Dr. Karin Scherschel, FSU Jena Bewährungsproben für die Unterschicht - Erwerbslosigkeit und...

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Dr. Karin Scherschel , FSU Jena Bewährungsproben für die Unterschicht - Erwerbslosigkeit und Teilhabe Mitgliederversammlung der ag arbeit in Baden- Württemberg -

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Dr. Karin Scherschel , FSU JenaBewährungsproben für die Unterschicht -

Erwerbslosigkeit und Teilhabe

Mitgliederversammlung der ag arbeit in Baden-Württemberg

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Dörre, Klaus/Scherschel, Karin/Booth, Melanie/Haubner, Tine/Marquardsen, Kai/Schierhorn, Karen (2013): Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Erschienen in der Reihe International Labour Studies - Internationale Arbeitsstudien, Band 3. Frankfurt am Main/New York: Campus.

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Quelle:http://www.taz.de/!120837/, Stand 02.09.2013

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1. Was ist der gesellschaftspolitische Hintergrund unserer Studie?

2. Was sind unsere zentralen Fragen und Thesen?

3. Was sind die zentralen Befunde? 4. Zusammenfassung und Fazit

Gliederung

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(1) Die große Mehrzahl unserer Befragten ist von sich aus und unabhängig von strengen Zumutbarkeitsregeln bestrebt aus der Erwerbslosigkeit herauszukommen oder diese zu vermeiden. Reguläre Erwerbsarbeit gilt mehrheitlich als Norm, die individuell nicht in Frage gestellt werden darf. Erst wenn diese Norm biographisch nicht mehr zu realisieren ist, kommt es zu Umdeutungen und Anpassungen. (2) Das in der Öffentlichkeit kommunizierte Bild passiver Erwerbsloser entspricht nicht der Realität. Die Leistungsbezieherinnen sind mehrheitlich aus freien Stücken aktiv. Häufig handelt es sich um »arbeitende Arbeitslose« mit knappen Zeitbudgets. Ihr Hauptbestreben ist es, eine Position oberhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität zu erreichen.

(3) Die befragten Leitungsbezieher begreifen sich als Angehörige einer stigmatisierten Minderheit, die alles dafür tun muss, um Anschluss an gesellschaftliche Normalität zu finden. Hartz IV wird als Stigma erlebt.

(4) Die Regeln der strengen Zumutbarkeit werden als Disziplinierung und als ein System von Bewährungsproben empfunden, indem die Leistungsbeziehenden beweisen müssen, dass sie arbeiten wollen. Den meisten Befragten gelingt der Sprung in reguläre Beschäftigung allerdings nicht.

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»Ich möchte arbeiten. Wissen sie, ich will meinen Job haben. Ich will mein Geld haben. Ich will, dass ich kaputt bin, wenn ich nach Hause komme. Ich will einen geregelten Ablauf haben. Ich will Freizeit haben. Ich hab jetzt viel freie Zeit. Ich habe keine Freizeit. Ich hab auch keinen Urlaub. Ich hab zwar nix zu tun, aber es ist ja nicht dasselbe. Und ich will das so haben wie alle. Ich will mich über meinen Chef aufregen. Ich will darüber meckern, wie das alle anderen auch machen. Und dann ist für mich die Welt in Ordnung. Dann gibt es auch mal Weihnachtgeld, wenn es auch nicht viel ist, verstehen sie. Aber so komm ich an nix. Das ist wie tot sein.« (Frau Stifter, 47 Jahre alt, erwerbslos)

»Erstens kann ich nicht ohne Arbeiten. Ich hab immer gearbeitet und wir sind noch von der alten Schule. Wir habens ja noch gelernt, dass sich das so gehört.« (Frau Arndt, 40 Jahre alt, Aufstockerin) »Ich bin der Meinung, dass jeder einen Job bekommt, der einen haben will. Definitiv. Und wenns nur kleine Jobs sind. Aber jeder kann das. […] Man muss seine Erwartungen nicht so hoch stecken. Wer arbeiten will, bekommt einen Job. Ganz klar. Und wenn man arbeiten will, dann nimmt man auch einen Job für fünf Eurodie Stunde.« (Herr Krämer, 31 Jahre alt, vollzeitbeschäftigt, Aufstocker)

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Befragte: »Doch, sie werden, sie werden anders angesehen in der Gesellschaft, wenn sie eben eine Arbeit haben. Und ich kann es auch begründen. In meinem Haus wissen sie alle, dass ich arbeite. Aber es weiß keiner, dass ich Hartz IV bin. Und bin ich neulich abends noch mal weggelaufen mit der Aktentasche unterm Arm, weil ich Akten drin hatte, und die wollte ich nicht unbedingt in den Einkaufsbeutel tun, weil, naja, das macht sich nicht gut, wenn die zerknitscht sind, dacht ich mir so, und hatte ein kleines Umhängetäschchen, wo eben meine Papiere und so drinne waren und die Aktentasche unterm Arm. Und da kommt eine Frau aus dem Haus und sagt: ›Oh, sie müssen wohl noch einmal weg.‹ Ich sag: ›Ja, ich muss noch mal weg. Ich bin ganz toll im Stress.‹ Ich hatte ja auch Druck, Druck. Ich sag: ›Ich bin ganz toll im Stress, ich habe heut Abend noch einen Termin.‹ Und da sagt sie: ›So isses nun, die Leute, die Arbeit haben, die können sich vor Arbeit nicht retten, und die Hartz-IV-Empfänger, die sitzen daheime und wissen vor purem Blödsinn nicht, was sie machen sollen.‹ [Stimme verstellt]« Interviewer 2: »Was haben sie da gesagt?« B: »Nichts.« I 1: »Gedacht?« B: »Gedacht habe ich: ›Siehste, halt deine Klappe, sag lieber niemandem, dass du Hartz IV bist.‹ Für einen Moment wollt ich sagen: ›Ah, ah, so isses ja nun auch nicht, ich bin Hartz IV und muss trotzdem abends fortgehen.‹ Ich dachte: ›Nein, halt die Kappe, halt die Klappe und sag nichts.‹ Wenn ich gesagt hätte: ›Ich bin Hartz-IV-Empfänger‹, dann wär wahrscheinlich die Retourkutschegekommen: ›Und da Arbeiten sie jetzt schwarz?‹ oder irgendwas. Das wär dann retour gekommen. Denn anders kannst du denen das nicht erklären. Das ist so.« (Frau Mayer, 59 Jahre alt, Ein-Euro-Job)

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Interviewer: »Ich stelle mir gerade die Frage, wie sie davon leben können?« Befragte: »Tja, es muss. Es muss alles. Da freuen sie sich, wenn [sie] 150 Euro mal im Monat zusätzlich haben, dass sie mal wirklich nicht jeden Tag sitzen und sagen: ›Kannst du morgen in Kaufland gehen und kannst dir das Brot holen? Oder gehst du lieber erst übermorgen, weil du ja noch ein Fitzelchen hast?‹ Und dann muss man sich überlegen, dann muss man ja erst mal einfrosten, weil ja alle drei Tage das Brot verschimmelt ist. Wenn ich drei Tage das Brot draußen liegen habe, dann ist es ja nicht mehr essbar oder nach vier Tagen ist der Käse verschimmelt. Wie viel darf ich denn mir kaufen? Ich kann aber nicht an die Theke gehen, kaufen. Das kann ich mir ja gleich gar nicht mehr leisten, wenn ich mir 100 Gramm Schnittkäse an der Theke kaufe, das sind auch nur vier Scheiben. Da bezahle ich aber fünf Euro und wenn ich mir sieben Scheiben in der Packung kaufe, dann bezahle ich 99 Cent, da schmeißich doch lieber eine Scheibe weg, aber… Nee, da muss ich aufpassen: heute, morgen, übermorgen. Drei Scheiben schmeißt du noch in den Gefrierschrank, damit es noch drei Tage länger reicht.« (Frau Mayer, 59 Jahre alt, Ein-Euro-Job)

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»Es spielt keine Rolle, dass man Jahrzehnte in Lohn und Brot war, einen gewissen Lebensstandard [hatte], (…), aber man hat ein bürgerliches Leben geführt und da wird man jetzt rausgekickt. […] Und, also dieses Finanzielle ist schwer, aber das ist nicht der Punkt, sondern dieser soziale Abstieg… Also, man fühlt sich wie ein Mensch zweiter, dritter Klasse. Und die Behandlung auf den Ämtern ist auch nicht besser, denn das, was die dort in den PCs haben, ist ja nicht die Vita der Betroffenen, sondern halt eben die letzten fünf Jahre.« (Frau Moritz, 59: Jahre alt, erwerbslos)

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Fazit

Ein Großteil unserer Befragten hält trotz zum Teil jahrelanger Erwerbslosigkeit und großer Frustrationen, aufgrund eigener Orientierungen an der Bedeutung von regulärer Erwerbsarbeit fest.

Im scharfen Kontrast zum Klischee der passiven Arbeitslosen sind die LeistungsbezieherInnen zu einem erheblichen Teil ausgesprochen aktiv

Das Bestreben der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, die Eigenverantwortung der Einzelnen zu stärken, verkehrt sich aufgrund der allgegenwärtigen Kontrollmechanismen in sein Gegenteil. Ohnmacht, Fremdbestimmung und Scham dominieren das Erleben eines großen Teils der Leistungsbeziehenden.