Ein Stück Zeitgeschichte · Prenzlauer Berg zieht auf der Suche nach leer stehenden Wohnun- gen,...

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heute 50 Buch Gut, dass wir in Deutschland offenbar die Bürokratie lieben. So wurde nämlich der Moment im Frühjahr 1984 schriftlich festgehalten, in dem die Idee für eine „Schwule Stadtzeitung“ erstmals konkret Gestalt annahm – die Geburtsstunde der SIEGESSÄULE. Der langjährige Mitarbeiter Karl-Heinz Albers hat sich anhand des Originalprotokolls der damaligen Sitzung des Schwulenreferats der FU auf einen Kurztrip in die Vergangenheit begeben und das Dokument für uns kommentiert Das Schwulenreferat der FU, Keimzelle für so viele Aktivitäten. Die erste Insti- tution, die über „Staatsknete“ verfügte. Die gewählten Referenten wurden bezahlt. Auch für mich das erste Mal, fürs Schwulsein bezahlt zu werden ... Auweia, das ist ja mein Kürzel! Geschrieben auf der guten Gabriele. Der erste PC kam erst später ins Team Ich habe dies nicht als Streit in Erinnerung, sondern als spannendes Brainstorming über drei Wochen, jeweils Dienstagabend im Prinz- Eisenherz-Buchladen. In die Endrunde kamen drei Vor- schläge: Pink Panda, Offene Beine und eben Siegessäule Bitte nie wieder öffentliche Redaktionssitzungen, weils einfach genervt hat. Es kam immer mindestens eine an- strengende Person, die kon- struktive Diskussionen im Keim erstickt hat. Das ist heute ähnlich bei Facebook zu beobachten Redaktionsschluss am 20. des Vormonats und das trotz Rubbel-Layout und Kartoffeldruck ... Ein Stück Zeitgeschichte Karl-Heinz Albers arbeitet heute bei der Schwulenberatung Berlin TBS – Treff Berliner Schwulen- gruppen, häufig auch „Thomas- Brüggemann-Stiftung“ genannt. Ohne Thomas wäre vieles nicht über die Idee gekommen, auch diese Zeitschrift nicht FOTO: IVO HOFSTE ***050_057_heute_Buch_Programm 22.09.14 17:46 Seite 50

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heute50 Buch

Gut, dass wir in Deutschland offenbar die Bürokratie lieben. So wurde nämlich der Moment im Frühjahr1984 schriftlich festgehalten, in dem die Idee für eine „Schwule Stadtzeitung“ erstmals konkret Gestalt annahm – die Geburtsstunde der SIEGESSÄULE. Der langjährige Mitarbeiter Karl-Heinz Albers hat sichanhand des Originalprotokolls der damaligen Sitzung des Schwulenreferats der FU auf einen Kurztrip in die Vergangenheit begeben und das Dokument für uns kommentiert

Das Schwulenreferat der FU, Keimzelle für so viele Aktivitäten. Die erste Insti-tution, die über „Staatsknete“ verfügte. Die gewählten Referenten wurden bezahlt. Auch für mich das erste Mal, fürs Schwulsein bezahlt zu werden ...

Auweia, das ist ja mein Kürzel! Geschrieben auf derguten Gabriele. Der erste PC

kam erst später ins Team

Ich habe dies nicht als Streitin Erinnerung, sondern alsspannendes Brainstormingüber drei Wochen, jeweilsDienstagabend im Prinz-Eisenherz-Buchladen. In dieEndrunde kamen drei Vor-schläge: Pink Panda, OffeneBeine und eben Siegessäule

Bitte nie wieder öffentlicheRedaktionssitzungen, weil’seinfach genervt hat. Es kamimmer mindestens eine an-strengende Person, die kon-struktive Diskussionen imKeim erstickt hat. Das istheute ähnlich bei Facebookzu beobachten

Redaktionsschluss am 20.des Vormonats und das trotzRubbel-Layout und Kartoffeldruck ...

Ein Stück Zeitgeschichte

Karl-Heinz Albers arbeitet heute bei derSchwulenberatung Berlin

TBS – Treff Berliner Schwulen-gruppen, häufig auch „Thomas-Brüggemann-Stiftung“ genannt.Ohne Thomas wäre vieles nichtüber die Idee gekommen, auchdiese Zeitschrift nicht

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Die Königinder Nacht

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Sven Marquardt ist so eine richtige Berliner Pflanze.Geboren 1962 in Pankow, wo er heute noch wohnt,verbrachte er sein ganzes Leben in der Stadt. In derDDR machte er sich bereits einen Namen als sub-versiver Fotograf für die Frauenzeitschrift Sibylle.Bis heute stellt er seine Arbeiten weltweit aus. Derjüngeren Generation wiederum ist er hauptsächlichbekannt als der tonangebende Türsteher im Berg-hain – ganze Internetforen beschäftigen sich alleinmit der Frage, wie man an ihm vorbeikommt. Nunerschien in Zusammenarbeit mit der JournalistinJudka Strittmatter seine Autobiografie

> Vielleicht war das Buch für Sven Marquardtein Befreiungsschlag. In nahezu jedem Arti-kel, der zu seiner Autobiografie „Die Nacht istLeben“ erschienen ist, wird wahlweise aufsein beeindruckendes Äußeres – ein Tattoo imGesicht ist anscheinend immer noch extremschockierend – oder auf seine Funktion alsObertürsteher des Berghains hingewiesen.Meist beides im Doppelpack. Und mit gerade-zu einhelliger Enttäuschung verweisen di-verse Rezensenten auf die Tatsache, dass demBerghain nur ein Kapitel in dem Buch gewid-met ist. Die Strahlkraft dieser Berliner Club-institution kann also auch zu einer ArtVerhängnis werden. Zumindest, wenn manan so exponierter Stelle dort arbeitet wie der

Sven Marquardt: „Die Nacht ist Leben“,Ullstein, 224 Seiten,14,99 Euro

Sven Marquardt in jungen Jahren nebeneinem „Vopo“ – einemVolkspolizisten derDDR

52-Jährige, und ihm jeder nur eine Frage stellt: „Würden Sie mich dennreinlassen, Herr Marquardt?“ Der Rest, in diesem Fall der Rest der Per-son, wird zur Nebensache. Nicht umsonst hat er genau dieser Frage –„how to get in“ – nur das eine Kapitel gewidmet, ohne die Frage natür-lich konkret zu beantworten. Das Berghain ist eben nur ein Teilaspektseines Lebens. Und deutlicher könnte er es durch die Reduzierung auflediglich sechs Seiten in seinem Buch kaum machen.Wer deswegen die Lust auf seine Autobiografie verliert, der verpasstein überraschend lakonisch geschildertes Stück Berliner Geschich-te. Der weitaus größte Teil des Buches beschäftigt sich nämlich mitseiner Jugend im damaligen Ostteil der Stadt. Hier gewährt er einenEinblick in den Alltag der DDR, der so gar nichts mit dem bekanntenBild des grauen Angst- und Überwachungsstaats zu tun hat. Die Er-zählungen, wie er mit seinem langjährigen Freund Robert durchPrenzlauer Berg zieht auf der Suche nach leer stehenden Wohnun-gen, um sie nach Nützlichem abzuklopfen wie „altem Hausrat, Fens-tergriffen, Kacheln“, haben fast etwas Verträumtes. Politik, das betontMarquardt mehrmals, spielt für ihn keine Rolle. Dass ihn, den schonfrüh äußerlich Unangepassten, die Staatssicherheit trotzdem unterdie Lupe nimmt, registriert er nur am Rande. Zusammen mit seinenFreunden genießt er lieber sein Dasein als Lebenskünstler und machtdie Nacht zum Tage. Doch ohne Moos nix los, und so, um seiner Mut-ter nicht ständig auf der Tasche zu liegen, kommt er zur einer Aus-bildung zum Fotografen und Kameraassistenten. Die richtigeEntscheidung, wenn man an seinen Erfolg als Künstler nach derWende denkt, obwohl er die Ausbildung ohne ein „Fünkchen Leidenschaft für diese Betätigung“ anging.Generell lernt man Marquardt als sensiblen und nachdenklichen Men-schen kennen. Eine Sache fällt jedoch auf. In vielen Belangen hält ermit nichts hinter dem Berg, seien es zerrüttete Familienverhältnisseoder Feier- und Drogenexzesse. Nur das Thema Beziehung lässt eraußen vor. In der ganzen Biografie kommt nicht ein Freund vor, nichteine große Liebe. Warum das so ist, hätten wir ihn gerne persönlichgefragt. Nur kam, trotz anfänglicher Zusage, dann leider nicht mehrein Interview mit der SIEGESSÄULE zustande. < Roberto Manteufel

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> Der Arztroman ist ein literarisches Genrefür sich. Laut Wikipedia wird er der Trivialli-teratur zugeordnet, die Leserschaft bestehtzu 95 Prozent aus Frauen und – dieser Satzsteht tatsächlich so im Netz – jene „haben denniedrigsten Bildungsstand aller Liebesro-manleserinnen“. Der schwule ErfolgsautorKristof Magnusson, aus seiner Feder stammtdas Theaterstück „Männerhort“, setzt nun of-fenbar seine bisherige literarische Reputati-on aufs Spiel und verpasst seinem neustenBuch kurzerhand genau diesen Titel: „Arzt-roman“. Mutig, könnte man meinen. Oderdumm. Oder einfach nur verdammt schlau.Zumindest, wenn man so schreiben kann wieder Deutsch-Isländer Magnusson.Anders als in den meisten dieser sogenann-ten Unterhaltungsbücher steht bei ihm näm-lich kein männlicher Arzt im Mittelpunkt.Seine Protagonistin heißt Anita Cornelius undsie arbeitet als Notärztin im Berliner Urban-Krankenhaus. Als sie nach einer langenNachtschicht nach Hause kommt, ist dortnichts mehr so, wie es noch vor Kurzem war.Ihr Mann Adrian ist mit seiner neuen Freun-din Heidi zusammengezogen, Sohn Lukas

gleich mit dazu, und auch beruflich hat sie dasGefühl, nicht das erreicht zu haben, was siesich einmal erträumt hatte. Dabei war sieimmer eine Frau gewesen, die das Jammernihrer Altersgenossinnen nicht verstehenkonnte, hatte sie doch alles, was es für ein zu-friedenes Leben braucht: Job, Mann, Kind.Nun scheint es so, als ob wir es hier tatsäch-lich mit einem Arztroman zu tun hätten: EineFrau Anfang vierzig hat auf einen Schlaggenug von der heilen Welt, die sie sich jahre-lang vorgemacht hat. Kristof Magnusson istes jedoch gelungen, das Genre neu zu erfin-den und seine Ärztin nie als naives Mäuschenzu beschreiben. Nein, dank seiner grandiosenMenschenkenntnis erleben wir eine Frau, diezwar nicht immer weiß, was sie will, die aberauf jeden Fall genug hat von der Mittelmäßig-keit ihres bisherigen Lebens. Mit einer beein-druckenden Beobachtungsgabe begleitet derAutor seine Protagonistin in dieser schwieri-gen Neufindungsphase, die geprägt ist vonden aberwitzigsten Absurditäten – privatenund beruflichen, wie zum Beispiel als sieihren Exmann zugedröhnt mit Narkosemittelauf der Toilette vorfindet.Hinzu kommt, dass Magnusson nicht nurdurch medizinisch präzise Erläuterungenund akribische Krankheitsbeschreibungenbeeindruckt. Durch schnelle und lebendigeDialoge gelingt es ihm ebenso auf wunderba-re Weise, Anita Cornelius zu einer Metapherfür ein ganzes Lebensgefühl zu entwickeln,das viele kennen: Alles zu können und dochnichts zu wollen. < Daniel Segal

AngetäuschtWie erfindet man ein Genre neu? Einfach, indemman seinem Buch den Titel einer verpönten literarischen Gattung verpasst – und dann wieKristof Magnusson die Erwartungen nicht erfüllt

Kristof Magnusson:„Arztroman“, VerlagAntje Kunstmann, 320 Seiten, 19,95 Euro

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heuteBuch 53

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> In 36 afrikanischen Staaten steht laut Amnesty International Homo-sexualität unter Strafe, in manchen droht sogar die Todesstrafe. Damitentfällt allein auf Afrika die Hälfte aller Länder weltweit mit einer res-triktiven Homo-Gesetzgebung. Viele Politiker afrikanischer Staatenbegründen das damit, dass Homosexualität ein kolonialer Import sei.Inwiefern diese Homophobie ein Produkt ist, welches die einstigenweißen Kolonialherren mit ihrer christlichen Moral zurückgelassenhaben, wäre ein Thema für sich. Fakt ist hingegen, dass viele Lesbenund Schwule, die in ihrer afrikanischen Heimat verfolgt werden, Asylin Deutschland suchen. Doch selbst in unserer vermeintlich liberalenGesellschaft wird Homosexualität als Fluchtgrund oft nicht ernst ge-nommen. Man erinnere sich an einen Fall aus dem Jahr 2012, als inAugsburg eine Lesbe aus Uganda abgeschoben wurde, weil das Gerichtihre Homosexualität für nicht glaubhaft befunden hatte.Zwei Bücher, die vor Kurzem erschienen sind, setzen sich nun mit derProblematik von Homosexualität in Afrika und Flüchtlingspolitik aus-einander. Zum einen der Roman „Nanas Liebe“ von Sonwabiso Ngco-

Flucht, Gewalt, LiebeHomosexualität ist in vielen afrikanischen Ländern noch immer ein Tabuthema.Selbst wer es als Flüchtling einer sexuellen Minderheit in den vermeintlich sicheren Hafen der EU schafft, kann nicht aufatmen. Zwei Bücher zum Thema

Sonwabiso Ngcowa:„Nanas Liebe“, PeterHammer Verlag,160 Seiten, 15,90 Euro

Maria Braig:„Nennen wir sie Eugenie“, Verlag 3.0,135 Seiten, 11,80 Euro

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wa. Er spielt in Südafrika und erzählt von der14-jährigen Nana, die bei ihrer Oma auf demLand aufwächst. Als diese Geldprobleme bekommt, muss Nana zurück zu ihren Elternin den Township Masi bei Kapstadt ziehen.Das Wiedersehen ist harmonisch, aber merk-würdigerweise warnt ihre Schwester sie ein-dringlich vor Agnes, der Nachbarin, die mitihrem Bruder aus Simbabwe geflüchtet ist.Nichtsdestotrotz fühlt sich Nana zu Agneshingezogen und versteht zum ersten Mal ihreeigenen Gefühle. Als die beiden ein Paar wer-den, erfahren sie Diskriminierung und Ge-walt, aber auch Hilfe und Unterstützungdurch Familie und Freunde, da sich die libe-rale Homo-Gesetzgebung Südafrikas zuneh-mend in der Gesellschaft widerspiegelt. DerRoman hat einen hohen aufklärerischenWert, da der Autor das Buch vorrangig für Ju-gendliche geschrieben hat mit dem Ziel, es inSchulen als Lektüre anzubieten.Der Roman von Maria Braig, „Nennen wir sieEugenie“, deren Einnahmen dem Verein „Exile. V. – Osnabrücker Zentrum für Flüchtlinge“gespendet werden, setzt sich wiederum mitder Verschränkung von Rassismus und Ho-mophobie im deutschen Asylrecht auseinan-der. Die Senegalesin Eugenie muss flüchten,als ihre Eltern sie verheiraten wollen und ihreBrüder herausfinden, dass sie eine Freundinhat – im Senegal wird Homosexualität mit biszu fünf Jahren Haft bestraft. Eugenie, die baldihr Studium beginnen wollte, lässt ihr altesLeben zurück und beantragt Asyl in Deutsch-land. Schnell muss sie jedoch feststellen, dassein Neuanfang hier in weiter Ferne liegt, dadie Gesetze nicht gerade zugunsten der Asyl-suchenden ausfallen. Da sie ihre Verfolgungals Lesbe nicht beweisen kann, bleibt der Fallhoffnungslos. Der drastische und feinfühligeTon des Romans und die eingestreuten Infotexte über Residenzpflicht, Sammel unter-künfte und dergleichen erinnern die Leserin-nen und Leser daran, dass viele solcherGeschichten leider Realität sind – so wie auchdiese Geschichte einem realen Fall nachemp-funden ist. Das Buch lässt einen aufgewühltzurück, vor allem, wenn man sich noch nichtviel mit dem deutschen Asylrecht beschäftigthat. „Nennen wir sie Eugenie“ ist ein Roman,der hoffentlich große Resonanz erfährt. Diskriminierung von Geflüchteten kann garnicht oft und öffentlich genug diskutiert wer-den. < Paula Balov

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heute56 Buch

Hofnarr derHigh Society

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Über Truman Capote gibt es viel zu erzählen. Das machte sich der amerikanische Autor und Journalist George Plimpton (1927–2003) zunutze.Seine Biografie über den skandalumwitterten Literaten besteht nur aus Interviews mit Personen,die ihn kannten – egal, ob Bewunderer oder Feinde.Bereits 1998 erschien sie auf Englisch und mit reich-lich Verspätung ist sie nun endlich auf Deutsch erhältlich. Gerade rechtzeitig: am 30. Septemberwäre Capote 90 Jahre alt geworden

> Kein Zweifel, Truman Capote hätte dieses Buch geliebt. Denn die inPlimptons Biografie versammelte High Society New Yorks und derUS-Kulturschickeria kennt nur ein Thema: ihn selbst. Zu Lebzeitenhat er ihre Partys veredelt, indem er sie zu seiner Bühne machte. Undfür den begnadeten Selbstdarsteller war offensichtlich immer Show-time. Mit quietschender Fistelstimme und sarkastischem Witz läster-te er als every party’s darling über An- und Abwesende, warf mitBonmots und Boshaftigkeiten um sich. Selbst vor dreistesten Lügen-geschichten schreckte er nicht zurück, solange die Pointe gut war. Sosehr der gefeierte Autor von Bestsellern wie dem Großstadtmärchen„Frühstück bei Tiffany“ die Aufmerksamkeit der oberen Zehntausendauch genoss, war er sich doch seiner Rolle als deren Hofnarr bewusst:„Ich bin ein Freak. Die Leute sind fasziniert von mir. Aber sie liebenmich nicht.“ Dieses tragische Missverständnis, seine geradezu krank-hafte Sehnsucht nach Anerkennung und Beachtung, zieht sich durchfast alle Interviews, die der US-Journalist mit über 150 Weggefährtendes 1984 verstorbenen Capote geführt und zu einem Stimmenkon-zert orchestriert hat.Herausgekommen ist eine sogenannte Oral Biography. Unkommen-tiert und ungefiltert, dafür zeitlich arrangiert von Capotes Kindheit inMonroeville, Alabama, bis zum Streit um seine Urne, wird hier geho-bener Klatsch zelebriert, werden Anekdoten erzählt und Fieses wieLiebenswertes kolportiert. Freunde und Feinde, Liebhaber und ande-re Verehrer hat Plimpton in den Zeugenstand geholt, darunter Auto-ren wie Norman Mailer und Paul Bowles, Schauspielerinnen wieLauren Bacall und Mia Farrow, doch genauso seinen Erzfeind GoreVidal. Unter den fast 500 Seiten findet sich reichlich Geplapper, aberauch viel Erhellendes. Zum Beispiel, dass Capote sein auf Dauer of-fenbar schwer zu ertragendes affektiertes Gehabe sofort abgelegthabe, sobald er sich unter den Menschen wohlfühlte. Dann ver-schwand auch sein quäkiger, femininer Tonfall, den er sich eigens an-trainiert hatte. Denn auch seine Exzentrik war wohlkalkuliert. Capotezelebrierte sich als schrille Kunstfigur und wusste zu genau, was seinPublikum von ihm erwartete. Inwieweit sein kultureller Snobismus Attitüde oder wahrer Kern sei-ner Persönlichkeit war, bleibt unklar. So wird zum Beispiel eine Eu-ropareise mit – natürlich reichen – Freunden zum Desaster. Er machtin Paris einen Bogen um den Louvre und ein Besuch des Petersdomslangweilt ihn derart, dass er hysterisch wird. „Er hatte überhauptkeine Kultur. Er wusste nichts über europäische Literatur“, lästert dieRedakteurin Eleanor Perényi. Auch in sexueller Hinsicht bleibt Capoteein Rätsel. Er will mit Priestern, Politikern und Errol Flynn im Bett ge-wesen sein. In Liebesangelegenheiten suchte er hingegen die größt-mögliche Herausforderung: verheiratete Männer ohne schwuleVorerfahrung. So wie Danny, der 1968 zu ihm ins Haus kam, um dortdie Klimaanlage zu reparieren – und blieb. So lange wie der es ertrug,von Capote in maßgeschneiderte Anzüge gesteckt und als „heterose-xuelle Trophäe“ herumgezeigt zu werden. < Axel Schock

Truman Capote im Jahr 1955

George Plimpton:„Truman Capotes turbulentes Leben“, Rogner & Bernhard,496 Seiten, 29,95 Euro

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Seitenblick> Enttäuschungen gehören leider aus unerfindli-chen Gründen zum Leben dazu. Warum also nicht in diese neue und ohne Frage ganz wunderbareBuchkolumne mit einer waschechten Enttäuschungstarten? Quasi so total nah am Leben. Klar, ich hätteauch lieber mit etwas Aufmunterndem begonnen,aber dafür hätte Dave Eggers einfach ein besse-res Buch schreiben müssen. Hat er aber nicht. Undda ich mich auf sein „Der Circle“ (Kiepenheuer &Witsch), das in der FAZ sogar mit Klassikern wie Orwells „1984“ verglichen wurde, wirklich freute,war ich im Nachhinein umso mehr enttäuscht. Ichwill gar nicht groß auf dem einfallslosen Storytellingoder den ungemein eindimensionalen Figuren inseinem Buch über den unaufhaltsam prosperieren-den Internetkonzern „Circle“ rumreiten. Was michaber erstaunte, war das Label Dystopie, mit demdieser Aufreger der Saison generell versehen wurde.Dystopie? Was Eggers da seinem fiktiven Circle an-dichtet, sind größtenteils Verhaltensweisen und Ser-viceangebote, die man bei Amazon, Google oderFacebook längst beobachten und finden kann. VonZukunftsmusik also keine Spur. Anders gesagt: ichfühlte mich verarscht. Ich könnte sogar darlegen,warum dieses Buch nicht mal ein Roman ist, aberdafür ist mir der Platz hier zu schade. Denn so wie das Leben Enttäuschungen parat hält,so hält es auch schöne Überraschungen bereit. Unddafür zählt für mich „Nüchtern. Über das Trin-ken und das Glück“ (Hanser Verlag) von demJournalisten Daniel Schreiber. An sich ging mirerst mal der Arsch auf Grundeis bei dem Gedanken,das Buch eines ehemaligen Alkoholikers zu lesen,der über seine Erfahrungen mit der Abhängigkeitberichtet. Ich befürchtete die denkbar schlimmstemoralinsaure Predigt. Doch von wegen! Nicht nur

heuteVielleicht fällt demeinen oder anderenauf, dass im Buchteiletwas anders ist. Richtig, die Kurzrezen-sionen sind weg!Stattdessen werden absofort jeden Monatverschiedene Literatur-expertInnen ihren ganzpersönlichen Blick auf aktuelle Bücher undThemen wagen. DenAnfang macht SIEGES-SÄULE-BuchredakteurRoberto Manteufel

Buch 57

hat der Bericht über seine Abhängigkeit – die unzähligen Black-outs, die Angst bei dem Gedanken, nie wieder einen Tropfen an-zurühren – an keiner Stelle etwas Belehrendes. Zudem verknüpfter intelligent seine Erfahrungen mit einer knallharten Analysedes Umgangs mit Alkohol hier in Deutschland und zeigt auf, wiesehr Bier und Co. unseren Alltag bestimmen. Und wie schwer esscheinbar in unsere Köpfe reingeht, dass Alkoholismus keineSchwäche des Charakters ist, sondern eine wirkliche Krankheit.Die zahlreichen Studien, Statistiken und Zitate, die der fleißigeSchreiber zusammengetragen hat, tun da ihr Übriges. Nur einBeispiel: So seien laut einer Erhebung von der Bundeszentrale für Gesundheit 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bereits„alkoholabhängig oder stehen an der Schwelle zum Alkoholis-mus“. Zugleich wurde das Buch für mich zu einem aufreibendenAbenteuer, da ich mich natürlich fragte, wie es um mich undmeine eigenen Trinkgewohnheiten steht. Erst recht, wenn manals Schwuler in Berlin lebt – so wie der Autor selbst –, in dem dieAusgehkultur und der Rausch zum Alltag gehören. Die Antwortverrate ich jetzt aber nicht.Im Übrigen habe ich nichts gegen Bücher, die nun nicht gleichmeinen Lebensstil infrage stellen oder die mich zutiefst enttäu-schen. Und für so eine sichere schöne Lektürenummer kann ichwärmstens Bernhard Schlinks „Die Frau auf der Treppe“(Diogenes) empfehlen. Gut, es ist kein zukünftiger Welthit vongroßer inhaltlicher Tragweite wie sein „Vorleser“, aber es liestsich in einem Atemzug weg. Und es zu schaffen, ein Buch ausder Ichperspektive zu erzählen, ohne dass einmal der Name desProtagonisten fällt, ist echt eine Kunst für sich. Nicht ganz so ele-gant geschrieben kommt dagegen Angelika Felendas „DerEiserne Sommer“ (Suhrkamp) daher. Für Fans von Kriminalge-schichten vor historischem Hintergrund ist das Buch dennochwas. Ihr Kommissar ermittelt im Sommer 1914, kurz vor Kriegs-ausbruch, rund um eine Mordserie im homosexuellen Milieu,und Felenda hat in Sachen Recherche bravourös ihre Hausaufga-ben gemacht. Mein Lebensfazit daher für dieses Mal: Geht nichtim Kreis, sondern fallt lieber nüchtern eine Treppe runter! <

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