. Die vom IK R K verlangte Anwesenheit ist nicht unbedingt erforderlich. Beantworten Sie telegraphisch, ob der Delegierte das Lager betreten d arf oder nicht.» Gezeichnet: Ziereis.

Dieses Telegram m gab m ir einen V orw and, mich in der N ahe des Lagers aufzuhalten. M einen festen Entschluss dazu drückte ich Ziereis gegenüber so aus: ich werde die A ntw ort au f dieses Telegram m abw arten, selbst wenn ich die 10 km von St. G eorgen nach M authausen jeden Tag zu Fuss laufen müsste.

M ein M isstrauen der SS gegenüber wuchs zusehends.Die K olonne kehrte in die Schweiz zurück und nahm einige Angehorige

der W estm áchte mit. Ich blieb allein in St. G eorgen. Drei Tage w artete ich a u f die Beantw ortung des Telegram m s und w ohnte in der U m gebung des verruchten Lagers, in dem die H âftlinge bei ihrer A nkunft m it den ironi- schen Reden der SS-UnterofTiziere und ihrer U ntergebenen begrüsst wur- den: «M orgen lebt ihr nicht mehr!»

Das Lager M authausen ist eine «Festung aus G ranit» , in der jeder Stein für ein M enschenleben steht, und sie ist befleckt m it M enschenblut. T rotz allem bestehe ich darauf, dieses Lager zu betreten und bin m ir der V erant- w ortung voll bewusst, die ich dam it im H inblick a u f meine Fam ilie über- nehme.

Die M enschen, die Ziereis kennen, versuchen vergeblich, mich von mei- nem Entschluss abzubringen und sagen mir, das hiesse G o tt versuchen, das sei Selbstm ord. ...

Am dritten Tag fahre ich m it meinem gesam ten G epack ins Lager, wo ich die W achen veranlasse, mich sofort zu Ziereis zu führen. Ich erklare ihm entschlossen, dass ich nicht m ehr m it einer A ntw ort von K altenbrunner rechne und die G enehm igung zum Betreten (des Lagers) erbàte. Ziereis wies m ir daraufhin das Z im m er von O bersturm führer Reiner ais Q uartier zu, das ich m it ihm teilen solle. D er Delegierte soli also im selben R aum , Bett an Bett, m it einem SS-Angehórigen übernachten, dessen D ienstm ütze ein To- tenkop f schm ückt. F ür die Hâftlinge, von denen ich weiss, dass sie in meiner U m gebung gequált werden, nahm ich diese T o rtu r au f mich!

An den folgenden Tagen hatte ich m it Ziereis Besprechungen über die S ituation im Lager: M angel an Brot, K leidung, Schuhen und vor allem M angel an W àsche. D as Lager M authausen w ar überbelegt, G usen I und II hoffnungslos überfüllt. Die K ranken lagen zu fünft in den schmalen Lagerbetten; es w ar belegt m it 60 000 M enschen, M ánnern, F rauen und K indern. Ziereis wusste nicht, wo ihm der K opf stand, was ihn aber - wie ich erfahren habe - nicht daran hinderte, jeden M orgen 30 bis 40 Hâftlinge durch Genickschuss zu toten. Er beschleunigte das W erk der Z erstorung soweit wie móglich. D er K am in des K rem atorium s raucht Tag und N acht.

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Seit Tagen haben die Hàftlinge kein Brot m ehr bekom m en. Die hygieni- schen Z ustánde sind au f dem T iefpunkt angelangt. Ziereis selbst tu t so, als ob er dariiber bewegt ist. E r heuchelt M itleid, dieser M ann, m it dem ich meine M ahlzeiten einnehm en muss, dieser U nm ensch, welcher eines Tages einen Lastwagen voll Leichen vor das Fenster seiner F rau fahren liess und sich noch seines W erkes rühm te.

Ich schlage vor, nach Linz zu G auleiter E igruber zu fahren, um zu versuchen, sofort M ehl zu bekom m en. Linz liegt noch unter Beschuss der A m erikaner. D ennoch breche ich a u f und nehm e meinen B ettnachbarn, den SS-O bersturm fiihrer Reiner, als Chauffeur mit. Ich will ihn erproben und versuchen, ihn au f meine Seite zu kriegen. Ziereis m acht mich a u f die W agnisse des U nternehm ens aufm erksam .

W ir kom m en um 10 U hr abends bei G auleiter Eigruber und dem Landes- bauernfiihrer an. Die dort herrschenden M issstânde sind unbeschreiblich. M eine Bitte um M ehl fiir G usen und M authausen wird zurückgewiesen. A ber m an sagt mir, dass in der N âhe von M authausen eine F ahre m it einigen W aggons G etreide aufgelaufen ist. Ich bekom m e die Erlaubnis, iiber dieses G etreide zu verfügen. A ber ich habe noch eine Bitte an Eigruber: ich wiinsche m it G en f zu sprechen. Ich erhalte die Erlaubnis, ein Telegram m vom Telegraphenbiiro Linz nach G enf zu schicken, das in einem Keller eingerichtet ist. Ich bin do rt die einzige Zivilperson. Ich verlange von G enf die Z usendung von Brot, K leidungsstücken und Schuhen. Das Telegram m ist abgeschickt, aber ist es auch angekom m en? Seit m einer R iickkehr nach M authausen spreche ich mit dem C hirurgen P odlaha iiber den Ernst der Lage. E r beschreibt m ir seine M achtlosigkeit gegeniiber der Lagerleitung. M an gibt ihm keine Gelegenheit, den H àftlingen eine menschliche Behand- lung zuteil werden zu lassen; seit W ochen konnten sie weder gewaschen noch desinfiziert werden. Sie irren unbeschreiblich verlum pt herum . Es gelingt mir, eine Besprechung zwischen dem C hirurgen Podlaha, Ziereis und mir herbeizuführen. A uf meinen Vorschlag gibt Ziereis den Befehl, die H àftlinge sofort baden und desinfizieren zu lassen. W áhrend dieser Zeit wird ihre K leidung gewaschen.

Ausserdem bitte ich Ziereis, m ir 40 Pferdewagen zur Verfügung zu stellen, um m ehr oder weniger verdorbene Kartoffeln ins Lager zu bringen, die es aber den H àftlingen ermôglichen, etwas zwischen die Z àhne zu be­kommen.

Ich m ache Ziereis heftige Vorwürfe iiber die A rt und Weise, wie die abgeladenen Pakete verteilt wurden, bevor ich im Lager angekom m en bin. N ur ein Teil davon w urde an die Hàftlinge verteilt, und m ehrere Pakete waren ihres kostbaren Inhalts beraubt: K ondensm ilch, Schokolade, Keks, Butter. In der N acht vom 2. au f den 3. M ai forderte ich meinen Zim m er- genossen Reiner auf, m ir die Befehle mitzuteilen, die im H inblick au f die Zerstôrung der Lager G usen I, II und M authausen gegeben wurden. Reiner - e in ehem aliger B ankangestellter- vertraute mir an, ohne m ir zu verheimli- chen, dass, falls seine vertrauliche M itteilung bekannt wiirde, wir beide reif fiir einen Genickschuss wàren.

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Ich befahl ihm, fur den 3. M ai den K om m andanten des Flugzeugwerks von G usen zu Ziereis zu zitieren. Im Laufe der U nterredung bat ich Ziereis in G egenw art von Reiner, sofort den Befehl zur Zerstôrung des Flugzeug- werkes riickgàngig zu m achen. Ziereis weigerte sich und erklârte, dass nicht er diesen Befehl gegeben habe und es ihm nicht zustünde, Befehle übergeord- neter Stellen zu widerrufen. Ich verwies au f seinen D ienstrang und appellier- te an seine M enschlichkeit. D er K om m andant des Flugzeugwerkes erlàuter- te, dass im Falle einer A nnáherung der A m erikaner bzw. der Russen der Plan bestünde, a u f ein A larm signal hin in der N acht vom 5. au f den 6. Mai die H àftlinge von G usen I und II, ungefahr 40 000 M enschen, in den unterirdischen Hallen des W erkes au f einer F làche von 50 000 qm zusam- men m it den E inw ohnern von G usen und St. G eorgen zu versammeln. Die Sprengung von 24,5 t D ynam it, das vorher in den Verbindungsgângen gelagert war, wiirde dann das W erk sam t H àftlingen und Bewohnern in die Luft sprengen. Es gelang m ir zu veranlassen, dass Ziereis wenigstens miind- lich den Befehl zuriickzog, die F abrikanlage in die L uft zu sprengen, und sich verpflichtete, diese A nnullierung an die W erksleitung weiterzuleiten. Er dachte, dass diese miindliche A nnullierung in m einer G egenw art genügte.

Ich w ar voiler M isstrauen der SS gegeniiber und w urde m ir m ehr und m ehr m einer V erantw ortung fiir die H àftlinge bewusst. Ich holte m ir von Ziereis die Erlaubnis, in die Schneiderei gehen zu diirfen. E r selbst begleitete mich dorth in und fragte mich, was ich do rt wiinsche. «Eine F ahne der Schweiz» antw ortete ich. D as w ar aber nicht mein eigentliches Anliegen, denn ich brauchte unbedingt eine grosse weisse Fahne, die ich am folgenden Sam stag hissen lassen wollte. Ziereis verliess mich und bat mich, piinktlich zur K om m andan tu r zuriickzukom m en. Ich erlâuterte den A rbeitern, dass ich ausser einer F ahne der Schweiz eine grosse weisse F ahne benôtigte, beide mit den M assen 3 x 3 m.

Ich begab mich daraufh in zur G arage und gab den dort arbeitenden ungarischen H àftlingen den Befehl, den Opel, den Ziereis m ir zur Verfiigung gestellt hatte, bis spàtestens zum folgenden Sam stagm orgen weiss zu strei- chen. Ich zog einen der A rbeiter, m it dem ich mich angefreundet hatte, ins V ertrauen und beriet m it ihm das im Lager beabsichtigte Vorgehen.

Ich kehrte sofort zur K om m andan tu r zuriick, wo ich m it Ziereis allein war. Ich berichtete ihm iiber die A nordnungen, die ich zur V erbesserung der Hygiene im Lager getroffen hatte. Plôtzlich stand ein ganz anderer M ensch vor mir, schwach und zitternd, gealtert und entm utigt. E r fragte mich, was er tun solle. E r erhob sich und begann ñervos m it Pistolen zu hantieren. Ich folgte seinen Bewegungen, m ehr neugierig als furchtsam . M eine Ruhe beein- druckte ihn. Plôtzlich sagte er zu mir: «D er A ufenthalt im Lager kann fiir Sie n icht angenehm sein, ich stelle Ihnen mein H aus zur Verfiigung; es liegt ausserhalb des Lagers, in dem sich für einen Neuling zu viele ungewohnte Szenen abspielen. Ich habe den Entschluss gefasst, m it einem Teil der W achm annschaften gegen die russische F ro n t vorzurücken, um gegen die Russen zu kàm pfen. Z ur Bewachung der Lager verbleiben m ehr als 2000 M ann, das reicht aus.»

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Ziereis führte mich in die Schlosserei, wo er den Befehl gab, m ir einen Zweitschlüssel fiir sein H aus anzufertigen. Eine Stunde spater brachte er mich in seinem W agen, gemeinsam mit Reiner, zu seinem Haus. M it er- schreckender Ruhe erlaubte er uns, es zu besichtigen: das Kinderzim m er, das W ohnzim m er, das Jagdzim m er, die W affensam m lung, ausserhalb des Hauses den H iihnerhof, die Bienenkórbe und das Schwimmbassin. A ber ich wollte lieber m it den H àftlingen zusam m en wohnen, als in der kom fortablen Villa dieses Unm enschen. Trotzdem behalte ich den Schliissel, den er mir gibt. W enn sich mein A ufenthalt im Lager verlàngern sollte, kônnte ich dort ein K inderheim einrichten. Ziereis verlasst uns. Reiner und ich kehren zu Fuss in das Lager zurück.

Im Lager herrscht U nruhe. M aschinengewehre werden zur V erstàrkung zu den W achposten gebracht. K isten m it H andgranaten werden hier und dort verteilt. Die SS-M anner bauen neue M aschinengewehrnester. M an verstàrkt tatsáchlich die Verteidigung. Im Lager gârt es. Ich, der an eine friedliche Ü bergabe des Lagers an die Russen oder A m erikaner geglaubt habe, bin beunruhigt.

5. Mai 1945. - Ein femes D onnergrollen hat mich geweckt. Heftiger Artilleriebeschuss deckt die U m gebung von Linz ein. Die Lage erscheint mir m ehr und m ehr kritisch. D as Schicksal von 60 000 M enschen steht au f dem Spiel und scheint sich heute zu entscheiden. M ein Los ist m it dem ihren verbunden. Ich m uss um jeden Preis handeln. ... Ich wende mich an Reiner: «Reiner, begleiten Sie mich sofort in die am erikanische Kam pfzone?» Rei­ner, den ich veranlasst habe, das Totenkopfzeichen von seiner D ienstm ütze zu entfernen, ist einverstanden. Ich übergebe dem Lageràltesten die Fahne der Schweiz und die weisse Flagge. Er erk lârt sich bereit, dann, wenn er meinen weiss gestrichenen W agen zurückkom m en sieht, die H akenkreuz- fahne herunterzunehm en und die weisse Fahne zu hissen. M eine Entschei- dung überrascht ihn; er bittet mich instàndig darum , ailes zur Befreiung des Lagers ins W erk zu setzen. Reiner und ich brechen auf. In St. G eorgen begebe ich mich zum Biirgermeister und erlàutere ihm meinen Plan. Ich bitte ihn, die Panzersperren ofTenzulassen. Ich frage die Behôrden, ob sie wiin- schen, dass ihre G em einde in die Befreiungsaktion einbezogen wird, sarnt- liche Waffen abgegeben und der Versuch unternom m en wird, dass, falls es mir gelingt, die am erikanischen Linien zu erreichen, kein Schuss fallen soli. N ur unter diesen Bedingungen kann ich meinen Weg iiber St. G eorgen in die K am pfzone fortsetzen und fiir die Befreiung der G em einden vermitteln. Diese G aran tien erscheinen mir zur D urchfiihrung m einer U nternehm ungen unbedingt notwendig. Die Behôrden billigen unseren Plan wàrm stens und wiinschen uns vollen Erfolg. W ir setzen unseren Weg fort und fahren nach G allneukirchen, um au f die H auptverkehrsstrasse von Budweis zu stossen und nach U rfahr zu gelangen, wo wir die A m erikaner verm uten. Viel schneller als erw artet befinden wir uns an der F ront. Von weitem bem erke ich einen m it einem schweren Geschiitz bestückten Panzer. Ich halte den W agen an und ergreife einen Stock, an dem ich fiir alie Falle ein weisses

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Tuch befestige. Ich empfehle Reiner, seine Pistole im W agen zu lassen. Vorsichtig gehen wir nach vorn. Ich bitte auch den Chauffeur, einen Leut- nant der W iener Feuerschutzpolizei, uns gleichfalls unbewaffnet zu folgen.

Ich bem erke keinen Soldaten. M an sieht nur die M iindungen der Ge- schiitze, die sich nach rechts und links bewegen. Ich befehle meinen Beglei- tern stehenzubleiben und gehe allein - meine weisse Fahne in der H and - a u f die G eschütze zu, in der Hoffnung, dass endlich die M enschen, die hinter den Schiessscharten lauern, au f mich zukom m en. K lappen offnen sich, und bewaffnete junge M anner richten sich auf. Sie sind erstaunt, mich zu sehen und in schlechtem Englisch sagen zu hôren, sie m ôchten mich m it ihrem K om m andanten verbinden. F iner von ihnen, der D eutsch versteht, iiber- setzt mein Anliegen, welches der K om m andan tu r der 11. Division, die vor Linz operiert, überbracht wird. M eine Forderung ist deutlich: Die Panzer- spitze, die aus 2 bis 3 schweren und ebensoviel leichten Panzern mit ihrer M annschaft von ungefahr 30 am erikanischen Soldaten besteht, und weitere 500 Soldaten sollen sofort vorriicken, um die Bewachung des Lagers zu iibernehm en, die etwa 500 SS-M anner, die sich d o rt noch befinden, ebenso wie die Angehôrigen des V olkssturm s und die V erstàrkungstruppen der W iener Polizei entwaffnen. Ich garantiere dem am erikanischen Befehls- haber, dass von der Bevôlkerung kein W iderstand zu erw arten ist. Der Befehlshaber gibt nur seine Z ustim m ung per Radio und m acht mich darau f aufm erksam , dass ich für das Leben eines jeden A m erikaners verantw ortlich bin. M eine zwei Begleiter sollen in einem Panzer Platz nehmen. Lin Ameri- kaner setzt sich neben mich in den Opel und so rollen wir, gefolgt von anderen Panzern, erneut nach St. G eorgen. In dieser G em einde erlebten wir eine freudige Ü berraschung. Die Behôrden und die Bevôlkerung überschüt- teten uns m it D ank, und die A m erikaner w urden wie Befreier begrüsst. U nsere A nkunft in G usen bereitete dieselbe Freude. Im Lager Gusen II begebe ich mich zum K om m andanten, der m ir sein W ort gibt, dass kein Schuss fallen wird und die O rdnung aufrechterhalten bleiben soil. A ber wir miissen schnellstens nach M authausen kom m en, wo die SS den mich errei- chenden N achrichten zufolge ihre V erteidigungsbem iihungen verstarkt. Un- terwegs fahren wir an der Flugzeugfabrik G usen vorbei, wo ich den Ameri- kanern die unterirdischen Hallen und die verm inten Zwischengànge zeige. W ir fahren nach M authausen. Zu m einer Erleichterung stelle ich fest, dass die Panzersperren nicht geschlossen sind. M ein in die Bevôlkerung gesetztes V ertrauen w ar berechtigt. W ir erklim m en die windungsreiche steile Strasse, die zur Festung fiihrt, und schon sieht m an den Schornstein des K rem ato- riums. Die letzte Biegung ist durchfahren, und als ich die K om m andantur erreiche, ist die H akenkreuzfahne heruntergenom m en und die weisse Fahne gehisst. A ber im Lager d roh t eine Revoke auszubrechen. Die Gefangenen steigen au f die Diicher. W as wird wohl geschehen? Es geht je tzt darum , die SS zu entwaffnen. Tausende von H aftlingen unterstützen uns. Die in der M inderheit befindliche SS kann keinen W iderstand leisten. Der Plan ist gelungen. Die dafiir vorgesehenen Haftlinge iibernehmen die Waffen der SS und überlassen sie ihren W achen. Bewaffnete H aftlinge bewachen ihre

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entwaíTneten Peiniger. K olbenhiebe hageln au f die ehemaligen H erren des Lagers niedcr. Brüllend verlassen die H áftlinge die Baracken, und mit Freudenschreien beben sic uns au f die Schultern. W ir kônnen uns kaum ihrer U m arm ungen erwehren. Einer von ihnen setzt sich au f die H aube meines W agens und streichelt sie. Am 5. M ai 1945 waren Punkt 12 U hr m ittags die gesamte SS, der V olkssturm und die H ilfstruppen der W iener Fcuerschutzpolizei entwafifnet. Im Lager herrschte ein Chaos. Die Háftlinge drangen in die Kfichen ein und pliinderten die K om m andantur. Sie beklei- detcn sich m it m ehrcren P aar Hosen und stritten sich um K onservendosen. Es w ar ein unvorstellbares K om m en und Gehen. So plotzlich befreit, betru- gen sich die Háftlinge wie eine H orde W ilder. M an brauchte Zeit, um im Lager etwas Ruhe zu schaffen. Ich dachte an mein Eigentum. M ein Zim m er war ausgeràum t: Koffer, K leidung, W asche fehlten. A ber Eile w ar geboten. Es gilt noch die Lager G usen I und II zu befreien. Ich begebe mich, gefolgt von am erikanischen Panzern, dorthin. Die Entw affnung erfolgt do rt noch schneller als in M authausen. Die M anner legen ihre Wafifen au f einen H aufen, zwei K anister Benzin werden dariiber geschiittet und ein Streich- holz setzt alies in Flam m en. Ein Zug von m ehr als 2000 H âftlingen form iert sich au f der Strasse, aber kein einziger Schuss ist gefallen. Die am erikani­schen W affenbriider schiitteln mir beide H ánde und bitten mich, m it ihnen nach G allneukirchen zu gehen. W áhrenddessen versucht ein H áftling den S tacheldraht zu iiberklettern. Ein A m erikaner feuert in seine R ichtung einen Revolverschuss ab, um ihn zu erschrecken. Dieser Schuss ist das Signal für eine allgemeine Panik. Alies stiirm t au f den D rahtverhau zu. Die A m erika­ner versuchen vergeblich, das Verlassen des Lagers zu verhindern, so wie es ihnen in M authausen gelungen ist. Die aus H âftlingen gebildete W ache ist zu schwach. Befreit stiirm en die Háftlinge quer fiber die Felder in R ichtung der D órfer und Baucrnhofe, um sich Lebensmittel und K leidung zu beschaf- fen. Es gibt do rt Ta ge und N áchte des Schreckens, aber die Lager Gusen und M authausen sind befreit; die grossie Flugzeugfabrik von Ôsterreich ist nicht gesprengt, M aschinen im W erte von 10 bis 20 M illionen F ranken sind gerettet. Die G em einden St. G eorgen, Gusen und M authausen sind vom Kricg verschont geblieben. Die Aufgabe, die ich m ir gestellt habe, ist gelôst: die Lager sind nicht zerstôrt worden, 60 000 M enschen sind befreit, aber die A m erikaner sind noch nicht in Linz, wo die K ám pfe noch toben. ...

An den folgenden Tagen widme ich mich der U m organisation des Lagers. Die ehem aligen H áftlinge verwalten sich selbst unter der Leitung von russi- schen Hâftlingen. Ein zentrales Kom itee w urde aus V ertretern aller N atio- nalitáten gebildet. Die Bewachung funktionierte reibungslos. Eine neue K artei w urde erstellt, nachdem die K artei der K om m andan tu r von der SS vernichtet w orden war.

Am 7. und 8. M ai kam en die A m erikaner und iibernahm en die Leitung der Lager G usen und M authausen.

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XI. - Fahrtenbuch einer vom IKRK delegierten Begleitperson iiber Hire Tatigkeit in Deutschland vom 16. April bis zum 12. Mai 1945 (Ausziige)

D er Delegierte hat sich nach D achau begeben, um dieses Lager zu versor- gen und hier einen standigen Delegierten einzusetzen.

Mittwoch, 18. April 1945. - A bfahrt nach D achau. D er Lagerkom m an- dan t wird uns am N achm ittag em pfangen. Um 14.30 U hr melden wir uns bei der W ache, werden aber wegen Fliegeralarm s nicht vorgelassen. W ir w arten, um 16.00 U hr em pfangt uns der Lagerkom m andant, O bersturm - bannfuhrer Weiter.

Die folgenden Punkte sind m it ihm zu besprechen:

1. M ôglichkeit fur mich, in dem Lager zu wohnen.

2. M ôglichkeit, den F ahrern der K olonne 40 U nterkunft zu geben und die LK W zu parken.

3. Lebensm ittel- und Treibstofflagerung.

4. Verteilung von Lebensm ittelpaketen an die verschiedenen Kom- m andos.

5. V erbindung mit den H àftlingen und ihren Lageraltesten.

6. Verpflegung des IK R K -Personals.

Die Begegnung verlàuft frostig. Die Z igarren m ildern ein wenig die Steif- heit von Weiter. E r sagt uns von vornherein, dass in seinem Lager kein Platz verfügbar sei, aber vielleicht bestünde fur uns die M ôglichkeit, im angren- zenden SS-Ausbildungslager unterzukom m en. Im Hof, den wir von den Bürofenstern aus sehen, bewegt sich eine M enge beklagenswerter G estalten in Lum pen, in weiss und blau gestreiften Pyjamas unablâssig durcheinander. M ehrere tausend sind do rt W ind und W etter ausgesetzt.

W ir gehen m it dem K om m andanten W eiter hinaus und iiberqueren einen anderen Hof, der von Laden, D epots und G aragen umgeben ist, wo sich SS-Leute und Háftlinge eifrig zu schafifen machen. M an beládt einen riesigen G asgenerator-L K W m it Brot. Diese H áftlinge m achen keinen so schlechten Eindruck. A ndere, denen wir draussen begegneten, sind in weniger guter Verfassung.

W ir begeben uns zum A uto und fahren zur H auptkaserne der SS. N ach kurzer W artezeit em pfangt uns ein anderer H auptsturm führer. Die Ver- handlungen werden erneut aufgenom m en. Zum Schluss wird entschieden, dass:

1. ich in Baracke 203, Z im m er 3, OfFiziersquartier w ohnen werde;

2. die F ahrer in der H auptkaserne, Z im m er 331, 4. Stock unterge- brach t werden; ...

8. es verboten ist, sich m it H àftlingen zu unterhalten, ausser in Gegen- w art eines zu diesem Zweck bestim m ten SS-M annes;

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9. wir - ausser den V ersorgungsfahrten - den T ransport von K ranken aus den K om m andos zum K rankenbau des Lagers auszufiihren haben werden;

10. wir gelegentlich und ausnahm sweise Lebensmittel und Kleidungs- stücke aus dem Lager zu den A rbeitskom m andos - z. B. Landsberg - bringen werden.

Um 17.30 U hr sind die V erhandlungen abgeschlossen; ich bleibe allein im Lager. ...

Freitag, 20. April 1945. - Von der SS-Kaserne aus versuche ich, mit dem Leiter der IK R K -D elegation telefonisch V erbindung aufzunehm en. Un- môglich, die Telefonleitungen sind «gestórt». Ich kehre zuriick, um den Lagerkom m andanten zu trefîen. Ich m ôchte m it den an O rt und Stelle befindlichen Lagerâltesten sprechen.

Nach drei Versuchen werde ich em pfangen. Mein A ntrag wird abgelehnt. Ich bitte nun, in Begleitung eines SS-M annes das Lager betreten zu diirfen, was m ir ebenfalls abgeschlagen wird. Mein Ersuchen, m it den ausserhalb des Lagers arbeitenden Gefangenen sprechen zu kônnen, wird vom A djutanten des Lagerkom m andanten, O bersturm führer O tto , gleichfalls zuriickgewie- sen. Ich gehe also wieder in das A usbildungslager zuriick und versuche, mich mit den SS-Ofifizieren bekannt zu m achen. D as ist schwierig. N achdem ich eine Z igarette angeboten habe, glückt es mir jedoch, mit dem einen oder anderen ein G espràch anzuknüpfen. F ast alle haben ihre F rauen im Lager. Aus dem H àftlingslager, jenseits der M auer, hôrt m an kurze D etonationen, die sich am A bend - wie im m er abends - vervielfáltigen.

Samstag, 21. April 1945. - Um 6.00 U hr fahre ich nach U fling1, um mir Anweisungen zu holen. A nkunft gegen 9.00 U hr. D er Leiter der Delegation sagt mir, dass meine LK W nach M oosburg geschickt w orden sind. ...

Dienstag, 24. April 1945. - Um 18.00 U hr A bfahrt nach M oosburg, um aile do rt befindlichen LKW s bis zum Eintreffen des D elegationsleiters zu- riickzuhalten. D er D elegationsleiter hofft, am selben A bend eine schriftliche G enehm igung zu erhalten, die uns das Betreten der K onzentrationslager erm ôglicht, und erw artet den Befehl zur Einstellung der Evakuierung Kriegsgefangener vor dem H eranriicken der A m erikaner. Um 21.00 U hr A nkunft in M oosburg. ...

Donnerstag, 26. April 1945. - 6.00 U hr mit dem fiir M authausen be- stim m ten Delegierten A bfahrt nach M oosburg. Aufgabe: Zusam m enstel- lung der K olonne, die abreisen wird, um M authausen m it Lebensm itteln zu versehen, das Verladen von Lebensm itteln und T reibstoff veranlassen, dem K olonnenchef die Strecke vorschreiben, dann versuchen, nach D achau hineinzukom m en und einen stàndigen Delegierten do rt zurückzulassen.

1 D a m a is H a u p tq u a r t i c r d e r D elega t ion des I K R K in D eu ts ch lan d .

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Um 15.30 U hr A bfahrt nach D achau. Um 17.00 U hr A nkunft in Dachau; im m er noch frostiger Em pfang durch den A djutanten des Lagerkom m an- danten, der sagt, keine Anweisungcn für den Z u tritt eines Delegierten in das Lager erhalten zu haben.

Am nâchsten Tag Rückkehr. R iickfahrt nach Uffing um 21.00 Uhr.

Freitag, 27. April 1945. - 6.00 U hr A bfahrt nach M oosburg mit dem A uftrag, fahrbereite W agen zu kaufen, in D achau vorbeizufahren und eine K olonne für M authausen zu organisieren. A nkunft in M oosburg um 8.30 U hr. Die alliierte Artillerie schiesst weniger als cinen K ilom eter von der Strasse M ünchen-M oosburg entfernt. Um 11.00 U hr meldet mir der franzô- sische Lagerálteste, dass eine aus Franzosen zusam m engestellte K olonne politischer Háftlinge die N acht in M oosburg verbracht hat und fragt an, ob m an sie m it N ahrung versorgen kann.

Gem einsam brechen wir unverzüglich auf, um die Franzosen aufzusu- chen, w áhrend m an einen LK W m it am erikanischen Paketen beladt. N ach- dem wir die K olonne gefunden haben, sind wir um 11.45 U hr zurück und fahren so fort wieder m it einem LK W ab. Die Verteilung beginnt um 12.30 U hr und dauert bis 14.00 Uhr.

Es ist der bewegendste Anblick, den ich jem als gehabt habe. Sobald ich die E rlaubnis zur Lebensm ittelverteilung hatte, habe ich den Z u tritt zum Lastwagen untersagt. Die M anner gingen einzeln vorbei, nahm en ihre Pake- te in Em pfang und begaben sich dann au f die angrenzende Wiese, um ihren Inhalt zu verzehren. Die Russen stürzten sich als erste au f die Lebensmittel. M it M üh’ und N o t hielten die Bewacher sie zurück, sonst w are der LKW in Stücke gegangen. M chrere waren einarm ig und an der anderen H and verletzt. In ihrer zerlum pten K leidung m ühten sie sich ab, ihr Packchen mit den Stüm pfen zu ergreifen und bedankten sich in ihren Sprachen. Tragischer Anblick ihrer plôtzlich auch in Lum pen wiedergefundenen M enschenwürde. A bgem agert, erm üdet und verlaust, gaben sie doch m it tief eingesunkenen Augen ihrer F reude darüber A usdruck, sich endlich sattessen zu konnen.

Die Franzosen und die Polen hielten sich abseits und kam en anschliessend ohne H ast vorbei. F iner von ihnen flüsterte m ir zu - denn es w ar verboten, mit ihnen zu sprechen «K om m andant V., benachrichtigen Sie meine F rau a u f der P ráfek tur in N antes.» D ann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. 807 Pakete w urden an sie verteilt.

Diese M enschen kam en von Buchenwald, waren seit 21 Tagen unterwegs und seit fiinf Tagen ohne N ahrung. Ziel ihres M arsches w ar D achau, aber der sie führende SS-Offizier sagte mir, er wolle sie zu den am erikanischen Linien fiihren.

In Freising versorgten wir noch 182 K ranke ihrer K olonne. Ich kann weder diese aussergewôhnliche Verteilung vergessen noch den M ann, der kam , um sich beim Roten Kreuz, das ihnen «das Leben gerettet» hatte, im N am en seiner K am eraden zu bedanken; unvergessen bleibt auch die uns bei der A bfahrt zuteil gewordene O vation. Z urück in M oosburg um 15.00 Uhr.

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Um 16.00 U hr A bfahrt nach D achau. N ach ciner Reifenpanne A nkunft um 18.00 U hr. Sofortiger Em pfang durch den A djutanten des Lagerkom - m andanten. D er Ton ha t sich geândert. Ich d a rf die Liste der Hàftlinge, die im Lager zuriickbleiben werden, einsehen und überprüfen. Es handelt sich um 15 936 Franzosen, Briten, Belgier, N iederlánder, A m erikaner, S taatsan- gehôrige des britischen Dom inions und Polen. Die andercn - Deutsche, Russen, Italiener, Ô sterreicher und Angehôrige der B alkanstaaten - wurden gemiiss den Instruktionen des Befehlshabers der S treitkràfte in Siiddeutsch- land, G eneral Berger, abtransportiert.

Falls ich die A bsicht habe, am nâchsten M orgen wieder vorbeizukom m en, wird m ir das Lager oflenstehen. M an wird mir endgültig die Listen der verbleibenden H àftlinge übergeben. Die nâherrückenden alliierten Streit- kriifte sollen das Lager vom Roten K reuz übernehm en.

Beim H inausgehen stelle ich fest, dass die Fahrzeuge beladen sind und m an letzte Vorbereitungen fur die Evakuierung triflt. K om m andant W eiter ist bereits abgereist.

Es ist 19.00 Uhr. Die ersten Regentropfen fallen. Als ich die W ache durchschreite, en tlàd t sich ein heftiges Gewitter. Ich fahre nach Ufling. Sieben K ilom eter vor Pasing erblicke ich eine Frauenkolonne, die mit Decken a u f dem K opf in R ichtung der S tadt m arschiert. Ich fahre langsam an der K olonne entlang und frage, ob sich unter ihnen F ranzôsinnen befan- den. N iem and dreht sich um, um m ir zu antw orten, so gross ist die Angst dieser arm en F rauen. V oran m arschiert eine fast ebenso umfangreiche G ruppe M anner.

In scharfem T on wende ich mich an einen der Bewacher an der Spitze, der A chtungsteilung einnim m t, und richte einige Fragen an ihn. Ich erfahre, dass die G ruppe von D achau kom m end nach M ittenw ald m arschiert. Der W àchtcr behauptet, die N a tio n a lis t dieser Leute sei ihm nicht bekannt, fiigt aber hinzu, es handele sich um Juden (was sich spâter als falsch erwies.) Sie seien für drci Tage mit Lebensm itteln versorgt. Da niem and etwas zu tragen scheint ausser den Bewachern, die ihre W aflen bei sich haben, frage ich mich, wo diese Lebensm ittel sind.

Ich fahre weiter iiber Pasing nach Starnberg. Zehn K ilom eter vor dem Ziel stosse ich au f eine Schulter an Schulter geschlossen m arschierende H âftlingskolonne, die die ganze Breite der Strasse einnim m t. D a, wo sie noch nach Reihen gcordnet ist, gelingt es mir, 8 M ann in cinem Glied zu ziihlen.

Ich erreiche S tarnberg an der Spitze der K olonne. Das sind 10 km. Ich bin nicht sicher, ob sich vor m ir noch weitere K olonnen befinden. A uf meine w iederholten Fragen, ob Franzosen unter ihnen sind, erhielt ich keine A ntw ort. M anche G ruppen sangen schwerm ütige slawische Lieder. Es war kalt und regnete in Strôm en. In A bstánden lagen Leichen am Strassenrand.

V or S tarnberg sah ich m ehrere aufgetürm te Leichenberge in einer Hôhe von einem M eter oder mehr. An der Stelle, wo ich zuletzt anhielt, um einen W achter zu fragen, mogen 3-5 solcher Berge gelegen haben. A uf dieser Strecke von 10 km hôrte ich ôfters Schüsse.

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Die K olonne w urde nach rechts und links alle 6 -8 m von M ânnern mit Gewehren abgeschirm t; jeder zweite W âchter w ar von einem H und begleitet. Alle 300 m ungefahr drei oder vier Reihen von je 8 W áchtern ohne Hunde. Gegen 10.00 U hr nach Uffing zuriickgekehrt, schlage ich dem Delegations- leiter sogleich vor, mit der H àlfte einer soeben eingetroffenen LK W -K olon- ne abzufahren, um diese Leute sofort am nachsten M orgen zu versorgen. Die andere G ruppe wird zur Ü bernahm e der versprochenen Archive nach D achau beordert. Sie soil in das Lager einrücken und dort bis zu meiner A nkunft w arten. ...

Samstag, 28. April 1945. - 8.00 U hr A ufbruch, um die H âftlingskolonne zu suchen. Ich fahre nach S tarnberg, wo ich mich inform iere. Von do rt nach W olfratshausen. U nterwegs treffe ich au f einige Reste der K olonne; Tote, in den Hecken vor E rschôpfung H albtote, daneben ein W âchter mit gesenk- tem K arabiner. Seit dem vorhergehenden A bend regnet und schneit es ununterbrochen.

F iin f K ilom eter vor W olfratshausen werden wir von einem SS-M ann angehalten, der eine deutsche F rau verw undet hat. E r bittet uns, sie in das K rankenrevier von W olfratshausen zu iiberfiihren. Er scheint sehr ñervos zu sein. U nterwegs erzàhlt uns diese F rau, dass sie zwei Russen Brot gegeben hat. D er SS-M ann habe sie daraufhin angeschossen. Sie weiss nicht, ob er es ta t, um sie zu bestrafen, oder ob er die Russen, die sich in Sicherheit brachten , verfehlte.

Ü ber K ônigsdorf F ah rt nach Kochel hinauf, ohne weitere «Pyjamas» anzutreffen. Zurtick in Uffing um 13.00 U hr. Um 14.00 U hr m it fiinf Lebensm ittellastwagen A bfahrt nach M ittenw ald m it dem G edanken, die andere Strasse anstelle der am M orgen verfolgten Strecke h inunterzufahren fiir den Fall, dass es m ir nicht m ehr gelingt, ein von uns bewachtes D epot einzurichten, um die durchziehenden M enschen zu versorgen.

D a ich in M ittenw ald die zustàndigen Behorden nicht erreichen konnte, fahre ich m it den LK W wieder au f der N ebenstrasse, die ich am M orgen nicht benutzen wollte, in der Hoffnung, meine H áftlinge zu finden. Von Kochel an bewegen wir uns a u f N ebenstrassen, die a u f der K arte nicht erscheinen. W egen der engen und glitschigen F ah rbahn rutscht ein LKW dreim al in den G raben. Schliesslich kom m en wir bei E inbruch der N acht au f einem Bauernhof, 7 km vor St. H einrich am S tarnberger See an. W ir sind durch den S trom deutscher R ückzugskolonnen vôllig festgenagelt. Ich be- schliesse, meine LK W s do rt zu lassen und nach Uffing zurückzukehren. N ach einer F ah rt m it vielen H indernissen (Sturz des A utos in einen G raben, Behinderung durch Panzerwagen und LK W s) erreiche ich Uffing um 24.45 U hr.

D er D elegationsleiter gibt m ir nun den A uftrag, einen Zug von ungefahr 2500 Juden zu versorgen, der sich au f dem B ahnhof von Bernried in der N àhe von Tuching befindet. V or einer S tunde ist er von der Schweizer Legation gem eldet worden. Anschliessend sollen in einem Lager m it 162 Franzosen in der N àhe von Tuching Lebensm ittel verteilt werden.

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Sonntag, 29. April 1945. - Es ist 1.15 U hr als ich abfahre, um mich wieder m einer K olonne anzuschliessen. M eine Au gen tun m ir weh, weil es sehr m iihsam ist, nachts ohne Licht zu fahren. Die Strecke M urnau-W eilheim wird ohne weiteren Zwischenfall bewàltigt. Im G lauben, A m erikaner vor sich zu haben, werde ich nur einmal von einem M ann angehalten, der mit einem M aschinengewehr bewaffnet ist.

Um 7.45 U hr kônnen wir nach Bernried aufbrechen. Um 8.45 U hr erreichen wir endlich Bernried, finden unseren Zug m it Juden und beginnen m it der Paketverteilung. W ir haben 2621 Pakete ausgegeben. W ir notieren zahlreiche Botschaften fur aile Teile der Welt. Die A ktion ist um 10.30 abgeschlossen.

M it einem LKW fahre ich zur Delegation, um elf für UfTing bestim m te K isten zu verladen, dann m it einem anderen LKW nach H aushofen, um die Franzosen zu versorgen. W ir verteilen 209 Pakete und fahren um 12.50 U hr ab, um die in Bernried stehenden LKW s wieder zu treffen.

N ach den Inform ationen, die wir erhalten, kônnen wir nicht m ehr fiber Weilheim fahren, das seit diesem M orgen von den A m erikanern besetzt ist. Ich beschliesse also, m it einer K olonne von fiinf LKW s, von denen noch zwei beladen sind, nach Ufifing zuriickzukehren. W ir durchqueren eine A rt N iem andsland, das hin und wieder von Soldaten und Truppenteilen belebt ist, die offensichtlich die A nkunft der A m erikaner abw arten, um sich zu ergeben.

W ir benutzen Nebenwege und kom m en fiber M urnau um 14.30 U hr gesund und w ohlbehalten in Ufifing an, anderthalb S tunden vor den A m eri­kanern, m it vollstàndiger K olonne und Personal, zur grôssten F reude und zum Erstaunen aller.

Mittwoch, 2. Mai 1945. - 8.00 U hr A bfahrt nach D achau. Seit fiber drei S tunden versuchen wir vergeblich, dort hinzukom m en. A uf der F ah rt be- sichtigen wir den Zug mit Leichen, der 1 km vom Lager entfernt am Stras- senrand steht. Von d o rt begeben wir uns nach M oosburg. Gegen 20.00 U hr sind wir in Ufifing. ...

Freitag. 4. Mai 1945. - Ich bestelle in M oosburg N ahrungsm ittel fiir ein K om m ando von 160 niederlandischen, franzôsischen und belgischen F rauen, zusâtzlich 1550 Pakete fiir ein Stalag mit franzôsischen Kriegs- gefangenen in W olfratshausen. Anschliessend fahren wir nach M ünchen, um 59 F rauen des K om m andos Agfa zu besuchen. ...

Samstag. 5. Mai 1945. - M it Einverstândnis des D elegationsleiters versu- che ich, die niederlandischen F rauen des K om m andos W olfratshausen zu repatriieren. W ir hofifen, dass das V orhaben m it etwas W agem ut gelingt. Ich verlasse Ufifing um 7.30 U hr und t re fife nach einer Panne um 10.00 U hr in W olfratshausen ein.

Franzôsische Kriegsgefangene reparieren m ir in gew ohnter Hilfsbereit- schaft das A uto. Inzwischen suche ich den K om m andanten des F rauenla-

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gers au f und teile ihm mit, dass ich die nôtige Vollm acht zur Evakuierung besitze. M an verlangt von m ir einen schriftlichen Befehl. Ich verweise dar- auf, dass ich die m iindliche G enehm igung erhalten habe. M an bittet mich, m it der Liste der zu evakuierenden Personen nach Bad Tólz zum 21. Armee- korps zu fahren. Z u r Aufstellung der erforderlichen N am enlisten begebe ich mich in das Lager Fôhrenw ald, wo sich die F rauen befinden. Das dauert vier Stunden.

O hne weiteren Zwischenfall kom m en wir nach Bad Tólz. Im Biiro G. 5 treffen wir D r. Fischer, der m ir m itteilt, dass alle V orbereitungen zur Eva­kuierung getrofien w orden sind und die schriftlichen Anweisungen im H aup tquartier der 7. Arm ee vorliegen. ...

Sonntag, 6. Mai 1945. - Um 9.00 U hr A bfahrt nach M ünchen. K ontak t- aufnahm e m it dem franzôsischen R epatriierungsbüro, um die Evakuierung von 210 franzôsischen politischen H áftlingen zu organisieren. ...

Montag, 7. Mai 1945. - 5.30 U hr A bfahrt zum Oflag in M urnau zur Evakuierung der 210 Franzosen. Ein Delegierter ist beauftragt, 250 Franzo- sen aus M oosburg mit der von diesem Lager abgehenden LK W -K olonne zu evakuieren. In Uffing stehen m ir zum A btranspo rt der 210 Franzosen sechs LK W s zur Verfügung.

Dienstag, 8. Mai 1945. - Um 6.00 U hr A bfahrt nach Ulm. In Ulm müssen wir drei S tunden w arten, bis wir die SchifTsbrücke passieren kônnen. Inzwi- schen haben wir 50 Franzosen, die entweder zu Fuss oder per F ahrrad oder au f am erikanischen LKW s nach Ulm gekom m en sind, aufgenom m en.

W ir setzen unsere F ah rt über Ravensburg, M eersburg, Radolfzell, K on­stanz und Kreuzlingen fort. D er G renzübertritt dauert zwei Stunden. Es ist 21.00 U hr, ais der Zug diesen T ransport m it F ranzosen nach Zürich über- nimmt.

XII. - Bericlit eines Delegierten des IKRK über seine Tatigkeit in Dachau vom 27. April bis zum 2. Mai 1945 (nach dem deutschsprachigen

Originaltext)

I. Die F ah rt m it einer K olonne von Ufifing nach D achau.

II. Die Verteilung der L iebesgabenpakete d irekt an die Hâftlinge.

III. Die Ü bergabe des K onzentrationslagers an die A m erikaner.

I. Am 27. April 1945 erhielt ich den A uftrag, mich in das K onzentrations- lager D achau zu begeben und do rt zu verbleiben. ...

II. Einer W ache des K L D achau gegenüber âussere ich den W unsch, mit dem Lagerkom m andanten zu sprechen. K urz d arau f werde ich vom Adju- tanten des K om m andos, U n tersturm führer O tto , in das Büro des K om m an-

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danten in der K om m andantur, G ebâude Nr. 109 gefiihrt. A uf meine Bitte um Erlaubnis, mich frei im H aftlingslager bewegen zu diirfen, m uss ich jedoch erneut eine Absage einstecken. Der K om m andant erklârt, es sei ihm nicht môglich, m ir eine solche Bewilligung zu erteilen. Des weiteren teilt er ntir m it, dass wir ohne die V erm ittlung von O bergruppenführer K altenbrun- ner, der sich zur Zeit in der U m gebung von Linz aufhalt, keine Genehm i- gung erhalten kónnen. Telefon- und Telegrafennetz seien ausgefallen. was die Angelegenheit zwangslàufig erschwere.

Diese H erren waren sehr froh, von der A nkunft der Lebcnsm ittelpakete zu erfahren. D er K om m andant áusserte m ir gegenüber den W unsch nach sofortiger R epatriierung von ungefahr 17 500 D eportierten, deren Gesund- heitszustand bisher zufriedenstellend war. In dieser Zahl iiberwogen die Franzosen und Polen neben den anderen N ationalitaten; aber die Deut- schen, Juden, Russen und Bulgaren konnten nicht freigelassen werden. Ich antw ortete, ich miisse zuerst mit der D elegation des IK R K in U filng Kon- tak t aufnehm en und das, wenn môglich, schon am morgigen Sonntag. Zum Schluss bat mich der K om m andant, schnellstens eine Sendung Lebensmit- telpakete in das neue K onzentrationslager Ô tztal im Tirol schaflfen zu lassen. Er nannte es nicht «K onzentrationslager», sondern «Verlagerung».

W ir verabschiedeten uns, ohne die Erlaubnis erhalten zu haben, die Lebcnsm ittelpakete den H àftlingen persônlich auszuhándigen. Ich w ar in Begleitung von U ntersturm führer O tto, w àhrend M .M . die K olonne in den H of hereinfiihrte. Ich erhielt dann die G enehm igung, die Pakete den H áft- lingen im H of des Lagers selbst zu iiberreichen. U nter den Hàftlingen herrschte natürlich sehr grosse Freude, weil zum ersten M ai ein Delegierter des IK R K das Lager betreten durfte. SS-Offiziere blieben im m er in unserer N ahc, und ich konnte von ihnen nur unter grossen Schwierigkeiten einige A uskiinfte erhalten, u .a., dass seit dem 1.1.1945 etwa 15 000 durch Typhus verursachte Todesfalle aufgetreten seien und von einem 5000 Hâftlinge um fassenden T ranspo rt aus Buchenwald ungefahr 2700 bei der A nkunft in D achau verstorben waren. Ich erfuhr weiter, dass einige Tagc zuvor H âftlin­ge, unter denen sich F rau Blum, F rau Schuschnigg usw. belanden, zusam- men mit 5 bis 6000 anderen Hàftlingen ab transportiert wurden. M einer A nsicht nach geschah dies, weil die kâm pfende F ron t nàherrückte. Die Lagerâltesten der verschiedenen N ationalitâten entluden, unterstiitzt von ihren Helfern, die Lastwagen und quittierten die beigefügten Em pfangs- bestàtigungen. ... Ich verbrachte die N acht in der Baracke N r. 203, Zim m er Nr. 3, die sich nicht im H aftlingslager befand.

Die N acht von Sam stag au f Sonntag war wegen des im m er naherkom - m enden G efechtslarm s unruhig. Ausserdem trafen in den anderen Baracken zahlreiche SS-Einheiten ihre G efechtsvorbereitungen oder hatten weitere A ufgaben zu erfüllen. Dies alies erfuhr ich aber erst am Sonntagm orgen. Die S tim m ung w ar bedriickend. W o man hinschaute, bem erkte m an Anzeichen, die d a rau f hinwiesen, dass die T ruppen, die sich in den Baracken befunden hatten, gefliichtet waren. D er K am pflarm kam im m er nâher. Um 10.30 U hr sah ich am H aupteingang des K onzentrationslagers w achhabende Soldaten.

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Eine weisse F ahne wehte a u f einem der H aupttiirm e. Die meisten Offiziere, Soldaten und Angestellten batten w áhrend der N acht die F lucht ergriffen.

III. Ich blieb mit U ntersturm führer W ickert bis zur Ü bergabe des Lagers an die A m erikaner. Er batte die Absicht, m it seinen Soldaten das grosse Lager, in dem sich 35 bis 40 000 Háftlinge befanden, zu verlassen. Erst nach langen U nterredungen gelang es mir, ihn von seinem V orhaben abzubrin- gen, aber es w urden folgende Bedingungen gestellt:

die Posten sollten au f den Türm en bleiben, um die H áftlinge in Schach zu halten und ihre F lucht zu verhindern;

die Soldaten, die zur W ache eingeteilt waren, sollten sich unbewaflfnet im H of aufhalten;

der gesam ten Besatzung sollte der Riickzug zu ihren eigenen Linien zugesichert werden.

Gliicklicherweise hielt m an sich an diese Bedingungen. Es ware zu einer K atastrophe gekom m en, wenn Tausende von D eportierten m it Rachegefüh- len ausgebrochen waren. Die dortige Bevôlkerung und des gesam ten angren- zenden Gebietes hâtte darun te r zu leiden gehabt. A ndererseits konnte m an das ganze A usm ass des Schadens nicht vorhersehen, der durch die Ausbrei- tung von Epidem ien verursacht w orden ware. D er Schlachtenlarm wurde unertráglich. Ich bem erkte, dass sich das Kam pfgeschehen schon unm ittel- bar vor den M auern des K onzentrationslagers abspielte. K urz entschlossen nahm ich einen Besenstiel und befestigte ein weisses H andtuch daran. D ann bat ich einen deutschen Offizier, mich zu begleiten, und wir passierten das T or des K onzentrationslagers. W ir befanden uns im Kugelhagel. Ich be­m erkte eine m otorisierte, am erikanische A bteilung, deren A ufm erksam keit ich m it dem W inken der weissen Fahne erregte. Bald waren wir von verschie- denen am erikanischen M ilitarfahrzeugen umgeben. Ich stellte mich vor. Der G eneral bat mich, in Begleitung des deutschen OfFiziers sofort einige Presse- fotos, insbesondere das eines m it Leichen gefiillten Zuges, zu machen. Wie ich spáter erfuhr, handelte es sich dabei um einen H âftlingstransport aus Buchenwald m it 500 Leichen. N ach meiner A nsicht sind viele dieser M en- schen um gebracht worden, w áhrend andere wahrscheinlich verhungert sind. D anach m achte ich die B ekanntschaft von M ajor Every, dem ich den Plan zur Ü bergabe des Lagers an die A m erikaner m itteilte und ihn bat, den G eneral davon zu unterrichten.

W ir kehrten m it dem W agen in den H of des K onzentrationslagers zuriick, wo sich schon einige A m erikaner befanden. Die deutschen T ruppen, die nicht zum W achpersonal gehdrten, hatten sich bereits ergeben. Tausende von deportierten H àftlingen, eine ungeordnete Menge, waren ausser sich und nârrisch vor Freude, sich in Freiheit zu sehen. Die W achen au f den Türm en w urden auch gewechselt. In einem kleinen, ausserhalb gelegenen H of w urde noch gekám pft. Es gab einige T ote au f beiden Seiten. Ich setzte mich persônlich mit dem am erikanischen G eneral in V erbindung. Ich erláu-

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tertc ihm den Plan der Ü bergabe des Lagers und erhielt seine Zustim m ung. Die Frende der H aftlinge kannte keine G renzen mehr. Viele kam en bewaft- net und waren bereit, so schien es, sofortige Rache an den D eutschen zu nehm en. Die sich im Besitz von W afien befanden, w urden entwafTnet. Der M enge gelang es, die grossen Stacheldrahtverhaue aufzureissen. Die einen nutztcn ihre Befreiung, um ans dem Lager zu entkom m en, w ahrend die anderen die am erikanischen Soldaten um arm ten. U m die Ruhe wieder einigermassen herzustellen, waren die A m erikaner gezwungen, einige Schüs- se in die Lu ft abzugeben. Die verantw ortlichen OfFiziere setztcn sich mit dem H aupt-Lageràltesten und den verschiedenen Lageraltesten in Verbindung. Gegen 22.00 U hr w ar das Lager wieder ruhiger geworden, aber in dieser N acht fielen noch viele Schüsse. Gegen M itternacht begab ich mich endlich in meine U nterkunft. Ich bew ohnte in der K om m andantur das Z im m er des deutschen L agerkom m andanten. Ich musste feststellen, dass meine Koffer aufgebrochen waren, verschiedene G egenstânde und 200 Schweizer Franken fehlten. Am M ontag, dem 20. April 1945, setzte ich mich m it einigen verantw ortlichen am erikanischen OfFizieren sowie den Lageraltesten in Ver­bindung. Ich erkundigte mich sofort nach der Verpflegung. F ür die ersten Tage war genug zu essen da. Ich beauftragte dann die Lageraltesten, eine Liste der Lagerinsassen aufzustellen.

Am Dienstag, dem 1. M ai 1945, kam en zwei M itglieder der Schweizer Legation zu einem kurzen Besuch. W ir besichtigten das G efangnis und das K rem atorium , wo wir in einem grossen Raum H underte nackt aufeinander liegender Leichen sahen. W ir besuchten ebenfalls die H inrichtungsstàtte, die G askam m er, die V erbrennungsôfen usw. Den Rest dieses Tages verbrachte ich bei den am erikanischen OfFizieren und den Lageraltesten.

Am M ittw och, dem 2. Mai 1945, hatte ich fast ausschliesslich im am erika­nischen H aup tquartier zu tun, wo die verschiedensten Fragen behandelt werden m ussten. M an bat mich, so schnell wie môglich grosse M engen von Lebensm itteln und M edikam enten herbeizuschafien. M ajor Batt, der für die Verpflegung zustândige Ofïizier, sprach mir seine A nerkennung für die Bem ühungen des Internationalen Komitees vom Roten K reuz und die zuteil gewordene U nterstü tzung aus. Als ich am spâten N achm ittag in mein Z im m er zurückkam , entdeckte ich, dass ich ein zweites Mal bestohlen w orden war. Die Listen von Polen und N iederlandern sowie von ungefahr 160 Jüdinnen hatte ich bereits m itgebracht.

XIII. - Berichl eines Delegierten des IKRK iiber die Befreiung des Lagers Türkheim bei Landsberg

Die dem Befehl von O bersturm bannführer Foerstner unterstellten Lands- berglager setzten sich aus zehn verschiedenen, voneinander getrennten La- gern zusam m en. Die ungefahr 15 000 H aftlinge waren Juden aller N ationali- taten, jedoch in der M ehrheit U ngarn und Polen.

Am 26. April 1945 begaben wir uns nach Landsberg, wo wir feststellen konnten, dass die Lager - mit A usnahm e von 500 Personen in Türkheim -

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geràum t w orden waren. Die Evakuierung dieser H àftlinge vvurde fortge- setzt, und aile Juden hatten grosse Angst, erschossen zu werden.

W ir verlangten vom K om m andanten Foerstner die R ückführung der 15 000 nach D achau überstellten Personen nach Landsberg. D er K om m an- dan t gab uns eine ablehnende A ntw ort und sagte, die von hôherer Stelle em pfangenen Befehle gestatteten es ihm nicht, die H àftlinge nach Landsberg zuriickzubringen.

N ach Türkheim zurückgekehrt, ôffnete ich das Lager und Hess aile H àft­linge hinausgehen, die im Um kreis von 10 km in die benachbarten W àlder flüchteten. N ur 200 Personen zogen es vor, im Lager zu bleiben.

Die N acht verbrachte ich in einer Lagerbaracke. Um zwei U hr m orgens erôflneten die A m erikaner das Feuer au f die Deutschen. Der K am pf spielte sich im Lager selbst ab und dauerte drei Stunden. N ach diesem Zusam m en- stoss w ar das Schlachtfeld m it vielen Leichen bedeckt. Schwerverwundete hob ich a u f und schaffte sie in die angrenzenden Hàuser. Es dauerte einigc Tage, bis sich die M ôglichkeit ergab, sie in ein Lazarett zu überführen, wo sie der Aufsicht eines deutschen Arztes unterstellt wurden.

D a das Lager ohne jede Verpflegung war, begab ich mich zum Bürgermei- ster Zwick - verw andt m it Julius Streicher - und bat ihn dringend, Lebens- mittel ins Lager zu liefern. H err Zwick stim m te diesem Gesuch zu und tat sein Bestes. Ausserdem ging ich zur Schuhfabrik Salam ander, wo ich 500 P aar Schuhe bekam . In einem D epot konnte ich eine Anzahl K leidungsstük- ke requirieren. In der folgenden W oche haben wir gleichfalls einen zweiten Posten Som m erkleidung erhalten kônnen, so dass es den politischen Hàftlin- gen môglich war, ihre Pyjam as gegen anstàndige K leidung auszuwechseln. D er G esundheitszustand im Lager w ar beklagenswert. Die Zahl der von Flecktyphus befallenen K ran ken belief sich au f 80. M it U nterstützung der A m erikaner konnte ich sie ins Park-H otel in W ôrrishofen transportieren. Da Impfstoffe vôllig fehlten, gab es jede W oche drei bis vier Tote. Auch die noch gesunden Hàftlinge hatten kaum noch die K raft zum Essen. Lagerarzt w ar ein Dr. Ratz, ein aus Wien stam m ender Jude. Ein grosser Teil der H àftlinge schlief w àhrend dieser Zeit bei den Bauern in der Um gebung und kam zum Essen ins Lager. W egen des vôlligen Fehlens von T ransportm itteln m usste ich fast aile Wege zu Fuss zurücklegen, d.h . durchschnittlich 40 km pro Tag.

Eine N acht hielten mich ungefàhr 50 Kriegsgefangene und russische A rbeiter fest, die mich in einem B auernhof einschlossen.

Bisher konnte ich eine Liste von 3000 Personen aufstellen, die sich dam ais in der N âhe von Landsberg befanden. W as die Toten anbelangt, wiesen die G ràber au f dem F riedhof keine N am en auf, und die M ehrzahl der Verstor- benen w ar nicht zu identifizieren. Die H àftlinge warteten nicht ab, bis m an die R epatriierung organisiert hatte und traten ihren W eg ohne Papiere an.

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IN H A L T S V E R Z E IC H N IS

E rster T eilScitc

VORW ORT................................................................................................................ 03

Erster W e l tk r ie g .............................................................................................. 06

Die Zeitspanne von 1918 bis 1939................................................................ 08

Zw eiter W eltkrieg .............................................................................................. 11E rste P h a s e .................................................................................................. 12Z w eite P h a s e .................................................................................................. 15D rit te P h a s e .................................................................................................. 17V ierte P h a s e .................................................................................................. 24

Z w eiter T eil

D o k u m e n t a t io n .................................................................................................. 29

E rste P h a s e .................................................................................................. 29Z w eite P h a s e .................................................................................................. 41D ritte P h a s e .................................................................................................. 52V ierte P h a s e .................................................................................................. 78

D ritter T eil

B e r ic h te v o n D e le g ie r te n des i n t e r n a t i o n a l e n K om itees vom R o te n K r e u z ü b e r ih r e T a t i g k e i t z u g u n s t e n d e r in d e n K o n - z e n t r a t i o n s l a g e r n D e u ts c h l a n d s i n h a f t i e r t e n Z iv i lp e rs o - N E N .......................................................................................................................... 89

I. B ericht ü b e r einen Besuch beim K o m m a n d a n te n des L a ­gers A uschw itz (S ep tem ber 1 9 4 4 ) ............................................ 91

II. B ericht über die V erh an d lu n g en d e r IK R K -D e le g a tio n in B erlin m it den deu tschen B e h ô r d e n ........................................... 92

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III. Bericht iiber die Repatriierung von im Lager Ravensbriickinhaftierten F r a u e n ..................................................................... 104

IV. Bericht iiber den Besuch eines Delegierten im Lager R a­vensbriick m it dem Ziel, seine Evakuierung zu verhindern, und iiber die Evakuierten von O ranienburg (Sachsenhau-s e n ) ..................................................................................................... 110

V. Bericht iiber die Evakuierung des Lagers O ranienburg(Sachsenhausen).............................................................................. 118

VI. Bericht iiber die Versorgung der Evakuierten von O ranien­burg (Sachsenhausen) und R a v e n s b r i i c k ............................ 121

VII. Bericht iiber das Lager T h e re s ie n s ta d t ............................... 128

VIII. Bericht iiber die politischen H àftlinge in den Berliner Ge-fá n g n is s e n ....................................................................................... 130

IX. Bericht iiber das Lager M a u th a u s e n ............ 131

X. Bericht iiber die Befreiung des Lagers M authausen . . . 133

XI. Fahrtenbuch einer vom IK R K delegierten Begleitperson 140

XII. Bericht iiber das Lager D a c h a u ....................... 146

X III. Bericht iiber das Lager T i i r k h e im ..................... 149

B I B L I O T H E Q U E

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Année 2006

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