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Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frlihen Neuzeit Von Stefan Brakensiek, Essen Die Ausdifferenzierung von Verwaltungsbehorden aus der Hofhaltung der FUrs- ten markiere den Beginn modemer Staatlichkeit in Europa - so oder ahnlich formu- lieren es die alteren HandbUcher zur Geschichte der Fruhen Neuzeit und namentlich die Uberblicke zur Verwaltungsgeschichte l. Die deutschsprachige Historiographie verband damit traditionelI eine Geschichte des Fortschritts: In ihr erscheint der bU- rokratische Militar- und Machtstaat als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum modemen Anstalts- und Verfassungsstaat. Von dieser ,staatsfrommen' Perspektive ist die Geschichtsschreibung vollkommen abgeruckt. Selbst die Idee vom absoluten FUrstenstaat 2 erscheint mittlerweile weitgehend dekonstruiert. An die Stelle eines Bildes unbeschrankter FUrstenmacht sind Vorstellungen getreten, denen zufolge be- grenzt kooperationsbereite Untertanen und standische Eliten die Machtvollkommen- heit der Fiirstenstaaten einhegten beziehungsweise deren Autoritat fUr eigene Zwe- cke nutzten 3 . Auch die BUrokratie, die traditionelI als ein Werkzeug in Handen der FUrsten und ihrer Minister gesehen wurde, hat im Zuge neuerer Forschung ihre funk- tionale Eindeutigkeit eingebUBt. Zwar dominiert weiterhin die auf Max Weber zu- rUckgehende Vorstellung, dass Herrschaft im Alltag Verwaltung sei. Wenn sich die fiirstlichen Herrschaftszentralen mit unUbersehbaren Problemen konfrontiert sahen, wird dies jedoch meist mit der Unabgeschlossenheit des Staatsbildungspro- zesses, mit den widerstreitenden Interessen von Amtstragern und Adelseliten oder mit der Traditionsgebundenheit der Gesellschaften insgesamt erkl1irt. Es sei auch l Peter Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350-15(0) in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spatmittelalter bis zum Ende des Reiches, hrsg. von Kurt G. A. JeserichiHans PohIJGeorg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1983,21-65,35-49 (Konigliche Verwaltung im Spatmittelalter), 54-58 (Reichs- verwaltung); Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spatmittelalterlichen Landesherrschaft, in: ebd., 66-143, 109-114 (Herausbildung landesherrlicher Rate). 2 Ein Indiz dafiir ist beispielswiese die Umbenennung von Band 11 des Oldenbourg GrundriB der Geschichte. Die ersten drei Auflagen trugen den Titel Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, Miinchen 1989-1998. Die vierte Auflage firmiert unter Heinz Duchardt, Barock und Aufklarung, Miinchen 2007. 3 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsge- schichte Europas von den Anfången bis zur Gegenwart, 2., durchg. Aufl., Miinchen 2000, 183-235.

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Einleitung:Herrschaft und Verwaltung

in der Frlihen Neuzeit

Von Stefan Brakensiek, Essen

Die Ausdifferenzierung von Verwaltungsbehorden aus der Hofhaltung der FUrs-ten markiere den Beginn modemer Staatlichkeit in Europa - so oder ahnlich formu-lieren es die alteren HandbUcher zur Geschichte der Fruhen Neuzeit und namentlichdie Uberblicke zur Verwaltungsgeschichte l. Die deutschsprachige Historiographieverband damit traditionelI eine Geschichte des Fortschritts: In ihr erscheint der bU-rokratische Militar- und Machtstaat als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zummodemen Anstalts- und Verfassungsstaat. Von dieser ,staatsfrommen' Perspektiveist die Geschichtsschreibung vollkommen abgeruckt. Selbst die Idee vom absolutenFUrstenstaat2 erscheint mittlerweile weitgehend dekonstruiert. An die Stelle einesBildes unbeschrankter FUrstenmacht sind Vorstellungen getreten, denen zufolge be-grenzt kooperationsbereite Untertanen und standische Eliten die Machtvollkommen-heit der Fiirstenstaaten einhegten beziehungsweise deren Autoritat fUr eigene Zwe-cke nutzten3. Auch die BUrokratie, die traditionelI als ein Werkzeug in Handen derFUrsten und ihrer Minister gesehen wurde, hat im Zuge neuerer Forschung ihre funk-tionale Eindeutigkeit eingebUBt. Zwar dominiert weiterhin die auf Max Weber zu-rUckgehende Vorstellung, dass Herrschaft im Alltag Verwaltung sei. Wenn sichdie fiirstlichen Herrschaftszentralen mit unUbersehbaren Problemen konfrontiertsahen, wird dies jedoch meist mit der Unabgeschlossenheit des Staatsbildungspro-zesses, mit den widerstreitenden Interessen von Amtstragern und Adelseliten odermit der Traditionsgebundenheit der Gesellschaften insgesamt erkl1irt. Es sei auch

l Peter Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter(ca. 1350-15(0) in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spatmittelalter bis zumEnde des Reiches, hrsg. von Kurt G. A. JeserichiHans PohIJGeorg-Christoph von Unruh,Stuttgart 1983,21-65,35-49 (Konigliche Verwaltung im Spatmittelalter), 54-58 (Reichs-verwaltung); Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spatmittelalterlichenLandesherrschaft, in: ebd., 66-143, 109-114 (Herausbildung landesherrlicher Rate).

2 Ein Indiz dafiir ist beispielswiese die Umbenennung von Band 11 des OldenbourgGrundriB der Geschichte. Die ersten drei Auflagen trugen den Titel Heinz Duchhardt, DasZeitalter des Absolutismus, Miinchen 1989-1998. Die vierte Auflage firmiert unter HeinzDuchardt, Barock und Aufklarung, Miinchen 2007.

3 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsge-schichte Europas von den Anfången bis zur Gegenwart, 2., durchg. Aufl., Miinchen 2000,183-235.

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nicht in Abrede gestellt, dass Probleme bei der ,Umsetzung' von Gesetzen und furst-lichen BefeWen damit zu tun hatten, dass die ,ausfiihrenden' Behorden, insbesonderedie Behorden in der Provinz, zu schwach besetzt waren, mit unzureichend ausgebil-detem Personal zurechtkommen mussten und in einem gesellschaftlichen Umfeldagierten, das ihnen entweder feindlich entgegentrat, oder sie so weitgehend in dievorherrschende Patronagelogik des Gebens und Nehmens einband, dass der Willedes Flirsten zu einem Faktor unter vielen reduziert wurde4

• Zu fragen ist freilich,wie das Verhaltnis zwischen furstlicher Herrschaft und Administration beschaffenwar, und ob Befehl und Gehorsam tiberhaupt den vorherrschenden Modus ihrer Kom-munikation bildete.

Hier setzen die Artikel dieses Bandes an, indem sie den Formen der Kommuni-kation nachgehen, die das Feld administrativen Handelns strukturierten. Es gehtdabei um die Bedingungen der Moglichkeit herrschaftlichen Handelns qua Verwal-tung. Damit schlieBt sich der Band den jtingeren Konzepten zur Erforschung derguten Policey an, die nicht langer von der Durchsetzung ftirstlicher Initiativen, son-dem von der Implementation von Ordnungsvorstellungen handeln5. Freilich spielenan dieser Stelle die Inhalte solcher Ordnungsentwtirfe keine Rolle, hier geht es statt-dessen um die Analyse der Kommunikationsprozesse selbst, um dadurch das Verhalt-nis von Herrschaft und Verwaltung genauer bestimmen zu konnen6. Einige Beitrageakzentuieren das kommunikative Handeln von Akteuren im Rahmen von Verfahren7,

mithin in herrschaftlich geformten administrativen Settings. Damit gerat das Drei-ecksverhaltnis zwischen Ftirstenherrschaft, Verwaltung und Untertanen in denBlick. Auf andere Weise gilt das auch flir jene Artikel, die sich mit der Sprache

4 Die Forschung zur Stellung des Klientelismus innerhalb des europaischen Staatsbil-dungsprozesses ist nahezu uniibersehbar. FUr die deutschsprachige Forschung maBgeblichWolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen - "Verflechtung" ais Konzept zur Erforschunghistorischer Fiihrungsgruppen. Riimische Oligarchie um 1600 (Schriften der PhilosophischenFachbereiche der Universitiit Augsburg, 14), Miinchen 1979. Europaische Uberblicke beiAntoni Mqczak (Hrsg.), K1ientelsysteme im Europa der friihen Neuzeit, Miinchen 1988; Ro-nald G. Asch/A. M. Birke (Hrsg.), Princes, patronage, and the nobility. The court at the be-ginning of the modem age c.1450-1650, Oxford 1991; Charles Giry-Deloison/Roger Mettam(Hrsg.), Patronages et clientelismes 1550-1750 (France, Angleterre, Espagne, Italie), Lille1995; Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engeis (Hrsg.), Integration, Legitimation, Kor-ruption. Politische Patron age in Friiher Neuzeit und Moderne, Frankfurt am Main u. a. 2011.

5 Michael Stolleis/Karl HarterlLothar Schilling (Hrsg.), Policey im Europa der FriihenNeuzeit (lus Commune, 83), Frankfurt am Main 1996; Karl Harter (Hrsg.), Policey undfriihneuzeitliche GeselJschaft (lus Commune, 129), Frankfurt am Main 2000; Achim Land-wehr, Policey im Alltag. Die Implementation friihneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg(Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt am Main 2000.

6 Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einfiihrung: Kultur und Kommunikation in poJitisch-administrativen Systernen der Friihen Neuzeit und der Moderne, in: 1m Schatten der Macht.Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600- 1950, hrsg. von Stefan Haas/MarkHengerer, Frankfurt am MainINew York 2008,9-22.

7 Barbara Stollberg-Rilinger/Andre Krischer (Hrsg.), Verfahren, Verwalten und Verhan-deln in der Vormoderne (Beiheft der ZHF, 44), Berlin 2010.

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der Verwaltung befassen8, die mithin das Medium dieser Kommunikation problema-tisieren. SchlieBlich fokussieren mehrere Beitrage den Organisationscharakter vonVerwaltungen9, um der Frage nachzugehen, ob administratives Handeln - wie iibli-cherweise behauptet wird - auf herrscbaftliche Initiativen zuriickging, oder inwie-weit bestimmte Handlungsweisen aus dem Prozess des Verwaltens auch ohneZutun der fiirstlicben Zentrale erwucbsen.

I. Konzepte

Den Ausgangspunkt bilden die konzeptuellen Uberlegungen, die dem EssenerProjekt "Herrschaftsverrnittlung in der Friihen Neuzeit" zugrunde lagen. Danach be-darf jede Herrschaft der Vermittlung ihrer Ziele und Zwecke an die Betroffenen.Hierzu wurden in den Fiirstenstaaten spezifische Verfahren entwickelt, die der Kom-munikation zwischen herrschaftlicher Zentrale, Behtirden und Untertanen eine Formgaben. Bei den im Projekt untersuchten Verfahren handelt es sich zum einen um Sup-plikationen, zum anderen um Visitationen und Berichte, die von Untertanen einge-holt oder behtirdlicherseits iiber sie verfasst wurden. Diese Verfahren machten einenwesentlichen Teil des zeitgentissischen VerwaltungshandelnslO aus. Wegen ihrer Ei-genscbaft, der Kommunikation zwischen Obrigkeiten und ,Administrierten ' eineForm zu verleihen, bildeten Eingaben, Berichte und Visitationen pragende Elementeder politiscben Kultur des Ancien Regime. Wir sind mit der Erwartung an die Pro-jektarbeit berangegangen, dass die Untersuchung der entsprechenden Akteniiberlie-ferung zur Klarung einiger grund legender Fragen beitragen kano, inwieweit namlichsolche Verfahren zur Funktionsfåhigkeit der Fiirstenstaaten beitrugen, ob Sie Cban-cen zur Teilhabe zumindest fiir Teile der Untertanenschaft ertiffneten, inwiefern siezur Legitimitat des Fiirstenregiments beitrugen, und ob man verfahrensbasierte Lern-prozesse auf Seiten der Obrigkeiten und der Untertanen erkennen kann.

Fiir Kommunikationsprozesse unter Ungleichen wird vielfach der Begriff Aus-handeln von Herrschaft verwendet. Dabei handelt es sich um einen Terminus, derlediglich den universell giiltigen Umstand benennt, dass jeder Herr der Kooperation

8 Lutz Raphael, Die Sprache der Verwaltung. Politische Kommunikation zwischen Dorfund Verwaltern, in: Landgemeinden im Ubergang zum modemen Staat. Vergleichende Mi-krostudien im linksrheinischen Raum, hrsg. von Norbert Franz u. a., Mainz 1999, 183-206.Weitere Nachweise tinden sich in den Beitragen von Klaus Margreiter und Stefan Haas.

9 Es sei auf die Artikel von Birgit Nather, Stefan Haas und Birgit Emich verwiesen mitausflihrlichen Nachweisen der organisationssoziologischen und neoinstitutionalistischen Li-teratur.

10 Das Projekt befasst sich weder mit der Heeres- und Finanzverwaltung, noch mit justiz-formigen Verfahren. Es war den Beteiligten bewusst, dass fast nirgends in den frtihneuzeitli-chen Ftirstenstaaten eine sauberliche Trennung zwischen allgemeiner Verwaltung, Kammer-verwaltung und Justiz bestand. Die untersuchten Aktenbestande zeugen entsprechend von derjuristischen Expertise der ausfertigenden Amtstrager, sie wurden jedoch nicht in gerichtlichenVerfahren verwendet. Insofern erscheint uns der anachronistische Begriff ,Verwaltungshan-deln' verzeihlich.

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seiner Untergebenen bedarf. Diese Grunderkenntnis greift das Konzept Herrschafts-vermittlung zwar auf, bezieht jedoch die friihneuzeitlichen Amtstrager als Verrnittlerund die epochenspezifischen Institutionen der Verrnittlung systematisch in die Ana-lyse ein ll. Mit empowering interactions hat Andre Holenstein 12 einen weiteren zen-tralen Aspekt dieser verfahrensbasierten Kommunikation auf den Begriff gebracht:Indem sich Untertanen an eine Behorde oder direkt an den Fiirsten wandten, schrie-ben sie ihnen Macht zu, die sie ohne dieses Ersuchen nicht gehabt hatten. Sie verhal-fen dem Landesherren und seinen Behorden dariiber selektiv zu Informationen, zu-gleich fragten sie autoritative Ressourcen ab, die ihren Forderungen gegeniiber Drit-ten Geltung verschaffen sollten. Unseres Erachtens werden mit Herrschaftsvermitt-tung und empowering interactions zwei unterschiedliche Blickrichtungen auf dasgleiche Phanomen eingenommen.

Die Analyse von Berichtsverfahren, Supplikationen und Visitationen riickt dieSchnittstellen von fiirstlicher Herrschaftssphare, obrigkeitlicher Verwaltung und Un-tertanenschaft ins Zentrum des Interesses. 1mFokus der gemeinsamen Arbeit stehendie kommunikativen Prozesse, die zwischen diesen verschiedenen Akteursgruppenabliefen. Wir haben auf der Grundlage von vier regionalen Fallstudien untersucht,inwieweit Verfahren, welche die Kommunikation zwischen Untertanen und Fiirsten-staat rahmten und formten, den Landesherrschaften Zugang zu Informationen eroff-neten, die zur Kontrolle und Disziplinierung der zustandigen Verwaltungen, aberauch der Grundherrschaften des Adels und der kirchlichen Institutionen genutzt wer-den konnten. Eine auffållige Gemeinsamkeit der untersuchten Verfahren bestehtnamlich darin, dass sie verschiedene Formen der Dreiecks-Kommunikation generie-ren. Solche Triangutierung fiigte partizipative Elemente in das Herrschaftssystemein. Durch die Einbeziehung von Untertanen in die Herrschaftskommunikationkonnte ein beachtliches Kontrollpotential der Fiirsten gegeniiber ortlichen und regio-nalen Obrigkeiten aufgebaut werden, dessen Realisierung allerdings mit einem enor-men Aufwand verbunden war.

Wir sind zunachst von der Hypothese ausgegangen, dass funktionierende Formenvon Dreiecks-Kommunikation zwischen fiirstlicher Zentrale, regionalen bezie-hungsweise lokalen Amtstragem und Untertanen geeignet waren, die Legitimitateines Regiments insgesamt zu starken 13. Zunehmend stellte sich uns jedoch die

11 Stefan Brakensiek, Herrschaftsverrnittlungim alten Europa. Praktiken lokaler Justiz,Politik und Verwaltungim internationalen Vergleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren?Herrschaftsverrnittlungim alten Europa, hrsg. von Stefan BrakensiekiHeideWunder,Kiiln!WeimariWien2005, 1-2L

12 Andre Holenstein, Introduction: Empowering Interactions. Looking at StatebuildingfromBelow,in: EmpoweringInteractions.PoliticalCulturesand the Emergenceof the State inEurope 1300-1900, hrsg. von Wim BloclananslAndre Holenstein!JonMathieu, Farnham2009,1-3L

13 Stefan Brakensiek, Legitimation durch Verfahren? Visitationen, Supplikationen,Be-richte und Enqueten im frtihmodernenFiirstenstaat, in: Barbara Stollberg-Rilinger/AndreKrischer,Herstellungund DarstellungvonEntscheidungen,363-377.

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Frage, ob diese Annahme grundslitzlich berechtigt ist, oder ob nicht das fiirstlicheVersprechen, Gehor zu gewlihren, angesichts der Realitliten friihmodemer Staatlich-keit oftrnals eher fur Frustrationen bei den adressierten Untertanen sorgte und da-durch erhebliche Risiken barg. Legitimitlitsgewinne auf der Grundlage von Herr-schaftsvermittlung setzten jedenfalls Erreichbarkeit, Zuglinglichkeit, Bezahlbarkeitund relative Verllisslichkeit der Gerichte und Behorden voraus.

In diesen Hinsichten lassen sich in Europa groBe Unterschiede erkennen. Zahlrei-che Fiirsten des Alten Reichs haben im 17. und 18. Jahrhundert besonders ausgeprligtauf die ganze Breite der herrschaftsverrnittelnden Kommunikationsformen gesetzt.Veranlasst wurden sie dazu durch mehrere Faktoren, die es ihnen geraten erscheinenlieB, ihre Legitimationsbasis moglichst zu verbreitern: ihre vielfach durch die ande-ren Reichsstlinde moderierte und kontrollierte Stellung innerhalb des Reichsverban-des, die konfessionelle Konkurrenz unter den Fiirstenstaaten, die Tendenz zur Ver-rechtlichung von Konflikten, die von den Reichsgerichten und den landesherrlichenGerichten gleicherrnaBen getragen wurde, schlieBlich auch die vergleichsweise be-scheidene Dimension der meisten Territorien. Da geboten es die politische Klugheit,das Vorbild anderer Fiirsten und die eigene dynastische Tradition, ein ,offenes Ohr'fiir den ,gemeinen Mann' zu haben und diese Bereitschaft auch ostentativ gegeniiberder territorialen und der Offentlichkeit des Reichs zu demonstrieren. Zu diesemZweck wurden mit Supplikations- und Berichtswesen sowie mit Visitationen Kom-munikationswege vorgehalten, auf denen sich die Untertanen immediat beim Fiirstenbeschweren konnten. Auf diesen ,hausvliterlichen' Herrschaftsstil der Reichsfiirstenist die Bezeichnung akzeptanzorientierte Herrschaftl4 gemiinzt. Im Rahmen des Pro-jekts sind insbesondere Corinna von Bredow und Hanna Sonkajlirvi der Frage nach-gegangen, ob es gerechtfertigt ist, das Konzept akzeptanzorientierter Herrschaftauch auf eine groBe zusammengesetzte Monarchie wie das Imperium der Habsburgerzu iibertragen.

In regionalen Fallstudien wurden sowohl die normativen und organisatorischenGrundlagen der administrativen Verfahren als auch die Praxis des Verwaltungshan-delns untersucht. Wir haben dabei zunlichst eine Perspektive eingenommen, die inder Tradition der biirokratietheoretischen Annahmen von Max Weber steht, wonachHerrschaft im Alltag Verwaltung sei. Es ging um die Beantwortung der Frage, wieHerrschaft qua Verwaltung in der Praxis ausgeiibt wurde. Die Rolle der lokalen undregionalen Behorden als Mittler zwischen Fiirstenherrschaft und Untertanen bildetendabei den gemeinsamen Fluchtpunkt. Erst im Verlauf der Projektarbeit hat sich eineweitere Perspektive ergeben: Aus diesem Blickwinkel werden die verwaltungsinter-nen Prozesse fokussiert, um der Frage nachzugehen, welche Schnittstellen sich zwi-schen Verwaltungshandeln und Landesherrschaft ergeben. Im Zentrum dieser Uber-legungen steht die Frage, inwieweit Biirokratien moglicherweise eigenstlindig han-

14 Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Uberlegungen zur politischen Kul-tur der Frtihen Neuzeit, in: Die Frtihe Neuzeit als Epoche (HZ Beihefte, 49), hrsg. von HelmutNeuhaus, Miinchen 2009, 395-406.

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delten: Sind womoglich administrative Binnenlogiken zu erkennen, die eigenenZwecken folgen und es erlauben, von einer Verwaltungskultur zu sprechen, diesich klar von einer Implementationslogik fUrstlicher Anordnungen abhebt? Wenndiese Annahme zutrifft, ist nicht allein die Schnittstelle zwischen Obrigkeiten - be-stehend aus anordnender fUrstlicher Zentrale und ausftihrender und dabei vermittelndtatiger Verwaltung - und einzelnen Untertanen, situativen ZusammenscWtissen undKorporationen von Interesse. Vielmehr bewirkt dann auch das organisationelle Ei-genleben von Administrationen historischen Wandel.

II. Verfahren: Supplikationen, Visitationen, Berichte

Als Gegenstande einer vergleichenden Untersuchung boten sich solche Verfahrenan, die von den europaischen Ftirstenstaaten weithin genutzt wurden, um Informa-tionen zu beschaffen, die Loyalitat von Amtstragem zu tiberpriifen, Entscheidungenzu begrtinden sowie deren Erfolg zu kontrollieren. Dazu gehort das Eingabewesen(Bittschriften bzw. Supplikationen und Beschwerden bzw. Gravamina), das in derjtingeren Vergangenheit bereits intensiv analysiert worden istl5. Untersuchungenzum Berichtswesen und zu landesherrlichen Visitationen, die ftir den friihneuzeitli-chen Staatswerdungsprozess besonders charakteristisch waren, liegen zwar fUrTeil-

15 Beat Kiimin/Andreas Wiirgler, Petitions, Gravamina and the early modem state: localinfluence on centrallegislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, Estates andRepresentation, hrsg. von International Commission for the History of Representative &Parliamentary Institutions, Aldershot 1997, 39-60; Rosi Fuhrmann/Beat Kiimin/AndreasWiirgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in:Gemeinde und Staat im Alten Europa, hrsg. von Peter Blickle, Miinchen 1998,267 -323. Vgl.auBerdem Cecilia NubolalAndreas Wiirgler (Hrsg.), Formen der politischen Kommunikationin Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, BerlinIBologna 2001;Martin Paul Schennach, Supplikationen, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie(16.-18. Jahrhundert) (Mitteilungen des Instituts flir Osterreichische Geschichtsforschung,Erglinzungsband 44), hrsg. von Josef PauserIMartin ScheutzfThomas Winkelbauer, Wien/Miinchen 2004, 572-584; Cecilia NubolalAndreas Wiirgler (Hrsg.) Bittschriften und Grava-rnina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), Berlin 2005. For-schungsiiberblick bei: Andreas Wiirgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravarnina inder deutschsprachigen Friihneuzeitforschung, in: C. Nubola/A. Wiirgler, Bittschriften undGravarnina, 17-52. Zu Gnadengesuchen: Nathalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge.Gnadengesuche und ihre Erzlihler, Berlin 1988; Karl Htirter, Strafverfahren im friihneuzeit-lichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation, in: Kriminalitlitsge-schichte. Beitrlige zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hrsg. von AndreasBlauert/Gerd Schwerhoff (Konflikte und Kultur, l), 459-480; ders., Das Aushandeln vonSanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der friihneu-zeitlichen Strafjustiz, in: C. Nubola/A. Wiirgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina, 243-274; Sabine Ullmann, Vm der Barmherzigkait Gottes willen: Gnadengesuche an den Kaiser inder zweiten Hlilfte des 16. Jahrhunderts, in: Das Reich in der Region wlihrend des Mittelaltersund der Friihen Neuzeit, hrsg. von Rolf KieBling/Sabine Ullmann, Konstanz 2005, 161-184;Ulrike Ludwig, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in derStrafrechts- und Gnadenpraxis arn Beispiel Kursachsens 1548-1648 (Konflikte und Kultur,16), Konstanz 2008.

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bereiche ebenfalls vor, allerdings ohne dass ihr Potential filr die historische For-schung auch nur annahernd ausgeschopft wiire.

Supplikationen, die Untertanen unmittelbar unter Umgehung des gerichtlichenoder behordlichen Instanzenzuges an den Ftirsten richten konnten, bildeten einen un-verzichtbaren Bestandteil des filrstlichen Verwaltungssystems. Es gehorte zu denzeitgenossisch tiblichen Rechten eines Untertanen, mittels einer schriftlichen Einga-be beim Landesherm immediat Beschwerde gegen lokale Amtstrager einzulegen, inStrafsachen um Gnade zu bitten, allgemein Anregungen fUrpoliceyliche Verbesse-rungen vorzubringen oder ein Privileg zu erbitten. Oberall in Europa ftitterten dieSupplikationen der Untertanen den Prozess aus allgemeiner Normgebung und indi-vidueller Privilegierung und Gnadengewahrung. Die Zeitgenossen sahen in Privilegund Gnade namlich nicht nur einen sinnfålligen Ausdruck filrstlicher Majestat, son-dem auch systematisch anzuwendende Mittel, Normen in Anbetracht lokaler oderpersonlicher Umstande zu modifizieren und zu flexibilisieren16• Renate Blickle ar-gumentiert aufgrund ihrer Untersuchung von Supplikationen im Herzogtum Bayernsogar, dass die Herausbildung neuer administrativer Strukturen im 15. und 16. Jahr-hundert aus der Nachfrage der Untertanen nach filrstlichen Entscheidungen resultier-tel7• Bislang ist eine weitere wesentliche Funktionen von Supplikationen erst in An-satzen untersucht: Sie eroffneten den Untertanen einen legitimen Weg, um sich beimFlirsten tiber das Handeln lokaler Amtstrager zu beschweren, was die Zentralverwal-tungen tiberhaupt erst in den Stand versetzte, ihre entlegeneren Provinzen zumindestansatzweise zu kontrollieren.

Bei den Visitationen handelte es sich um aufwandige Inspektionsverfahren, dievon der mittelalterlichen romischen Kurie entwickelt worden waren, in der FrtihenNeuzeit jedoch von kirchlichen18 und weltlichen Obrigkeiten gleichermaBen genutzt

16 Andre Holenstein, Die Umstlinde der Normen - die Normen der Umstlinde. Polieey-ordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler GeselJsehaft im AneienRegime, in: K. Hiirter (Hrsg.), Policey und frtihneuzeitliehe GeselIsehaft, 1-46; Andre Ho-lenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Polieeyordnungen. Die MarkgrafsehaftBaden im 18. Jahrhundert, in: Staatsbildung ais kultureller Prozess. Strukturwandel und Le-gitimation von Herrsehaft in der Frtihen Neuzeit, hrsg. von Ronald AsehIDagmar Freist, KiilnJWeimarfWien 2005, 191 -208; Andre Holenstein, "Ad supplieandum verweisen". Supplika-tionen, Dispensationen und die Polieeygesetzgebung im Staat des Ancien Regime, in:C. Nubola/A. Wiirgler, Bittsehriften und Gravamina, 167-210.

17 Renate Btickle, Laufen gen Hof. Die Besehwerden der Untertanen und die Entstehungdes Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten reehtlieher Verfahren im spaten MitteI-alter und in der frtihen Neuzeit, in: P. BJiekJe, Gemeinde und Staat, 241-266.

18 Ernst Walter ZeedenlHansgeorg Molitor (Hrsg.), Die Visitation im Dienste der kireWi-ehen Reform, Mtinster 1977; Ernst Walter ZeedenlPeter Thaddiius Lang (Hrsg.), Kirehe undVisitation, Stuttgart 1984; Peter Thaddiius Lang, Die Bedeutung der Kirehenvisitation fUrdieGesehiehte der Frtihen Neuzeit. Ein Forsehungsberieht, in: Rottenburger Jahrbueh fUr Kir-ehengesehiehte 3 (1984), 207 - 212; ders., Die Erforsehung der frtihneuzeitJiehen Kirehenvi-sitationen. Neuere Veriiffentlichungen in Deutsehland, in: Rottenburger Jahrbueh fUr Kir-ehengesehiehte 16 (1997), 185-193; ders., Visitationsprotokolle und andere Quellen zur

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wurden. Die spezifischen Funktionsweisen der Visitationen von Kirchengemeinden,die im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Territorien im Zuge der Konfessionalisie-rung eingesetzt wurden, sind in Einzelstudien eingehend untersucht wordenl9

. We-sentlich ungiinstiger stellt sich dagegen der Forschungsstand zu den Visitationendar, die auch oder vor allem weltliche Angelegenheiten betrafen20. Visitationenwaren strafbewehrte Kontrollverfahren, die sich stets auf die Amtstriiger, bisweilenauch auf die Untertanen erstreckten. Zumeist wurde Periodizitiit angestrebt: Jiihrli-che, zum Teil sogar vierteljiihrliche Wiederholung galt als ideal, faktisch blieb manhinter diesem Anspruch meist weit zuriick. Lediglich die regelmiiBige Priifung derRechnungen von Kommunen, Steuereinnehmem und Korporationen gehorte zumiiblichen Standard wohlverwalteter Territorien21.

Frommigkeitsgeschichte, in: AufriB der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, hrsg.von Michael Maurer, Stuttgart 2002,302-324.

19 Helga Schnabel-SchUle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation im deutschen Slidwesten,in: Repertorien der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert in Archiven derBundesrepublik DeutscWand, Bd. 2: Baden-Wlirtemberg Teilband II, Tlibingen 1987, 15-33;Frank Konersmann, Kirchenregiment und Kirchenzucht im frlihneuzeitlichen Kleinstaat.Studien zu den herrschaft1ichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments derHerzoge von Pfa1z-Zweibrlicken 1410-1793, Ko1n 1996; Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und1iindliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400-1803, Bie1efe1d 1998; Andreas Holzem,Religion und Lebensformen. Katho1ische Konfessionalisierung im Sendgericht des Flirstbis-tums Mlinster (1570-1800), Mlinster 2000; Frank Konersmann. Kirchenvisitation als lan-desherrliches Kontrollmitte1 und als Regulativ dorflicher Kommunikation. Das HerzogtumPfa1z-Zweibrlicken im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kriminalitatsgeschichte. Beitrage zur So-zia1- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur, l), hrsg. von AndreasBlauert/Gerd Schwerhoff, Konstanz 2000,603-625; Rudolf SchlOgl, Bedingungen dorflicherKommunikation. Gemeind1iche Offentlichkeit und Visitation im 16. Jahrhundert, in: Kom-munikation in der landlichen Gesellschaft vom Mittela1ter bis zur Moderne, hrsg. von WernerRosener, Gottingen 2000, 241-261.

20 Uberblick bei Thomas Klingebiel, Ein Stand fur sich? Lokale Amtstrager in der FrlihenNeuzeit. Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hi1-desheim und im alteren Furstentum Wolfenbuttel, Hannover 2002, 99-140. Den engen Zu-sammenhang zwischen beiden Formen der Visitation betont Helga Schnabel-Schiile, Kir-chenvisitation und Landesvisitation als Mittel der Kommunikation zwischen Herrschaft undUntertanen, in: 1m Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mitte1-alter und Fruher Neuzeit, hrsg. von Heinz DuchhardtlGert Melville, KOln 1997, 173-186.Alexander Denzler hat in seiner bislang unveroffentlichten Dissertation die Visitation desReichskarnrnergerichts untersucht. Erste Ergebnisse tinden sich in Alexander Denzler, Zwi-schen Arkanum und Offentlichkeit: Die Visitation des Reichskarnrnergerichts von 1767 bis1776, in: Die hochsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, hrsg. von Anja Amend- Trautu. a., Munchen 2012, 69-96.

21 Ernst Klein, Geschichte der offentlichen Finanzen in DeutscWand (1500-1870), Wies-baden 1974; Peter Claus Hartmann, L' Administration fmanciere en Europe au xvnr siecle.Que1ques aspects comparatifs, in: Histoire Comparee de I' Administration (Ive-XVIIIe siec-les), hrsg. von Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner, Munchen 1980,534-538; HermannSchulz, Das System und die Prinzipien der Einkiinfte irn werdenden Staat der Neuzeit, Berlin1982; Gerhard Fouquet, Gemeindefmanzen und Furstenstaat in der Frlihen Neuzeit: DieHausha1tsrechnungen des kurpfå1zischen Dorfes Dannstadt (1739-1797), in: Zeitschrift furdie Geschichte des Oberrheins 136 (1988), 247 -291; Werner Buchholz, Offentliche Finanzen

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Einleitung 17

Alltliglicher und verbreiteter als Visitationen waren Berichtsverfahren. Den meis-ten Entscheidungen eines FUrsten ging eine Kaskade von Aufforderungen voraus, zudem fraglichen Sachverhalt erschopfend Stellung zu nehmen, so dass zunlichst dieZentralbehorden, in groBeren Territorien dann die regionalen Zwischeninstanzen,anschlieBend die lokalen Amtstrliger des FUrsten ihre ,unmaBgeblichen' Gutachteneinbrachten22

. Hierbei lieB man es hliufig nicht bewenden, sondem zog die stlid-tischen Magistrate und die Vorsteher der Landgemeinden, eventuell auch betroffeneKorporationen und Gemeindedeputierte heran, deren Informationen zu weiterenNachfragen der vorgesetzten Behorden Anlass gaben. Von der Visitation unterschiedsich das Berichtsverfahren durch das FeWen einer strafbewehrten Denunziations-pflicht. Beim Berichtswesen Uberwog der Zweck, Informationen zu beschaffen, wlih-rend die Visitation darliber hinaus eine offensichtlich disziplinierende Seite aufwies.

Obwohl die Berichtsverfahren extrem zeitraubend und anfållig fUrVerzogerungs-taktiken und Sttirmanover waren, wurden sie unverdrossen beibehalten: Offenbarneigte man in vielen fUrstlichen Verwaltungen zu der Ansicht, dass diese aufwlindi-gen Verfahren sowoW zur Beschaffung von Informationen, als auch zur Implemen-tierung von Anordnungen erforderlich waren. Das Projekt hat sich mit den Fragen

und Finanzverwaltung im entwickelten fIiihmodernen Staat. Landesherr und Landstande inSchwedisch-Pommern 1720-1806, Ko1n1Weimar!Wien 1992; Peter Rauscher, Verwaltungs-geschichte und Finanzgeschichte. Eine Skizze am Beispiel der kaiserlichen Herrschaft (1526-1740), in: Thomas WinkelbauerlMichael Hochedlinger (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung,Staatsbildung, Btirokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behordengeschichte derFrtihen Neuzeit, Wien 2010, S. 185-211.

22 Die historische Forschung hat sich zunachst vor alJem mit der Geschichte der alteren,qualitativen und den jtingeren, quantifizierenden Statistik befasst. Vgl. dazu MohammedRassem/Justin Stagl, Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehrnlich im16.-18. Jahrhundert, Paderborn 1980; Justin Stagl, A History of Curiosity. The Theory ofTravel 1550-1800, Chur 1995; Vermessen, Zahlen, Berechnen. Die politische Ordnung desRaums im 18. Jahrhundert, hrsg. von Lars Behrisch, Frankfurt am Main 2006. Erst in denletzten zehn Jahren sind vermehrt Oberlegungen angestelJt worden, was einen Wissensbestandzu einer maBgeblichen Information qualifizierte und wie diese Informationen erhoben, ver-arbeitet und gespeichert wurden, wodurch sie ftit Regierungen, Verwaltungen, eventuelJ auchweitere Nutzer iiberhaupt erst relevant erschienen. Vgl. Amdt BrendeckelMarkus Friedrich!Susanne Friedrich, Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologieund Abgrenzung vom Wissensbegriff, in: Information in der Frtihen Neuzeit. Status, Bestande,Strategien, hrsg. von Amdt BrendeckelMarkus Friedrich/Susanne Friedrich (P1ura1isierungund Autoritat, 16), Berlin 2008, 11-44; Justin Stagl, Thesen zur europaischen Fremd- undSelbsterkundung in der Frtihen Neuzeit, in: ebd., 65-79; Andre Holenstein, Gute Policey unddie Information des Staates im Ancien Regime, in: ebd., 201-213; Wolfgang E. J. Weber,"Das argste Hindernus einer Sache ist die Unwissenheit". ,Wissen', ,Information' und Infor-mationsbeschaffung in der Po1itikwissenschaft des 17. Jahrhunderts, in: ebd., 259-276; Su-sanne Friedrich, "Zu nothdtirfftiger information". Herrschaftlich veranlasste Landeserfas-sungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Alten Reich, in: ebd., 301-334; Arndt Brendecke, Das,Buch der Beschreibungen'. Ober ein Gesetz zur Erfassung Spanisch-Amerikas von 1573, in:ebd., 335-358; Lars Behrisch, Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in derFrtihen Neuzeit, in: ebd., 455-473; Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Ver-waltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540-1773, Frankfurt am Main 2011.

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befasst, inwieweit nicht nur die llirstliche Amtstragerschaft, sondem auch Stande,Kommunen, Korporationen und einzelne Haushaltsvorstande in das Berichtswesenintegriert wurden, weil man dadurch konkrete Hinweise erhalt ftir die Bereitschaftvon Obrigkeiten und privilegierten Teilen der Untertanenschaft, zu bestimmtenSachverhalten zu kooperieren. Die Forschung zur Implementation von MaBnahmender guten Policey in den Reichsterritorien hat herausprapariert, dass Gesetzgebungs-verfahren Mufig flankiert wurden von Befragungen von im weitesten Sinne Betrof-fenen, die ihre Sicht der Dinge in die se Prozesse einbrachten. Es sei betont, das sselbst wenn die von Untertanen artikulierten Haltungen und Interessen keine weitereBerticksichtigung fanden, der Ftirst und seine Amtstragerschaft durch die Abforde-rung eines ,unrnaBgeblichen' Gutachtens hatten erkennen lassen, dass sie ihre Mei-nung wertschatzten. Dartiber hinaus wurde auf diese Weise allgemein bekannt, wel-chen Sachverhalten die Obrigkeit aktuell besondere Aufmerksamkeit schenkte.Diese Kenntnis lieB sich von den involvierten Personen nutzen, um ktinftig auch vol-lig andere Sachverhalte so zu formulieren, dass sie mit der erkennbar gewordenenAgenda - in der Tat, oder auch nur scheinbar - harmonierten.

m. Beitrage

Herrschaftsvermittlung und Triangulierung

Die beiden ersten Beitrage widmen sich den hOchst unterschiedlichen Konstella-tionen in der Habsburgermonarchie und im Konigreich Polen-Litauen im 18. Jahr-hundert, was zu kontrastierenden Vergleichen einladt. Corinna von Bredow widmetsich der Verwaltungspraxis der Kreisamter in Niederosterreich. Diese im Jahre 1753eingerichteten Behorden auf kleinregionaler Ebene eroffneten den Einwohnem derDorfer und Stiidte in den osterreichischen Landem der Habsburgermonarchie erst-mals die Moglichkeit, zur Landesregierung unmittelbar - unter Umgehung derGrundherrschaften - in Kontakt zu treten23. Dagegen analysiert Peter Collmer die di-

23 Kreisamter wurden von der Wiener Zentrale bereits kurz zuvor in den Uindem derbohmischen Krone eingerichtet. Vgl. Petr Mat'a, Verwaltungs- und behordengeschichtlicheForsehungen zu den bohmischen Uindem in der Friihen Neuzeit. Kurzer Uberblick tiber vierlange Forschungstraditionen, in: Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Btirokratisierung.Verfassungs-, Verwaltungs- und Behordengeschichte der Friihen Neuzeit, hrsg. von ThomasWinkelbauerlMichael Hochedlinger, Wien 2010, 421-477. In Ungarn dagegen verbot sichangesichts der politischen Verhiiltnisse ein solches Vorgehen zunachst; hier verblieb die re-gionale Rechtsprechung und Verwaltung in Handen von adligen Selbstverwaltungskorper-schaften, den sogenannten Komitaten. Vgl. Peter Dominkovits, Das ungarische Komitat im17. Jahrhundert. Verfechter der Standerechte oder Ausftihrungsorgan zentraler Anordnungen?,in: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismuspa-radigmas (Forsehungen zur Geschichte und Kultur des ostlichen Mitteleuropa, 24), hrsg. vonPetr Mat'affhomas Winkelbauer, Stuttgart 2006, 401-442. Noch Joseph II. scheiterte in demJahrzehnt nach 1785 mit dem Versuch, die ungarischen Komitate durch konigliche Verwal-tungsbehorden, sogenannte Bezirke, zu ersetzen. Unmittelbar vor seinem Tod wurden dieBezirke wieder aufgelOst und die Komitate in ihre alten, weitreichenden Kompetenzen wieder

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Einleitung 19

versen Formen der Dreieckskommunikation in der polnisch-litauischen Adelsrepu-blik wahrend der Herrschaft der beiden Kanige aus dem Haus der slichsischen Wet-tiner zwischen 1697 und 1763. Systematisch unterscheidet er zwischen der Mehrheitder Landesteile, die fUrdie Krone faktisch unkontrollierbar der Herrschaft einzelnerAdelshliuser unterstanden, und den weniger umfangreichen Kronglitem, auf denendie beiden Kanige aus dem Haus der Wettiner hoffen durften, ihre an den Verhliltnis-sen in Kursachsen orientierten Vorstellungen vom guten landesvliterlichen Regimentzur Grundlage ihres Verwaltungshandelns zu machen.

Da sich die administrative Praxis in Bezug auf die Hliufigkeit der Kontakte und dieIntensitlit der Verfahren massiv unterschieden, lassen sich Aussagen zum Stellenwertvon Triangulierung treffen. Die beiden Beitrlige bieten Antworten auf die Fragen,unter welchen Gegebenheiten von den kontrollierenden und partizipatorischen Mag-lichkeiten herrschaftsveITnittelnder Verfahren Gebrauch gemacht wurde, und welcheintendierten und unbeabsichtigten Folgen ihr Einsatz zeitigte. Sie legen nahe, das ssich im 18. Jahrhundert - ausgehend von ganz unterschiedlichen Niveaus - eine all-gemeine Tendenz zur Intensivierung verfahrensgestlitzter Herrschaftskommunikati-on feststellen llisst.

Das Essener Forscherteam hat die Unterschiede in Bezug auf Herrschaftsvermitt-lung zwischen den Llindem der Habsburgermonarchie24 einerseits und den Territo-rien des Alten Reichs andererseits genauer heraus prlipariert. Die Projektarbeit hatdie Annahme bestlitigt, dass fundamentalere Unterschiede bestanden zwischenden Llindem des Hauses Habsburg und den Reichsterritorien als unter den Reichs-territorien. So hat sich beispielsweise die Konfessionsdifferenz zwischen Kurbayernund Hessen-Kassel aIs weniger ausschlaggebend herausgestellt als die Frage derGraBenordnung der verschiedenen Territorialverblinde. Offenbar waren GraBe undDifferenziertheit eines Herrschaftskomplexes prligend fUrdie Gestaltung der Kom-munikation zwischen Flirsten, Beharden, Adelseliten und Untertanen. Von Herr-schaftsvermittlung und Triangulierung llisst sich flir die ,composite monarchy' derHabsburger5 frlihestens seit der Theresianischen Zeit sprechen. Deshalb haben

eingesetzt. Vgl. Istvan Szijart6. Komitatsade1 und Landtag in Ungarn in der zweiten Ha1fte des18. Jahrhunderts, in: Adel und Politik in der Habsburgmonarchie und der Nachbar1andernzwischen Abso1utismus und Demokratie, hrsg. von Tatjana Tonsmeyer/Lubos Velek, Mlin-chen 2011, 139-150; Istvan Fazekas, Die Verwa1tungsgeschichte des Konigreichs Ungarnund seiner Neben1ander (1526-1848), in: T. Winke1bauerlM. Hochedlinger (Hrsg.), Herr-schaftsverdichtung, Staatsbildung, Blirokratisierung, 479-502; Andras Vari/Judit Pal/StefanBrakensiek, Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im ostlichen Ungarn im18. Jahrhundert, Kiiln/Weimar/Wien 2014.

24 Vgl. dazu auch die Ergebnisse des Projekts "Lokale Herrschaft im internationalen Ver-gleich" Stefan Brakensiek, Rekrutierung lokaler Herrschaftsverrnittler unter wechselndenVorzeichen: Die biihmische Herrschaft Neuhaus, das ungarische Komitat Szatmar und dieLandgrafschaft Hessen-Kassel im Vergleich, in: S. BrakensiekIH. Wunder, Ergebene Dienerihrer Herren?, 97 -122.

25 John H. Elliott, A Europe of composite monarchies, in: Past & Present 137 (1992), 48-71; Thomas Froschl, "Confoederationes, Uniones, Ligae, Blinde". Versuch einer Begriffser-

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wir uns von der Idee verabsehiedet, das Konzept der akzeptanzorientierten Herr-schaft auf zusammengesetzte Monarehien zu iibertragen. Es sei jedoeh noeh einmalhervorgehoben, das s sieh innerhalb Europas im Verlauf des 18. Jahrhunderts - alsosehon vor dem Zeitalter von Revolution und Reform - aueh in den groBen FHichen-staaten eine Tendenz zur Intensivierung verwaltender Tiitigkeit durehsetzte, die andie Traditionen des woWgeordneten Polieeystaats gemahnt.

Indirekte Herrschaft

Zu kIiiren bleibt, worin diese Tendenz griindete: Wie entstand die Uberzeugung,biirokratisehe Modelle direkter Ressoureenextraktion und zentralstaatlieher WoW-fahrtsfOrderung seien den altbewiihrten Modellen von Herrsehaft dureh lokaleoder regionale Eliten, die im Auftrag eines fernen Monarehen die Verwaltung vorOrt wahrnahmen, iiberlegen? Und wie veriinderten sieh dadureh die Konstellationender beteiligten Akteure? Bettina Severin-Barboutie thematisiert in ihrem Beitragdiese Problematik von ihrem zeitliehen Ende her. Sie untersueht Supplikationenund Delegationen aus dem napoleonisehen Empire, die der Herrsehaftsvermittlungzwisehen den Gemeinden im GroBherzogtum Berg, des sen Zentralverwaltung inDiisseldorf und dem fernen Kaiser Gestalt verliehen. Die napoleonisehe Zeit gilt be-kanntlieh als die Epoehe, in der eine naeh einheitliehen MaBstiiben handelnde ,ratio-nale' Verwaltung ihre moderne Gestalt gewann26. Auffållig ist freilieh die weiterhinhohe Bedeutung von Eingaben fUrdie Gestaltung der Kommunikation zwisehen demImperator, den Behorden in den einzelnen Staaten des Empire und den Untertanen.Um sein extrem ausgedehntes Herrsehaftsgebiet im Bliek zu behalten, verlieB siehBonaparte offenbar nieht allein auf seine moderne Administration, sondern zogdurehaus aueh traditionelle Inspektions- und Kontrollverfahren mit ins KalkiiI.Viele Beobaehtungen von Bettina Severin-Barboutie zum GroBherzogtum Berg wei-sen Strukturiihnliehkeiten nieht nur mit den Befunden von Simon Karstens undHanna Sonkajiirvi zu Flandern im 17. und 18. Jahrhundert auf, sondern sie reiehen,zieht man die Arbeiten von Renate Bliekle zum Herzogtum Bayern im 16. Jahrhun-dert heran, zeitlieh zuriiek bis an den Beginn der Neuzeit27.

kHirung fUr Staatenverbindungen der friihen Neuzeit in Europa und Nordamerika, in: FOde-rationsmodelle und Unionsstrukturen. Uber Staatenverbindungen in der friihen Neuzeit vom15. zum 18. Jahrhundert (Wiener Beitriige zur Geschichte der Neuzeit, 21), hrsg. von ThomasFrosch1, Miinchen 1994, 21-44; Joachim Bahlcke, Die bohmische Krone zwischen staats-rechtlicher Integritiit, monarchischer Union und stiindischen FOderalismus, in: ebd., 83-103;Joze! A. Gierowski, Die Union zwischen Polen und Litauen im 16. Jahrhundert und die po1-nisch-siichsische Union des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ebd., 63-82.

26 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft und Verwa1tung im 19. Jahrhundert,Frankfurt am Main 2000, 12.

27 R. Blickle, Laufen gen Hof. Die spanische Krone hat besonders friihzeitig groBe An-strengungen untemommen, Informationen iiber ihr ungeheures Kolonialreich zu samrneln.Uber die Formen der Beschaffung, Archivierung und Aktualisierung dieser Daten und iiber dieAporien der darnit zusarnmenhiingenden Herrschaftspraxis inforrniert Arndt Brendecke, Im-

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Einleitung 21

Simon Karstens befasst sich mit der Wechselbeziehung von weltlichen Herr-schaftstragern und kirchlichen Institutionen in den Stidlichen Niederlanden unterKarl VI., also fast ein Jahrhundert vor Napoleon. Er erortert die Frage, inwieferndie Konfessionspolitik des Wiener Hofes und dessen Interaktion mit Angehorigender katholischen Kirchenorganisation auf dem Gebiet des heutigen Belgiens und Lu-xemburgs zur Stabilisierung der habsburgischen Herrschaft beigetragen haben. Hier-bei stellt sich die Frage, ob ausgepragter Konfessionalismus kompensatorisch wirkenkonnte, wenn die Grundlagen ftirstlicher Macht schon wegen der weiten Distanz zwi-schen Zentrale und Provinz eher schwach ausgebildet waren. Dartiber hinaus wirderkennbar, in welchem MaBe der standige Rekurs der Behorden in Wien und derStatthalter in Brtissel auf die spanische Tradition des Hauses Habsburg ihre aktuellenEinflusschancen einhegte.

Hanna Sonkajarvi befasst sich mit Supplikationen als Mittel zur Herrschaftsver-mittlung und zur Kontrolle von lokalen Eliten im 18. Jahrhundert in Flandern. IhreBefunde zu den Gesuchen um Dispens vom Verbot, sich von ,fremden ' Truppen an-werben zu lassen, legen es nahe, dass es bei diesem Supplikations-Verfahren wenigerdarum ging, eine solche ,missbrauchliche' Verhaltensweise wirkungsvoll zu verhti-ten. Stattdessen verlieh eine solche im Voraus einzuholende Bitte der Habsburgi-schen Suprematie symbolisch Ausdruck. Und zugleich konnten die Angehorigender regionalen Eliten auf ihre prinzipielle Loyalitat hin tiberprtift werden.

Ausgangspunkt der Ausftihrungen von Simon Karstens und Hanna Sonkajarvi istder Umstand, dass die lokalen Verhaltnisse in Flandern flir die Wiener Zentralbehor-den bis weit in die zweite Halfte des 18. Jahrhunderts hinein term incognita blieben,da die ortlichen Behorden den mittleren und hoheren Instanzen zwar Bericht erstat-teten, ohne dass jedoch ihre Angaben durch Inspektionsverfahren kontrolliert undverifiziert werden konnten. Supplikationen bildeten unter diesen Voraussetzungendas einfachste und wirkungsvollste Mittel indirekter Herrschaft. Das lange Uberdau-em von Formen der indirect rule in der zusarnmengesetzten Habsburgermonarchiekann als Hinweis auf deren Funktionalitat, moglicherweise auch auf ihre Altemativ-losigkeit interpretiert werden.

Sprachen der Verwaltung

In den Beitragen von Nicolas Brochhagen und Klaus Margreiter geht es um dieSprachen der Verwaltung. Kommunikation innerhalb von Berichts- oder Visitations-verfahren oder in Supplikationen ging nicht regellos vonstatten, sondem gehorchteeinerseits geltenden diskursiven Ordnungen, vermochte andererseits aber auch irnVollzug neue legitime Sprech- und Schreibweisen hervorzubringen. 1m Umkehr-scWuss ist die Analyse der Verfahren also geeignet, epochenspezifische symbolischeund sprachliche Formen zu erschlieBen, die den asymmetrischen Kommunikations-

perium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, KaIn!WeimarlWien 2009.

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prozessen zugrunde lagen. Ausgehend vom Konstruktionscharakter soziokulturellerWirklichkeit richtet sich das Interesse dieser Beitrage somit auf die Hervorbringungsymbolischer Ordnungen zur Organisation des Sozialen. Dies basiert auf der Uber-legung, dass allgemein akzeptierte Werte, Einstellungen und Wahrnehmungsweisenkonstitutiv filr die Regulierung politischen Handelns und somit filr die Etablierung,Stabilisierung und Verdichtung von Herrschaftsverhaltnissen sind.

Nicolas Brochhagen hat im Zuge seiner Untersuchung eines landesherrlichen Vi-sitationsverfahrens in der Landgrafschaft Hessen- Kassel im 17. Jahrhundert heraus-gearbeitet, dass sich im Zusammenhang mit dieser von der landesherrlichen Zentraleeingesetzten politisch-administrativen Technik spezifische diskursive Felder be-schreiben lassen. Seine Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Akzeptanzder filrstiichen Landesherrschaft seitens lokaler Akteure von ausschlaggebender Be-deutung filr deren Einbindung in das Verfahren war, welches konzeptionell auf derenaktive Kooperation angewiesen war. Die diskursive Verkntipfung von Gemeinwohlund Landesherrschaft ermoglichte das Funktionieren des Verfahrens, wahrend derinstitutionalisierte Kommunikationsraum zugleich einen Rahmen darstellte, in wel-chem diskursive Praktiken herrschaftslegitimierend wirksam wurden. Somit erlaubtedas Verfahren die Artikulation von Beschwerden und Interessenkonflikten beigleichzeitiger Integration der Akteure in eine tibergreifende und allseits akzeptierteOrdnung.

Klaus Margreiter widmet sich dem auch heute aktuellen Problem, dass die Spra-che der Verwaltung als solche zum Gegenstand eines kritischen Diskurses wird.Dabei ergeben sich zwar strukturelle Ahnlichkeiten zwischen der Debatte tiberden Kanzleistil in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts und der heutigen Diskus-sion tiber die Unverstandlichkeit btirokratischer Ausdrucks- und Handlungsweisen.Gleichwohl war der sattelzeitliche Diskurs jedoch von anderen politischen und as-thetischen Erwartungen gepragt. Festzuhalten ist jedenfalls, dass diskursive Prakti-ken von Verwaltungen nicht per se legitimierende Wirkungen ftir einen politischenStatus quo erzeugen, sondern ebenso gegenlaufige Ordnungsvorstellungen, Subver-sion und Widerstand hervorbringen konnen. 1mFokus des Beitrags von Klaus Marg-reiter stehen diese Deutungskampfe um eine autorisierte Version gesellschaftlicherRealitat, die dann wiederum die Grundlage politischen Handelns darstellte.

Verwaltungskultur

Die Artikel von Birgit Nather, Stefan Haas und Birgit Emich verstehen sich aufunterschiedliche Art und Weise als konzeptionelle Beitrage zur Kulturgeschichte derfrtihrnodernen Verwaltung. Birgit Nather nimmt die Untersuchung der landesherrli-chen Visitationsverfahren in Bayern, die zwischen dem ausgehenden 16. und dem18. Jahrhundert regelmliBig stattfanden, zum Anlass, uro Uberlegungen zu denGrundlagen des Verwaltungshandelns anzustellen. Sie gelangt im Zuge ihrer empi-rischen Arbeit zu der Einschatzung, dass die "Umritte", wie die Visitationsverfahrenin Bayern genannt wurden, trotz wenig detaillierter Anordnungen stattfinden konn-

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Einleitung 23

ten. Die ausflihrenden Rentamter standen demnach nicht so eindeutig unter dernormsetzenden Gewalt des landesfilrstlichen Regiments wie haufig angenommenwird, sondem konnten ein administratives Eigenleben entfalten, zumindest teilauto-norne Handlungsmoglichkeiten realisieren. Die analysierte Verwaltungspraxis weistin ihrer Ausgestaltung und Komplexitat auf Binnenlogiken von Verwaltungen hin,die von einer eigenen Kultur dieser Institutionen zeugen, welche deren Verwaltungs-handeln und die Handlungsstrukturen beeinflusste.

Das korrespondiert mit den Uberlegungen von Stefan Haas zur organisationstheo-retischen Grundlegung einer historischen Implementationsforschung. Aus dieserPerspektive wachst der Verwaltungsgeschichte ganz neue Bedeutung zu: Sie istnicht langer Magd der flirstlichen Herrschaft, sondem der Ort, an dem Politik prak-tisch und damit tiberhaupt erst real wird. Es kommt geradezu zu einer Urnkehr derBedeutungszuschreibungen: Was Fiirsten und ihre Rate intendierten, indem sieeine Verordnung oder ein Gesetz erlieBen, ist von weitaus geringerem Belang alsdie Frage, wie die Verwaltungen vor Ort damit umgegangen sind, welche Bedeutungsie der Anordnung ,ablasen', welche Bedeutungsverschiebungen in der Kommuni-kation des herrschaftlichen Befehls gegeniiber den Untertanen sich ergaben.Damit soli keine Autonomie der nachgeordneten Behorden oder die vOllige Unkon-trollierbarkeit der Lebenswelten durch filrstliches Handeln unterstelit werden. Ab-weichungen und Anderungen von Anordnungen im Zuge ihrer Implementierungwerden jedoch zur erwartbaren Normalitat, die Verwaltungsgeschichte wird dadurchdynamisiert.

Der Artikel von Birgit Emich filhrt am Beispiel der Getreidepolitik des Kirchen-staates im 17. Jahrhundert vor Augen, dass im Verwaltungshandeln hochst verschie-dene Logiken aufeinander treffen konnten. Sie macht deutlich, dass es zwischenihnen Bedeutungsabstufungen gab, und dass die Kunst des Regierens in der papstli-chen Wahlmonarchie genau darin bestand, diese Rationalitaten selbst dann zumin-dest dem auBeren Anschein nach zu harmonisieren, wenn sie sich in ihrem Kern wi-dersprachen. Es geht dabei um den Einfluss informelier Patronage-Logiken, die derpolitischen Programmatik - sichere Versorgung der Bevolkerung des Kirchenstaatesmit bezahlbarem Getreide - entgegenstanden. Die Verwaltung und ihre Verfahrenerweisen sich in diesem Licht als eine Art Plattform, auf der konkurrierende Ratio-nalitaten zum Ausgleich gebracht werden. SchlieBlich bringt der Artikel prozesshaf-ten historischen Wandel ins Spiel, Veranderungen, die zwar keineswegs aufgrund deriiberlegenen Weitsicht historischer Akteure erfolgten, sondem als Resultat nicht-in-tendierter Handlungen einzelner beziehungsweise kollektiver Akteure. Dieser Pro-zess wird jedoch sehr woW mit dem Richtungskriterium "Biirokratisierung" verse-hen und verweist damit, angesichts der zentralen Rolle Europas in der friihneuzeit-lichen Politik, auf die welthistorische Bedeutung der Gegenstande dieses Bandes.

Dieser Tenor wird von Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem abschlieBenden Kom-mentar aufgenommen und um weseniliche Aspekte erganzt: die symbolischen Wir-kungen btirokratischer Inforrnationserhebung sowie die Potenz von administrativen

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Verfahren, Rationalitatsfiktionen zu erzeugen. Ihr Kommentar und der Beitrag vonBirgit Emich eroffnen dariiber hinaus eine gewinnversprechende Perspektive auf dasThema "Herrschaft und Verwaltung": Ktinftig soBte das Augenmerk auf das Wech-selspiel aus Formalisierungs- und Informalisierungsprozessen28 gelegt werden, umden Prozess historischen Wandels aus dem konflikthaften Zusammenwirken von for-maler Normativitat und informeBer Soziabilitat zu erschlieBen.

28 Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Ein Beitrag zur Verwaltungsge-schichte der Friihen Neuzeit, in: Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staats-werdung in Spatantike und Friiher Neuzeit, hrsg. von Peter Eich/Sebastian Schrnidt-Hofner/Christian Wieland, Heidelberg 2011,81-95.